[226] Die Johannisnacht

Festspiel bei der Becherweihe der zürcherischen Zunftgesellschaft zur Schmieden
1876

Ein bewaffneter Schmied von 1278

tritt auf

Johannisfeuer glimmt und flimmert
Von allen Höhen durch die Nacht,
Hat in mein Kämmerlein geschimmert,
Daß ich aus tiefem Schlaf erwacht
Und aus der Fremde hergefahren,
Wo ich seit sechsmal hundert Jahren
Auf weitem Marchfeld, fern bei Wien,
Ein toter Mann, begraben bin. –
Die alte Wasserstadt zu sehn,
In ihren Straßen umzugehn,
Hat's mich wie Sturmwind hergetrieben,
Zu sehn, ob Stein auf Stein geblieben
Und ob die tapfern Gutgesellen,
Was rinnet, rüstig noch verschwellen!
Nun find ich schwierig Pfad und Steg:
Hier war das Tor, nun ist es weg!
Doch steht ein Haus mit heller Stuben,
Drin summt und singt's wie muntre Buben –
Ich glaub, da tut noch jemand spuken,
Wer kommt da? Will sich einer mucken?

[227] Ein Schwertfeger von 1351, ebenfalls bewaffnet,

tritt auf

Nur still! Wir sind von gleicher Art,
Wir tragen Staub in Haar und Bart,
Und blutig klaffen uns die Wunden! –
Wo hast du deine Ruh gefunden?
Schmied

Mit König Rudolf zog ich aus,
Den wilden Ottokar zu schlagen,
Und half das Ostreich ihm erjagen;
Fast war vorbei der Heidengraus,
Der Sieg kam an, doch blutig rot,
Wir hundert Zürcher meistens tot.
Da naht der kluge Habsburgmann,
Es schien sein schweres Roß zu hinken,
Er merkte das und tät mir winken:
»Bist du nicht Hansli Gugliguck,
Der Schmied, und deine Schmidtenbruck
Am Rain, wo man zum Hofe geht,
Der an der Aa zu Zürich steht?« –
»Ja, dort mir Weib und Esse zischt!«
Sagt ich, von Rudolfs Wort erfrischt.
Er lacht' und rief: »So schau mal nach,
Ob sich mein Gaul den Huf zerstach!«
Und wie ich nun den Huf will heben,
War ausgeblasen auch mein Leben,
Es sandte flieh'nd ein Paar Böhmaken
Zween lange Pfeil' mir durch den Nacken.
Doch wo hast du das End erstritten?
[228] Schwertfeger

Bin nicht so weit wie du geritten!
Wo Cyriaci Kirchlein war,
Lieg ich schon fünfmal hundert Jahr.
Das Ostreich, das du halfst erringen,
Wollt nachmals uns zu Boden zwingen!
Wir machten eignes Regiment,
Da nahm die Freundschaft bald ein End!
Wir gingen in den jungen Bund,
Was ihnen nicht, doch uns gesund!
Drum zupften jetzt die Rudolfsenkel
Voll Bosheit uns am Fahnenschwenkel;
Wir aber schlugen unverloren
Den Herrn die Stangen um die Ohren!
Schmied

Wer war nun euer Feldhauptmann?
Schwertfeger

Das war Herr Brun, der Anschicksmann,
Der uns das Bürgertum gewann,
Ein gar geriebner schlauer Vetter,
Aufdringlich, stet, wie Regenwetter!
Wir wußten nicht zu jenen Stunden,
Ob er, ob wir das Ding erfunden;
Man wird nicht klug bei solchen Spielen:
Ist es der eine? sind's die vielen?
Schmied

Versteh nicht jenes und nicht dies!
Schwertfeger

Verstehst nichts in politicis?
[229] Schmied

Doch war der Hauptmann gut im Feld?
Schwertfeger

Ei nun – dort war er just kein Held!
Als in dem Tale von Tätwyl
Der Feind rings auf uns niederfiel,
Da hat er sich davongemacht
Und ließ uns stehn in schlimmer Nacht;
Als er schon ziemlich weit geschlichen,
Da merkt' man erst, daß er entwichen.
Mir raunt' der Nachbar in die Ohren:
»Herr Brun ist fort, wir sind verloren!«
Ich sagte: »Laß den Schelmen laufen!
Man braucht ihn, darf ihn nicht verkaufen!
In jeder gut besorgten Stadt
Braucht's einen, der kein Ehr nicht hat,
Nicht Ekel kennt und nicht Gewissen
Und immer schafft und ist beflissen
Zu wirken, daß er nötig bleibt!
Nur muß man eben nicht urgieren,
Daß er sein Leben soll riskieren!
So wird er alt und wohlbeleibt!
Die Nachwelt wird sich dran ergetzen
Und solchem Kerl ein Denkmal setzen,
Indes ein braver fauler Hund
Zunichte wird und geht zugrund!«
Indem ich so die Zunge wetzte
Und mich am bösen Leumund letzte,
So brach herein die bittre Not;
Da ging es an ein Stechen, Hauen,
In dunkler Herbstnacht konnt ich schauen
Den, der mich packt', den blassen Tod!
[230]
Jedennoch ward der Sieg erstritten
Durch Rüegg Manesses kluge Sitten,
Der still im zweiten Range stand
Und in der Not die Rettung fand.
Er brachte treu mit reicher Beute
Heimwärts uns vierzig tote Leute;
Ganz steif wie ein gefrorner Hecht
Lag ich querüber schlecht und recht!
Doch horch! Was lärmt und klirrt da vorn?

Ein geharnischter Kupferschmied von 1445

schleppt einen andern Gewaffneten mit sich

So komm nur mit, bei Gottes Zorn!
Hier ist das Haus zum goldnen Horn,
Da wollen wir jetzt Einkehr halten
Und nächtlich in der Stuben walten!
Mich wundert, ob ein Tröpflein Weins
Uns nicht das kalte Herz kann wärmen
Und vor der Kraft des goldnen Scheins
Ein Weilchen flieht des Grabes Härmen!
Heut war Johanns des Täufers Tag,
Da man der Zunft- und Ratswahl pflag –
Ein paar Gesellen stehn noch hier –
Doch weh! die sind so kühl wie wir!
Schmied

Doch nicht so naß! Woher die Fahrt?
Ihr tragt ja Sand und Tang im Bart,
Und Wasser aus dem Harnisch läuft:
Hat man euch eurerzeit ersäuft?
[231] Kupferschmied

Im tiefen See, da liegen wir
Wohl jetzo der Jahrhundert vier!
Der Kupferschmied Götz aus der Auw
Bin ich, und der zu Wollerau,
Der Beck vom Hof, der blieb geduldig
Mir einst ein' kupfern Bratpfann schuldig!
Als nun der lange Krieg 1 gekommen
Und sie die Höfe uns genommen,
Da lief er mit den Eidgenossen,
An uns die Hörner abzustoßen.
Und wo ein Schutt und Rauch entstand,
Da war der Beck gewiß zur Hand!
Und beim Scharmutzen tät er prahlen,
Ob er die Pfanne mir soll zahlen?
Er schüttelt ihn

Doch wie sich alles endlich wend't,
Der Krieg naht' mählich auch dem End;
Ein schöner Herbst war just im Land,
Die Rebe voll von Trauben stand,
Die wollten sich die Ländler kaufen
Noch ohne Geld, in hellen Haufen
Sind in die Reben sie gestiegen
Am Erlenbach zum Herbstvergnügen.
Ein dicker Nebel hüllt' verschwiegen
Die reisige Schar der Winzer ein –
Doch uns zugleich am Waldesrain,
Wo wir der Sach gewärtig standen
Und alle Riemen fester banden.
Wie nun die leckern Eidgenossen
Die Trauben schnitten samt den Schossen
[232]
Mit Schneidezeug von allen Arten,
Mit Dolchen, Schwertern und Halmbarten,
Im grauen Nebel fröhlich hausten
Und manchen Weinberg arg zerzausten,
Auch sangen grobe Winzerlieder:
Da fielen wir mit Macht hernieder
Und zahlten ihnen Winzerlohn!
Da ward ein frischer Trank geboten,
Es floß der Most, und zwar vom Roten,
Und wer noch konnte, ist entflohn
Ans Ufer abwärts zu den Schiffen.
Natürlich war mein Beck dabei!
Vor sich die alte Bickelhauben
Ganz angefüllt mit blauen Trauben,
Sprang hoch er wie ein Böcklein frei!
Ich hätt den Schelmen fast ergriffen,
Da konnt er in ein Schiff sich schwingen,
Ich auf dem Fuß mit tollem Springen
Ihm nach ins Fahrzeug – und allein
Muß ich mit zwanzig Spießen sein,
Die eilig jetzt vom Lande stoßen,
Doch, als der sichre See gewonnen,
Mich rings umstarren voll Erbosen
Und scharf zu kitzeln mich begonnen.
Da dacht ich mir: was hilft das Zagen?
Ich packte meinen Beck am Kragen
Und sprang bordüber in die Flut,
Wo er mit mir am Grunde ruht.
Dort halt ich fest den wackern Mann,
Bis er die Pfanne zahlen kann;
Wenn er etwan entrinnen will,
Kriegt er 'nen Puff, dann liegt er still,
Und treibt das Heimweh mich, zu geisten,
So tut er mir Gesellschaft leisten.
[233] Schwertfeger

Wir müssen all' die Sehnsucht tragen,
Des Lebens Schatten nachzujagen! –
Mich dünkt, es wallt noch einer her,
Ich hörte seufzen tief und schwer!
Schmied

Ein Grauer kommt herangeschritten
In reichen Waffen, ernst von Sitten.

Ein Stückgiesser von 1515

tritt auf

So viel ich euer hier gewahre,
Tragt ihr der Jugend Braun im Haare,
Und keiner ist, der so betagt
Wie ich dem Streite nachgejagt.
Ich war bei Granse, Murten, Nanzig
Und sah nie meine Werkstatt wieder,
Strich durch die Lande auf und nieder
Wohl in die Jahre zehn und zwanzig;
Im Schwabenkriege tummelt ich
Am Rheine und im Thurgau mich;
Ich machte manchen still und bleich
Und manche Burg dem Boden gleich.
Dann ging es lange Jahre wieder
Jenseit des großen Berges nieder;
Ich hauste in der Lampartey
Mit Übeltat und Kriegsgeschrei;
Ich stellte mich den Fürsten gleich
Und spielt mit ihnen Reich um Reich,
War nur dem eitlen Ruhme hold
Und dürstete nach schlechtem Gold,
[234]
Bis ich im Feld zu Marignan
Der heißen Arbeit Lohn gewann:
Den Mund voll Gras und das Erkennen,
Daß wir nach Dunst und Wolken rennen!
Als dort ich sieglos niedersank,
War mir vom übernächt'gen Morden
Der graue Kopf ganz weiß geworden,
Es brach das Herz, von innen krank!
Jetzt ruh ich längst von Streit und Fechten;
Doch eil ich gern in stillen Nächten,
Wenn lind der Hauch von Süden weht,
Zur alten Heimat – doch zu spät!
Das Vaterhaus ist längst verschwunden,
Doch scheint, die Zunft steht noch zu diesen Stunden.
Kupferschmied

Wir schwirren um das helle Licht
Wie graues Nachtgevögel dicht,
Das keinen Einlaß finden kann. –
Da flattert noch ein Schattenmann!

Ein Schlosser in Offizierstracht von 1649

tritt auf

Manch zierlich Gitter konnt ich schmieden,
Doch fand dabei ich nicht den Frieden
Und bin als Kriegsmann hingefahren,
Wo man gelockt der Söldner Scharen.
Hab beim Savoyer Wacht gestanden
Und patroulliert in span'schen Landen,
Im weiten Hof der Tuilerien
Mein nächtlich Werda! laut geschrien.
Bin zu den Schweden dann gelaufen
[235]
Und tät mit den Panduren raufen;
Zuletzt stand in Dalmatia
Ich als ein Leutnant trotzig da,
Der für Venedigs Republik
Um gutes Gold wagt' sein Geschick.
Die Türken galt es zu verjagen,
Ich ward von vieren dort erschlagen,
Als ich allein hinausgegangen,
Ein wildes Hühnlein mir zu fangen.
Da lernt ich, heißen Brei zu essen,
Die Quadratur des Zirkels messen!
Zwei hab ich überecks erstochen,
Zwei sind im Ring herumgekrochen
Und ließen ihre Sichelklingen
Mir schmählich durch die Sehnen dringen.
Sie warfen mich vom Felsen munter
Hoch in des Meeres Schaum hinunter;
Das Hühnlein, das davongeflattert,
Ward von den Türken drauf ergattert.
Ich aber dacht im Untergehn:
Tätst du daheim am Schraubstock stehn!

Ein Chirurgus 2 von 1757

mit langem Zopf und Degen tritt auf

Hier ist das Haus zum Schwarzen Garten,
Ich klopf und schnell, doch kann ich warten,
Verschlossen ist's und dunkel drin!
Wo sind denn die Gesellen hin,
Die hier beim Becher fröhlich saßen
Und des Examens Angst vergaßen?
[236]
Vom Pflasterstreichen, Laborieren
Erholten sich mit Kommerzieren?
He! Holla! – Wie bin ich genarrt!
Nur Stüßis Fähnlein dorten knarrt,
Der steht noch auf dem Brunnenstein –
Doch was dort sprudelt, ist kein Wein!
Die Schuster auch sind weggezogen,
Die nachbarlich der Zunft gepflogen;
Und weiland hier der Müller Stube
Ist finster wie des Todes Grube;
Am Haus zwar noch das Wappen steht:
Ein Mühlerad, das nicht mehr geht!
Was hat mich nun hieher getrieben?
Wär ich in meinem Sandloch blieben,
Wo eine dürre Kiefer steht,
Durch die der Nachtwind pfeifend weht!
Doch halt! verlier die Hoffnung nicht!
Dort bei den Schmieden ist noch Licht:
Drum! Heut ja ist Johannitag,
Dort sind die Ärzte beim Gelag!
Doch, glaub ich, ist vorbei der Schmaus,
Da steht schon mancher vor dem Haus.
Tritt näher

Oho! Die sind so dünn wie Luft!
Ich glaub, es ist ein Nebelduft,
Und an den schimmlig alten Trachten
Merkt man, wo diese übernachten!
Schwertfeger

He du, mit deinem Stiel im Nacken!
Willst du uns an der Ehre packen?
[237] Chirurgus

Geduld, ihr Herrn! Und habt Vernunft!
Ich bin mit euch von gleicher Zunft,
Bin tot, wie ihr! Macht keine Faxen,
Denn hiefür ist kein Kraut gewachsen!
Stückgiesser

Wo wardst der Schule du entlassen?
Kupferschmied

Liegst du im Trocknen oder Nassen?
Schlosser

Dein Leib ist lang und steif und grad,
Du warst wie wir wohl ein Soldat?
Chirurgus

Ein Feldscher Seiner Majestät
Des alten Fritzen vor euch steht! –
Mit rotem Mantel, wenig Geld
Ritt als Student ich in die Welt
Und dacht in Halle zu kapieren,
Was mir noch fehlt' zum Praktizieren;
Verkauft den Klepper und hub an,
Hab leider bald mein Geld vertan!
Die Werbetrommel hört ich rühren
Und trat zu Friedrichs Grenadieren
Und zog mit ihnen Tag und Nacht,
Von Feld zu Feld, von Schlacht zu Schlacht.
Hab mit dem König auch gesprochen,
Einst hat er frisch mich angestochen
Und sagte näselnd: »Herr Chirürge,
[238]
Ist Er der Schweizer nicht von Zürch,
Wo sie die Schriften tun petschieren
Mit drei geköpften Personagen,
Die auf den Händen die Visagen
Wie drei Pasteten präsentieren?«
Ich sagte: »Sire! so Gott es will,
Bleibt das noch lange das Sigill
Von unsrer alten Repüblique,
Verstehn nicht Spaß in diesem Stücke!
Was schon ein halb Jahrtausend alt,
Erhält erst feste Leibsgestalt,
Mit eines Eichbaums Prospertät
Grad in des Lebens Mitte steht!«
Da setzt' den Schimmel er in Trab
Und hopst' die Lagergaß hinab.
Indessen folgt ich seinem Stern,
Der einsam glänzte nah und fern.
Er funkelt' in der Schlacht von Prag
Wie eine Sonne hell am Tag;
Ich sah ihn bei Collin erbleichen,
Dort mußten wir blutrünstig weichen;
Darauf bei Roßbach zwinkt' er wieder
Gar lustig durch die Wolken nieder.
Jedoch im großen Sieg bei Leuthen
Schoß ein Kroat mich von der Seiten,
Als ich, den Degen in der Faust,
Mein Amt vergessend, dreingebraust.
Dort blieb ich in den letzten Zügen
Auf einer Föhrenheide liegen.

[239] Ein alter Stubenknecht oder Zunftwirt

ruft aus dem Fenster

's ist Mitternacht, das Haus ist leer.
Ihr luft'gen Gäste, kommt nun her!
Schwertfeger

Auf, wie die Windsbraut fahren wir
Hinein durch die bekannte Tür!

Sie sitzen am Tisch


Chirurgus

zum Wirt

Nun sprich, der du im Hause weilst,
Treppauf und -nieder schlurfend eilst,
Als ob du noch die Kannen trügest,
Und so dich selbst lebendig lügest:
Wie geht's der Stadt und dieser Zunft?
Blüht noch die alte Überkunft
Von Macht und Wohlfahrt, Rat und Tat,
Von Ehr und Arbeit früh und spat?
Stückgiesser

Wie steht's um Herrschaft und Vogtei,
Gericht und Rat und Klerisei?
Ist unsre Zunft mit Ruhm dabei?
Der Wirt

Vogtei und Grafschaft sind dahin,
Im Rate sitzt das Volksgesind
Und im Gericht des Bauers Kind,
Der Pfaffheit Stern ist im Verglühn.
[240] Schmied

Was ist vergangen und entstanden,
Seit ich gelebt in diesen Landen?
Schlosser

Wie nahm ein löblich Regiment
Gemeiner Stadt so schnödes End?
Wirt

Wie wir den Rittern einst getan,
So fing's mit uns der Bauer an!
Kupferschmied

Jedoch das alte Banner weht
Voran noch, wenn's zum Streite geht?
Wirt

Es flattert noch bei Lenzgelagen,
Im Feld wird nur das Kreuz getragen,
Das herrscht allmächtig unter Gleichen,
Soweit des Bundes Grenzen reichen!
Kupferschmied

Wenn sie es denn so weit getrieben,
Was ist Besondres überblieben?
Wirt

Nur Freundschaft und Erinnerung,
Der Becher hier und dieser Saal;
Da sitzen sie beim Brudermahl
Und dünken sich von neuem jung.
[241]
Sie trinken Kraft vom goldnen Rande
Und stehen treu zum freien Lande.

Stellt den Pokal auf den Tisch

Alle

Seht, welch ein herrlich Trinkgeschirr!
Es hüpft das Herz vor Freuden mir!
Chirurgus

Seit wann besteht dies Prachtgerät?
Wirt

Sie haben es ganz frisch gegründet,
Damit sich neue Glut entzündet
An seinem Glanz und Dignität.
Geheimnisvoll umschließt das Gold,
Was in der Freude ehrenhold
Vergangenes und Künft'ges bindet.
Stückgiesser

Doch sagt: wer ist der reisige Mann,
Der auf des Deckels Kuppel ragt,
Mit Schwert und Banner unverzagt
Bewacht der Schale runden Bann?
Wirt

Das ist ein hehrer Zunftgenoß,
Des Blut bei Kappel heldisch floß,
Der Bannerherr in Rüstung blank,
Der bei der Fahne sterbend sank
Und, wie er stieg zur Nacht hinab,
Sie treu dem zweiten Retter gab.

[242] Bannerherr Schweizer 3

in gleicher Gestalt wie auf dem Becher tritt herein

Ich hörte traute Rede gehn,
Die mich geweckt wie Frühlingswehn!
Seid mir gegrüßt, ihr Herrn zur Schmieden,
Und sei mit euch des Geistes Frieden!

Es erheben sich alle

Wirt

Durch dich wird unsre Schattenwelt
Mit einem Lichtesschein erhellt;
Denn vornehm ist und höhrer Art,
Was damals euch zum Kampf geschart!
Bannerherr

Im bittersten und schwersten Streit
Für des Gewissens Einigkeit,
Unangesehn den Feind, zu fallen,
Das ist das höchste Los von allen;
Da wallt das Herz in lichter Ruh
Der Freiheit ew'ger Heimat zu!
Wirt

Wie dankbar dich die Enkel ehren,
Mag dich die Becherzierde lehren!
Bannerherr

Fürwahr, das kleine Denkmal hier
Bedünkt mich größre Ehrenzier,
Als ständ ich hoch in Erz gegossen,
Von Lärm und Staub des Markts umflossen.
[243]
Ich steh an meinem kleinen Ort
Als Wächter bei der Freundschaft Hort!
Er hebt den Deckel ab

Laßt sehn, ob diese edle Flut
Noch wärmt das leichte Geisterblut!
Ich trink's euch zu – mich dünkt, die Glieder
Durchströmt ein Hauch des Lebens wieder!
Trink, Schmied! und gib den Becher weiter!

Schmied

tut es

Mir glänzen Jugendsterne heiter
Aus goldnem Abgrund dieser Schale!

Schwertfeger

ebenso

Mir ist, ich geh im grünen Tale,
Als würde mich ein Liebchen küssen!

Kupferschmied

ebenso

Ich bade in kristallnen Flüssen!
Er hält den Becher dem Beck an den Mund, welcher trinkt

Trink, Bruder, hier gibt's Rebenlauben!
Beck von Wollerau

O süßer Saft der Lebenstrauben!
Ich atme Luft von Bergesaun!

Der Kupferschmied läßt den Becher weitergehen


Stückgiesser

trinkt

Dem Siege darf ich wieder traun,
Es schlägt mein Herz in alter Stärke!

[244] Schlosser

ebenso

Ich spüre Kraft zu jedem Werke,
Das ich in Tagen einst versäumt!

Chirurgus

ebenso

Ein Traum, der schon einmal geträumt,
Lockt mich mit längst entschlafnen Wonnen!

Wirt

nachdem er getrunken

So schließ ich nun den Zauberbronnen,
Schon nahet leis der junge Tag;
Bald tönt im Korn der Wachtel Schlag!

Deckt den Becher zu


Alle

singen

Fahr wohl, du schöne Sommernacht,
Dein heitrer Glanz ist still verglommen!
Steig auf, verjüngte Morgenpracht,
Für unser Volk, das nach uns kommen!
Wir ziehn dahin nach Geisterbrauch
Und lösen uns in Luft und Hauch.

Während des Gesanges, der mit gemäßigten Stimmen begonnen und bis zum Schluß immer leiser wird, nimmt auch die Beleuchtung ab, in welcher die vortragende Gruppe steht, so daß diese mit dem Verhallen des Gesanges zugleich im Dunkel verschwindet.

Fußnoten

1 aller Eidgenossen gegen Zürich wegen des toggenburgischen Erbes.

2 Die Ärzte waren, als die Zünfte politische Bedeutung hatten, behufs Ausübung ihrer Rechte den Schmieden zugeteilt; sonst hatten sie ihre Stube im »Schwarzen Garten«.

3 Zunftmeister zu Schmieden, fiel in der Reformationsschlacht bei Kappel 1531.

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