Jean Paul
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke
oder
Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs

Erstes Bändchen

Vorrede zur zweiten Auflage

Was hilft es mir, daß ich diese neue Auflage des Siebenkäs mit den größten Vergrößerungen und Verbesserungen, die nur in meiner Gewalt standen, ausgestattet herausgebe? Man wird sie wohl kaufen und lesen, aber nicht lange studieren und ausführlich genug beurteilen. Die kritische Pythia gab mir, wie die griechische andern Fragern, nicht gern Orakel und zerkäuete höchstens die Lorbeern, ohne sie aufzusetzen, und weissagte wenig oder nichts. So erinnert sich der Verfasser dieses noch recht gut, daß er sich z.B. über die zweite Auflage seines Hesperus gemacht mit der Baumsäge in der linken Hand und mit dem Okuliermesser in der rechten und damit außerordentlich gearbeitet am Werke; aber vergeblich sah er auf weitläuftige Anzeigen davon in gelehrten und ungelehrten Blättern auf. Und so kann er in seinen neuen Auflagen (Fixlein, die Herbstbluminen, die Vorschule, die Levana sind die Bürgen und Zeugen) wirtschaften, wie er will, neue Bilder aufhängen und alte umwenden – Gedanken ausquartieren und Gedanken einquartieren – Charaktere dort zu bessern Auftritten und Gesinnungen anhalten und hier zu schlimmern – kurz, er kann in der Auflage tausendmal gewalttätiger haushalten als wie ein Rezensent oder ein Teufel: keiner von beiden merkt es und sagt der Welt ein Wort davon; aber auf diese Weise lern' ich wenig, erfahre nicht, wo ichs recht oder schlecht gemacht habe, und büße etwaniges Lob ein.

So stehen die Sachen; inzwischen ist manches natürlich: Der allerkälteste Leser hält den Verfasser keiner kritischen Besserung für fähig, der allerwärmste keiner für bedürftig; beide kommen nur im Satze zusammen, daß ihm alles bloß so natürlich entfahre und entschieße wie den Blattläusen hinten der von Bienen so gesuchte Honigtau, daß er aber nicht wie die gedachten Bienen den Honig mit dem dazu gehörigen Wachse künstlich zubereite.

[11] Manche wollen ordentlich, daß jede Zeile ein erster Erguß und Ausbruch bleibe – als ob die Verbesserung derselben nicht auch wieder ein erster Ausbruch wäre. Andere Kunstleser nehmen keine Partei, und daher lieber eine zweifache. Wollt' ich die Sache kurz ausdrücken: so braucht' ich bloß zu bemerken: sie fragen erstlich: warum läßt der Mann nicht lieber sein Herz allein reden? und setzen zweitens, wenn es einer getan, dazu: wie anders und reicher würde sich ein solches Herz vollends durch die Sprachlehre der Kunst und Kritik aussprechen! – Aber ich kann denselben Gedanken auch viel weitläuftiger, wie folgt, vortragen Bändigt sich ein Dichter zu scharf, beherzigt er weniger sein vollschlagendes Herz als das feine Adergeflechte der Kunst und zerteilt er den vollen Strom in den feinsten kritischen Schweiß: so merken sie an: wahrlich, je dicker und härter der Wasserstrahl, desto höher treibt er sich auf und überwältigt und durchdringt die Luft, indes ein feiner auf halbem Wege zerflattert. Tut der Verfasser aber das Gegenteil, drückt er mit einem Drucke nichts aus als sein übervolles Herz und läßt die Blutwellen laufen, wie sie wollen: so schärfen die gedachten Kunstrichter den Satz – aber in einer andern Metapher, als ich von ihnen erwartet hätte – ein: mit dem Kunstwerke sei es wie mit einem papiernen Drachen, welcher nur höher steige, wenn ihn der Knabe an der Schnur ziehe und zügle, aber sofort sich senke, wenn ihn der Kleine nicht anhalte, sondern gehn lasse.

Wir kommen endlich auf unser Werk zurück. Die größten Verbesserungen darin sind wohl die historischen. Denn seit der ersten Ausgabe hatt' ich das Glück, teils den Schauplatz Kuhschnappel selber (wie in Jean Pauls Briefen längst berichtet worden) zu besuchen und zu besehen, teils durch den Briefwechsel mit dem Helden selber ungedruckte Familienbegebenheiten zu gewinnen, zu welchen wohl auf keinem andern Wege zu gelangen war, wenn man sie nicht geradezu erdichten wollte. Sogar neue Leibgeberiana hab' ich erbeutet, die mich jetzo unsäglich erfreuen, da ich sie mitteilen kann.

Gewonnen ferner hat die neue Ausgabe durch die Landes-Verweisung [12] aller der Ausländer von Wörtern, welche den geschicktesten Eingebornen den Platz weggenommen.

Bereichert hat sich weiter die neue Ausgabe durch die kritische Ausleerung von allen Genitiv-End-S in den Samm- oder Gesamtwörtern. Freilich ungemein beschwerliche Ausfegungen von Buchstaben und Wörtern durch vier lange Bände hindurch kann wohl niemand so hoch ansetzen, nicht einmal die Nachwelt, als der Ausfeger selber.

Verbessert wurde ferner die neue Auflage dadurch, daß ich die beiden Blumenstücke an das Ende des zweiten Bandes stelle (denn in der alten standen sie ganz im Anfange des ersten), und daß ich mit dem ersten Fruchtstücke nicht den ersten Band, sondern viel zweckmäßiger den dritten abschließe; lauter Unterschiede, die früher nicht da gewesen.

Endlich mag es vielleicht als eine der kleinern Verbesserungen gelten, daß ich in den beiden Blumenstücken – besonders in dem des toten Christus – gar keine gemacht, sondern alles gelassen, wie es war, und den bunten goldnen Streusand, womit ich die Schriftzüge etwas unleserlich und höckerig gemacht, abzuschaben unterlassen.

Dies sind nun die vornehmsten Verbesserungen, über welche ich so gern ein Urteil von guten Kunstrichtern, welche die Auflage vergleichen wollten, zum Wachstume meiner Kenntnisse, ja vielleicht meines Ruhms zu erleben wünschte. Da aber nichts verdrüßlicher ist als das Gegeneinanderhalten des alten Buchs gegen das verbesserte: so hab' ich in der Realschulbuchhandlung das gedruckte Exemplar der alten Auflage niedergelegt, in welchem die ganze mit Dintenschwärze verbesserte Druckerschwärze, nämlich alle durchstrichenen Stellen leicht auf einmal zu übersehen sind, oft halbe und ganze totgemachte Seiten, so daß man erstaunt. Der entferntere Kunstrichter freilich müßte, da er vielleicht ebenso ungern als der benachbarte Berlins mit Korrektors-Schiffziehen Blatt für Blatt beider Auflagen gegeneinander abwägt, sich damit begnügen, daß er die Bände von beiden in zwei Gewürzkrämerschalen legte und dann zusähe; er wird aber finden, wie sehr die neue Auflage die alte überwiegt. Aus der [13] Strenge gegen zweite Auflagen nun dürften dann leicht beide Männer ihre Schlüsse auf die Strenge gegen erste, und aus dem Ausstreichen des Gedruckten auf das frühere des Geschriebenen ziehen; – und dies wäre allerdings ein Fest für mich.


Baireuth, im Sept. 1817.


Dr. Jean Paul Fr. Richter. [14]

Vorrede

womit ich den Kaufherrn Jakob Oehrmann einschläfern mußte, weil ich seiner Tochter die Hundposttage und gegenwärtige Blumenstücke etc. etc. erzählen wollte


Den hl. Weihnachtabend 1794, als ich aus der Verlaghandlung beider Werke und aus Berlin in der Stadt Scheerau ankam, trat ich sogleich vom Postwagen in das Haus des Herrn Jakob Oehrmann, meines vorigen Gerichtherrn, weil ich Wiener Briefe hatte, die er recht gut gebrauchen konnte. Ein Kind kann sich vorstellen, daß ich damals keinen Gedanken an eine Vorrede hatte: es war sehr kalt – schon der 24te Dezember – die Laternen brannten schon – und ich war so steif ausgefroren wie das Rehkalb, das als blinder Passagier mit mir auf dem Postwagen gesessen. Im Laden selber, der voll Zug- und anderen Windes war, konnte kein vernünftiger Vorredner wie ich arbeiten, weil da schon eine Vorrednerin – Oehrmanns Tochter und Ladendienerin – mit mündlichen Vorreden die besten Weihnachtalmanache, die man hat, begleitete und verkaufte, Duodez-Werkchen auf Löschpapier, aber mit echtem Inhalt aus dem goldenen und silbernen Zeitalter, ich meine die Phrases-Bücher voll Gold- und Silberschaum, womit der Hl. Christ wie der Herbst seine Geschenke vergoldet oder wie der Winter versilbert. Ich verdenk' es der armen Ladenzofe nicht, daß sie, von so vielen Einkäufern des Hl. Abends bestürmt, auf einen alten Verkäufer so vieler hl. Abende, auf mich alten Kundmann, kaum hinnickte und mich, ob ich gleich erst aus Berlin anlangte, sogleich zum Vater hineinwies.

Drinnen war alles in Glut, Jakob Oehrmann sowohl wie sein Schreibkontor: er saß auch über einem Buche, aber nicht als Vorredner, sondern als Registrator und Epitomator, er zog die Generalbilanz des libro maestro. Er hatte sie schon zweimal aufsummiert, aber die Kredit-Summa war und blieb um ein [15] Schweizer-Örtlein, d.i. 13 1/2 Xr. Zürcher Währung, zu seinem Schrecken größer als die Debet-Summa. Der Mann hatte mit sich und mit dem Triebel an der im Kopfe gehenden Rechnungmaschine zu tun: er sah mich kaum an, ob ich gleich sein Gerichthalter gewesen war und Wiener Briefe hatte. Für Kaufleute, die wie ihre Fuhrleute in der ganzen Welt zu Hause sind, und denen die entferntesten andern handelnden Mächte täglich Großbotschafter und Envoyés, nämlich Reisediener schicken, für diese ists nichts Großes, wenn man aus Berlin oder aus Boston oder Byzanz anlangt.

Ich stand, an diese kaufmännische Kälte gegen den Menschen gewöhnt, ruhig am Feuer und hatte meine Gedanken, die hier zu des Lesers seinen werden sollen.

Ich untersuchte nämlich am Ofen das Publikum und befand, daß ich solches wie den Menschen in drei Teile zerlegen konnte ins Kauf-, ins Lese– und insKunst-Publikum, wie mehre Schwärmer den Menschen in Leib, Seele und Geist. Der Leib oder das Kaufpublikum, das aus Geschäftgelehrten und Geschäftmännern besteht, dieses wahre deutsche Reichs-corpus callosum braucht und kauft die größten und korpulentesten (körperhaftesten) Werke und behandelt sie wie die Weiber die Kochbücher, es schlägt sie nach, um darnach zu arbeiten. Für diese gibt es in der Welt zweierlei ausgemachte Narren, die sich nur in der Richtung ihrer tollgewordnen Ideen unterscheiden, wovon die der einen zu sehr in die Tiefe, die der andern in die Höhe geht – kurz die Philosophen und die Dichter. Schon Naudäus macht in der Aufzählung der Gelehrten, die man ihrer Kenntnisse wegen in den mittlern Zeiten für Zauberer gehalten, die schöne Bemerkung, es sei dieses nur Philosophen, nie Juristen und Theologen widerfahren. Noch geht es den Weltweisen so, nur daß, da der edle Begriff von Zauberer und Hexenmeister, dessen spiritus rector und schottischer Meister der Teufel selber gewesen, herabgesunken ist zu dem Namen eines starken oder weisen Mannes und Taschenspielers, der Weltweise sich die letzte Bedeutung muß gefallen lassen. Mit dem Poeten steht es noch erbärmlicher; der Philosoph ist doch ein vierter Fakultist, ein Amtinhaber, und kann über[16] seine Sachen lesen; aber der Poet ist gar nichts und wird nichts im Staate – er wäre denn nicht geboren, sondern gemacht von der Reichshofkanzlei –, und Leute, die ihn beurteilen können, werfen ihm ohne Umstände vor, er bediene sich häufig solcher Ausdrücke, die weder im Handel und Wandel, noch in Synodalschreiben, noch in General-Reglements, noch in Reichshofratsconclusis, noch in medizinischen Bedenken und Krankheitsgeschichten gäng und gäbe wären, und er gehe sichtbar auf Stelzen und sei schwülstig und nie ausführlich oder kurz genug. Gleichwohl bekenn' ich gern, daß man auf diese Weise den Dichter so richtig rangordnet, wie Linnäus die Nachtigallen, welcher diese mit Recht, weil er von ihrem Gesang absah, unter die närrischen eckigbeweglichen Bachstelzen einrechnete.

Der zweite Teil des Publikums, die Seele, das Lese-Publikum, besteht aus Mädchen, Jünglingen und Müßigen. Ich werd' es weiter unten loben; es lieset uns alle doch und überschlägt gern dunkle Blätter, worin bloß räsoniert und geschwatzt wird, und hält sich wie ein ehrlicher Richter und Geschichtforscher an Fakta.

Das Kunst-Publikum, den Geist, könnt' ich wohl weglassen; die wenigen, die nicht nur für alle Nationen und alle Arten des Geschmacks Geschmack haben, sondern auch für höhere, gleichsam kosmopolitische Schönheiten, solche wie Herder, Goethe, Lessing, Wieland und noch einige, kommen mit ihren Stimmen bei einem Autor auch außer der Minderzahl derselben schon darum, weil sie ihn nicht lesen, wenig in Betracht.

Wenigstens verdienen sie nicht die Zueignung, womit ich mir am Ofen vornahm, das große Kauf-Publikum zu bestechen, das eigentlich den Buchhandel erhält. Ich wollte nämlich den Hesperus oder den Kuhschnappler Siebenkäs dem Gericht- und Handelherrn Jakob Oehrmann ordentlich zueignen: das war die Maske. Nämlich so:

Jakob Oehrmann ist kein verächtlicher Mann: er hatte in Amsterdam vier Jahre als Börsenknecht gedient, d.h. er läutete als kaufmännischer Glöckner von 11 3/4 bis 12 Uhr die Börsenglocke. – Darauf wurd' er scharrend und schindend ein gutes [17] Haus, indem er keines machte, und stieg zur Würde eines Siegelbewahrers von einem ganzen ritterschaftlichen Siegelkabinette, das auf den adligen Schuldscheinen zerstreuet aufgepappt saß. – Er nahm zwar wie berühmte Schriftsteller kein bürgerliches Amt an, sondern schrieb lieber, aber die gemeine Stadtmiliz von Scheerau, der das Herz am rechten Orte sitzt, nämlich am sichersten, und die sich kühn durchziehenden Truppen zeigt als ein aufmerksames Beobacht-corps, nötigte ihn, ihr Hauptmann zu werden, ob er gleich mit der Stelle ihres Tuchlieferers sich behelfen wollte. – Er ist ehrlich genug, besonders gegen Kaufleute, und weit entfernt, wie Luther das geistliche Recht zuverbrennen, äschert er im bürgerlichen kaum wenige Titel aus dem siebenten Gebote ein, ja er brennt sie nur an wie die Wiener Zensur halb verbotne Bücher; und das tut er nur gegen Fuhr-, Schuld- und Edelleute. Vor einem solchen Manne kann ich ohne Gewissensbisse einigen wohlriechenden Weihrauch machen und in dem aufziehenden Zauberdampf seine holländische Gestalt, wie die eines Schröpferischen Gespenstes, vergrößert erscheinen lassen.

Nun wollt' ich unter seinem Bilde einige Züge vom großen Kauf-Publikum einschwärzen; denn er ist ein tragbares im Kleinen – er achtet, wie das große, nur Brotstudien und Bierstudien, keine Reden als Tischreden, keine gelehrtern Zeitungen als politische – er weiß, der Magnet ist bloß erschaffen, um seine hinangeworfnen Ladenschlüssel zu tragen, der Aschenzieher, um seine Tabakasche zu sammeln, seine Tochter Pauline, um beide zu ersetzen, wiewohl sie stärkere Dinge und stärker zieht als beide – er kennt nichts Höheres in der Welt als Brot und verabscheuet den Stadtmaler, der damit die Pastell-Kleckse wegscheu ert – er und seine in drei Hansestädte eingemauerten Söhne lesen und schreiben kein anderes und kein geringeres Buch als das Haupt- und das Schmierbuch.....

»Ich will verloren sein«, dacht' ich in der Ofenhitze, »wenn ich das Kauf-Publikum feiner schildern kann als unter dem Namen Jakob Oehrmanns, der nur ein Ast oder eine Fiber von ihm ist; aber es könnte nicht wissen, was ich wollte«, fiel mir ein; und [18] dieses Rechnungsverstoßes wegen wurde auf heute ein ganz neuer Plan gemacht.

Die Tochter kam gerade, als ich den Verstoß heraus hatte, hinein und brachte den von Oehrmann heraus samt der Generalbilanz-...... Jetzo sah der Vater mich an und machte etwas aus mir, und als ich die Wiener Briefe – er setzt sie paulinischen und poetischen gleich – als Kreditive vorzeigte, wurd' ich aus einer stummen Freskopartie an der Kontorwand etwas, das Geist und Magen hat, und wurde mit letztem zum Abendessen behalten.

Ich wills nur – und hetzten auch die Kunstrichter alle deutsche Kreise gegen mich auf und gössen eine neue Türkenglocke – ganz herausfahren lassen, daß ich bloß der Tochter wegen kam und blieb. Ich weiß, die Gute hätte meine neuern Werke sämtlich gelesen, hätte ihr der Alte Zeit dazu gelassen; und eben daher konnt' ich mir nicht verbergen, es sei meine Schuldigkeit, den Vater in Schlaf zu reden, wenn nicht zu singen und nachher der wachen Tochter alles zu erzählen, was ich der Welt erzähle durch den Preßbengel. Dies war ja eben bekanntlich die Ursache, daß ich gewöhnlich immer kam und sprach, wenn er Posttag hatte und leicht einschlief.

Am Hl. Abend sollten gar die 45 Hundposttage fast in ebensoviel Minuten ausgezogen werden; ein langes Werk, das keinen kurzen Schlaf verlangte.

Ich wünschte, die Hrn. Redakteure der Rezensenten und Rezensionen, die mir hierin vieles verdenken, wären nur ein einzigesmal auf dem Kanapee neben meiner Namenbase Johanne Pauline gesessen: sie hätten ihr meine meisten Lebensbeschreibungen und die halbe Blaue Bibliothek in solchen guten pragmatischen Auszügen erzählt, als sie in Rezensionen vor ganz andern Gesichtern tun; sie wären in Wonne geschwommen über die Wahrheit in Paulinens Worten, über die Naivetät ihrer Mienen und über die Einfachheit sowohl als Schalkhaftigkeit ihrer Handlungen und hätten sie bei der Hand erfaßt und gesagt: »Solche rührende Lustspiele, wie eines da neben uns sitzt, schaff' uns nur der Dichter, und dann ist er unser Mann.« – Ja wären die Redakteure vollends weiter gekommen im Bücherausziehen und [19] hätten sich und Paulinen noch mehr gerührt, als ich von so strengen kritischen Gerichthaltern kaum erwartet hätte – und hätten sie dann die milde, in einen Tränennebel hintauende Gestalt gesehen oder eigentlich beinahe verloren (weil Mädchen und Gold desto weicher sind, jereiner sie sind), und hätten sie, wie natürlich, in einer himmlischen Wärme sich und den schnarchenden Vater fast völlig vergessen.... Beim Himmel! ich bin jetzo selber in der größten, und die Vorrede will so bis morgen währen. Es muß offenbar gelassener fortgefahren werden....

– Ich darf es, glaub' ich, annehmen, daß der Kauf-und Gerichtherr sich durch Briefschreiben am Hl. Abende so entkräftet hatte, daß ihm zum Einschlafen nichts fehlte als ein Mann, ders beschleunigte durch langstilisiertes Redenhalten. Der war ich wohl. Aber anfangs unter dem Abendessen bracht' ich freilich nur Sachen auf die Bahn, die der Prinzipal begriff. Mit dem Löffel und der Gabel in der Hand und vor dem Tischgebet war er noch zu dauerhaftem Schlaf untüchtig; ich ergötzte ihn also mit muntern Sachen von Belang, mit dem erschossnen unausgeweideten Passagier (dem obigen Rehkalb) – mit einigen kleinen Krämer-Falliments unterweges – mit meinen Gedanken über den Frankreichischen Krieg und mit der Beteuerung, die Friedrichstraße in Berlin sei eine halbe Meile lang und die dasige Preß- und Handelsfreiheit groß – auch merkt' ich an, daß ich durch wenige deutsche Kreise gefahren sei, worin nicht die Betteljungen noch als die Revisionräte und Leuteranten der Zeitungschreiber dienten. Die Zeitungmacher nämlich flößen mit ihrer Dinte allen Toten auf dem Schlachtfelde Leben ein und können die Auferstandenen wieder in der nächsten Affäre gebrauchen; die Soldatenjungen hingegen machen gern ihre Eltern tot und betteln auf Sterbelisten; sie schießen für einen Pfennig ihren Vater nieder, den der Zeitevangelist für einen Groschen wiederaufstellt – und so sind beide Wesen durch gegenseitige Lügen auf eine schöne Art eines des andern Gegengift. Dies ist die Ursache, warum ein Zeitungschreiber so wenig als der Rechtschreiber sich an Klopstocks Rechtschreibregel binden kann, nichts zu schreiben, als was man hört.

[20] Als das Tischtuch weggezogen wurde, sah ich, es sei Zeit, den Fuß auf die Wiege zu setzen, worin der Hauptmann Oehrmann lag. Der Hesperus ist zu dick. Zu andern Zeiten hatt' ich Zeit genug; sonst fing ich bloß, um diese große Tulpe zum Schlafe zuzuziehen, mit Krieg und Krieggeschrei an – trat dann mit dem Naturrecht ein, oder vielmehr mit den Naturrechten, deren jede Messe und jeder Krieg neue liefert – hatte darauf nur wenige Schritte zum höchsten Grundsatze der Moral und tauchte so den Handelmann unvermerkt mitten in den magnetischen Gesundbrunnen der Wahrheit ein – oder ich hielt ihm mehre von mir angezündete neue Systeme, die ich widerlegte, unter die Nase und betäubte ihn mit dem Rauche so lange, bis er kraftlos umfiel..... Dann kam Friede, dann machten ich und die Tochter den Sternen und Blumen draußen die Fenster auf, und der armen darbenden Seele wurde von mir die schönste poetische Bienenflora vorgesetzt....

Das war sonst mein Gang.

Heute nahm ich einen kürzern. Ich näherte mich sogleich nach dem Tischgebete, so weit es tunlich war, der Unverständlichkeit und legte dem Handelhause der Oehrmannischen Seele, ihrem Körper, die Frage vor, ob es nicht mehr Cartesianer als Newtonianer unter den Fürsten gebe. »Ich meine gar nicht in betreff der Tiere – fuhr ich langsam und langweilig fort –, welche Cartesius für unempfindliche Maschinen hielt, worunter also das edelste Tier, der Mensch, auch mit käme unverschuldet – sondern meine Meinung und Frage soll die sein: setzen nicht mehre das Wesen eines Staats, wie der große Cartesius das der Materie, in Ausdehnung und wenigere dasselbe, wie der größere Newton das der Materie, in Solidität

Er erschreckte mich mit der lebhaften Antwort: nur der flachsenfingische und der **er Fürst wären solide Männer, welche zahlen.

Jetzo stellte die Tochter einen Wäschkorb neben den Tisch und ein Letternkästchen auf ihn, um in die Hemden ihrer brüderlichen Hanse die ganzen Namen abzudrucken. Da sie ihm eine hohe weiße Fest-Tiara aus jenem herauslangte und die niedrige [21] Sonnabend-Kapuze zurückempfing: so wurd' ich aufgemuntert, so dunkel und langweilig zu werden, als die Schlafmütze und meine Absicht es begehrten.

Da er nun gegen nichts so herzlich kalt ist als gegen meine Bücher und gegen alle schön-wissenschaftlichen Fächer: so beschloß ich, ihn ganz mit diesem verhaßten Stoffe einzubauen und zu überschlichten. Es gelang mir, so auszuholen: »Ich sorge fast, Hr. Hauptmann, Sie werden sich am Ende wundern, daß ich Sie noch auf keine Art, die man ausführlich nennen kann, mit meinen zwei neuesten opusculis oder Werken in Bekanntschaft gebracht, worunter das ältere seltsam genug Hundposttage heißt und das frischere Blumenstücke. Bring' ich aber heute nur das Wesentlichste aus den fünfundvierzig Posttagen bei und hole erst über acht Tage die Blumenstücke nach: so hab' ich vielleicht einiges wieder gut gemacht. Ich hab' es allein zu verantworten, wenn Sie gar nicht sagen können, was das erste Opus ist, wenn Sie es für ein Wappen- oder für ein Insektenwerk ansehen – oder für ein Idiotikon – für einen alten Codex – oder für ein Lexicon homericum – oder für einen Bündel Inaugural-Disputationen oder für einen allezeit fertigen Kontoristen – oder für Heldengedichte und Epose – oder für Mordpredigten... Es ist aber nichts als eine gute Geschichte, durchwürkt jedoch mit obigen Werken schichtweise. Ich wollte selber, es wäre etwas bessers, Hr. Hauptmann – besonders wünscht' ich es so deutlich abgefaßt zu haben, daß man es halb im Schlafe lesen könnte und halb darin machen. Ich kenne hierin, Hr. Hauptmann, Ihre kritischen Grundsätze noch wenig und kann also nicht sagen, ist Ihr Geschmack britisch oder griechisch; aber ich besorge, es tut dem Werke Abbruch, daß darin Stellen – ich hoffe, es sind deren nicht viele – nachzuweisen sind, worin mehr als ein Sinn steckt, oder allerlei Bildliches und Blumiges zugleich, oder ein an- scheinender Ernst, hinter welchem gar keiner ist, sondern lauterer Spaß (der Deutsche aber fodert seinen Geschäftstil) – und daß auch, befürcht' ich am gewissesten, in dem sonst weiten Werke die jetzigen Ritterromane, welche so oft von den alten herrlichen kunstlosen, nicht der leichten Feder, sondern des [22] schweren Eisens mächtigen Rittern selber geschrieben zu sein scheinen, kaum mit dem Erfolge von mir nachgeahmt und erreicht worden, nach welchem ich so oft gerungen. – Vielleicht hätt' ich im Buche auch die Sittsamkeit und die Ohren der Damen öfter beleidigen mögen, als mancher Weltmann gefunden; da Bücher, sobald sie keine hohen Ohren, sondern nur keusche, und nicht den Staat, sondern nur die Bibel verletzen, am wenigsten anstößig sind, ja vielmehr, wenn es recht zugeht, zum Nachttischgeräte und zur literarischen Gerade aus demselben Grunde geschlagen werden, warum der L. 25. §. 10. de aur. arg. die Gefäße der Unehren zum mundo muliebri und mithin der sel. Hommel sie zur weiblichen Gerade rechnet«

Ich ersah hier zu spät, daß ich ihn dadurch auf einen munter machenden Gedanken geführt. Ich tat zwar einen Sprung in eine andere Materie und merkte an: verbotne Bücher stelle man überhaupt am sichersten in öffentlichen Bibliotheken auf, die man mit den gewöhnlichen Bibliothekaren versehen, weil ihre verdrüßliche Miene besser als ein Zensuredikt das Lesen abwendet; aber Jakobus sagte doch seinen Gedanken heraus: »Pauline, erinnere mich morgen daran, die Stenzin ist die Huren-Gebühren noch schuldig.« Es war mir ungemein verdrüßlich daß, wenn ich den Schlaf bis auf wenige Schritte herangekörnet hatte, der Hauptmann wieder mit etwas abdrückte und losplatzte, was das beste Schlafpulver sogleich in alle Lüfte blies. Keinem Menschen ist überhaupt schwerer Langeweile zu geben als einem, der sie selber immer austeilt; leichter getrau' ich mir in fünf Minuten einer vornehmen geschäftfreien Frau Langeweile zu machen als in ebenso vielen Stunden einem Geschäftmanne.

Die gute Pauline, die heute so gern die Historie hören wollte, die ich in Handschrift nach Berlin begleitet hatte, legte mir langsam folgende Buchstaben aus dem Hemde-Schriftkasten einzeln in der Hand herum: erzahlen, d.h. ich sollte dieser guten Hemd-Setzerin die Hundposttage heute erzählen.

Ich griffs von neuem an und begann seufzend dergestalt: »Hr. Gerichtprinzipal, berlinische Lettern dieser Art wird meine Wenigkeit nun auch durch ihr neuestes Werk in Bewegung [23] setzen, und auf solche feine Hemden, wenn sie der Holländer als Posthadern unter sich gehabt, werden meine Posttage gesetzt wie jetzo die Namen von Ihren drei Hrn. Söhnen. In der Tat, muß ich bekennen, hatt' ich nichts, um mich zu trösten, als ich auf der Post hineinwärts saß und den rechten Fuß unter meine Handschrift und den linken unter einen Bittschriften-Ballen steckte, der dem Scheerauer Fürsten zur Armee nachreisete, ich hatte, sag' ich, weiter nichts, um mich zu trösten, als den natürlichen Gedanken: der Teufel mach' es anders. Nur tut dies niemand weniger als der. Denn, beim Himmel! in einem Zeitalter wie unserem, in einem, wo das Orchester die Instrumente der Weltgeschichte erst zu einem künftigen Konzerte stimmt, wo mithin noch alles unerhört ineinanderschnarrt und -pfeift (daher einmal das Stimmen einem marokkanischen Gesandten am Wiener Hofe noch besser als die Oper gefiel) – in einem solchen Zeitalter, wo es so schwer ist, den feigen Menschen vom mutigen, den lässigen vom tatendurstigen, den verdorrten vom grünenden zu unter scheiden, wie jetzo im Winter die fruchttragenden Bäume aussehen wie die verreckten – in einem solchen Zeitalter gibts für einen Autor keinen Trost als einen, dessen ich heute noch nicht gedacht habe, den nämlich: daß er doch ein Zeitalter, worin höhere Tugend, höhere Liebe und höhere Freiheit seltene Phönixe oder Sonnenvögel sind, recht gut mitnehmen und die sämtlichen Vögel so lange recht lebhaft malen kann, bis sie selber geflogen kommen; alsdann freilich, wenn sie in ihren Urbildern auf der Erde ansässig sind, ist wohl uns allen das Schildern und Preisen derselben größtenteils versalzen und zuwider gemacht und ein bloßes Dreschen leeren Strohs. – – Nur wer nicht handeln kann, arbeitet für Pressen.«

»– Die Arbeit ist nur darnach«, fiel der wache Handelmann ein, »der Handel ernährt seinen Mann; aber Bücherschreiben ist nicht viel besser als Baumwolle spinnen, und Spinnen ist das nächste am Betteln... Ihnen nicht zu nahe geredet; aber alle verdorbene Buchhalter und fallite Kaufleute fallen zuletzt aufs Fabrizieren der Rechen- und andrer Bücher.«

Das Publikum sieht, wie wenig der Kauf- und Hauptmann [24] auf mich hielt, weil ich statt der Geschäfte nur Werke machte, ob ich ihm gleich sonst als sächsischer Vikariat-Notarius bei Tag und Nacht beigesprungen war zum Wechselprotest. Ich weiß, wie außerordentliche Professoren der Sittenlehre denken; aber nach einer solchen Mißhandlung getrau' ich mirs bei ihnen zu verantworten, daß ich auf der Stelle wild wurde und die Unhöflichkeiten des Mannes ohne alle Schonung – ob er gleich seiner fünf Sinne nicht mehr mächtig blieb – mit nichts Gelinderm erwiderte als mit einem treuen Vorsagen der – Extrablätter im Hesperus.

Daran mußt' er versterben – ich meine entschlafen.....

Dann gingen tausend Glücksterne für Autor und Tochter auf- dann brach unser Fest der süßen Brote an – dann konnt' ich mich ans Vorfenster mit ihr stellen und ihr alles erzählen, was das Publikum nun längst in Händen hat. Ich ließ nichts weg als aus guten Gründen das letzte Kapitel des Hesperus, worin ich, wie bekannt, gefürstet werde. Wahrlich, Süßeres gibt es nichts, als einem eingekerkerten, von Predigten belagerten, weichen, frommen Herzen, das sich auf keinem Geburttagsball – und wär' es der des Superintendenten und seiner Frau – und an keinem Romane – hätt' ihn auch der eigne Gerichthalter verfaßt erwärmen darf; so linde wie Honigseim ist es, dem belagerten ausgehungerten Herzen einen allmächtigen Entsatz zu schicken und der verhüllten Seele eine Masche in den dicken Nonnenschleier größer zu reißen und ihr dadurch ein blühendes glimmendes Morgenland zu zeigen – die Tränen ihrer Träume aus aufgeschlossnen Augen zu locken – sie über ihre Wünsche zu heben und das weiche, von einem langen Sehnen gepreßte und in harte Ketten gelegte Herz auf einmal losgebunden im Frühlingwehen der Dichtkunst auf und ab zu wiegen und in ihm sanft durch einen feucht-warmen Lenz einen bessern Blumensamen aufzuschwellen, als in dem nächsten Boden aufgeht.....

Um 1 Uhr war ich schon fertig und stand im 44ten Kapitel; denn ich hatte zu drei Teilen nur drei Stunden gebraucht, weil ich alle Extrablätter aus dem Buche als Sprecher der Weiber herausgerissen hatte. »Ist der Vater das Kauf-, so ist die Tochter [25] das Lese-Publikum, und man muß sie mit nichts abmartern, was nicht rein historisch ist«, sagt' ich und opferte meine liebsten Ausschweifungen auf, für welche überhaupt eine so reizende Nachbarschaft die Wildbahn nicht ist.....

Dann hustete der Alte – fuhr aus dem Sessel – fragte nach der Uhr – wünschte zuerst gute Nacht – schickte mich, der eben dadurch eine einbüßte, fort und sah mich nicht wieder als acht Tage darnach am hl. Abend vor dem Neujahr.

Es wird noch meinen Lesern beifallen, daß ich an diesem Abende wiederzukommen verheißen, weil ich dem Prinzipal einen kurzen Bericht über die Blumenstücke – es ist eben gegenwärtiges Buch – erstatten wollte und sollte.

Ich beteure dem geneigten Leser, daß ich ihm jetzo die Sache nicht anders berichte, als sie war.

Ich erschien denn am letzten Abend des Jahres 1794 wieder, auf dessen rotgefärbten Wellen so viele verblutete Leichname ins Meer der Ewigkeit hineingetrieben wurden. Der Prinzipal empfing mich mit einer Kälte, die ich halb der physischen draußen – denn die Menschen und die Wölfe erbosen sich im Frostwetter am stärksten – zuschrieb, halb auch den Wiener Briefen, d.h. dem Mangel derselben, und ich hatte Überhaupt heute nichts beim Manne zu tun. Da ich aber ohnehin am Neujahrtage mit einer Donnerstag-Post aus Scheerau gehen und da ich der guten geliebten Pauline so gern noch einige Paulina, nämlich diese Aufsätze, erzählen wollte, weil ich wußte, sie bekomme eher alle andre Ware auf ihre Ladenbank als diese: so kann doch wahrhaftig kein Redakteur, der Grundsätze hat, darüber hitzig werden, daß ich wieder erschien. Ein solcher hitziger Kopf höre wenigstens den Plan, den ich hatte: ich wollte der stillen Seelenblume erstlich die Blumenstücke als zwei aus Blumen musivisch zusammengelegte Träume geben – dann dasDornenstück 1, von dem ich die Dornen, nämlich die Satiren, wegzubrechen hatte, [26] damit für sie nichts übrig bliebe als eine sonderbare Geschichte und endlich sollte das Fruchtstück zuletzt (wie im Buche selber) aufgetragen werden als ein süßer Frucht-Nach tisch; und in dieser reifen Frucht (vorher hätt' ich mündlich allen philosophischen kühlenden Eisapfelsaft ausgepreßt, den nachher die Presse darin gelassen) – wollt' ich am Ende selber sitzen als Apfelwurm. Dies wäre ein schöner Übergang gewesen zu meinem Abgang oder Abschied; denn ich wußte nicht, ob ich Paulinen, diesen Blumenpolypen mit seinen zuckenden markweichen Fühlfäden, die sich ohne Augen nur aus Gefühl nach dem Lichte wenden, je wieder sehen oder wieder hören würde, sobald mein neuer Fürstenstand auskäme. Mit dem alten faulen Holze, worauf der Polype blühte, hatt' ich ohnehin ohne Wiener Briefe wenig zu verkehren.

Aber das alte Jahr sollte sich, so nahe neben richtigen Wünschen des neuen, noch mit unerfüllten schließen.

Ich habe mir jedoch wenig vorzuwerfen; denn ich suchte dem lebendigen ostindischen Hause sogleich Langweile und Schlaf zu machen, als ich kam und dasselbe nur saß. Das einzige Angenehme, was ich ihm sagte, war, daß ich, da der Gerichtherr einige Injurien gegen meinen Nachfahrer, seinen jetzigen Gerichthalter, ausgestoßen, diese ausdehnte auf alle Juristen und dadurch das Pasquill zur edlern Satire erhob und versüßte: »Ich kann mir die Advokaten und die Klienten als zwei Reihen bei einer Löschanstalt des Gelddurstes vorstellen; die eine Reihe, die der Klienten, steht mit leeren Eimern oder Beuteln hinab, die andre, anwaltende Reihe reicht sich einander die vollen hinauf«, sagt' ich. Das wars.

Ich denke, es war nicht unüberlegt, daß ich ihm das große Kauf-Publikum, da er ein kleineres, nur etliche Fuß langes und dickes ist, mit Zügen vorschilderte, die auf ihn selber paßten; es wurde ja eigentlich an ihm damit bloß der Versuch gemacht, was das Kauf-Publikum selber sagen würde zu folgenden Gedanken: »Das jetzige Publikum, Hr. Hauptmann, wird nach und nach eine solide nord-indische Kompagnie und macht jetzo, dünkt mich, einige Figur neben den Holländern, bei welchen Butter und Bücher bloß ein Artikel des aktiven Handels sind und die [27] für das attische Salz Geschmack haben, womit Beukelszoon die Fische einpökelte, und die ich, ob sie gleich dem Erasmus, der keine aß, für ein besseres eine Statue schenkten, doch damit rechtfertige, daß sie dem obigen Einsalzer noch früher eine haben meißeln lassen. Selber Campe, welcher die Verfasser des Spinnrades und der braunschweigischen Mumme den Formern und Braumeistern der Heldengedichte keinesweges unterordnet, wird mir recht geben, wenn ich sage, daß jetzo aus dem Deutschen etwas werde – nämlich ein gesetzter gründlicher Mann ein Handelmann – ein Geschäftmann – ein Mann von Jahren, der Eßbares von Denkbarem zu sichten und dieses wegzuschaffen weiß – der Nachdrucker von Verlegern, und die Manufakturisten von beiden unterscheidet und reinigt – ein Spekulant, der, so wie die Hühner vor den mit Fuchsdärmen bezognen Harfen davonfliegen, seinerseits gar keine poetische Harfe hören kann, und hätte sie der Harfener mit seinem eignen Gedärm besaitet der nun bald keine zeichnende Künste mehr dulden wird als auf Warenballen 2, keine Druckerei als auf Kattun.« – –

– Hier sah ich zu meinem Erstaunen, der Handelmann sei schon eingeschlafen und habe seinen Sinnen-Kaufladen geschlossen. Es ärgerte mich, ihn so lange umsonst gefürchtet und angeredet zu haben; ich war nichts als der Teufel gewesen und er der König Salomo, welchen der Böse für lebendig gehalten 3.

Inzwischen, um ihn nicht aufzuwecken durch einen schnellen Tonwechsel, setzt' ich ruhig das Gespräch mit ihm fort; redete ihn aber, immer weiter gegen das Fenster fortrückend und wegschleichend, mit folgendem leisen diminuendo der Stimme an: »und von einem solchen Publikum erwart' ich sehr, daß es einmal über Altarblätter Schuhblätter setzen lernt, und daß es bei [28] dem moralischen und philosophischen Kredit eines Professors vor allen Dingen fragt: ›ist der Mann gut?‹ – Und ferner ist zu erwarten, daß ich jetzo, teuerste Zuhörerin (setzt' ich in unverändertem Tone dazu, um dem Schläfer dasselbe Geräusch vorzumachen), Ihnen die Blumenstücke vorerzählen werde, die ich gar noch nicht einmal zu Papier gebracht und die ich leicht heute zu Ende führe, wenn Sie dort (der Vater Jakobus) so lange schlafen.«

Ich fing also folgendergestalt an:

N.S. Es wäre jedoch lächerlich, wenn ich die ganzen Blumen- und Dornenstücke, da sie schon sogleich im Buche selber auftreten, wieder in die Vorrede wollte hereindrucken lassen. Aber zu Ende dieses Buchs will ich das Ende der Vorrede und dieses hl. Abends beifügen und mich dann an das zweite Bändchen machen, damit es zu Ostern zu haben ist.


Hof, den 7. Nov. 1795


Jean Paul Friedr. Richter. [29] [31]

Ehestand, Tod und Hochzeit
des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs
im Reichsmarktflecken Kuhschnappel

Ein treues Dornenstück

[31] [33]Erstes Kapitel

Hochzeittag nach dem Respittage – die beiden Ebenbilder – Schüsseln-Quintette in zwei Gängen – Tischreden – sechs Arme und Hände


Der Armenadvokat Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel hatte den ganzen Montag im Dachfenster zugebracht und sich nach seiner Braut umgesehen; sie sollte aus Augsburg früh ein wenig vor der Wochenbetstunde ankommen, damit sie etwas Warmes trinken und einmal eintunken könnte, ehe die Betstunde und die Trauung angingen. Der Schulrat des Orts, der gerade von Augsburg zurückfuhr, hatte versprochen, die Verlobte als Rückfracht mitzunehmen und ihren Kammerwagen oder Mahlschatz hinten auf seinen Koffer zu binden. Sie war eine geborne Augsburgerin – des verstorbenen lutherischen Ratkopisten Egelkraut einzige Tochter –, wohnte in der Fuggerei in einem geräumigen Hause, das vielleicht größer war als mancher Salon, und war überhaupt nicht unbemittelt, da sie nicht wie pensionierte Hof-Soubretten von fremder Arbeit lebte, sondern von eigner; denn sie hatte die neuesten Kopf-Trachten früher als die reichsten Fräulein in den Händen (wiewohl in einem Formate, daß keine Ente den Putz aufsetzen konnte) und führte nach dem kleinen Baurisse die schönsten Hauben im großen aus, wenn sie einige Tage vorher bestellt waren.

Alles, was Siebenkäs unter dem Warten tat, waren einige Eidschwüre, daß der Teufel das Suchen und seine Großmutter das Warten ausgesonnen. Endlich erhielt er noch früh genug statt der Braut einen Nachtboten mit einem Schreiben des Schulrats: er und die Verlobte könnten unmöglich vor Dienstags eintreffen, sie arbeite noch an ihrem Brautkleide, und er noch in den Bibliotheken der Exjesuiten und des Geheimen Rat Zapf und der Gebrüder Veith und an einigen Stadttoren. Letzte bewahren bekanntlich uns noch römische Altertümer. Indes Siebenkäsens [33] Schmetterlingrüssel fand in jeder blauen Distelblüte des Schicksals offne Honiggefäße genug; er konnte doch am leeren Montag die letzte Arm-Feile und den Glättzahn an seine Stube legen, mit Schreibfedern den Streusand und den Staubpuder vom Tische fegen, das papierne Geniste hinter dem Spiegel ausreuten, das Dintenfaß von Porzellan mit unsäglicher Mühe weißer wischen und die Butterbüchse und die Kaffeetäßchen auf dem Throngerüste eines Schrankes mehr weiter hervor in Reih und Glied stellen und die Messingnägel am ledernen Großvaterstuhl blitzgelb scheuern. Er unternahm die neue Tempelreinigung seiner Stube nur aus Langweile; denn ein Gelehrter hält bloß Ordnung der Bücher und Papiere für eine; zweitens behauptete der Armenadvokat: »Ordnungliebe ist, geschickt erklärt, nichts als die schöne Fertigkeit des Menschen, ein Ding noch zwanzig Jahre lang immer an den alten Ort zu setzen, der Ort selber kann sitzen, wo er will.« – Er hatte nicht nur eine schöne Stube, sondern auch einen langen roten Eßtisch zur Miete, den er an einen niedrigen gestoßen, desgleichen hohe Kröpel-Stühle; auch die Mietherren der Möbeln und der Stube, die sämtlich in diesem Hause wohnten, hatt' er sich auf seinen blauen Montag geborgt gehabt; es wäre sonach herrlich an diesem abgelaufen, weil die meisten Hausleute Handwerker waren und also ihrer in seinen fiel; denn bloß der Mietherr war etwas Bessers, nämlich ein Perückenmacher.

Ich müßte mich schämen, einen Armenadvokaten, der selber einen bedürfte, mit meinen kostbaren historischen Farbestoffen abzufärben, wenn hier der Fall wirklich so wäre; aber ich habe die Vormundschaft-Rechnungen meines Helden unter den Händen gehabt, aus denen ich stündlich vor Gericht erweisen kann, daß er ein Mann von wenigstens zwölfhundert Gulden rhnl. war, ohne die Interessen. Nur hatt' er leider aus den Alten und aus seinem Humor eine unleugbare Verachtung gegen das Geld, dieses metallne Räderwerk des menschlichen Getriebes, dieses Zifferblattrad an unserm Werte, geschöpft, indes doch vernünftige Menschen, z.B. die Kaufleute, einen Mann ebenso hoch schätzen, der es einnimmt, als den, der es wegschenkt, wie ein [34] Elektrisierter den leuchtenden Heiligenschein um den Kopf bekömmt, der Äther mag in ihn ein- oder aus ihm ausströmen. Ja Siebenkäs sagte sogar – vorher tat ers –, man müsse den Bettelsack zuweilen aus Spaß überhängen, um den Rücken für ernsthafte Zeiten daran zu gewöhnen; und er glaubte sich zu retten und zu loben, wenn er fortfuhr: es sei leichter, die Armut zu tragen wie Epiktet, als sie zu wählen wie Antonin, so wie es leichter sei, als Sklave das eigne Bein zum Zerschlagen hinzuhalten, als andern Sklaven ihres ganz zu lassen, wenn man einen ellenlangen Zepter führt. Daher behalf er sich zehn Jahre außer Landes und ein halbes im Reichsmarktflecken, ohne nur einen Kreuzer Zinsen seiner Erbschaftmasse seinem Vormund abzufordern. Da er nun seine eltern- und geldlose Braut auf einmal als Steigerin in ein ausgezimmertes Silberbergwerk fahren lassen wollte – dafür hielt er seine zwölfhundert Gulden mit rückständigen Zinsen –: so flößte er ihr gern im Vorbeigehen in Augsburg den Glauben ein, er habe bloß das liebe Brot, und das wenige, was er erschwitze, gehe von der Hand in den Mund und Magen, nur arbeit' er wie einer und frage wenig nach einem Großen und Kleinen Rate. »Ich will verdammt sein«, hatt' er längst gesagt, »wenn ich eine heirate, die weiß, was ich rentiere; die Weiber halten ohnehin einen Ehemann für den lebendigen Teufel, dem sie ihre Seele – oft ihr Kind – verschreiben, damit der Böse ihnen Hecktaler und Eßwaren zutrage.« –

Auf den längsten Sommer- und Montag folgte eine längste Winternacht, was bloß astronomisch unmöglich ist. Am frischen Morgen fuhr der Schulrat Stiefel vor und hob aus der Kutschenarche (feine Lebensart ziert einen gelehrten Mann doppelt) einen Haubenkopf statt der Braut aus dem Wagen und befahl, das übrige Eingebrachte derselben, das in einem weißverblechten Reisekasten bestand, abzuladen, indes er mit dem Kopfe unter dem Arme zum Advokaten hinauflief: »Ihre werte Verlobte«, sagt' er, »muß gleich nachkommen; sie putzt sich draußen im Vorwerk für das heilige Werk an und bat mich, vorauszufahren, damit Sie nicht ungeduldig würden. Eine wahre Frau nach Salomons Sinn, zu der ich höchlich gratuliere!«

[35] – – »Der Herr Advokat Siebenkäs, meine Schönste? – zu dem kann ich Sie führen, er sitzt bei mir selber, meine Beste, und ich werde Sie den Augenblick bedienen«, sagte der Perückenmacher unten an der Türe und wollte sie an der Hand hinaufgeleiten; aber da sie ihren zweiten Haubenkopf noch in der Kutsche sitzen sah, nahm sie ihn wie ein Kind auf den linken Arm (der Haarkräusler wollte den Kopf vergeblich tragen) und stieg ihm wankend in das Männerzimmer nach. Sie reichte mit einem tiefen Kniebeugen und leisen Grüßen dem Bräutigam bloß die rechte Hand hin, und auf dem vollen runden Gesichtchen – alles ründete sich daran, Stirn, Auge, Mund und Kinn – blühten die Rosen weit über die Lilien hinüber, waren aber desto lieblicher zu schauen unter dem großen schwarzen Seidenhute, und das schneefarbige Mousselinkleid mit einem vielfarbigen Strauße welscher Blumen und mit den weißen Schuhspitzen gaben der schüchternen Gestalt Reize über Reize. Sie band sogleich – weil nicht mehr Zeit zum Kopulieren und Frisieren übrig war – ihren Hut los und legte das Myrtenkränzchen darunter, das sie im Vorwerke der Leute wegen versteckt, auf den Tisch, damit ihr Kopf gehörig wie der Kopf anderer Honoratioren für die Trauung zurechtgemacht und gepudert würde durch den schon passenden Mietherrn.

Du liebe Lenette! Eine Braut ist zwar viele Tage lang für jeden, den sie nicht heiratet, ein schlechtes, mageres hl. Schaubrot, und für mich vollends; aber eine Stunde nehm' ich aus – nämlich die am Morgen des Hochzeittages –, worin die bisherige Freiin in ihrem dicken Putze zitternd, mit Blumen und Federn bewachsen, die ihr das Schicksal mit ähnlichen bald ausreißet, und mit ängstlichen andächtigen Augen, die sich am Herzen der Mutter zum letzten und schönsten Mal ergießen; mich bewegt diese Stunde, sag' ich, worin diese Geschmückte auf dem Gerüste der Freude so viele Trennungen und eine einzige Vereinigung feiert, und worin die Mutter vor ihr umkehrt und zu den andern Kindern geht und die Ängstliche einem Fremden überlässet. Du froh pochendes Herz, denk' ich dann, nicht immer so wirst du dich unter den schwülen Ehejahren heben, dein eignes [36] Blut wirst du oft vergießen, um den Weg ins Alter fester herabzukommen, wie sich die Gemsenjäger ans Blut ihrer eignen Fersen halten. – – Dann möcht' ich zu den zuschauenden und neidischen Jungfrauen auf dem Wege zur Kirche hinaustreten und sagen: mißgönnt der Armen die Wonne einer vielleicht flüchtigen Täuschung nicht so sehr – ach ihr sehet wie sie heute den Zank- und Schönheitapfel der Ehe nur in der Sonnenseite der Liebe hangen, so rot und so weich; aber die grüne, saure, im Schatten versteckte Seite des Apfels sieht niemand. – Und wenn ihr jemals eine verunglückte Ehegattin herzlich bedauert habt, welche den veralteten Brautputz nach zehn Jahren von ungefähr aus dem Kleiderfache zog, und in deren Augen auf einmal alle Tränen über die süßen Irrtümer drangen, die sie in zehn Jahren verloren, wißt ihr denn das Gegenteil von der Beneideten so gewiß, die vor euch glänzend vorüberzieht? –

Ich wäre aber hier nicht unerwartet in diese fremde Tonart von Rührung ausgewichen, wenn ich mir nicht Lenettens Myrtenkränzchen unter dem Hute (ich wollte nur oben nichts von meiner Empfindung sagen) und ihr Alleinsein ohne eine Mutter und ihr angepudertes weißes Blumengesichtchen zu lebhaft vorgestellt hätte und vollends dazu die Bereitwilligkeit, womit sie ihre jungen weichen Arme (sie war schwerlich über neunzehn Jahre) in die polierten Handschellen und Kettenringe der Ehe steckte, ohne nur umzuschauen, an welche Plätze man sie daran führen würde.... Ich könnte hier die Finger aufheben und einen Schwur ableisten, daß der Bräutigam so gerührt war wie ich, wo nicht stärker; zumal wie er den Aurikeln-Puder aus dem Blüten-Gesichte gelind abstrich und die Blumen darin nackt aufblühen ließ. Aber er hatte sein mit Liebetränken und Freudentränen vollgegossenes Herz sehr behutsam herumzutragen, wenn es nicht überlaufen sollte zu seiner Schande vor dem lustigen Haarkräusler und dem ernsten Schulrate. Auch litt er das Überlaufen nicht an sich. Er versteckte, ja verhärtete gern die reinste Erweichung, weil er immer an die Poeten und Schauspieler dachte, welche die Wasserwerke ihrer Empfindung zur Schau springen lassen; und weil er überhaupt über niemand so oft lachte als über sich. Deshalb [37] war heute sein Gesicht von einer sonderbaren lächelnden Verlegenheit, die nur von den naßschimmernden Augen die bessere Bedeutung erhielt, durchzogen und ausgezackt. Da er bald merkte, daß er sich noch nicht genug verberge, wenn er bloß den Handlanger des Perückenmachers und den Proviantkommissarius des Frühstücks vorstelle: so griff er zu einem stärkern Mittel und fing an, sich und seine bewegliche Habe vor Lenetten in ein schönes Licht zu setzen, und fragte: »Liegt meine Stube nicht artig genug, Mademoiselle? – Von hier aus kann ich grade in die Rathaus-Fenster auf den Sitztisch und die Dintenfässer gucken. – Viele von den Stühlen wurden im Frühjahr um vierthalbes Geld erstanden, und sind solche vielleicht niedlich. Aber mein alter guter Großvaterstuhl« (er hatte sich hineingesetzt und auf dessen gepolsterten Arme seine magern hingestreckt) »geht den Stühlen vielleicht im Großvatertanz voran; wie sie so sanft ruhen, Arm auf Arm. – Mein Tischteppich hat gutgewirkte Blumen, aber das Kaffeebrett wird, hör' ich, wegen seiner lackierten Flora vorgezogen; in jedem Falle tragen beide das Ihrige in Blumen auf. – Mein Leyser ziert mit seinen schweinledernen Meditationen das Zimmer sehr – in der Küche sieht es noch schöner aus, ein Topf steht am andern und das übrige daneben, sogar der Hasenbrecher und die Hasengabel, zu denen sonst mein seliger Vater die Hasen geschossen.«

Die Braut lächelte so vergnügt ihn an, daß ich fast glauben soll, sie hat bis in ihre Fuggerei durch 20 aneinander gestellte Hör- und Sprachröhre fast alles von seinen 1200 fl. rhnl. und den Interessen erhorcht; um so leichter begreif' ichs, wenn sich die Welt die Stunde zu erleben sehnt, wo er ihrs einhändigt.

Es wird meinen Leserinnen nicht unangenehm zu erfahren sein, daß der Bräutigam jetzo einen leberfarbenen Ehren-Frack antat, und daß er ohne Halsstrang oder Binde und ohne Haarstrang oder Zopf zum hl. Werke in den Frühgottesdienst mit seiner Putzmacherin schritt, unterweges zu seinem eignen satirischen Vergnügen sich die verleumderischen Augen der Kuhschnapplerinnen vorstellend, womit sie der guten Fremden über den Markt bis zum Opferaltare ihres väterlichen Namens nachliefen. [38] »Mäßiges Verleumden«, sagt' er von jeher, »sollte man einer Ehefrau, als einen geringen Ersatz ihrer verlornen Schmeicheleien, eher erleichtern als versalzen.« – Der Schulrat Stiefel hütete die Hochzeitstube und entwarf auf dem Schreibtische eine kurze Rezension von einem Programm. – Ich sehe zwar jetzo das geliebte Paar am Altargeländer knieen und könnte dasselbe wieder mit meinen Wünschen, wie mit Blumen, bewerfen, besonders mit dem Wunsche, daß beide den Eheleuten im Himmel ähnlich werden, die allemal, nach Swedenborgs Vision, in einen Engel verschmelzen – wiewohl sie auf der Erde oft in der Hitze auch zu einem Engel, und zwar zu einem gefallnen einkochen, woran des Weibes Haupt, der Mann, den stößigen Kopf des Bösen vorstellt – noch einmal wünschen könnt' ich, sag' ich; aber meine Aufmerksamkeit wird, so wie die aller Trauzeugen, auf eine außerordentliche Begebenheit und Vexiergestalt hinter der Liedertafel des Chors gelenkt. – –

Droben guckt nämlich herunter – und wir sehen alle in der Kirche hinauf – Siebenkäsens Geist, wie der Pöbel sagt, d.h. sein Körper, wie er sagen sollte. Wenn der Bräutigam hinauf schauet: so kann er erblassen und denken, er sehe sich selber. – – Die Welt irrt; rot wurd' er bloß. Sein Freund Leibgeber stand droben, der schon seit vielen Jahren ihm geschworen hatte, auf seinen Hochzeittag zu reisen, bloß um ihn zwölf Stunden lang auszulachen. Einen solchen Fürstenbund zweier seltsamen Seelen gab es nicht oft. – Dieselbe Verschmähung der geadelten Kinderpossen des Lebens, dieselbe Anfeindung des Kleinlichen bei aller Schonung des Kleinen, derselbe Ingrimm gegen den ehrlosen Eigennutz, dieselbe Lachlust in der schönen Irrenanstalt der Erde, dieselbe Taubheit gegen die Stimme der Leute, aber nicht der Ehre, dies waren weiter nichts als die ersten Ähnlichkeiten, die sie zu einer in zwei Körper eingepfarrten Seele machten. Auch dieses, daß sie Milchbrüder im Studieren waren und einerlei Wissenschaften, bis auf die Rechtsgelehrsamkeit, zu Ammen hatten, rechn' ich, da oft gerade die Gleichheit der Studien ein auflösendes Zersetzmittel der Freundschaft wird, nicht am höchsten an. Ja nicht einmal die bloße Unähnlichkeit ihrer ungleichnamigen [39] Pole (denn Siebenkäs verzieh, Leibgeber bestrafte lieber, jener war mehr eine horazische Satire, dieser mehr ein aristophanischer Gassenhauer mit unpoetischen und poetischen Härten) entschied ihr Anziehen. Aber wie Freundinnen gern einerlei Kleider, so trugen ihre Seelen ganz den polnischen Rock und Morgenanzug des Lebens, ich meine zwei Körper von einerlei Aufschlägen, Farben, Knopflöchern, Besatz und Zuschnitt: beide hatten denselben Blitz der Augen, dasselbe erdfarbige Gesicht, dieselbe Länge, Magerheit und alles; wie denn überhaupt das Naturspiel ähnlicher Gesichter häufiger ist, als man glaubt weil man es nur bemerkt, wenn ein Fürst oder ein großer Mann einen körperlichen Widerschein wirft. Daher wollt' ich ordentlich, Leibgeber hätte nicht gehinkt, damit man ihn nicht daran von Siebenkäsen unterscheiden können, zumal da dieser auch sein Kennzeichen, das ihn von jenem absondern konnte, geschickt wegradiert und weggeätzt hatte durch eine lebendige Kröte, die er auf dem Kennzeichen krepieren lassen; es war nämlich ein pyramidalisches Muttermal neben dem linken Ohr gewesen, von der Gestalt eines Triangels oder des Zodiakalscheins oder eines aufgestülpten Kometenschwanzes, eigentlich eines Eselohrs. Halb aus Freundschaft, halb aus Neigung zu tollen Szenen, die ihre Verwechslung im gemeinen Leben gab, wollten sie ihre algebraische Gleichung noch weiter fortsetzen – sie wollten nämlich einerlei Vor- und Zunamen führen. Aber sie gerieten darüber in einen schmeichelnden Hader: jeder wollte der Namenvetter des andern werden, bis sie den Hader endlich dadurch schlichteten, daß beide die eingetauschten Namen behielten und also die Otaheiter nachahmten, bei denen Liebende auch die Namen mit den Herzen wechseln. Da es schon mehre Jahre her ist, daß mein Held durch den befreundeten Namendieb um seinen ehrlichen Namen gekommen und dafür den andern ehrlichen eingewechselt: so kann ichs nicht anders machen in meinen Kapiteln, ich muß ihn als Firmian Stanislaus Siebenkäs in der Liste fortführen, wie ich ihn bei der Schwelle vorstellte – und den andern als Leibgeber –, ob mir gleich kein Kunstrichter zu sagen braucht, daß der mehr komische Name Siebenkäs besser für den mehr humoristischen[40] Ankömmling passe, den einmal die Welt noch genauer kennen lernen soll als mich selber 4. – –

– Als beide Ebenbilder einander in der Kirche erblickten, lockerten und kräuselten sich ihre errötenden Gesichter sonderbar, über die der Zuschauer so lange lächelte, bis er sie mit den im flüssigen Feuer der gerührtesten Liebe schwimmenden Augen zusammenhielt. Leibgeber zog im Chore unter dem Ringwechsel eine Schere und ein schwarzes Quartblatt aus der Tasche und schnitt von ferne das Gesicht der Braut in sein Schattenpapier hinein. Die Schattenreißerei gab er gewöhnlich für die Proviantbäckerei auf seinen ewigen Reisen aus, und ich führe – da der seltsame Mann, wie es scheint, nicht entdecken will, auf welchen Höhen sich die Quellen sammeln, die ihm unten in den Tälern springen – lieber gutmütig und gläubig an, daß er oft über seine Schattenreißerei zu sagen pflegte: fallen doch schon vom Beschneiden für den Buchbinder, den Briefsteller, den Advokaten Brotschnitte mit den weißen Papierschnitzeln ab; mit schwarzen aber, es sei von Schattenrissen oder von weißen Trauerbriefen mit schwarzen Rändern, falle noch mehr ab, und verstehe man vollends die freie Kunst, seinen Nebenchristen vermittelst mehrer Glieder schwarz abzubilden, z.B. vermittelst der Zunge, was er ein wenig könne, so läute die Fortuna – diese wahre babylonische Hure – sich an der Eßglocke und dem Wandelglöckchen eines solchen Mannes halb lahm. –

Noch unter dem Händeauflegen des Diakonus kam Leibgeber herunter und trat hart an den rotsamtnen Altarschemel und hielt, als es aus war, nach einer halbjährigen Trennung und bei einer solchen Verbindung folgende etwas lange Anrede: »Guten Morgen, Siebenkäs!« – Mehr sagten sie einander nach Jahren nie; und so wird ihm bei der Auferstehung der Toten Siebenkäs auch gerade so repartieren wie heute: »Guten Morgen, Leibgeber!« – [41] Das zwölfstündige Auslachen aber, das oft Freunde einander leicht in der Ferne drohen, wurde dem mit allem Humor vereinbarlichen Zartgefühl durch die Rührung unmöglich, womit man seinen Freund in den Vorhof eines neuen labyrinthischen Gebäudes unseres unterirdischen Daseins treten sieht. –

Ich bekomme jetzo vor meinen Schreibtisch die lange Hochzeittafel gestellt, bei welcher zu bedauern ist, daß kein Gemälde davon an den mit Herkulaneum untergesunknen Vasen steht – man hätt' es mit herausgescharrt und in den herkulanischen Zeichnungen matt kopieret – – und diese Nachzeichnung könnt' ich dann statt alles hersetzen. Wenige haben eine bessere Meinung von dem Vermögen meiner Feder als ich selber; aber ich sehe völlig, daß es meines und ihres übersteigt, nur zur Hälfte und schlecht in schwarzer Manier darzustellen, wie es den Gästen schmeckte (es waren fast so viele da als Stühle) – wie noch dazu kein einziger Schelm unter den ehrlichen Leuten saß (denn der Vormund des Bräutigams, der Heimlicher von Blaise, hatte sich entschuldigen und sagen lassen, er vomiere) – wie der Haus- oder Mietherr, ein lustiger, schwindsüchtiger Sachse, durch sein Pudern und Trinken nicht in die Welt hinein lebte, sondern aus ihr hinaus – wie man an die Gläser mit der Gabel und auf die Teller mit den Markknochen schlug, um jene zu füllen, um diese zu leeren – wie im ganzen Hause niemand, weder der Schuster, noch der Buchbinder, arbeitete, außer unter dem Essen, und wie sogar die alte unter dem mausfarbnen Tore verhökende Sabel (Sabine) heute ihren Kramladen nicht erst mit dem Tore geschlossen, sondern vorher – wie nicht bloß ein Gang aufgetragen wurde, sondern ein zweiter, ein Doppelgänger. Wer freilich an großen Tafeln gegessen und da gesehen hat, wie fünf Schüsseln, wenn zwei Gänge sind, sich nach Ranggesetzen stellen müssen: dem ist es nichts Unerhörtes oder Überprächtiges, daß Siebenkäs – die Perückenmacherin hatte alles gemacht – beim ersten Gange stellen ließ


  • 1. ins Zentrum den Suppen-Zuber oder Fleischbrüh-Weiher, worin man mit den Löffeln krebsen konnte, wiewohl die Krebse, wie die Biber, in diesem Wasser nicht mehr hatten als Robespierre damals im Konvent, nämlich nur den Schwanz –
  • 2. in die erste Welt-Ecke einen schönen Rind-Torso oder Fleischwürfel als Postament des ganzen Eß-Kunstwerks –
  • 3. in die zweite ein Eingeschneizel, eine vollständige Musterkarte der Fleischbank – süßlich traktiert –
  • 4. in die dritte einen Behemoth von Teich-Karpfen, der den Propheten Jonas hätte verschlingen können, der aber das Schicksal des Mannes selber teilte –
  • 5. in die vierte das gebackne Hühnerbaus einer Pastete, worein das Geflügel, wie das Volk in einen Landtagsaal, seine besten Glieder abgeschickt hatte. – –

Ich kann mir und den Leserinnen das Vergnügen nicht versagen, nur ein schwaches Küchenstück vom zweiten Gange zu entwerfen.

1. In der Mitte stand, wie ein Gartenblumenkorb, eine Panse von Kapuzinersalat – 2. dann stellten sich die vier syllogistischen Figuren oder vier Fakultäten in ihre vier Winkel. – Im ersten Tafelwinkel saß als erste Figur und Fakultät ein Hase, der als Gegenfüßler eines Barfüßers noch seinen natürlichen Pelzstiefel in der Pfanne anbehalten und der, wie Leibgeber richtig anmerkte, aus dem Felde als Widerspiel des Fußvolkes trotz den feindlichen Flinten mit gesunden Beinen in die Schüssel gekommen. – Die zweite syllogistische Figur wurde von einer Rindzunge gemacht, die schwarz war, nicht durch Disputieren, sondern durch Räuchern. – Die dritte, Krauskohl, aber ohne die Strünke, sonst die Speise der beiden vorigen Fakultäten, wurde jetzo als das Zugemüse derselben verspeist; so steigt in der Welt der eine und fällt der andere. – Die Schlußfigur bestand aus den drei Figuren des Brautpaars und eines etwanigen Täuflings, in Butter gebacken; diese drei verklärten Leiber, die wie die drei Männer unversehrt aus dem feurigen Ofen kamen und Rosinen statt der Seelen hatten, wurden von den Menschenfressern der Gesellschaft, wie Untertanen, mit Haut und Haar aufgefressen, einige Ärmchen des Infanten ausgenommen, der wie der Vogel Phönix noch früher personifiziert wurde, als er da war. – –

Das Gemälde greift mich an. Inzwischen mußt' es koloriert sein, und es war über den Schmaus-Luxus nicht etwan dadurch [43] wegzuwischen, daß ich ihn leicht mit einem kurfürstlich-sächsischen verglichen und erläutert hätte. Es ist wahr, Kurfürsten dieses Kreises brauchen viel (daher man sie sonst alljährlich wog), und es ist mir recht gut bewußt, daß zu Anfang des 16ten Säkulums ein sächsischer Rendant folgenden Artikel in sein Rechnungbuch eingetragen: »Heute ist unser gnädiger Kurfürst mit seinem Hofstaat zum Weine gewesen, wofür ich fünfzehn Gulden habe zahlen müssen. Das heiß' ich schlampampen.« Aber was würde der sächsische Rendant geschrieben, wie würde er die Hände vor Erstaunen in die Höhe gehoben haben, wenn er in meinem ersten Kapitel ersehen hätte, daß ein Armenadvokat noch drei Gulden sieben Groschen mehr vertan als sein Kurfürst!

Die Quellen der Lust sprangen, wie manche physische, die am Tage stocken, abends immer höher in der Brust der Gäste auf. Die zwei Advokaten sagten zwar der Gesellschaft, es sei, wie sie sich von Universitäten her erinnerten, das Recht eines Deutschen, sich voll zu trinken, gar sehr beschnitten durch Kaiser und Reich, und die Reichsabschiede von 1512, 1531, 1548 und 1577 gestatteten keine Trunkenheit; aber sie verhielten auch nicht, daß Kuhschnappel wie jeder Reichsstand das Recht besitze, Reichsgesetze, insofern es Privatgesetze sind, auf seinem eignen Gebiete zu verwerfen. – Bloß der Schulrat wußte etwas (zwanzigmal schüttelte er darüber innerlich den Kopf) gar nicht, wie ers zu nehmen habe, daß nämlich zwei Gelehrte, wenigstens zwei Advokaten, mit so ungelehrten Plebejern und Ignoranten und leeren Köpfen, als hier sich auf die Ellenbogen stützten, ganz ernsthaft zu lachen vermochten, ja zu reden über ihre wahren Lappalien. Mehr als einmal knüpfte er Fäden gelehrterer Unterhaltung an über die neuesten gefeiltesten Schulreden und über so viele parteiische Rezensionen davon; aber die Advokaten machten sich aus den Fäden nichts, sondern ließen sich vom Buchbinder die Gesellenrede hersagen, die er vor dem Meisterwerden gehalten, an welche der Schuster von selber noch die Schuhknechtrede annähte und anschuhte.

Siebenkäs merkte überhaupt vor der ganzen Tafel an, die vornehmen [44] Zirkel seien viel ernsthafter und langweiliger und leerer als die gemeinen; dort spreche man wochenlang davon, wenn einmal ein Fest ohne verdammte Langeweile zum Umkommen ausgefallen, hier aber trage jeder zum frohen Reden-Pickenick so viel zu, daß es selten an etwas anderem fehle als an Bier. »O!« fuhr er fort, »bedächte doch jeder aus unserem Stande, um den tiefern wahrhaft zu beneiden, wie so sehr im figürlichen Sinne das zutrifft, was im eigentlichen längst wahr ist, daß grobe Leinwand besser warm hält als feine oder gar Seidenzeug, so wie ein hölzernes Haus mehr heizt als ein steinernes – im Sommer kühlt es wieder weniger als dieses –, oder so wie das schwarze grobe Roggenmehl nach allen Ärzten ungleich nahrhafter ist als das weiße feine. – So will es mir nicht einleuchten, daß in Paris Damen, welche diamantne Haarnadeln tragen, nur halb so reinheitere Jahre erleben als die Weiber, die sich dort davon erhalten, daß sie schlechte Haarnadeln aus dem Gassenkehricht auflesen; ferner mancher, der bloß mit dürren Tannenzapfen heizt, die er als Tannen-Surrogat vorher selber eingetragen« (hier dachte die holzsparende Tischgesellschaft sehr an sich) »kann oft ebensogut fahren als mancher, der grüne in Zucker einmachen und verspeisen kann.«

»Freund Armen-Advokat«, versetzte Leibgeber, »wie trefft Ihrs! In Kneip' und Krug kriegt jeder seine noch so schwere Not zum Glück auf einmal, er bekommt seine Prügel, seine Fußtritte, seine Schimpfworte sofort plötzlich; die Lust aber steigt schön allmählich mit der Rechnung. Anders gehts in Palästen; in einem Palais für den palais bekommen die Lust alle auf einmal und zu gleicher Zeit ins Maul (so wie die Blattläuse alle zu gleicher Zeit die Steiße heben und den Honig ausspritzen 5) – hier wird er nämlich ebenso gleichzeitig und gesellig aufgefaßt; – Langeweile hingegen, Überdruß und Ekel sind Sachen, welche erst allmählich, geschickt unter die mannigfachen Freuden verteilt, von einem ganzen langen Festin beigebracht und mitgeteilt werden, so wie man den Hund mit einem Brechmittel ganz überstreicht, damit ers langsam ablecke und so in sich bringe zum Vonsichgeben.«

[45] Und mehr dergleichen Reden wurden vorgebracht. Ist einmal eine Lust groß: so wird sie natürlicherweise noch größer. Viele Gemeine aus der Sitzung machten vom Vorrechte des Trunks und der Spezialinquisition, nämlich du zu sagen, untereinander Gebrauch. Ja der Herr im Rotplüschrock (der Rat trug ihn gerne in Hundstagferien) spitzte das Maul und lächelte schmelzend, wie betagte Jungfern vor betagten Junggesellen, und gab Winke, er verwahre daheim zwei echte horazische Flaschen Champagner. – »Also gewiß Non-mousseux?« versetzte fragweise Leibgeber. – Der Schulrat, der grade den bessern Champagnerwein für den schlechtern ansah, antwortete mit einigem Selber-Bewußtsein: »Moussiert er nicht, nun gut, so schwör' ich, daß ich ihn allein austrinken will.« – Die Flaschen erschienen. Mit Vorsicht feilte Leibgeber an der ersten die Sperrkette der Fruchtsperre ab und zog ihr den Stechhelm aus und öffnete sie wie ein – Testament.... Ich bleibe dabei, wenn einmal die zwei Balsampappeln des Lebens, der Witz und die Menschenliebe, abgedorret sind bis an den Wipfel: so ist ihnen noch nachzuhelfen durch einen rechten Guß aus dem Sprengkrug besagter Flaschen – in drei Minuten werden die Storzeln treiben. – Als die Folie des Getränks, der silberne Schaum, in den Köpfen zu auflaufenden Luftschlössern geschlagen wurde: wie blinkte und gischte da jedes Gehirn! Welche bunte fliegende Blasen warfen nicht alle Ideen des Schulrats Stiefel, die einfachen sowohl als die zusammengesetzten, desgleichen die angebornen und die fixen! – Kann es denn je vergessen werden, daß er keine gelehrten Anzeigen mehr machte als die von Lenettens Reizen, und daß er Siebenkäsen anvertrauete, er wünsche sich zu beweiben, freilich nicht sowohl mit der zehnten Muse oder vierten Grazie oder zweiten Venus – denn er wisse wohl, wer diese schon habe –, aber so etwa mit einer Stiefgöttin und weitläuftigen Verwandten davon. Während der ganzen Fahrt, sagte er, sei er auf dem Kutschkasten ordentlich wie auf einem Predigtstuhle gesessen und habe der Braut das Glück des Ehestandes mit allen möglichen Farben vorgehalten und es ihr so lebhaft vorgeschildert, daß er sich ordentlich selber darnach gesehnt; und der Bräutigam würde ihm gedankt haben, [46] daß sie ihn so dankbar dafür angesehen. – Und in der Tat stand der Braut alles, besonders der Abend, unbeschreiblich schön, am meisten dieses, daß sie an einem solchen Ehrentage mehr diente als bedient wurde – daß sie sich leicht gemacht und in die Hauskleidung geworfen hatte – daß sie so spät Privatstunden über die Küche bei ihren weiblichen Gästen nahm, die ihr nach eigenen Diktaten lasen – und daß sie schon auf morgen Vorsorge traf. – In der Begeisterung machte Stiefel sich an Dinge, die fast unmöglich waren – er stellte seinen linken Arm als Stäuber unter den rechten und erhielt diesen und die Fracht des plüschnen Ärmels waagrecht und schneuzte damit öffentlich das Licht, jedoch nicht ungelenk, sondern einem Gärtner ähnlich, der an einer Stange die Baumschere hinaufhält und unten durch leichtes Zuziehen oben alles beschneidet – er hielt geradezu bei Leibgebern um den Schattenschnitt Lenettens an – und nachher beim Abschied versuchte er sogar (das war das einzige Unternehmen über seine Kräfte) ihre Hand zu fangen und solche zu küssen. – –

Endlich waren alle Freudenfeuer des kleinen frohen Bundes niedergebrannt wie die Lichter, und die Nacht grub einen Edenfluß um den andern ab. Der Gäste und Lichter wurden weniger; jetzo war nur noch ein Gast da, der Rat Stiefel (denn Leibgeber ist keiner), und ein langes Licht. Es ist eine schöne erweichende Minute, nach dem Aussummen eines brausenden Gastmahl-Geläutes noch mit einigen da zu sitzen und stiller, oft trüber, sich in den Nachklang der Freude zu verlieren. Endlich brach der Rat das vorletzte Zelt dieses Lustlagers ab und wich; aber er litt es nicht, daß Finger, an welche seine Lippen mit allem Schnappen nicht kommen konnten, sich um einen kalten Messingleuchter legen sollten, um ihn hinunterzuleuchten. Leibgeber mußte zum Leuchter dienen. Jetzo saß, Hand in Hand, das Brautpaar zum erstenmal allein im Finstern nebeneinander....

Schöne Stunde, worin in jeder Wolke ein lächelnder Engel stand und aus jeder statt der Regentropfen Blumen niederwarf, möge dein Widerschein bis auf mein Papier langen und da noch sichtbar sein!

[47] Der Neuvermählte hatte noch nie seine Braut geküßt. Er wußte oder glaubte, sein Gesicht sei mehr geistreich, angespannt, eckig und scharf als glatt-schön; und da er noch dazu seine Gestalt immer selber lächerlich machte: so meinte er, sie komme auch andern so vor. Daher bracht' er, der sich sonst über die Augen und Zungen einer ganzen Gasse wegsetzte, doch nicht so viel Mut zusammen, um, außer den Zeiten der freundschaftlichen Dithyramben, nur seinen – Leibgeber zu küssen, geschweige seine Lenette. Er drückte ihre Hand jetzo heftiger und wandte kühn sein Gesicht gegen ihres, zumal da er nichts sehen konnte, und wünschte, die Treppe habe so viel Staffeln wie der Münsterturm, damit Leibgeber später mit dem Lichte erschiene. Auf einmal hüpfte ein gleitender bebender Kuß über seinen Mund und – nun schlugen alle Flammen seiner Liebe aus der weggewehten Asche auf. Denn Lenette, so unschuldig wie ein Kind, glaubte, es sei die Pflicht der Braut, diesen Kuß zu geben. Er umfaßte die zagende Geberin mit aufmerksamer schüchterner Kühnheit und glühte mit allem Feuer, das ihm Liebe, Wein und Freude gaben, auf ihren Lippen mit seinen; aber sie wandte – so sonderbar ist dieses Geschlecht – den gefesselten Mund von dem brennenden ab und kehrte den beglückten Lippen wieder die Wangen zu. – – Und hier blieb der bescheidene Gatte mit einem langen Kusse ruhen und drückte seine Wonne bloß durch unaussprechlich- süße Tränen aus, die wie glimmende Naphthatropfen auf Lenettens Wangen fielen und darauf in ihr zitterndes Herz. Sie lehnte das Angesicht immer weiter zurück; aber im schönen Staunen über seine Liebe zog sie ihn doch enger an sich. – –

Er ließ sie, eh' sein Liebling kam. Der auf den Bräutigam gefallene verräterische Puderschnee – dieser Schmetterlingstaub, der vom kleinsten Anfassen dieser weißen Schmetterlinge an den Fingern bleibt, daher Pitt mit Bedacht 1795, eine Taxe auf den Puder legte – entdeckte ihm wenig; aber alles erzählten ihm die naßschimmernden Augen seines Freundes und der Braut. Beide Freunde sahen sich lange verlegen-lächelnd an, und Lenette blickte nieder. – Leibgeber sagte zweimal hm! hm! und bemerkte endlich aus Angst: »Unser Abend war ganz schön« – und stellte[48] sich, um nicht angeschauet zu werden, hinter den Stuhl des Bräutigams und legte seine Hand auf dessen Achsel und drückte diese recht herzlich; aber jetzo konnte der Glückliche sich nicht mehr bezwingen, er stand auf, entbehrte die Hand der Braut freiwillig, und nun ruhten zwei Freunde, von Engeln verknüpft, von Himmeln umgehen, nach der langen Sehnsucht des ganzen Tages gleichsam den Augenblick des heutigen Wiedersehens nachfeiernd, in männlich-stiller Umarmung aneinander. Im steigenden Taumel wollte der Gatte, um das hohe Bündnis zu erweitern, seine Geliebte in das Umfassen seines Geliebten ziehen; aber Braut und Freund blieben geschieden auseinander und umfaßten nur ihn allein. Und drei reine Himmel waren in drei reinen Herzen glänzend aufgetan – und nichts war darin als Gott, Liebe und Freude und die kleine Erden-Träne, die an allen unsern Freudenblumen hängt. –

Die Seligen, von ungewohnten Rührungen überwunden und sich fast befremdet, hatten nicht den Mut, sich in die weinenden Augen zu sehen; und der Freund des Brautpaars verließ still das Zimmer und sagte weder Wunsch noch gute Nacht.

Zweites Kapitel

Hausscherze – Besuchfahren – der Zeitungartikel – verliebte Zänkerei samt einigen Injurien – antipathetische Dinte an der Wand – Freundschaft der Satiriker – Regierung der Reichsstadt Kuhschnappel


Manches Leben ist eben so angenehm zu schreiben als zu führen; besonders verbreitet der Stoff des gegenwärtigen, gleich dem gedrechselten Rosenholz, den anmutigsten Geruch noch auf meiner Drechselbank. Siebenkäs stand zwar am Mittwoch auf, aber erst am Sonntag wollt' er seiner emsigen Huldin, die heute ihren Haubenstock noch früher als sich unter die Haube brachte, die Silberstangen der Vormundschaftkassa, in Löschpapier eingerollt, als Sturmpfähle des Lebens in die Hände geben; zumal da [49] er nicht anders konnte, indem der Vormund bis Sonnabends außer Landes, d.h. aus der Stadt gefahren war. »Ich kann dir gar nicht sagen, alter Leibgeber«, sagte Siebenkäs, »wie ich den Jubel meiner Frau darüber schon voraus durchschmecke. Wahrlich ihr zu Gefallen möcht' ich ordentlich dreißigtausend Taler haben. Die Gute lebte bisher nur von Haube zu Haube; aber wie wird sie sich am Sonntage auf einmal als eine gemachte Frau begrüßen, wenn sie hundert Haushalt- Entwürfe ausführen kann, die sie (merk' ich recht gut) schon im Kopfe herum trägt. – Und dann mit dem Silber, Alter, soll gleich nach der Vesperpredigt meine Silber-Hochzeit angehen – für eine guten halben Gulden Bier soll in allen Stuben verteilet werden. – Höre! warum soll die Taube oder der Spatz meines Hymens nicht so viel Bier auf die Leute spritzen, als der zweiköpfige Adler in Frankfurt Wein bei der Krönung ausspeiet?« Leibgeber versetzte: »Darum nicht, weil seine Fänge eine ganz andere Kelter sind und der saure Wein, eigentlich die Beerhülsen, nur das Gewölle, das kein Adler behalten mag.«

Es würde mir nichts helfen – weil doch hundert Kuhschnappler im Reichs-Anzeiger mich berichtigen würden –, wenn ich hier lügen (wie ichs wohl wünschte) und berichten wollte, die beiden Advokaten hätten die kurze Woche ihres Beisammenseins mit jenem Anstand und Ernste verbracht, welcher, so wie dem Menschen überhaupt so anständig, noch besonders ihm als Gelehrten die Achtung der gemeinsten Seelen zusichert, geschweige kuhschnappelischer.

Leider muß ich aus einem andern Tone singen. Leibgeber zeigte im Marktflecken Kuhschnappel so wie in allen Reichs und Landstädten nichts weniger als wahren Ernst. Auch im Flecken war es sein erstes, sich in den Klub einzuführen als fremder Künstler, um sich in einen Kanapee-Winkel zu legen und ohne geringsten Wort- und Silbenwechsel öffentlich vor der Erholung (so hieß der Klub) einzuschlafen. So halt' ers, sagt' er, gern in allen Städten, die mit Klubs, Kasinen, Harmonien, Museen versehen wären; denn nachts ordentlich vernünftig zu schlafen in der menschenleeren Bettstelle sei wenigstens er selten imstande, [50] bei den lauten Gedankenschlägereien in seinem Kopfe und bei den entzündeten Pulverschlangen von Bilderprozessionen, die mit einem Toben durcheinander schössen, daß man sein eigenes Ich kaum höre und sehe. Sitz' er hingegen in einem Klubkanapee zurückgelehnt: so falle alles weg und Waffenstillstand der Gedanken stelle sich ein; das herrliche Durcheinandersprechen der Gesellschaft, das politische und andere Sprech-Pickenick trefflicher, recht zu ihrer Zeit gesprochenen Wörter, von denen er bald nur eine ultima, bald nur eine antepenultima vernehme, dies läute schon einigen Schlummer ein. Geh' es aber noch gründlicher zu, werde mit wahrer Strenge ein Satz durchgefochten und von allen Seiten aufs schärfste untersucht durch einen Schrei-Kehraus: so entschlaf' er so fest wie eine Blume, die der Sturm bewegt und nicht erweckt; und sein Quecksilber sei völlig fixiert.

Ein paar Städte, die ich kenne, müssen sich gewiß noch eines Mannes, der als Fremder immer in ihren Erholungen und Harmonien geschlafen, erinnern und noch an die heiter umblickenden Augen denken, womit er stets vom Kanapee aufstand und den Hut nahm, als wollt' er sagen: habt Dank für meine Auffrischung!

Indes Leibgebern seh' ich in Kuhschnappel jedes Schlafen und Wachen nach, da er bald wieder in alle Welt geht; aber es kann mir nie gleichgültig sein, daß mein eigner Held, der sich da mit der Frau grade ansetzt und dessen Streiche ich darauf samt den andern Streichen, die er dafür empfängt, zu malen bekomme, sich geradeso aufführt, als heiß' er Leibgeber, was doch der Fall längst nicht mehr ist, da er schon seinem Vormunde angezeigt, daß er seinen Namen gegen den Siebenkäs umgetauscht. War es z.B. – um nur eins zu rügen – nicht auf wahre Possenspiele angelegt, daß, als die Kurrende (die arme Schülerschaft der Alumnen) vor den besten geistlichen Häusern ihnen gegenüber den herkömmlichen Bettel- und Gassengesang anstimmen und durchfugieren wollte, erstlich Leibgeber seinen Saufinder (ohne einen großen Hund konnt' er nicht leben) in einer geschmackvollen Kindbetterin-Haube aus dem Fenster schauen ließ? Und war es [51] zweitens etwas Gesetzteres, daß Siebenkäs im Angesichte der Singschule hastig in Zitronen einbiß und dadurch die Speicheldrüsen der ganzen Schule aufschloß? Der Erfolg lehrte es genug: die Sänger konnten die Lippen vor dem gehaubten Saufinder so wenig zu ordentlichem Singen zusammen ziehen, als einer, der lachen will, zu pfeifen vermag. Und wurden nicht nur durch die aufgesperrten Drüsen alle Singwerkzeuge unter Wasser gesetzt, und jeder Ton mußte mühsam genug durch Speichel waten? Ja war diese ganze, ordentlich lächerliche Störung sämtlicher Straßensänger nicht eben die Absicht beider Advokaten?

Freilich kommt Siebenkäs fast noch halb voll akademischer Freiheiten zurück und nimmt sich daher etwa einige heraus. Auch seh' ich die kleine Überfülle der akademischen Jugend für den Fettkörper an, welchen nach Réaumur, Bonnet und Cuvier die Raupe während ihrer Verpuppung zur Nahrung des Schmetterlings verbraucht; von der Freiheit des Jünglings muß die des Mannes zehren; und ein gebogner Musensohn kann nichts anders werden als ein kriechender Beamter auf vieren.

Indes verbrachten die beiden Freunde die nächsten Tage nicht ganz außer der Ordnung bloß mit Schreiben von Besuchkarten. Mit diesen, worauf natürlich nichts stand als: »Es empfiehlt sich und seine Frau, eine geborne Egelkraut, der Armenadvokat Firmian Stanislaus Siebenkäs« – mit den Papieren und mit der Frau wollten beide am Sonnabend in der Reichsstadt herumfahren, und Leibgeber sollte vor jedem Gebäude von Stand herausspringen und den Denkzettel hinauftragen. Eine nicht unvernünftige Sitte solcher Städte, die zu leben wissen! – Aber die Gebrüder Siebenkäs und Leibgeber gingen doch nach allem Anschein in den reichsstädtischen und reichsdorfschaftlichen Fußstapfen der vernünftigsten Gebräuche mehr nur aus satirischer Bosheit einher und machten schöne bürgerliche Sitten zwar richtig nach, aber sehr zum Spaße; jeder war zugleich sein eigner spielender Kasperl und seine Frontloge. – Es wäre beleidigend, vom Marktflecken Kuhschnappel zu glauben, daß er in Siebenkäsens Diensteifrigkeit, in allen Prozessionen dieses kleinen Staats in Kirchen hinein und hinaus und auf den Römer und auf [52] die Schützenwiese mitzuschreiten, das Vergnügen ganz übersehen hätte, womit er durch seinen unausgesuchten Anzug und narrenhaften Aufschritt eine denkende und ausstaffierte Wesenkette mehr zu entstellen und zu verhunzen als wirklich zu verzieren dachte, und selber den wahren Eifer, womit er zu einem Ehren- und Schießmitglied in die kuhschnappelsche Schützengesellschaft eingeschrieben zu werden gestrebt, wollte man weniger seiner Abkunft von einem Jäger als seiner Spaßsucht zuschreiben. – Was Leibgeber in solchen Sachen anlangt, so ist er ohnehin des Teufels lebendig, weil er reisefertig und jünger ist.

Am Sonnabend fuhren beide denn im Marktflecken vor – war irgendwo etwas vom Grandat des Fleckens wohnhaft, da hielt man still, gab den Passagierzettel ab, fuhr weiter und verstieß gegen nichts. Viele Herren und Damen schossen zwar Böcke und vermengten den Zettelträger mit dem unten sitzenden jungen Ehemann; – aber der Zettelträger verblieb ernsthaft und wußte, der Spaß habe seine Zeit. Die zuweilen radierten Blätter wurden nach dem Adreßkalender abgereicht, erst an die regierenden Geschlechter, sowohl im Hohen als Kleinen Rate – an die 70 Herren des Großen und an die 13 des Kleinen Rats – folglich bekam (denn daraus besteht der Kleine) der Schultheiß, der Seckelmeister (d.h. Finanzpräsident), die 2 Venner (d.h. Finanzräte), der Heimlicher (sozusagen der Volktribun) und die restierenden 8 Ratherren jeder sein Blatt – bis der Wagen herabfuhr und die kleinern Staatbedienten in den verschiedenen Kammern und Kommissionen mit ihren Karten versorgte, als da sind die Holz-, die Jäger-, die Reformationkammer, welche letzte dem Luxus begegnet, und die Fleischtaxe-Kommission, die ein einziger Metzgermeister, aber ein guter alter Mann, verwaltet. – –

Ich muß besorgen, ich habe mir selber ein oder ein Paar Beine untergestellt, da ich der gelehrten und statistischen Welt von der reichsstädtischen Verfassung des Reichsmarktfleckens Kuhschnappel, der eigentlich eine kleine Reichsstadt ist und eine große war, nichts vormappieret habe, keinen Conspectus, keinen Grundriß, gar nichts. Gleichwohl kann ich hier mitten im Schusse [53] des Kapitels unmöglich einhalten, sondern ich muß warten, bis wir alle unten am Ende stehen, wo ich die statistische Krambude bequemer aufschlage. –

– Das Rad der Fortuna fing bald an zu knarren und Kot auszuspritzen; denn als Leibgeber den Achtels-Aushängebogen von Siebenkäsens Ehestand ins Haus des Heimlichers v. Blaise, des Vormunds, trug, empfing eine lange, hagere, in Kattun-Wimpeln eingewindelte Störstange von Frau, die Heimlicherin, ihn zwar mit Wärme, aber mit derjenigen, womit man gewöhnlich Menschen prügelt, und welche auch die bedenklichen Worte aussprach: »Mein Mann ist Heimlicher in der Stadt, und er ist auch ganz und gar nicht zu Hause. – Bei ihm ist nichts zu siebenkäsen, er ist der Tutor und dabei der Vormund von den allernobelsten Patriziern. – Man kann sich sogleich wieder fortscheren; denn bei ihm kommt man an den unrechten Mann.« – »Letztes sollt' ich selber glauben«, versetzte Leibgeber.

Der Mündel Siebenkäs suchte jetzo seinen Brief-oder Blattträger etwas mit der Frau durch die Bemerkung auszusöhnen, daß sie wie alle gute Hunde den Fremden erst anbelle, eh' sie ihm apportiere; und als der ängstlichere Freund ihn befragte: er werde doch allen giftigen Exzeptionen, die der Vormund aus dem Umtausche des Namens gegen die Auszahlung seiner Gelder saugen könnte, juristisch vorgelogen haben, so gab er ihm den Trost, er habe schon, eh' er sich als Siebenkäs niedergelassen, sich die Meinung und den Beifall seines Vormunds schriftlich geben lassen; und zu Hause soll' ers sehen.

– Aber zu Hause war der Brief von Blaise nirgends zu finden – in keinem Koffer – in keinen akademischen Heften – nicht einmal unter den leeren Papieren – er blieb weg. »Bin ich doch ein Narr!« sagte der Mündel, »brauch' ich ihn denn?« –

»Komm lieber (sagte plötzlich in einem tiefern Tone sein Freund, der bisher die Sonnabendzeitungen überblättert hatte, und steckte sie ein) und mach' einen Sprung ins Feld.« – Draußen gab er ihm verlegen das Intelligenzblatt von Schaffhausen – den Schwäbischen Merkur – die Stuttgarter Zeitung – und den Erlanger und sagte: »Da sieh deinen tutelarischen Halunken!« –

[54] In allen diesen Blättern standen die Parallelstellen:


»Nachdem Hoseas Heinrich Leibgeber, jetzo in seinem 29. Jahre stehend, anno 1774 sich auf die Akademie Leipzig begeben, seit diesem Zeitraum aber nicht das geringste von sich hören lassen: also wird auf Ansuchen seines Vetters, des Hrn. Heimlichers v. Blaise, ihm das unter seiner vormundschaftlichen Verwaltung stehende Vermögen, bestehend in 1200 fl. rhnl., da die Verschollzeit verloffen, auszuantworten und zu übergeben, besagter Hoseas Heinrich Leibgeber dergestalt edictaliter zitiert und vorgeladen, daß er oder seine rechtmäßigen Leibeserben von dato in 6 Monaten, wovon 2 Monat für den ersten, 2 Monat für den zweiten und 2 Monat für den letzten peremtorischen Termin anberaumet worden, sich bei hiesiger Erbschaftskammer zu melden, hinlänglich zu legitimieren und das Vermögen in Empfang zu nehmen oder widrigenfalls zu gewärtigen habe, daß solches in Gemäßheit des Ratsdekrets vom 24. Jul. de anno 1699, das jeden 10 Jahre Abwesenden pro mortuo erkläret, dessen erwähntem Vetter und Vormunde Hrn. von Blaise verabfolget und zugeteilet werde. Kuhschnappel in Schwaben, den 20. August 1785.


Erbschaftskammer der unmittelbaren

Reichsstadt Kuhschnappel.«


Ich brauche dem juristischen Leser nicht zu sagen, daß das Ratdekret nicht mit dem Gerichtgebrauch von Böhmen, allwo 31 Jahre zur Verschollzeit nötig sind, sondern mit dem vorigen in Frankreich harmoniere, wo 10 Jahre hinreichten. – Und als der Advokat die letzte Zeile hinaus hatte und sie unbeweglich anstarrte: so nahm sein Seelenbruder freundschaftlich-zitternd seine Hand und sagte: »Du Lieber, ach, daran bin ich schuld durchs Namentauschen.« – »Du? o du? – Bloß der Teufel. – Aber der Brief muß sich finden«, sagte er; und sie wiederholten beide die Haussuchung aller Brief-Behausungen. – Nach einer Stunde stöberte Leibgeber ein mit dem zerbröckelten Siegel des Vormunds überpichtes Schreiben aus, dessen grobes Papier und [55] breiter bescheid-mäßiger Bruch ohne Umschlag verriet, daß es keine Frau, kein Hof-und kein Kaufmann, sondern ein Kiel von einem ganz andern Feder-Vieh überschrieben habe. Gleichwohl stand auf dem Briete nichts als Siebenkäsens Name von Siebenkäsens Hand – weiter stand außen und innen kein Wort. Ganz natürlich; denn der Advokat hatte den Schreibfehler an sich, auf den Umschlägen der Briefe seine Feder und seine Hand zu prüfen und eine fremde und seinen Namen nachzuzirkeln.

Auch der innere Brief war sonst beschrieben gewesen; aber der Heimlicher Blasius hatte, um das unglaublich verschwendete Papier zu schonen, seine Anerkennung des eingetauschten Namens mit einer Dinte geschrieben, welche von selber wieder den Papierbogen verläßt und durch Verfliegen ihn gleichsam weiß wiederherstellt und rehabilitiert in integrum.

Ich tue vielleicht manchen Personen aus den höhern Ständen, welche jetzo mehr als je Wechselbriefe und andere Verbriefungen zu schreiben haben, einen zufälligen Dienst, wenn ich hier das Rezept zu dieser Dinte, die nach der Vertrocknung verfliegt, getreu aus einem bewährten Werke 6 mitteile: Der Mann von Rang schabe von einem schwarzen feinen Tuche, wie er es etwa am Hofe trägt, die Oberfläche ab – reibe das Abschabsel noch klarer auf Marmor zusammen – schlemme den zarten Tuchstaub mehrmals mit Wasser ab – dann mache er ihn mit diesem an und schreibe damit seinen Wechselbrief: so wird er finden, daß, sobald die Feuchtigkeit weggedunstet, auch jeder Buchstabe des Wechsels als Staub nachgeflogen ist; – der weiße Stern hält gleichsam seinen Austritt aus der Finsternis der Dinte.

Aber auch Inhabern und Präsentanten solcher Wechsel glaub' ich vielleicht ehensosehr als den Ausstellern gedient zu haben, indem sie künftig eine Verschreibung nicht eher sicher anzunehmen haben, als bis sie eine Zeitlang an der Sonne gelegen.

Früher hatt' ich in diesem Werke die tuchene Dinte ganz mit der sympathetischen verwechselt, welche auch nach kurzer Zeit verbleicht und verschwindet und gewöhnlich bei den Präliminar- sowohl als Hauptrezessen der Fürsten verschrieben wird, die [56] aber rot aussieht. Einen Friedenschluß, der drei Jahr alt ist, kann ein Mann in seinen besten Jahren nicht mehr lesen, weil die rote Dinte – das encaustum, womit sonst nur die römischen Kaiser schreiben durften – zu leicht blaß wird, wenn nicht Menschen genug, woraus man jene wie die Koschenillefarbe aus den Schildläusen zubereitet, aus unnützem Geize mit solchen Farbenmaterialien dazu genommen worden; daher oft der Traktat wieder mit guten Instrumenten, den sogenannten Frieden-Instrumenten, vorn am Schießgewehr in die Länder eingegraben und ausgestochen werden muß. – –

Beide Freunde verschwiegen der freudigen jungen Frau den ersten Schlag des Gewitters, das über ihre Ehe aufzog. Am Sonntag vormittags unter der Kirche wollten beide den Heimlicher freundschaftlich besuchen – er war leider darin. Nachmittags dachten sie ihm die unterhaltende Visite zu – er machte selber eine in der Waisenhauskirche, nachdem vorher die ganze verwaisete Blütenlese von Knaben und Mädchen eine bei ihm abgelegt, um von ihm als Waisenhausaufseher zum Handkuß gelassen zu werden; denn das Waisenhausinspektorat war, wie er wahr, aber bescheiden sagte, seinen unwürdigen Händen anvertrauet worden. – Nach der Vesperpredigt hielt er seine eigene; kurz, dreifache geistliche Altargeländer schnitten die beiden Advokaten von ihm ab. Schön handelte er, daß er seine Hausgenossen an demselben Tische mit sich zwar nicht essen, aber doch beten ließ. Er verbrachte lieber den Sonntag als einen Werkeltag singend mit ihnen, weil er sie von der Sabbatschänderei, die in Arbeiten für ihre eigne Rechnung, in Nähen, Flicken etc. bestand, am besten durch Andacht abzog; und überhaupt wurde so der Tag am besten in einem Rüst- und Exerziertag der ganzen Woche verlebt, wie auch auf die Sonntage die Komödianten an den Orten, wo sie nicht spielen dürfen, dieKomödienproben verlegen.

Inzwischen rat' ich Kränklichen, nicht an solche schöne himmelblaue Gewächse nahe zu treten oder zu riechen, die der Weinberg der Kirche nur zur Zierde hat, wie ein englischer Garten sich mit dem schönen Napellus (aconitum Nap.) und mit [57] seinem himmel-oder jesuiter-blauen 7 mannshoch und pyramidalisch aufsteigenden giftigen Blumen putzt. Solche Leute wie Blaise besteigen nicht nur den Sinai und die Schädelstätte, um gleich den Ziegen unter dem Steigen zu weiden: sondern sie suchen die heiligen Höhen, um von da Angriffe herab zu tun, wie gute Generale die Höhen, besonders die Galgenstätten besetzen. Der Heimlicher erhebt sich öfter, obwohl aus gleichen Absichten, von der Erde in den Himmel als Blanchard, ja er ist imstande, halbe Tage lang seine Seele in jenem Fluge zu erhalten – worin ers doch dem fliegenden Drachen des Königs von Siam nicht nachtut, welchen Mandarinen zwei Monate lang oben in der Höhe abwechselnd zu erhalten wissen –; aber er steigt nicht wie die Lerche, um droben zu musizieren, sondern wie der edle Falke, um auf etwas zu stoßen. Seh' ich ihn auf einem Ölberg beten, so will er eine Ölmühle droben bauen; oder weinet er am Bache Kidron, so will er drinnen kreisen oder einen hineinwerfen. Er betet, um die Irrwische der Sünden an sich zu locken – er liegt auf dem Kniee, aber wie das erste Glied, um auf den, der gegenübersteht, Feuer zu geben – er streckt freundschaftlich und warm die Arme aus, um jemand, z.B. einen Mündel, in die heißesten zu nehmen, aber nur wie der geheizte Moloch, um die Inlage zu Pulver zu brennen – oder er faltet die betenden Arme andächtig übereinander, wie es auch die sogenannten eisernen Jungfern tun, zum Zerschneiden. – –

Endlich sahen die unruhigen Freunde, daß man, gleich Dieben, am ersten bei gewissen Leuten vorkomme, wenn man sich nicht melden lässet: noch Sonntags abends um 8 Uhr schritten sie sans façon in das Haus des Herrn v. Blaise (oder deutsch: Blasius) hinein. Alles war still und öde: sie gingen über einen leeren Hausplatz in einen leeren Gesellschaftsaal, dessen halboffne Flügeltüre in die Hauskapelle sehen ließ. Sie erblickten [58] durch die Fuge bloß sechs Stühle, auf deren jedem ein aufgeschlagenes umgestürztes Gesangbuch lag, und einen wachstuchenen Tisch mit Müllers »Himmlischem Seelenkuß« und Schlichthabers »Fünffachen Dispositionen auf alle Sonn- und Festtage«. Sie drückten sich durch die lange Ritze, und siehe, oben an der Tafel saß einsam der Heimlicher und setzte schlafend seine Andacht fort, mit der Federmütze unter dem Arm. Seine Haus- und Kirchendiener hatten ihm nämlich (und das geschah sonntäglich) so lange vorgelesen, bis ihn der Schlaf zu einem Petrefakt oder einer Salzsäule gehärtet hatte, weil ihm sowohl die gegessene als die getrunkene und die geistige Nahrung die Augen so schwer machte als den Kopf- oder auch, weil er wie alle Zuhörer unter dem Anwurf des göttlichen Samens gern die Augen zumachte, wie Leute, die sich pudern lassen – oder weil Hauskapellen und Hauptkirchen noch den alten Tempeln gleichen, worin man die Orakel-Belehrungen schlafend empfing. Alsdann lasen die Bedienten immer leiser, um ihn allmählich an das Verstummen zu gewöhnen. Dann ließ ihn die andächtige Dienerschaft in seiner betenden Richtung bis um 10 Uhr auf dem Stuhlbette angelehnt, und alles wanderte leise davon; um 10 Uhr (wo ohnehin die Frau Heimlicherin von Visiten wiederkam) schrie ihn der Hausküster mit Beistand des Nachtwächters durch ein grelles Amen auf einmal aus dem Schlafe, und er setzte wieder etwas auf den kalten Kopf. –

Heute fiels anders aus. Leibgeber klopfte mit dem Zwickel des Zeigefingers einige Male stark auf den Tisch, um den Vater des Marktfleckens aus dem ersten Schlafe zu bringen. Als der bei seinem Lever die beiden hagern Parodien und Kopeien voneinander erblickte: nahm er in der Bier- und Schlaftrunkenheit statt der entfallnen Mütze bloß eine gläserne Perücke herab vom Perücken-Kopf und setzte sie auf den seinigen. Sein Mündel redete ihn freundlich an und sagte, er woll' ihm hier seinen Freund vorstellen, mit dem er Namen troquiert und verstochen habe. Auch benennte er den Heimlicher gnädiger Herr Vetter und Pfleger. Leibgeber, wilder und erzürnter, weil er jünger war und weil die Ungerechtigkeit nicht ihn selber betraf, feuerte um drei [59] unhöfliche Schritte näher vor den Ohren die Frage ab: »Wen von uns beiden haben Ew. Gnaden denn eigentlich pro mortuo erkläret, um ihn als einen Toten besser vorzuladen? – Hier erscheinen zwei Gespenster auf einmal.« – – Blaise wendete sich stolz von Leibgeber zu Siebenkäs und sagte: »Wenn Sie nicht, mein Herr, die Kleidung so umgetauscht haben wie Dero Namen: so sind Sie die werte Person, mit der ich bisher die Ehre hatte, öfters zu sprechen. – Oder sind Sie es vielleicht doch?« sagte er zu Leibgeber, der wie besessen schüttelte. »Nun – fuhr er viel freundlicher fort – muß ich Ihnen gestehen, Hr. Siebenkäs, daß ich wirklich bisher der Meinung lebte, daß Sie dieselbe Person seien, die vor zehn Jahren von hier die Akademie bezogen und deren kleine Erbschaft ich in meine Tutel oder eigentlich Kuratel genommen. Zu meinem Irrtum, wenn es einer war, trug wohl die Ähnlichkeit das meiste bei, die Sie, mein Herr, mit meinem verschollenen Pupill praeter propter zu haben scheinen; denn manche tertia comparationis gehen Ihnen doch ab, z.B. ein Feuermal neben dem Ohr.«

»Das dumme Mal«, fuhr Leibgeber dazwischen, »hat er bloß meinetwegen mit einer Kröte ausgewischt, weils wie ein Eselohr aussah und weil er nicht dachte, daß er mit dem Ohre zugleich einen Verwandten verscherze.« – »Das kann sein«, sagte kalt der Vormund, »Sie müssen mir bezeugen, Hr. Advokat, daß ich schon gesonnen war, Ihnen heute die Erbschaft auszuzahlen; denn Ihre Versicherung, daß Sie Ihren väterlichen Namen mit einem wildfremden vertauschet, konnt' ich nach Ihrem jokosen Humor recht gut bloß für Scherz nehmen. Ich erfahr' aber in der vorigen Woche, daß Sie sich wirklich als Hr. Siebenkäs proklamieren und kopulieren lassen und mehr dergleichen. Nun sprach ich mit dem Hrn. Großweibel (Präsidenten) der Erbschaftkammer, meinem Schwiegersohn, Hrn. v. Knärnschilder, aus der Sache, der mir sagte, ich würde gegen meine Pflicht und meine eigne Sicherheit verstoßen, wenn ich die Erbschaftmasse wirklich aus den Händen gäbe. ›Was wollten Sie exzipieren – sagt' er ganz recht –, wenn einmal der wahre Inhaber des Namens erschiene und Ihnen die zweite Extradierung der Pupillengelder [60] abfoder te?‹ – Und in der Tat wäre es zu hart für einen Mann, der bei so vielen Geschäften sich der beschwerlichen Kuratel, die ihm die Gesetze erlassen, bloß aus Liebe zu seinem Verwandten und aus Bruderliebe 8 gegen alle seine Mitbrüder unterzogen, zu hart wär' es, sag' ich, wenn er dafür zum Lohne dieselbe Summe noch einmal aus seinem eignen Beutel zahlen müßte. – Inzwischen, Hr. Advokat Siebenkäs, da ich für mich als Privatperson die Rechtmäßigkeit Ihrer Foderungen vielleicht mehr einräume, als Sie denken, da Sie aber als Rechtsgelehrter recht gut wissen, daß eine individuelle Überzeugung noch immer keinen legalen Rechtsgrund abgibt, und daß ich hier nicht alsMensch, sondern als Tutor handeln muß: so wär's wohl am besten, einer für meine Wünsche weniger parteiischen Mittelperson, nämlich der Erbschaftkammer, die Entscheidung zu überlassen. Machen Sie mir nur bald, Hr. Advokat Siebenkäs«, endigte er lächelnder und die Hand auf dessen Schulter legend, »das Vergnügen, das gerichtlich bewiesen zu sehen, was ich bloß wünsche, daß Sie mein so lange verschollener Vetter Leibgeber sind.«

– »Sollte denn«, sagte Leibgeber grimmig-gelassen und mit verschiedenen Läufern und Fugen auf dem Farbenklavier des Gesichts, »die kleine Ähnlichkeit, die Hr. Siebenkäs da mit – sich selber hat, nämlich mit Dero Hrn. Pupill, sollte die nichts beweisend verfangen, wie eine ähnliche Ähnlichkeit bei der comparatio litterarum?« – »Allerdings«, sagte Blasius, »etwas, aber alles nicht: denn es gab viele Pseudo-Neros, und drei oder vier Pseudo-Sebastiane in Portugal – und wenn Sie nun selber mein Hr. Vetter wären, Hr. Leibgeber?«

Dieser sprang schnell mit verändertem freudigen Tone auf und sagte: »Das bin ich auch, mein teuerster Hr. Vormund – es war nur alles Probe – und verzeihen Sie meinem Freunde da die [61] kleine Verstellung.« – »Alles ganz wohl«, versetzte er aufgeblasener; »aber Ihre eigenen Winkelzüge, meine Herren, müssen Sie nun doch von der Notwendigkeit einer obrigkeitlichen Indagation überführen.«

Das überwältigte den Armenadvokaten; – er drückte die Hand seines Freundes, damit sich dieser bezähmte, und fragte mit einer vom Gefühle fremden Hasses ordentlich niedergedrückten Stimme: »Haben Sie nie nach Leipzig an mich geschrieben?« – »Wenn Sie mein Mündel sind«, versetzte Blasius, »jawohl mehrmal; sind Sie es nicht, so haben Sie meine Briefe bloß auf eine andere Weise.« Nun sagt' er noch weicher stammelnd: »Erinnern Sie sich keines Schreibens, worin Sie mir die Gefahrlosigkeit meines Namentausches versicherten, gar keines?« – »Wahrhaftig, das ist lächerlich«, versetzte Blaise, »dann wäre die streitige Sache ja eben entschieden.«

Hier legte Leibgeber an den Vater der Stadt die zehn Finger wie Nietnägel und erfaßte jede Achsel wie einen Sattelknopf und machte ihn durch die Händeklammern an den Sessel fest und rollte die Worte heraus: »Kein Schreiben? keines, keines, alter ehrlicher grauer Schelm? – Grunze nicht, ich erdrossele dich! Keines, o du treuer Gott! – Rühr dich nicht, Tutor, mein Hund reißt dir die Kehle heraus – antworte leise – kein Schreiben hast erhalten, sagst du?«

»Gern sag' ich nichts«, lispelte Blasius, »da ja ohnehin im Zwange kein Zeugnis gelten kann.« Jetzo zog Siebenkäs seinen Freund von ihm weg, aber dieser sagte zum Saufinder: »Mordax, hui Sau!« hob vom Staatsdiener die gläserne Perücke ab und brach die wichtigsten Locken aus und sagte – der Saufinder lag sprungrecht – zu Siebenkäs: »Schraub ihn fest, weils der Hund nicht tun soll, damit er mir zuhört, ich will ihm Fleuretten vorsagen, und laß ihn nicht Pap sagen. – Hr. Heimlicher, geborner von Blasius, meine Absicht ist hier gar nicht, Ihnen Injurien anzutun oder gar improvisierte Pasquille vorzusagen, sondern ich will Sie vielmehr einen alten Spitzbuben nennen – einen etwanigen Waisen-Räuber – einen befirnisten Schelm und was dergleichen mehr ist, als z.B. einen polnischen Bären, dessen Fährte [62] wie eine Menschenspur 9 aussieht. Solche Titel, die ich hier brauche, als Schelm – Judas – Strick« (er schlug bei jedem Worte den gläsernen Turban als ein Becken bei der Janitscharenmusik gegen die andere Hand) »– Schuft – Blutigel, Tränenigel, solche Nominaldefinitionen sind keine Injurien und beleidigen nicht, erstlich weil man nach L. §. de injur. 10 die größten Injurien ganz gut im Scherze sagen kann, und ich scherze hier – und zur Verteidigung seines Rechts kann man stets injuriieren. Siehe Leyser 11 – Ja nach Quistorps peinlichem Rechte darf man die gröbste Missetat ohne injuriandi animus vorwerfen, falls sie noch nicht untersucht und gestraft ist. – Und ist denn deine Ehrlichkeit schon untersucht und gestraft, du althaariger unehrlicher Schlag? Und hast du nicht, gleich dem Heimlicher in Freiburg 12, der aber ein besserer Mann sein wird, eine ganze Menge Jahre, wo man dich nicht angreifen soll.... Mordelement, aber ich greif' dich heute an, Mucker! – Mordax!« – Der Hund schaute nach Befehlen auf.

»Jetzo lasse nach«, bat Siebenkäs, welchen der niedergedrückte Sünder beklemmte.

»Den Augenblick; aber mach mich nur nicht wild«, sagte Leibgeber, ließ die entblätterte Perücke fallen und stellte sich auf sie und zog Schere und schwarzes Papier heraus. »Sehr gelassen will ich das ausgepolsterte Gesicht dieser betenden Schlafmütze ausschneiden und als gage d'amour mitnehmen. Ich kann doch das Ecce homunculus durch die halbe Welt herumtragen und sie bitten: prügl' ihn ab, selig ist, wer den Heimlicher Blasius in Kuhschnappel abprügelt noch vor seiner Abfahrt; ich war nur damals viel zu stark dazu.«

»Den Bericht über den Erfolg«, fuhr er fort, gegen Siebenkäs gewandt und einen guten Schattenriß zu Ende schneidend, »kann [63] ich unserem Duck- und Kahlmäuser da nicht eher mündlich abstatten als nach einem Jahre, weil alsdann die wenigen Injurien, womit ich den Schelm etwa könnte angetastet haben, nach den Gesetzen völlig verjährt sind und wir wieder die vorigen Freunde geworden.«

Unerwartet bat er darauf seinen Siebenkäs, bei dem Saufinder zu bleiben – er hatte ihn mit einem Fingerzeig als ein Beobachtcorps gegen den Heimlicher gestellt –, indem er auf einen Augenblick hinaus müsse. Da er nämlich in Blaisens Prunksaale für die kuhschnappelsche große und mittlere Welt die Papiertapeten und einen ungemein sinnreichen Ofen – er war zur Gestalt der Göttin Themis ausgearbeitet, welche allerdings ebensooft versengt als erwärmt – bei dem neulichen Besuche wahrgenommen: so hatt' er für den jetzigen einen Iltispinsel und ein Gläschen Dinte mitgebracht, welche aus Kobold, in Scheidewasser aufgelöset, und einigem dazu getröpfelten Salzgeiste bestand. Ungleich der schwarztuchenen Dinte, welche schon anfangs sichtbar ist und erst später unsichtbar wird, erscheint diese sympathetische anfangs gar nicht und tritt auf dem Papier erst grün hervor, sobald dasselbe erwärmt worden. Leibgeber malte jetzo mit dem Iltispinsel auf die Papiertapete, welche dem Ofen oder der Themis zunächst stand, folgende unsichtbare Wandfibel hin:


»Die Göttin der Gerechtigkeit will sich hiermit bei allen Gästen dagegen verwahren, daß sie in effigie, in Bildnis, anstatt gehangen, sogar aufgestellt und nach Belieben erhitzt und erkältet wird durch den Injustiz-Minister und den längst dem innern heimlichen Gericht verfallenen Heimlicher Blasius.

Von Rechts wegen, Themis«


Leibgeber hinterließ die stille Aussaat dieser Priestleyschen grünen Materie auf der Wand mit dem frohen Bewußtsein, daß künftig im Winter, wenn der Saal von der Göttin recht warm geworden für eine Prunkversammlung, auf einmal der ganze grüne Markt vor ihr lustig aufschießen werde.

So kehrte er in das Betkabinett zurück und fand den Saufinder noch in der befohlenen offiziellen Anschauung und seinen Freund [64] wieder in der Anschauung des Hunds. Er schied samt den andern äußerst höflich und bat den Heimlicher sogar, ihn nicht bis auf die Gasse zu begleiten, weil Mordaxen einiges Zerreißen dann schwer zu verwehren sein möchte.

Auf der Gasse sagte er zu seinem Freunde: »Mache ja kein dummes Gesicht dazu – ich flieg' ohnehin immer ab und zu bei dir – begleite mich über das Tor hinaus; ich muß heute noch über eure Grenze – wir wollen laufen, damit wir vor sechs Minuten auf fürstlichen Grund und Boden kommen.«

Als sie über das Tor, d.h. über dessen unpalmyrische Ruinen hinaus waren: stand die kristallene widerscheinende Grotte der Augustnacht aufgeschlossen und erleuchtet auf der dunkelgrünen Erde, und die Meerstille der Natur widersprach dem Sturme der menschlichen Brust; die Nacht zog die Himmeldecke voll stiller Sonnen ohne ein Lüftchen über die Erde herauf und unter sie hinab; die gefällten Saaten lagen ohne Rauschen in Garben um, und die eintönige Grille und ein harmloser alter Mann, der Schnecken für die Schneckengrube zusammenlas, schienen allein im weiten Dunkel zu wohnen. Alles Zornfeuer war plötzlich in beiden niedergebrannt. Leibgeber sagte mit einem um zwei Oktaven herabspringenden Tone: »Gott sei Dank! das schreibt doch wieder einen friedlichen Vers um die innere Sturmglocke – mir ist, als wenn die Nacht mit ihrem schwarzen Bezug meine Lärmtrommel recht sanft zu einer Leichenmusik dämpfte; und mit Vergnügen spür' ich mich nach so langem Gekeife etwas betrübt.«

»Wär's nur nicht meinetwegen gewesen, alter Heinrich«, versetzte Siebenkäs, »dein lustiges Ergrimmen über den abgeschabten Sünder!« – »Du hättest«, sagte Leibgeber, »ob du gleich sonst eine Satire den Leuten nicht so leicht ins Gesicht wirfst wie ich, an meiner Stelle noch ärger getobt; man kann wohl an sich, besonders wenn man sanft ist wie ich, Mißhandlungen ausstehen, aber nicht am Freunde; und leider bist du ja der Märterer meines Namens, heutiger Augen- und Blutzeuge der Sache zugleich. Sonst darf ich dir überhaupt melden, wenn mich einmal der Teufel des Zorns reitet, oder eigentlich wenn ich ihn reite: so [65] jag' ich gern die Mähre halbtot, bis sie umfällt, damit ich sie in einem Vierteljahre nicht wieder beschreiten kann. Aber dir hab' ich eine hübsche schwarze Suppe eingebrockt und lasse dich mit dem Löffel sitzen.« Siebenkäs stand schon lange in der Angst, er werde auf die 1200 Gulden Taufgelder seines Umtaufens, gleichsam auf das Abzuggeld seines Namens, kommen; er sagte daher so heiter und leicht, als es sein von der beschleunigten nächtlichen Trennung gepreßter Busen erlaubte: »Ich und meine Frau haben in unsrer Königsteinischen Festung noch Proviant genug, und wir können darin säen und ernten. – Gott gebe nur, daß wir manchmal eine harte Nuß aufzubeißen haben; nach solchen Nüssen schmeckt der Tischwein des verrauchten Lebens wieder besonders. – Morgen setz' ich meine Klagschrift auf.« Die Erweichung vor der bald ausschlagenden Abschiedstunde versteckten beide in komische Wendungen. Da die Doppeltgänger 13 vor eine Säule kamen, womit die aus England kommende **sche Fürstin die Stätte ihres Zusammentreffens mit ihrer von den Alpen steigenden Schwester bezeichnen lassen; und da dieses frohe Denkmal des Wiederfindens heute zu einem ganz anderen werden sollte: so sagte Leibgeber: »Jetzo marsch, zurück! Deine Frau ängstigt sich ab, es ist über 11 Uhr. – Dort ist schon euer Weichbild, der Rabenstein, eure Grenzfestung. Ich geh' ins Baireuthische und Sächsische vorderhand und schneide meinen Roggen, nämlich fremde Gesichter und zuweilen meine eigenen närrischen dazu. – Aus Spaß seh' ich dich vielleicht nach einem Jahre und einem Tage wieder, wenn die Verbalinjurien ordentlich verjährt sind. – – Im Vorbeigehen! (setzte er schnell hinzu) gib mir dein Ehrenwort, mir nur einen schwachen Gefallen zu tun.« – Er gabs voreilig. »Schicke mir mein Depositum 14 nicht nach – ein Kläger braucht Verlagkosten. – So lebe wohl, Teuerster!« das polterte er eilig heraus und lief nach einem geschwinden Kusse mir nichts dir nichts den kleinen Hügel hinab. Der bestürzte Verlassene sah dem Läufer nach, ohne seinen Abschied mit einem Laute zu begleiten. Im Tale hielt der Läufer an und [66] bückte sich tief und – band seine Strumpfbänder weiter. »Hättest du das nicht«, rief Siebenkäs, »da oben tun können?« und lief hinab und sagte: »Wir bleiben bis zum Rabensteine beieinander.« Das Sandbad und das Reverberierfeuer eines edlen Zorns machte heute alle ihre welchen Empfindungen heißer, wie ein hitziges Klima Gifte und Gewürze verstärkt. Da der erste Abschied schon die Augen übergossen hatte: so konnten sie nichts mehr beherrschen als die Stimme und den Ausdruck. »Du bist doch gesund nach der Ärgernis?« sagte Siebenkäs. »Wenn der Tod der Haustiere den Tod des Hausherrn bedeutet, wie die Leute glauben«, sagte Leibgeber, »so leb' ich ewig; denn meine Menagerie 15 von Tieren ist noch frisch und gesund.« – Endlich stockten sie vor dem Markthaufen des Marktfleckens, vor der Gerichtstätte: »Ei nur gar hinauf!« sagte Siebenkäs.

Als sie diesen Grenzhügel so manches verunglückten Daseins erstiegen hatten – und als er auf den mit Grün durchbrochnen steinernen Altar so manches schuldlosen Opfers niederblickte und sich es in der verfinsterten Minute vorstellte, welche schwere gequälte Bluttropfen, welche brennende Tränen oft von gepeinigten und vom Staat und vom Liebhaber gemordeten Kindermörderinnen 16 auf diese ihre letzte und kürzeste Folterbank, auf diesen Blutacker gefallen waren – und als er von dieser letzten Nebelbank des Lebens über die weite Erde blickte, um deren Grenzen und über deren Bächen die Dünste der Nacht aufdampften: so nahm er weinend seines Freundes Hand und blickte in den freien gestirnten Himmel und sagte: »Dort drüben müssen sich doch die Nebel unserer Tage einmal in Gestirne zerteilen, wie die Nebel in der Milchstraße in Sonnen zerfallen. Heinrich! glaubst du noch nicht an die Unsterblichkeit der Seele?«

»Freund!« antwortete Leibgeber, »noch will es nicht gehen. Verdient Blasius doch kaum, einmal zu leben, geschweige zwei- und mehrmal. – Freilich will mirs zuweilen bedünken, als müsse ein Stück von der andern Welt in diese mit hereingemalt werden, damit[67] sie ganz und gerundet werde, wie ich oft an den Seiten der Gemälde fremde Dinge zur Hälfte angemalt gesehen, damit die Hauptvorstellung vom Rahmen abgelöset und ein Ganzes würde. – In dieser Minute aber kommen mir die Menschen wie die Krebse vor, die die Pfaffen sonst mit Windlichtern besetzet auf den Kirchhöfen kriechen ließen und sie für verstorbne Seelen ausgaben; so kriechen wir mit unsern Windlichtern von Seelen mit den Larven Unsterblicher über die Gräber hinüber. – Sie löschen vielleicht einmal aus« – Sein Freund fiel an sein Herz und sagte heftig: »Wir verlöschen nicht – leb tausendmal wohl – wir sehen uns immerfort wieder – wir löschen bei meiner Seele nicht aus – leb wohl, leb wohl!«

Und sie schieden. Heinrich ging langsam und mit hängenden Armen durch die Fußpfade zwischen den Stoppeln und hob keine Hand ans überrinnende Auge, um kein Zeichen seiner Schmerzen zu geben. Den verwaiseten Geliebten aber überfiel ein großer Schmerz, weil Menschen, die selten in Tränen ausbrechen, sie desto unmäßiger vergießen; – und so kam er zurück und legte das erschöpfte aufgelöste Herz an die sorglose Brust seiner Gattin zur Ruhe, welche nicht einmal ein Traum bewegte; aber noch lange bis in den Vorhof der Träume hinein begleiteten ihn die Bilder von Lenettens künftigen Tagen und von des Freundes Nachtgange unter den Sternen, zu welchen dieser draußen einsam aufblickte, ohne die Hoffnung, ihnen jemals näher zu kommen; und grade über den Freund weinte er unter nicht mehr als zwei Augen am längsten.... –

O ihr beiden Freunde, du, der draußen, und du, der zu Hause! – Aber warum soll ich denn immerfort das alte aufquellende Gefühl zurückdrücken, das ihr in mir so stark wieder aufgeweckt und mit welchem mich sonst in meinen Jugendjahren die Freundschaft zwischen einem Swift und einem Arbuthnot und einem Pope in ihren Briefen gleichsam verstohlen, aber so stark durchdrungen und erquickt? Und werden nicht auch viele andere sich gleich mir erwärmt und ermannt haben an dem rührenden ruhigen Lieben dieser Männerherzen unter einander, welche, obschon kalt und schneidend und scharf gegen die Außenwelt, in ihrer [68] gemeinschaftlichen Innenwelt zärtlich und feurig für einander arbeiteten und schlugen, gleichsam hohe Palmenbäume, langgestachelt gegen das gemeine Unten, aber im Gipfel voll köstlichen Palmenwein der kräftigsten Freundschaft?

Und wenn dies alles so ist: so darf ich wohl auf der tiefern Stufe unserer beiden Freunde etwas Ähnliches antreffen, das auch wir an ihnen nachlieben. Fragt nicht sehr, warum beide sich mit einander verbrüderten; die Liebe braucht gar keine Erklärung, nur der Haß. Aller Ursprung des Besten, vom All an bis zu Gott hinauf, bedeckt sich mit einer Nacht voll zu ferner Sterne. Beide sahen in der grünglänzenden Saftzeit der akademischen Jugend zuerst einander durch die Brust ins Herz, aber mit den ungleichnamigen Polen zogen sie sich an. Siebenkäs erfreuete sich vorzüglich an Leibgebers harter Kräftigkeit, ja sogar Zornfähigkeit, an dessen Flug und Lachen über jeden vornehmen, jeden empfindsamen, ja jeden gelehrten Schein; denn er legte ein Ei seiner Tat oder seines tiefen Worts, wie der Kuntur das seinige, ohne Nest auf den nackten Felsen und lebte am liebsten ungenannt, daher er immer einen andern Namen annahm. Der Armenadvokat pflegte ihm deshalb, um sein Ärgern dar über zu genießen, mehr als über zehnmal zwei Anekdoten zu erzählen. Die erste war, daß ein deutscher Professor in Dorpat in einer Lobrede auf den damaligen Großfürsten Alexander plötzlich sich selber eingehemmt und still geschwiegen und lange auf die Büste desselben hingeblickt und endlich gesprochen: »Das verstummende Herz hat gesprochen.« Die zweite war, daß Klopstock die Prachtausgabe seines Messias an die Schulpforte abgeschickt mit dem Wunsche, der würdigste Schulpförtner 17 möge auf das Grab seines Lehrers Stübel Lenzblumen streuen, dabei des Gebers Namen Klopstock leise nennen; – worauf Siebenkäs, wenn Leibgeber etwas auffuhr, noch damit fortfuhr, daß der Sänger vier neue Pförtner, jeden zu drei Vorlesungen aus seiner Messiade, aufgerufen und jedem dafür eine goldene Medaille zugesagt, die ein Freund hergebe; und jetzo endlich harrte er auf Leibgebers Sprudeln und Stampfen über einen, der (leibgeberisch zu sprechen) [69] sich selber als sein eigenes Reliquiarium voll heiliger Knochen und Glieder anbetet.

Leibgeber hingegen – fast den Morlacken ähnlich, welche nach Towinson und Fortis auf der einen Seite für Rache und Heiligung einen Namen (osveta) haben und auf der andern sich am Altare zu Freunden trauen und einsegnen lassen – hatte seine vorzügliche Freude und Liebe an der Diamantnadel, welche in seinem satirischen Milchbruder Poesie und Milde zugleich mit einem welttrotzenden Stoizismus ineinandersteckte. Und endlich erlebten beide täglich aneinander die Freude, daß jeder den andern ungewöhnlich verstand, wenn er Scherz, ja sogar wenn er Ernst machte. Aber solche Freunde findet nicht jeder Freund.


Beilage zum zweiten Kapitel

Regierung des H. R. R freien Marktfleckens Kuhschnappel


Ich hab' es schon in zwei Kapiteln zu sagen vergessen, daß der freie Reichsmarktflecken Kuhschnappel, wovon ein Namenvetter im erzgebürgischen Kreise liegen soll 18, in Schwaben auf der Städtebank von 31 Städten als die 32ste angesessen ist. Schwaben kann sich überhaupt für eine Bruttafel oder ein Treibhaus der Reichsstädte halten, dieser deutschen Niederlassungen und Absteigequartiere der Göttin der Freiheit, welche Leute von Geburt als ihre Hausgöttin anbeten und die nach der Gnadenwahl Sünder selig macht. Ich muß hier endlich den allgemeinen Wunsch eines guten Abrisses von der kuhschnappelischen Regierungsform erhören; aber wenige Leser werden wie Nicolai, Schlözer und ähnliche es mir glauben, mit welcher Not und mit welchem Aufwande von Briefporto ich hinter bessere Nachrichten von Kuhschnappel gelangte, als öffentlich herumlaufen, da Reichs- wie Schweizerstädte ihre Honig-Wachsgewirke ja verkleben und verbauen, als wären ihre Verfassungen gestohlne, noch mit den rechtmäßigen Namen gestempelte Silbergeschirre, oder als wären die Städtchen und Ländchen Festungen – (was sie doch [70] nur mehr gegen die Bürger sind als gegen die Feinde) –, von welchen kein Abriß den Fremden zuzulassen.

Die Verfassung unseres merkwürdigen Reichsplatzes Kuhschnappel scheint ursprünglich der Vorriß gewesen zu sein, welchen Bern, das am Ende nahe genug liegt, in der seinigen kopierte, aber mit dem Storchschnabel ins Größere. Denn Bern hat seinen Großen Rat wie Kuhschnappel, dort macht er so gut Krieg und Frieden und Todesurteile wie in Kuhschnappel und besteht aus Schultheißen, Seckelmeistern, Vennern, Heimlichern, Ratherren, nur aus mehren als in Kuhschnappel; ferner hat Bern seinen Kleinen Rat gleichfalls, welcher Präsidenten, Gesandten und Gnadengelder hergibt und dem Großen nachwächset – die zwei Appellationkammern, die Holz-, Jäger-, Reformationkammern, die Fleischtax- und andern Kommissionen sind offenbar (denn auf die Ähnlichkeit der Namen ist genug zu bauen) nur gröbere Fraktur-Auszeichnungen der kuhschnappelischen Grundstriche.

Die Wahrheit aber zu sagen, hab' ich diese Vergleichung zwischen beiden Freistaaten nur gemacht, um Schweizern, besonders Bernern, ohne viele Worte faßlich zu werden, vielleicht auch gefällig. Denn in der Tat erfreut sich Kuhschnappel einer viel vollkommnern und mehr aristokratischen Verfassung als Bern, die noch in Ulm und Nürnberg teilweise zu finden wäre, wenn beide nicht während der Revolution-Witterung mehr zurück als vorwärts gekommen wären. Vor kurzem waren Nürnberg und Ulm so glücklich, wie Kuhschnappel noch ist, daß sie nicht von gemeinen Handwerkern, sondern bloß von gutem Adel regieret wurden, ohne daß ein gemeiner Bürger sich in Person oder durch Stellvertreter 19 hätte im geringsten darein mischen können: jetzt leider scheint man in beiden Städten das Faß des Staats, weil derobere Bierhahn saures Gesöff herausließ, unten einen Zoll hoch [71] über der Hefe des Pöbels angezapft zu haben. – Ich kann aber hier unmöglich weiter gehen, wenn ich nicht einen zu gewöhnlichen Irrtum über große Städte aus dem Wege räume.

Die Behemoths und Kunturs unter den Städten – Petersburg, London, Wien – sollten, wollte man, die Gleichheit der Freiheit und die Freiheit der Gleichheit allgemein einführen; diesen Endzweck erraten die wenigsten Statistiker, aber er ist so klar. Denn eine Hauptstadt von 2 1/4 Stunde in Umfang ist gleichsam ein Ätnas-Kessel von gleichem Umkreise für eingan zes Land und hilft der Nachbarschaft nicht bloß, wie der Vulkan, durch ihre Auswürfe, sondern durch ihreEinfüllungen (Repletionen) auf; sie säubert mit Erfolg das Land von Dörfern und später von Landstädten – diesen ursprünglichen Wirtschaftgebäuden der Residenzen –, indem sie von Jahr zu Jahr immer mehr auseinanderrückt und sich so mit den Dörfern vermauert und verwächst und umrankt. Man weiß, daß London schon die nächsten Dörfer in seine Gassen verwandelt hat; aber nach Jahrhunderten müssen die länger und auseinander wachsenden Arme jeder großen Stadt nicht bloß die Dorfschaften, sondern auch die Landstädte ergreifen und zu Vorstädten erheben. Dadurch werden nun die Steige und Felder und Wiesen, die zwischen der Riesenstadt und den Dörfern lagen, wie das Bette eines Flusses überdeckt mit einem Steinpflaster, und der Ackerbau kann folglich nur noch in – Blumenscherben am Fenster blühen. Ohne Ackerbau seh' ich nicht, was Ackerbauleute anders sein können als Tagediebe, die kein Staat duldet; da man aber einen Fehler besser verhütet als bestraft, so muß der gute Staat solches Landvolk, noch ehe dasselbe zu Tagedieben geworden, wegräumen, es sei durch wirksame Inhibitoriales der Bevölkerung oder durch dessen Abraupen oder durch Veredlung in Soldaten und Bedienten. In der Tat würden in einem Dorfe, das ein eingefügter Zwickstein einer Stadt, eine eingereifte Faß-Daube des Heidelberger Residenzfasses geworden wäre, noch übrig gebliebne Bauern ebenso lächerlich als müßig sein: die Korallengehäuse der Dörfer müssen gleichsam ausgeleert sein, ehe sie das zusammengetürmte Riff oder Eiland einer Stadt erbauen.

[72] Dann ist wohl der schwerste Schritt zur Gleichheit getan; jetzo müssen die innern Feinde der Gleichheit, die Bürger, ebensogut wie die Bauern von der Hauptstadt bekämpft und womöglich ausgereutet werden, welches mehr ein Werk der Zeit als besonderer Verordnungen ist. Inzwischen ist das, was einzelne Residenzstädte hie und da geleistet haben, wenigstens ein Anfang. Dürfte man sich aber das Ideal ausmalen, daß einmal wirklich sich die zwei mächtigsten Oppositionparteien und Widerlagen der Gleichheit, Bürger und Bauern, aus den Riesenstädten durch eine lange Reihe von Glückzufällen verloren hätten; ja daß mit dem Ackerbau sogar der niedere Adel, der ihm obgelegen, zugleich gefallen wäre: so würde eine edlere Gleichheit, als in Gallien war, wo nur lauter gleicher Pöbel wohnte, auf die Erde kommen, es würde lautergleichen Adel gehen, und die gesamte Menschheit besäße dann einen Adelbrief und lauter echte Ahnen. In Paris schrieb die Revolution alles wie in den ältesten Zeiten mit lauter kleinen Buchstaben; nach meiner Voraussetzung würden dann wie in den spätern lauter Anfang– oder Kapitalbuchstaben gebraucht, die jetzo nur wie Türme aus vielen kleinern vorragen. Wenn aber auch ein solcher hoher Stil, eine solche Veredlung der Menschheit nur eine schöne Dichtung bliebe und man nur mit dem kleinern Glücke zufrieden sein müßte, daß in den Städten, wie jetzo eine Judengasse, so eine Bürgergasse übrig bliebe so wäre genug für die geistige Menschheit in den Augen eines jeden erbeutet, der bedenkt, wie ausgebildet der hohe Adel ist, besonders der Teil desselben, der den größten ausbildet. –

Aber diese Nobilitierung der gesamten Menschheit gewähren uns die Reichsstädte viel sicherer als die größten Residenzstädte.

Dieses führt mich auf Kuhschnappel zurück. Man scheint in der Tat zu vergessen, daß es zu viel gefodert ist, wenn die vier Quadrat-Wersten, die eine Residenz etwan groß ist, mehr als 1000 Quadratmeilen des umliegenden Landes überwältigen, verdauen und in Bestandteile von sich verwandeln sollen, so wie die Riesenschlange größere Tiere verschlucket, als sie selber ist. London hat nicht viel über 600000 Bewohner: welche ungleiche [73] Macht gegen die 5 1/2 Millionen des ganzen Englands, denen die Stadt allein entgegenarbeiten und Flügel und Zufuhr abschneiden soll, Schott- und Irland nicht einmal eingerechnet! – So steht es mit guten Reichsstädten nicht: hier ist die Zahl der Dörfer, Bauern und Bürger, die bezwungen, ausgehungert und weggetrieben werden sollen, in einem richtigen Verhältnisse gegen die Größe der Stadt, der Patrizier oder regierenden Geschlechter, die sich damit zu befassen haben und den ebnenden Schlichthobeln der Menschheit vorarbeiten. Hier ists nicht schwer, den Bürger als einen groben Bodensatz, der im Adel schwimmt niederzuschlagen. Es ist, wenn es ihnen mit dieser Niederschlagung mißlingt, bloß die Schuld der Patrizier selber, weil sie oft am falschen Orte schonen und die Bürgerbank für eineGrasbank im Garten halten, deren Gras zwar für das Niedersitzen und Erdrücken wächset, die man aber doch immer begießet, damit sie unter so vielen Steißen nicht verdorre. Wenn es nichts als freie Menschen, und zwar von der edelsten Klasse, nämlich Reichsfreie und Semperfreie geben soll: so müssen durch Auflagen und Losungen die bürgerlichen Zimtbäume gänzlich abgerindet werden – welches nur pöbelhafte Autoren Schinden und die Haut über die Ohren ziehen nennen –, worauf die Bäume ohnehin verfalben und ausgehen. Freilich kostet diese Reichsfreiheit Menschen. Aber mich bedünkt, eine solche werde durch die wenigen Tausende von Leuten, die sie kostet, wohlfeil genug erkauft, da früher Amerikaner, Schweizer und Holländer für eine weit engere ganze Millionen Menschen bar auf den Tisch des Schlachtfeldes hingezahlt und hingeschossen. Auch fallen neuere Staaten selten in den Fehler der neuern Schlachtenmaler, an welchen man Überladung mit Personen aussetzt. Vielmehr sollte man es mehr bemerken, mit welchen klug gewählten und treibenden Mitteln mehre deutsche Länder die Bevölkerung als eine Krankheitsmaterie und Menschen-Plethora – wie jeder gute Arzt tut – nach unten ableiten, nämlich nach dem gerade unter Deutschland liegenden Nordamerika.

Kuhschnappel hat, um zum vorigen umzukehren, vor 100 Städten den Vorsprung. Ich gebe zu, daß Nicolai beteuert, die vorigen [74] 60000 Nürnberger wären gerade noch halbiert da, nämlich 30000, und dies ist etwas; aber gleichwohl kommen noch immer 50 Bürger (und mehr) gegen 1 Patrizius zu stehen, welches stark ist. – Hingegen bin ich zu jeder Stunde durch Tauf- und Sterbelisten darzutun erbötig, daß im Reichsmarktflecken Kuhschnappel beinahe nicht mehr Bürger als Patrizier leben, welches um so wunderbarer ist, da die letzten – wegen ihres Hungers – schwerer zu leben haben. Ich frage, welcher neuere Staat kann so viele Freie aufzeigen? Waren nicht sogar im freien Athen und Rom – in West-Indien ohnehin – mehr Knechte als Freie, daher man jene durch keinen besondern Anzug zu bezeichnen wagte? Und sind nicht noch in allen Staaten mehr Lehn- als Edelleute, obgleich diese längst in stärkerer Anzahl vorhanden sein könnten, da Bauern und Bürger nur von der Natur, die Patrizier hingegen sowohl von derNatur als von der Kunst aus Reichs- und Fürsten-Kanzeleien nachgesäet werden? –

Wäre die Beilage nicht eine Abschweifung, von welcher man gewöhnlich Kürze fodert: so wollt' ich weitläuftig genug dartun, daß Kuhschnappel noch in mehren Vorzügen manchen Schweizerstädten, wo nicht vor-, doch gleichstehe, z.B. in gutem Abschleifen und Verlängern des Richtschwertes und überhaupt im Handhaben eines rechten knotigen, gestachelten Stab-Wehes – in der geistigen Fruchtsperre, nicht gegen das Ausland, sondern gegen das Innere, um Gedanken und hundert anderes geistiges Zeug nicht einzulassen – und sogar selber im grünen Markt oder Handel mit jungen Leuten; denn was eben letzten anlangt, so ist bis heute der Absatz von jungen Kuhschnapplern nach Frankreich zu Türstehern und zu Kronvorfechtern nur darum so flau, weil die Schweizer den Markt greulich mit kräftigen Jünglingen überfahren, die sich vor jede Türe und (ists Krieg) vor jede Kanone stellen: wahrlich, sonst sollte vor mehr als einer Türe ein Kuhschnappler stehen und sagen: kein Mensch zu Hause. (Ja noch jetzo bei der zweiten Auflage darf ich behaupten, daß Kuhschnappel seinen Titel Reichsmarktflecken wie eine zweite Kurwürde noch fortbewahrt und seine alten Gedanken-Einfuhr-und Nachrichten-Ausfuhrverbote und seinen Blut-oder lebendigen [75] Menschenzehent für Frankreich so gut fortsetzt wie die Schweiz, welche dem Kastellan auf der Wartburg gleicht, der den unauslöschlichen, von Luther gegen den Teufel geworfenen Dintenklecks stets auf der Wand von neuem auffärbt.)

Drittes Kapitel

Flitterwochen Lenettens – Bücherbräuerei – der Schulrat Stiefel – Mr. Everard – Vor-Kirmes – die rote Kuh – Michaelis-Messe – the Beggars' Opera – Versuchung des Teufels in der Wüste oder das Männchen von Ton – Herbstfreuden – neuer Irrgarten


Die Welt konnte sich nicht stärker verrechnen, als daß sie erwartete, am Montage unsern allgemeinen Helden im Trauerwagen und Leichenmantel und mit Trauermanschetten und angelaufenen Schuhschnallen als Leidtragenden über die Scheinleiche seines Glücks und Kapitals anzutreffen.

Himmel! Wie kann aber die Welt in solchem Grade fehlschießen? Der Advokat war nicht einmal in Viertels-Trauer, geschweige in halber, sondern so aufgeräumt, als hab' er selber dieses dritte Kapitel vor sich und fang' es grade so an wie ich hier.

Der Grund war: er faßte eine gute Klage gegen seinen Vormund Blaise ab, stattete sie mit mehren satirischen Zügen aus, die bloß er selber verstand, und reichte sie bei der Erbschaftkammer ein. Nur etwas in der Not getan, so ists schon etwas. Das Glück schicke uns eine noch so unfreundliche frostige Herbstluft auf den Hals – zerbricht es uns nur nicht wie Schwänen das oberste Flügelgelenk: so wird uns allemal das Geflatter, das wir damit machen, wo nicht in ein wärmeres Klima tragen, doch ein wenig selber in Wärme bringen. – Der Frau verbarg Firmian Siebenkäs aus Gründen der Liebe den Aufschub der Erbschaft wie den verjährten Tausch-Handel mit seinem Namen: er vertrauete darauf, daß eine eingehegte Advokatenfrau niemals einem vornehmen Patrizier in die häusliche Karte werde schauen können.

[76] Was konnte überhaupt einem Menschen viel fehlen, der aus seiner stillen Woche eines Einsiedlers auf einmal in die Flitterwochen eines Zweisiedlers gefahren war? Jetzo erst faßte er seine Lenette recht in zwei Arme – vorher hatt' er immer seinen im Leben ab-und zuflatternden Freund fest mit der Linken an sich gehalten –, und sie konnte sich nun in seinen Herzkammern viel bequemer ausbreiten. Und die scheue Frau tat es wohl, soweit sie wagte; sie bekannte ihm, obwohl furchtsam, es sei ihr fast lieb, daß der unbändige Saufinder nicht mehr unter dem Tische liege und greulich vorgucke; ob sie aber nicht über den wilden Herrn desselben das nämliche gedacht, wäre nie von der gehorsamen Gattin herauszubringen gewesen. Sie erschien dem Advokaten ordentlich als eine Tochter; und der kleinen Eigenheiten konnte sie dem hoch erwachsenen Vater gar nicht genug haben.

– Daß sie ihm, wenn er ausging, so lange nachsah, als die Gasse lang war, dies war noch nicht das Halbe gegen das Nachlaufen mit der Bürste bis über die Haustüre hinaus, wenn sie oben von hinten an seinem Schanzlooper unten solche Straßenpflaster anklebend angetroffen, daß sie ihn durchaus wieder ins Haus zurück ziehen und darin den Rocksaum so sauber abbürsten mußte, als zolle man in Kuhschnappel das Pflastergeld wirklich für ein Pflaster. Er hielt der Bürste still und küßte sodann und sagte: »An der Innenseite sitzt wohl noch allerhand, aber keine Seele siehts, und komme ich wieder, so kratzen und schaben wirs droben miteinander heraus.«

Seiner Erwartung und Foderung wurde es ordentlich zu viel – aber seiner Wiederliebe nicht –, daß sie jeden Wunsch und Wink nicht bloß jungfräulich erhörte, sondern auch töchterlich befolgte und bediente. »Ratskopisten-Tochter«, sagte er, »sei mir nur nicht gar zu gehorsam; ich bin ja nicht dein Vater, ein Ratskopist, sondern nur ein Armenadvokat und habe dich geehlicht und schreibe mich Siebenkäs meines Dafürhaltens.« – »Auch mein sel. Vater«, versetzte sie, »hat wohl selber manche Sachen im stillen mit seiner eigenen Hand konzipiert und solche nachher ordentlich und sauber mundiert«; aber diese seltsame Kreuz- und [77] Querantwort gefiel doch dem Advokaten sehr wohl; und wenn sie vor lauter Verehrung seiner nicht einen einzigen Spaß verstand, den er über sich selber machte – es sei nun, daß sie seinem ironischen Selbererniedrigen widersprach, oder dem ironischen Selbererhöhen ganz beifiel –: so schmeckten dem Advokaten diese geistigen Provinzialismen seiner Gattin nicht schlecht. Sie konnte ohne Bedenken sagen: fleuch, reuch, kreuch, anstatt fliehe, rieche, krieche; diese religiösen Altertümer aus Luthers Bibel waren recht brauchbare Beiträge zum Idiotikon ihrer Empfindungen und seiner Honigwochen. – Als er einmal eine sehr artige Haube, die sie voll Vergnügen den drei von ihr zuweilen leicht geküßten Haubenköpfen nacheinander aufprobiert hatte, auf ihr eigenes Köpfchen vor dem Spiegel mit den Worten stülpte und zog: »Setz auf und sieh hinein, dein Kopf ist vielleicht so gut als einer von Holz«, so lächelte sie ungemein vergnügt und sagte: »Du willst unsereine nur immerdar flattieren.« Man glaub' es mir, dieses naive Unverstehen rührte ihn so, daß er sich zuschwur, solche Scherze nirgends mehr vorzubringen als nur in sich und bei sich. Aber was ist dies gegen eine höhere Flitterwochenfreude? Diese war, daß seine Lenette ihm am nächsten Bußtage durchaus nicht erlaubte, sie zu küssen, als sie ihn mit ihrer Weiß- und Rot-Blüte der Jugend in den schwarzen Kopfmanschetten oder Spitzen und aus dem dunkeln Kleiderlaube dreifach verschönert anblickte: »Dergleichen weltliche Gedanken«, sagte sie, »schicken sich vor der Kirche gar nicht, wenn man schon seine Bußkleider anhat, sondern man wartet.« – »So will ich – sagt' er zu sich – doch wie eine Nordwest-Amerikanerin 20 einen Suppenlöffel fünf Zoll lang und drei Zoll breit durch meine Unterlippe stechen und ihn herumtragen, wenn ich je wieder bei der andächtigen Seele auf Löffeln und Küssen falle, wann sie schwarz angezogen ist und die Glocken lauten.« – Und er hielt, [78] obgleich selber kein sonderlicher Kirchengänger, ihr und sich Wort. So sind wir Männer aber in der Ehe, ihr Bräute!

Daraus werdet ihr nun leicht erraten, wie selig vollends der Advokat in seinen Honigwochen wurde, als Lenette gar das, was er sonst selber, und zwar recht erbärmlich und verdrüßlich tat, für ihn auf das schönste besorgte und durch unverdroßne Feg- und Bürst-Arbeit seine dithyrambische Karthause so sauber, grade und glatt herstellte wie eine Billardtafel; ganze Honigbäume voll Fladen pflanzte sie in seine Honigwochen, wenn sie so am Morgen wie eine fleißige Biene um ihn herumsumsete und wenn sie im kleinen Bienenkörbchen – er selber prozessierte ruhig in seinen Akten weiter und bauete am juristischen Wespenneste – Wachs eintrug, Zellen bauete, Zellen säuberte, fremde Körper auswarf und Ritzen zuklebte, und wenn er dann auf einmal aus seinem Wespenneste einen zufälligen Blick auf die niedliche Gestalt im nettesten Hauskleidchen warf. Wie oft legte er nicht die Feder in den Mund und hielt ihr über das Dintenfaß die aufgemachte Hand hin und sagte hinter der Feder: »Gedulde dich doch ums Himmels willen nur bis nachmittags, wo du sitzest und nähst: so sollst du ja belohnt und geküßt werden hinlänglich, wenn ich auf- und abspaziere.«

Damit aber keine Leserin sich in Angst setze über Versäuerung solcher Honigwochen durch den enterbenden Spitzbuben Blaise: so frag' ich jede bloß dies: hatte der Advokat nicht eine Silberhütte und ein Pochwerk von sieben gangbaren Prozessen, die voll lauter Silberadern waren? – Hatt' ihm nicht sein guter Leibgeber auf vier Glückrädern einen Regiment-Geldwagen nachgefahren, auf welchem aufgeladen waren zwei Brillentaler von Julius Herzog zu Braunschweig, ein gräflich-reußischer Dreifaltigkeit-Taler von 1679, ein Schwanz- oder Zopfdukaten, ein Mücken- oder Wespentaler, fünf Vikariatdukaten und eine Menge Ephraimiten? Denn er durfte ohne Bedenken dieses Münzkabinett verkalken und verflüchtigen, da es sein Freund nur aus Spott gegen die, die mit 100 Talerneinen kaufen, in seinen Taschen angelegt hatte. Beide lebten überhaupt in einer Gütergemeinschaft des Körpers und Geistes, die wenige fassen [79] sie waren so edel geworden, daß zwischen dem Nehmer und Geber einer Gefälligkeit kein Unterschied mehr blieb, und sie schritten über die Klüfte des Lebens aneinandergeknüpft, wie die Kristallsucher auf den Alpen sich gegen den Sturz in Eisspalten durch Aneinanderbinden decken.

Gleichwohl kam er an einem Marientage gegen Abend auf einen Gedanken, welcher alle geängstigten Leserinnen seiner Geschichte ganz aufrichten wird und der ihn selber seliger machte als der größte Brotkorb mit Fruchtkörbchen oder als ein Korb Wein. Er wußte aber schon voraus, daß er den Gedanken haben würde; im Elend sagt' er allemal: »Es soll mich wundern, was für ein Hülfmittel ich da wieder ausspinnen werde; denn verfallen werd' ich so gewiß auf eines, als ich vier Gehirnkammern beherberge.« – Der beglückende Gedanke, wovon ich rede, war, das zu machen, was ich hier mache – ein Buch, obwohl ein satirisches 21. Hier fuhr aus den aufgezognen Schleusen des Herzens ein reißender Strom von Blut unter das Räder- und Mühlenwerk seiner Ideen hinein, und die ganze geistige Maschine klapperte, rauschte, stäubte und klingelte – es waren schon einige Metzen gemahlen fürs Werk. Ich kenne keinen größern geistigen Tumult – kaum einen süßern – in einem jungen Menschen, als wenn er in der Stube auf- und abgeht und den kühnen Entschluß fasset, ein Buch Konzeptpapier zu nehmen und ein Manuskript daraus zu machen – ja man kann darüber disputieren, ob der Konrektor Winckelmann und der Feldherr Hannibal hurtiger die Stube auf- und abliefen, als beide des ebenso kühnen Sinnes wurden, nach Rom zu gehen. Siebenkäs mußte, da er eine Auswahl aus des Teufels Papieren zu schreiben beschlossen, zum Hause hinaus und dreimal um den Marktflecken laufen, um die rollenden beweglichen Ideen durch müde Beine wieder fester in die rechten Fugen einzuschütteln. Er kam, müde vom innern Verglühen, zurück – sah nach, ob genug weißes Papier zu Manuskripten da sei – und lief auf seine ruhige Haubensteckerin zu [80] und küßte sie so schnell, daß sie kaum die Stecknadel aus den Lippen – den letzten Dorn an diesen Rosen – ziehen konnte. Unter dem Kusse befestigte sie, hinunterschielend, ganz ruhig mit der Nadel ein Band an einem Haubenflügel. »Freu dich doch«, sagt' er, »tanze mit mir herum – ich schreibe morgen ein Opus, ein Buch. – Brat nur heute abends den Kalbskopf, ob es gleich wider unsere 12 Eß-Gesetztafeln läuft.« Er und sie hatten sich nämlich sogleich am Mittwoch als eine Speise-Gesetz-Kommission niedergesetzt; und es war unter den 39 Artikeln einer sparenden Tisch-Ordnung auch dieser durchgegangen und dekretiert, daß sie sich abends wie Brahminen ohne Fleisch behelfen wollten, ganz schlecht und nur mit Fleisches-Wertem. Er hatte aber die größte Mühe, bis er seiner Lenette beibrachte, daß er schon mit einem Bogen von der Auswahl aus des Teufels Papieren den Kalbskopf wieder zu erschreiben verhoffen dürfe und daß er nicht ohne Grund sich selber einen Fasten-Erlaß erteile; denn Lenette dachte wie der gemeine Mann oder wie der Nachdrucker, ein geschriebenes Buch werde wie ein gedrucktes bezahlt, und dem Setzer gehöre fast mehr als dem Schreiber. Sie hatte in ihrem Leben noch nichts von dem ungeheuren Ehrensold vernommen, welchen deutsche Autoren gegenwärtig ziehen; sie war wie Racinens Frau, die nicht wußte, was ein Vers oder ein Trauerspiel ist, und die gleichwohl damit die Haushaltung bestritt. Ich meines Orts würde aber keine an den Altar und in das Hochzeithaus führen, die nicht wenigstens einen Perioden in meinen Werken, über welchem mich der Tod mit seiner Sanduhr erworfen, unter meiner Firma recht gut hinauszuschreiben wüßte oder die es nicht unbeschreiblich freuen könnte, wenn ich ihr gelehrte Göttingische Anzeigen oder Allgemeine Deutsche Bibliotheken vorläse, die mich, wenn auch Übertrieben, loben.

In Siebenkäs hatte den ganzen Abend die Schreibefreude alle Blutkügelchen in ein solches Renner' und alle Ideen in einen solchen Wirbelwind gesetzt, daß er bei seiner Lebhaftigkeit, die oft den Schein der Herzen-Aufwallung annahm, ohne weitere Frage über alles Langsame, das ihm in den Weg sich stemmte,[81] über den Zögerschritt des Laufmädchens oder über die Wort-Trommelsucht desselben aufgefahren und als Platzgold losgegangen wäre, hätt' er nicht auf der Stelle nach einem besondern Temperier- oder Kühl-Pulver gegen freudige Entrüstung gegriffen und solches eingenommen. Es ist leichter, dem schleichenden Gang eines schweren trüben Blutes einen Abfall und einen schnellern Zug zu geben, als die Brandungen eines fröhlichen stürmenden zu brechen; aber er wußte sich in der größten Freude stets durch den Gedanken an die unerschöpfliche Hand zu stillen, die sie gegeben hatte – und durch die sanfte Rührung, mit welcher das Auge sich vor dem verhüllten ewigen Wohltäter aller Herzen niederschlägt. Denn alsdann will das von der Dankbarkeit und der Freudenträne zugleich erweichte Herz wenigstens dadurch danken, daß es milder gegen andere ist. Jenen wilden Jubel, den die Nemesis züchtigt, kann dieses Dankgefühl am schönsten zähmen; und die, welche an der Freude starben, wären, wenn sie ein dankbares Hinaufsehen erweicht hätte, entweder nicht gestorben oder doch an einer schönern Freude.

Den ersten und den besten Dank für das neue gerade schöne Ufer, in das jetzo sein Leben abgeleitet war, bracht' er dadurch, daß er die Verteidigung mit dem größten Feuer vollführte, die er für eine angeklagte Kindmörderin zur Abwendung der Folter zu machen angefangen. Der Stadtphysikus des Marktfleckens hatte sie nach der Lungenprobe verdammt, die ebenso richtig als die Wasserprobe Weiber zur Richtstätte hingeleitet.

Stille einsame Tage aus dem Frühling der Ehe belegten den Steig der beiden Menschen mit einem Blumenteppich. Bloß unten am Fenster erschien einige Male ein Herr in fleischfarbener Seide, wenn Lenette am Morgen sich und den weißen Arm hinausstreckte und lange am Festriegeln der zurückgelehnten Fensterladen arbeitete. »Ich schäme mich ordentlich«, sagte sie, »mich hinauszulehnen; ein vornehmer Herr steht immer drunten und zieht den Hut ab und schreibt mich auf, wie der Fleischtaxator.«

In den Schulferien des Sonnabends erfüllte der Schulrat Stiefel das Versprechen, das er am Hochzeittage feierlich gegeben, recht [82] häufig zu erscheinen und wenigstens in den Schulferien der Woche nicht auszubleiben. Ich will ihn, um das Ohr mehr durch Wechsel zu erquicken, den Pelzstiefel nennen, zumal da ihn ohnehin der ganze Reichsort wegen des Grauwerks und des Hasen-Umschlags so nennt, den er als einen tragbaren holzsparenden Ofen an seinen Beinen trug. Der Pelzstiefel band schon auf dem ersten Stubenbrett Freudenblumen zusammen und steckte dem Advokaten den Strauß ins Knopfloch; er vozierte ihn zur Stelle eines Mitarbeiters an dem »Kuhschnappelischen Anzeiger und Götterboten und Beurteiler aller deutschen Programmen« – ein Werk, das bekannter sein sollte, damit durch solches auch die empfohlnen Schulschriften es würden. Mir ist dieser Schreibvertrag von Herzen lieb, weil er doch meinem Helden einen Rezensier-Groschen wenigstens für die Abendsuppe auswirft. Der Schulrat, der Redakteur des Anzeigers, besetzte die kritischen Gerichtstellen sonst gar nicht leichtsinnig; aber Siebenkäs war in seinen Augen zum einzigen Wesen erhoben, das einen Rezensenten noch überragt – zu einem Schriftsteller, da er von Lenetten auf dem Kirchwege gehört, ihr Mann lasse ein dickes Buch in Druck ausgehen. Der Schulrat konnte nicht anders als die damalige Salzburgische Literaturzeitung für die Heilige Schrift apokryphischen, und die Jenaische für die Heilige Schrift kanonischen Inhalts ansehen; die einzige Stimme eines Rezensenten wurde ihm vom Echo im gelehrten Gerichthof allezeit zu 1000 Stimmen vervielfältigt; und aus einem rezensierenden Kopfe wurden in seiner Täuschung mehre lernäische, wie man sonst glaubte, daß der Teufel den Kopf des armen Sünders mit Scheinköpfen einfasse, damit der Scharfrichter fehlerhaft köpfe. Die Namenlosigkeit verleihet dem Urteile eines Einzelwesens das Gewicht eines Kollegiums; man schreibe aber den Namen darunter und setze »der Kandidat XYZ« statt »Neue allgemeine deutsche Bibliothek« so hat man die gelehrte Anzeige des Kandidaten zu sehr geschwächt. Der Schulrat warb meinen Helden an, seiner Satire halber; denn er selber, ein Lamm im gemeinen Leben, setzte sich auf dem Rezensier-Papier zu einem Werwolf um; ein häufiger Fall bei milden Menschen, wenn sie schreiben, besonders [83] über humaniora und dergleichen; wie etwa sanfte geßnerische Hirtenvölker (nach Gibbon) gern Krieg anfangen und gut führen; oder wie der Idyllenmaler Geßner selber ein schneidender Zerrbildzeichner war.

Unser Held und neugeworbener Rezensent bot von seiner Seite an diesem Abende wieder Stiefeln Freude und die Aussicht zu mehr als einer an, nämlich aus dem von Leibgeber hinterlassenen Münzkabinettchen einen Mücken- oder Wespentaler nicht um für die Bestallung zum kritischen Wespennest ein douceur zu geben, sondern um den Mückentaler in kleineres Geld umzusetzen. Der Schulrat, der als der fleißige Silberdiener eines eigenen Talerkabinettes gern gesehen hätte, alles Geld wäre überhaupt nur für Kabinette da – er meinte aber numismatische, nicht politische –, funkelte und errötete entzückt über den Taler und beteuerte dem Advokaten, welcher dafür nur den Natur-, nicht den Kunstwert erstattet verlangte: »Aber ich erkenne hierin den wahren Freundschaftdienst.« – »Nein«, versetzte Siebenkäs, »aber den wahren tat mir Leibgeber, der mir den Taler gar geschenkt.« – »Aber ich gäbe gewiß dreimal mehr dafür, wenn Sie es nur fodern wollten«, sagte Stiefel. – »Aber (fiel Lenette, über Stiefels Freundlichkeit und Entzückung entzückt, ihren Mann heimlich zum Festbleiben anstoßend, mit einer Dreistigkeit ein, die mich wundert) mein Mann wills ja nicht anders; und ein Taler ist ein Taler.« – »Aber«, versetzte Siebenkäs, »dreimal weniger eher dürft' ich künftig fodern, wenn ich Ihnen mein Kabinettchen talerweise abstehe.« – – Ihr lieben Seelen! Wären doch die menschlichen Ja immer solche Aber wie eure!

Der hagestolze Stiefel ließ sich an einem so genußreichen Abende echte Höflichkeit gegen das weibliche Geschlecht am wenigsten nehmen, besonders gegen eine Frau, die er schon als Braut in seinem Brautwagen liebgewonnen und die ihm gar jetzo als Gattin eines solchen Freundes und als solche Freundin seiner selber doppelt lieb geworden. Er verwickelte sie daher fein genug in das bisher zu gelehrte Gespräch, indem er über die drei Haubenköpfe gleichsam wie über drei Pflastersteine den Übergang zum Modejournal machte; nur aber zu schnell auf ein älteres [84] Modejournal zurückglitt, auf des Rubenius seines vom Putze der alten Griechen und Römer. Seine Predigten auf alle Sonntage streckte er ihr gern vor, da Advokaten als böse Christen nichts Theologisches haben. Ja als sie die entfallene Lichtschere zu seinen Füßen suchte, hielt er ihr den Leuchter tief hinunter dazu.

Wichtig für das ganze Siebenkäsische Haus oder vielmehr Zimmer wurde der Sonntag, welcher in dasselbe einen vornehmern Mann, als bisher aufgetreten, einführte – nämlich den Venner, Hrn. Everard (Eberhard) Rosa von Meyern, einen jungen Patrizius, der in Hrn. Heimlichers von Blaise Hause täglich aus- und einging, um sich in die »Routine der Amts-Praxis einzuschießen«. Auch war der Mann der Bräutigam einer armen Nichte des Heimlichers, die außer Landes für sein Herz erzogen und ausgebildet wurde.

Also war der Venner ein wichtiger Charakter des Marktfleckens sowohl als unsers Dornenstücks, und zwar in jeder politischen Hinsicht. Denn in körperlicher war ers wohl weniger; durch seinen blumigen Kleiderputz war sein Leib fast wie ein Span durch einen Dorf-Blumenstrauß gesteckt – unter den funkelnden Magenflügeldecken eines Westen-Tierstücks 22 pulsierte ein steilrechter, wenn nicht eingebogener Bauch, und seine Beine hatten im Ganzen den Wadengehalt der Holzstrümpfe womit Strumpfwirker sich an ihren Fenstern anzukündigen und zu empfehlen suchen.

Der Venner trug dem Advokaten kalt und ziemlich grob-höflich vor, er sei bloß gekommen, ihm die Last der Verteidigung der Kindermörderin abzunehmen, da er ohnehin so viele andere Sachen auszuführen habe. Aber Siebenkäs durchsah sehr leicht den Zweck des Vorwands. Es ist nämlich bekannt, daß zwar die verteidigte Inquisitin zum Vater ihres über die Erde im Fluge gegangenen Kindes einen Musterkartenreiter adoptiert und angenommen, dessen Namen weder sie noch die Akten anzugeben wußten; daß aber der zweite Vater des Kindes, der als ein junger Schriftsteller aus Bescheidenheit nicht gern seinen Namen vor [85] seine pièce fugitive und sein Antrittprogramm setzen wollte, niemand war als der hagere Venner Everard Rosa von Meyern selber. Gewisse Dinge will oft eine ganze Stadt zu verunkennen (zu ignorieren) scheinen; und darunter gehörte Rosas Autorschaft. Der Heimlicher von Blaise wußte also, daß sie der Defensor Firmian auch wisse, und besorgte mithin, daß sich dieser für den Raub der Erbschaft an seinem Verwandten Meyern durch eine absichtlich-schlechte Verteidigung der armen Inquisitin rächen werde, um diesem die Schande ihrer Hinrichtung zu machen. Welcher entsetzliche niedrige Argwohn! – Und doch ist oft die reinste Seele zum Argwohn eines solchen Argwohns genötigt! – Zum Glück hatte Siebenkäs den Blitzableiter der armen Mutter schon fertig geschmiedet und aufgerichtet. Als er ihn dem Kasual- oder Schein-Bräutigam der Scheinkindermörderin vorwies: gestand dieser sogleich, einen geschicktern Schutzheiligen hätte die schöne Magdalena unter allen Advokaten der Stadt nicht aufgetrieben; wenigstens keinen frömmern, setzen Schreiber und Leser hinzu, welche wissen, daß er durch die Verteidigung der Unschuld dem Himmel für den ersten Entwurf der Teufelspapiere dankbar sein wollte.

Jetzo kam plötzlich die Frau des Advokaten aus der Nachbarstube des Buchbinders von einem fliegenden Besuche zurück. Der Venner sprang ihr bis an ihre Türschwelle mit einer Höflichkeit entgegen, die nicht weiter zu treiben war, da sie doch erst vorher aufmachen mußte, eh' er entgegen konnte. Er nahm ihre Hand, die sie ihm im ehrerbietigen Schrecken halb zulangte, und küßte solche gebückt, aber die Augen emporblickend gedreht und sagte: »Mäddämm, ich habe diese schöne Hand schon seit einigen Tagen unter der meinigen gehabt.« Jetzo kam es durch ihn heraus, daß er derselbe fleischfarbige Herr sei, welcher ihre Hand, wenn sie solche zum Fenster hinausgelegt, mit der Reißfeder unten weggestohlen, weil er um eine schöne Dolces-Hand für ein Kniestück seiner abwesenden Braut verlegen gewesen, in das er aus dem Gedächtnisse einen bloßen Kopf von ihr zu zeichnen unternommen. Nun tat er seine Handschuhe, in welchen er sie nur, wie manche frühere Christen das Abendmahl, aus Ehrerbietung [86] zu berühren gewagt, herunter von seinem Ringfeuer und Hautschnee; denn um diesen letzten in größtem Sonnenbrande zu bewahren, legte er selten die Handschuhe ab, es müßte denn im Winter gewesen sein, der wenig schwärzt. Kuhschnappler Patrizier, wenigstens junge, halten gern das Gebot, welches Christus den Jüngern gab, niemand auf der Straße zu grüßen; auch der Venner beobachtete gegen den Mann die nötige Unhöflichkeit, nur aber gar nicht gegen die Frau, sondern ließ sich unabsehlich herab. Schon von satirischer Natur hatte Siebenkäs den Fehler, gegen gemeine Leute zu höflich und vertraut zu sein, und gegen höhere zu vorlaut. Aus Mangel an Welt wußt' er die rechte krumme Linie gegen die bürgerlichen Klassiker nicht mit dem Rücken zu beschreiben; daher fuhr er lieber – gegen die Stimme seines freundlichen Herzens – stangengerade auf. Außer dem Mangel an Welt war sein Advokatenstand Ursache, dessen kriegerische Verfassung eine gewisse Kühnheit einflößt, zumal da ein Advokat stets den Vorteil hat, daß er keinen braucht, daher ers häufig, wenn es nicht Patrimonial-Gerichtherren oder auch Klienten sind, welchen beiden er mit seinen geringen Gaben zu dienen hat, keck mit den angesehensten Personen aufnimmt. Inzwischen rückte gewöhnlich in Siebenkäs Menschenlied unvermerkt den beweglichen Steg so unter seinen hochgespannten Saiten herab, daß sie zuletzt bloß den sanften tiefern leisern Ton angaben. Nur jetzo wurd' ihm gegen den Venner, dessen Zielen auf Lenette er zu erraten genötigt war, Höflichkeit viel schwerer als Grobheit.

Er hatte ohnehin einen angebornen Widerwillen gegen geputzte Männer – obwohl gegen geputzte Weiber grade das Gegenteil –, so daß er oft die Flügelmännchen des Putzes in den Modejournalen lange ansah, bloß um sich recht über sie abzuärgern, und daß er den Kuhschnapplern beteuerte, wie er niemand lieber als einem solchen Männchen Schabernack antäte, einen Schimpf, einen Schaden bis zum Prügeln hinauf. Auch war es ihm von jeher lieb gewesen, daß Sokrates und Kato auf dem Markte barfuß gegangen, wogegen barhaupt gehen (chapeaubas) ihm nicht halb soviel war.

[87] Aber eh' er sich anders als mit Gesichtzügen äußern konnte, strich die Holzknospe von Venner sich den halbwüchsigen Bart und trug sich von weitem dem Armenadvokaten als Kardinalprotektor oder Vermittler in dem bewußten Blaisischen Erbschaft-Zwiste an, um den Advokaten teils einzunehmen, teils zu demütigen. Aber dieser – aus Ekel, einen solchen Gnomen zum Hausgeist und Paraklet (Tröster) zu bekommen – fuhr auf, jedoch lateinisch: »Zuerst soll meine Frau, ich fodere es, kein Wort von dem unbedeutenden Kartoffelkriege erfahren. Auch verschmäh' ich in gerechter Sache jeden andern Freund als einen Rechtsfreund, und den letzten stell' ich selber vor. Ich bekleide meinen Posten; der Posten bekleidet freilich nicht mich in Kuhschnappel.« Dieses letzte Wortspiel drückte er mit einer so wahrhaft-seltenen Sprachfertigkeit durch ein ähnliches lateinisches aus, daß ich es fast hersetzen sollte; der Venner aber, der sich weder das Wortspiel noch das übrige so deutlich übersetzen konnte, als wir es gelesen, gab sogleich, um sich nur loszumachen und nicht bloßzugeben, in derselben Sprache zur Antwort: »imo, immo«, womit er ja sagen wollte. Deutsch fuhr nun Firmian fort: »Es ist wahr, Vormund und Mündel, Vetter und Vetter waren nahe aneinander, in jedem Sinn: hat man sich aber nicht auf den besten Konzilien, z.B. auf dem zu Ephesus im fünften Säkul, ausgeprügelt? Ja der Abt Barsumas und der Bischof von Alexandrien, Dioskorus, Männer von Rang, schlugen den guten Flavian bekanntlich da maustot 23. Und ein Sonntag war es ohnehin, wo die ganze Sache vorgefallen. An Sonn- und Festtagen aber ist der Gottesfrieden, durch welchen in den dummen Zeiten die Fehden innehalten mußten, gerade in den Schenken aufgehoben (die Glocken und die Krüge läuten ihn aus), und die Menschen prügeln sich, damit die Gerichte doch ein Einsehen haben und dareinschlagen. In der Tat, wenn man sonst die Feste zum Mindern der Fehden vermehrte, so sollten Justizpersonen, Hr. v. Meyern, die wie wir von etwas leben wollen, eher um die Einziehung einiger gefriedigten Werkeltage und dafür um neue Apostel- und Marientage anhalten, damit Schlägereien und mit [88] den Schmerzen auch die Schmerzengelder anliefen samt den Sporteln. Aber, trefflichster Venner, wer denkt an so was?«

Er konnte ungefähr alles dies deutsch vor Lenetten sagen; sie war längst gewohnt, von ihm nur das Halbe, das Viertel, das Achtel zu verstehen und um den ganzen Venner sich gar nicht zu bekümmern. Als Meyern vornehm-kalt geschieden war: suchte Siebenkäs seine handgeküßte Frau noch mehr für den Venner zu bestechen, indem er dessen ungeteilte Liebe gegen das gesamte weibliche Geschlecht, ob er gleich ein Bräutigam sei, und besonders die frühere gegen seine in Verhaft und auf den Tod sitzende Vor-Braut nach Vermögen pries; aber er nahm sie eher wider den Venner ein. »So treu bleibe dir und mir immer, du gute Seele«, sagte er, sie ans Herz nehmend; aber sie wußte nicht, daß sie treu geblieben, und fragte: »wem sollt' ich denn untreu sein?«

– Von diesem Tage bis zum Michaelistage, in welchen die Messe oder Kirmes der Reichsstadt fiel, scheint das Glück den Weg bis dahin ohne besondere Blumenbeete – nämlich für mich und Leser – bloß mit reinem platten englischen Rasengrün fast nur in der Absicht angelegt zu haben, damit der Michaelis- und Kirmestag vor uns auf einmal wie eine schillernde blendende Stadt aus dem Tal aufspränge. In der Tat fiel wenig vor; wenigstens nimmt meine Feder, die nur wichtigern Ereignissen dienstbar ist, das kleine nicht gern auf, daß der Venner Meyern oft beim Buchbinder, der mit Siebenkäsen unter demselben Dach-Himmelstriche wohnte, vorgesprochen; er sah bloß nach, ob die »Gefährlichen Bekanntschaften«(liaisons) gebunden waren.

Aber der Michaelistag! – Wahrlich die Welt wird daran denken. Und ist denn nicht schon selber der Rüsttag vorher so auserlesen und ausgestattet, daß man ihn der Welt ohne Sorge schildern kann?

Wenigstens lese sie die Schilderung vom Rüsttage und gebe dann ihre Stimme!

An diesem Tage oder dem Vorsabbate der Kirmes war wie überall das ganze Kuhschnappel ein Arbeit-und Raspelhaus für Weiber; eine sitzende oder friedliche oder reingekleidete war im ganzen Orte nicht zu haben – die belesensten Mädchen machten [89] kein Buch auf als die Vexierbücher, um Seide daraus zu nehmen, und die einzigen Blätter, die sie durchgingen, waren die der Schuhe und des Blätterteigs – mittags aß fast keine – die Kirmes- oder Messe-Kuchen waren das eigentliche Räderwerk der weiblichen Maschinen und ihrer künftigen Lustbarkeit.

An einer Kirchweihe müssen die Weiber ihre Gemäldeausstellung haben, und die Kuchen sind die Altarblätter. – Jede benaget und beschauet diese gebacknen Silhouettenbreter und Gedächtniswappen des Adels der andern, der Kuchen hängt an jeder als Medaillon oder, wie Bleistücke am Tuche, als Siegel des Wertes herab. Sie essen und trinken wahrlich fast nichts; aber dicker Kaffee ist ihr gesegneter Abendmahl-Wein und durchsichtiges, dünnes Gebackenes ihr gesegnetes Oblaten-Brot; nur daß bei ihren Freundinnen und Wirtinnen das letzte ihnen dann am besten schmeckt und sie es fast vor Liebe fressen, wenn es versteinert sitzen geblieben und schuß- und stichfest oder zu Beinschwarz verkohlt oder sonst erbärmlich ist; sie erkennen willig alle Fehler, welche ihre innigsten Freundinnen begangen, und suchen die Scharten auszuwetzen, indem sie sie einladen und viel anders abspeisen. – Was unsere Lenette anlangt, so buk sie von jeher so, beste Leserin, daß Kenner ihre Kruste, und Kennerinnen ihre Krume vorzogen und beide beteuerten: »Nur Sie, Beste, könnten etwas Ähnliches backen.« Das Kochfeuer war das zweite Element dieser Salamanderin; denn das erste der guten Nixe war das Wasser. So in einer vollen Haushaltung – wie Siebenkäsens seine war, der alle Ephraimiten von Leibgeber der Kirchweihe geweihet hatte – sich wie in Sand zu baden, zu plätschern, zu scharren, zu schnattern, das war ihr Fach. Es war heute ihrem glühenden Gesichte kein Kuß zu applizieren, aber die Frau hatte auch zu tun denn um 10 Uhr kam gar eine neue Arbeit hinter dem neuen Arbeiter, dem Fleischer.

Ich benies' es jetzo selber, daß die Welt für einen kurzen Bericht von der Sache mir – und wer kann ihn weiter geben – am Ende danken wird. Es wurde nämlich schon in Sommers Anfang eine schöne dürre Kuh, zu deren Kaufschilling die vier Haushaltungen zusammenschossen, auf die Mastung eingestellet. Der [90] Buchbinder, der Schuhflicker, der Armenadvokat und der Haarkräusler – der sich von seinen Mietleuten nur darin unterschied, daß sie bei ihm, er aber bei seinen Gläubigern zur Miete wohnten – ließen von einer geschickten Hand – sie saß an Siebenkäsens Armröhre – ein authentisches Instrument – der sprachreinigende Kolbe schnauzet hier nach seiner Gewohnheit mich Unschuldigen über fremde Wörter in einem ja römisch-juristischen Aktus an – Lebens und Sterbens der Kuh halber verfertigen und aufsetzen, worin sämtliche Kontrahenten – sie standen alle aufmerksam um das leere Dokument, den ausgenommen, der saß und es fertigte – sich anheischig machten, daß


  • 1. jeder der vier Interessenten am Rinde das besagte Rind alternierend melken sollte und dürfte –
  • 2. daß das Küchen- oder Mast-Personale aus einer gemeinschaftlichen Kriegkasse das Kostgeld, den Küchenwagen und überhaupt den Unterhalt des besagten Rinds bestreiten sollte und dürfte – und
  • 3. daß die Alliierten besagtes Maststück nicht nur den Tag vor Michaelis, den 28. Sept. 1785, totschlagen, sondern auch jedes Viertel desselben wieder in vier Viertel nach dem Ackergesetz (lex agraria) für die vier Teilhaber zerhacken sollten und dürften.

Siebenkäs fertigte vier vidimierte Kopeien vom Partagetraktat aus, für jeden eine; und nie schrieb er etwas mit ernsthafterer Lust. Heute war bloß noch der 3te Artikel von dem friedsamen Hausverein von vier Evangelisten zu erfüllen, welche sämtlich zum Wappentiere nur ein Kompagnie-Tier und noch dazu nur das weibliche des Lukas genommen.

Aber die Gelehrten lechzen nach meiner Kirmes – ich werfe also mein Tier- und Menschenstück nur flüchtig her. Kolbe fährt natürlich fort und fährt mich an. Der Septembrisierer, der Fleischer, tat noch am Ende des Fruktidors seine Pflicht gut – die Vierfürsten von Konviktoristen standen bei allem, und selber die alte Sabine tat viel und zog einiges. – Die Quadrupelalliance speisete sich wie den erschlagnen Viehstand mit einem zusammengeschossenen [91] Pickenick, bloß um den Metzgermeister gratis hineinzuziehen; und allerdings erschien ein Liguist, den ich unten nennen werde, in einer Verfassung und Kleidung am Tische, die nicht ernsthaft genug für das Einschlachten vorkam die Schlacht-Hansa machte sich dann ans Divisionexempel nach der Gesellschaftrechnung, und das goldene Kalb, um das sie tanzten, wurde mit verschiedenen heraldischen Schnitten, wovon ich keine namhaft machen will als den Wellenschnitt, den Klee-, den Haupt-, den Zahn-, den Stufen- und den Querschnitt, gerecht zerschnitzt – – und dann wars vorbei. Ich denke, ich kann keinem etwas Rühmlichers von der ganzen zootomischen Teilung sagen, als was der Teilhaber Siebenkäs selber sagte: »Zu wünschen wär' es, die zwölf Stämme und in den neuern Zeiten das römische Kaisertum wäre so redlich oder vielfach zerteilt worden als unsere Kuh und Polen.«

Dem Embonpoint der letzten wird man sein Recht gegeben haben, wenn man folgendes Lob des Schuhflickers Fecht anführt: »Daß dich alle Schock Kreuz-Mohren-Schwerenot! Du Schwerenöterin! – (Nun auf einmal mit herabgesunkener frommer Stimme:) Nun der liebe Gott hat dem lieben Vieh recht sein Gedeihen geschenkt und uns unwürdige arme Sünder über alle Maßen gesegnet.« Er hatte sich als ein lustiger Springinsfeld ins schwere pietistische Kutschenzeug eingeschirrt und mußte immer seine alten Flüche mit neuen Seufzern versüßen. Und eben auf dieses Fechtes nicht ganz würdige Verfassung und Kleidung zielt' ich oben, da er leider an dem ganzen Einschlacht-Tage keine Hosen anhatte, sondern bloß im weißen Fries-Rock seines Weibes das Zergliederhaus auf-und abrennte und so seine eigne eheliche Hälfte vorstellte; aber die Sozietät verdachte ihm nichts; er konnte nicht anders, denn seine schwarzledernen Bein-Düten wurden, solange als er sich im demi-negligé einer Amazone aufhielt und wie ein Hermaphrodit aussah, im Färbekessel neu aufgelegt oder gedruckt.

Aber endlich wird Kolbe mein Freund; denn ich fahre deutsch fort wie folgt.

Der Armenadvokat hatte Lenetten gebeten, abends 4 1/2 Uhr [92] sich zu ihm zu setzen und sich nicht mehr abzuarbeiten, etwan mit dem Abendessen, er wolle sich heute eines abkargen und nichts genießen als für einen halben Taler Kuchen: die Flinke rannte und fegte; und wirklich schon um 6 Uhr lagen beide in den weiten ledernen Armen – eines breiten Großvaterstuhls (denn er hatte kein Fleisch, sie keine Knochen) und schaueten ruhig-beglückt wie Kinder, welche essen, die meßkünstlerischgeordnete Stube an und das allgemeine Gleißen und die Kuchen-Mondsicheln in ihren Händen und das flüssige Glanz- oder vielmehr Zwischgold der tiefen Sonne, das sich an dem blinkenden Zinn-Gerät immer höher rückend anlegte – und ihr Ausruhen wurde wie der Schlaf eines Wiegenkindes von den schreienden klappernden zwölf herkulischen Abendarbeiten der andern Leute im Hause umgeben – und der hellere Himmel und die neugewaschenen Fenster setzten der Länge des Tages eine halbe Stunde zu – und der Glocken- oder Stimmhammer des Abendgeläutes stimmte die melodischen Wünsche sanft hinauf, bis sie – Träume wurden. – Um 10 Uhr wachten sie auf und gingen zu Bette.....

Ich habe selber eine Freude an diesem kleinen gestirnten Nachtstück, das mein Kopf so glimmend und verschoben gab, wie die vergoldete Halbkugel meiner Uhr tut, wenn ich sie gegen die Abendsonne halte. – Auf den Abend will der gejagte ermattete Mensch in Ruhe sein; für den Abend eines Tages, für den Abend eines Jahrs (für den Herbst) und für den Abend seines Lebens trägt er seine mühseligen Ernten ein, und da hofft er so viel! – Hast du aber nie dein Bild auf abgeernteten Auen gesehen, die Herbstblume oder Zeitlose, welche ihr Blühen auf den Nachsommer verschiebt und die ohne Frucht der Winter überschneiet und die keine erzeugt als im – Frühling darauf? –

Aber wie schlägt die brausende schwellende Flut des Kirchweih-Morgens an die Bettpfosten unsers Helden! Er tritt in die weiße leuchtende Stube, die seine diebisch aufstehende Lenette vor Mitternacht unter seinem ersten Schlafe gewaschen und zu einem Arabien versandet oder überpudert hatte; auf diese Weise hatte sie ihren und er seinen Willen gehabt. An einem Kirmesmorgen [93] rat ich jedem, das Fenster aufzumachen und den Kopf hinauszulegen wie Siebenkäs, um den flüchtigen Bauten und Mieten der kleinen hölzernen Börsen auf dem Markte zuzusehen und dem Fallen der ersten Tropfen des ganzen Wolkenbruchs von Leuten. Nur bemerke der Leser, daß es nicht auf meinen Rat geschah, daß mein Held im Übermute des Reichtums – denn die Musterkarte aller Kuchen im Hause lag freilich hinter seinem Rücken – zu manchem grünen Patrizier-Räupchen, das noch übermütiger vorüberlief und dessen Naturgeschichte er gern aus dessen Gesichte selber lernen wollte, herunterrief: »Ich bitte Sie, betrachten Sie einmal das Haus da: finden Sie nichts?« Hob das Räupchen die Physiognomie empor und streckte sie abschüssig aus: so konnt' er – das wollt' er ja – letzte bequem studieren und durchlaufen. »Gar nichts finden Sie?« fragt' er. Wenn das Kerbtier den Kopf schüttelte: so fiel er oben bei und sagte: »Ganz natürlich! ich gucke seit Jahr und Tag heraus und finde auch nichts; aber ich wollte meinen Augen nicht trauen.«

Unbedachtsamer Firmian! dein gärender Schaum der Lust kann leicht – wie an jenem Sonnabend, wo du Visitenkarten abgabest – zerfallend niedersinken. – Aber vorher schäumte sein Tropfen Most, den er aus den Vormittagstunden auskelterte alles war frisch und feurig. – Der galoppierende Hausherr warf mit der Puder-Säemaschine Samen auf gutes Land. – Der Buchbinder brachte seine Güter, die teils in leeren Schreibbüchern, teils in noch leerern Gesangbüchern, teils in Novitäten, in Kalendern, bestanden, auf der Achse zu Markt und mußte zweimal fahren mit dem Schiebkarren; aber abends nur einmal zurück, weil er die Kalender (die eigentlichen größten Novitäten oder Neuigkeiten, da im ganzen langen Laufe der Zeiten nichts so neu ist als ein neues Jahr) an Käufer und Verkäufer abgesetzt. – Die alte Sabel hatte ihr ostindisches Haus, ihre Obstkammer und ihr Ringkabinett aus Zinn unter dem Tore geöffnet; sie hätte ihr Warenlager ihrem eignen Bruder nicht für sechs Gulden abgelassen und war überkaupt eine Stadt-, aber keine Landkrämerin. – Der Altreis flickte heute am hl. Michaelistag keinem Menschen einen Schuh als seiner Frau. –

[94] Sauge dich immer voraus, Held, an diesen feinen Raffinad-Zucker des Lebens an und leere den vormittägigen Konfekt-Teller ab; frage nichts nach dem Teufel und dessen Großmutter, sollten beide auch ihrer Natur nach darauf sinnen, irgend einen Sauertopf und Brechbecher, ja Giftbecher aufzutreiben und dir ihn einzugeben.

Des Mannes größte Lust ist aber noch rückständig – nämlich das unzählige Bettelvolk. Ich will die Lust beschreiben und dadurch austeilen.

Eine Kirmes ist überhaupt die Messe, die Bettler jedes Standes jährlich beziehen; schon ein paar Tage vorher drehen sich alle Fußsohlen, die auf nichts zu fußen haben als auf milde Herzen, als Radien nach dem Orte, aber am Morgen der Kirchweih selber kommt erst der bettelnde Jahrgang und die Krüppelkolonne ordentlich in Gang. Ein Mann, der Fürth gesehen, oder der in Ellwangen unter Pater Gaßners Regierung gewesen, der kann diese Blätter aus seinem Exemplar herausschneiden; aber ein anderer hat nicht eher einen Begriff von allem, als bis ich weiter gehe und ihn zum kuhschnappelischen Tore hineinführe.

Der Straßen-Gottesdienst und die Sing-Ständchen heben nun an. – Blinde singen, wie geblendete Finken, besser, aber lauter – die Lahmen gehen – die Armen predigen das Evangelium selber – die Taubstummen lärmen sehr und läuten die Messe ein mit einem Glöckchen – einer fähret mitten in die Arie des andern mit seiner eignen hinein – vor jeder Haustüre klappert ein Vaterunser, und drinnen in der Stube kann niemand mehr sein eignes Fluchen hören – einerseits werden ganze Heller-Kabinetter verspendet, anderseits eingesteckt – die einbeinige Soldateska wirft in ihre Stoßgebete Flüche als Pfeffer und sakramentiert entsetzlich, weil man ihr so wenig verehrt – kurz, der Marktflecken, der sich heute letzen wollte, ist fast mit Sturm eingenommen vom Bettelpack.

Jetzo erscheinen erst die Krüppel und Preßhaften. Wer ein verholztes Ersatz- oder Vexierbein unter dem Leibe hält und wem eine katholische Wallfahrt-Kapelle zu weit abliegt, der setzt das Nachbein samt dem langen Drittbein und Mitarbeiter, der Krücke, in Gang nach Kuhschnappel und pfählt und pflanzt den spitzigen [95] Fuß nahe am dortigen Tore in nasses Land und wartet, ob das Holz gedeiht und trägt. Wer keine Arme oder doch keine Hände mehr hat, der strecket beide dort aus nach einer geringen Gabe. Wen der Himmel mit dem Talente der Bettler, mit Krankheit, besonders mit den Bettler-Vapeurs, mit Gicht, mäßig ausgesteuert hat, der nimmt sein Pfund und seinen zur Krankheit gehörigen Körper und erhebt damit seineRömermonate von Gesunden. – Wer nur überhaupt als Kupferstich vorn vor Krankheitlehren ebensogut stehen könnte wie vor Toren: der tritt unter diese und berichtet, was ihm fehlet, und das ist vorderhand das fremde Geld. – Es sind viele Beine, Nasen, Arme in Kuhschnappel zu haben, aber doch noch viel mehr Menschen; jedoch angestaunet, obwohl nicht erreicht, sondern nur beneidet – wiewohl bloß von Makulaturseelen, die keinen Vorzug, ohne ihn zu fodern, sehen können – wird ein außerordentlicher Kerl, der nur halb noch da ist, weil seine andere Hälfte schon im Grabe liegt und ihm alles, was Schenkel heißt, weggeschossen ist; denn diese Schüsse setzen ihn in Stand, das Primat und Generalat der Krüppel an sich zu reißen und sich überhaupt als einen Halbgott, dessen Geist statt eines Körperkleides nur noch ein Kollet, ein kurzes Wams, umhat, auf einem Triumph- Karren vor allen herumschieben zu lassen. »Ein Soldat«, sagte Siebenkäs, »der noch mit einem Beine behaftet ist und der deshalb mit dem Schicksal rechten will und es wohl gar fragt: ›warum bin ich nicht zusammengeschossen wie dieser Krüppel und erfecht' ein so schmales Almosen?‹ der bedenkt nicht, daß auf der einen Seite noch tausend andere Krieger neben ihm sind, die nicht einmal ein hölzernes Bein besitzen (geschweige mehre) und die diesen Brand- und Bettelbrief gänzlich entbehren, und daß er auf der andern Seite, wenn ihm die Kugeln noch so viele Glieder abgenommen, immer noch fragen könnte: ›warum nicht mehr?‹« –

Siebenkäs machte sich lustig über das Elend, weil dieses selber sich lustig macht; aber er schlug auf der andern Seite keinen staatswissenschaftlichen Lärm darüber auf, wenn das Elend zuviel soff und fraß – wenn einmal vor einem Hirtenhause der ganze Lazarettwagen ausstieg, und wenn drinnen die Zugpflaster, [96] die Märtererkronen, die Stachelgürtel und Härenhemden abfielen und nichts übrig blieb als ein frisches menschliches Wesen, das eine Minute aufhörte zu seufzen – und wenn, da alle Menschen nicht bloß um zu leben, sondern um zuweilen besser zu leben, arbeiten, auch der Bettler etwas Besseres haben will als sein tägliches Auskommen, und wenn der Krüppel die Göttin der Freude, die unsere Tanzsäle nur en masque besucht, in seine getäfelte Tanzscheune als Mittänzerin hineinzieht, und wenn ihr im Walzen mit dem Krüppel die schwüle Maske abfällt. – –

Um 11 Uhr warf der Teufel, wie ich halb vermutet, eine Hand voll Brummfliegen in Firmians Brautsuppe – nämlich einen Bräutigam selber, den Hrn. Rosa v. Meyern, der seinen Besuch auf nachmittags (statt einer Realterrition) anbot, weil er da den Marktplatz besser überschauen könne, hatt' er als Patrizier sagen lassen. Arme Honoratioren, die in keinem andern Hause etwas zu befehlen haben als in ihrem eigenen, machen in ihres leicht Schießscharten, um daraus zu feuern auf den Feind, der von innen angreift. Der Advokat hatte in jede Schale seiner Themiswaage eine Unhöflichkeit gegen den Venner zu werfen und suchte bloß die kleinste herauszufinden – die eine war, ihm sagen zu lassen, er möge bleiben, wo er wäre, die andere war, ihn hereinzulassen und übrigens zu tun, als sitze der Kauz im Monde. -Siebenkäs wählte die letzte als die kleinste.

Die guten Weiber müssen immer die Himmelleiter tragen und halten, auf der die Männer ins Himmelblau und in die Abendröte steigen; diese Visite wurde als eine neue Landfracht auf die zwei Tragestangen der Arme Lenettens geworfen. Die Schwemme aller beweglichen Habe und der Weihwedel aller unbeweglichen kamen wieder in Gang. Lenette war Meyern, dem Bräutigam der Kindermörderin, von Herzen gram: gleichwohl wurden alle Glättmaschinen an die Stube angesetzt; ja ich glaube, Weiber putzen sich für Feindinnen noch besser an als für Freundinnen. Der Advokat ging mit langen Schlußketten wie ein Gespenst behangen einher und wollt' ihr den Gedanken beibringen, sich um den Hasen nichts zu scheren – es half nichts, sie sagte: »Was würd' er von mir denken!« Bloß als sie seinen alten Dintenkopf, [97] worin er erst Dintenpulver für die Auswahl aus des Teufels Papieren zergehen ließ, als eine Krudität der Stube vertrieben, und als sie an die heilige Arche seines Schreibtisches greifen wollte: dann richtete sich der Ehevogt auf und setzte sich auf die Hinterfüße und zeigte mit den vordern auf die Demarkationlinie.

Rosa erschien! – Verfluchen oder totprügeln konnte den Jüngling eigentlich keine nur ein wenig weiche Seele; man gewann ihn vielmehr allezeit in dem Zwischenraum seiner Streiche lieb. Er hatte weißes Haar an Kopf und Kinn und war überhaupt sanft und hatte wie die Insekten fast Milch statt des Blutes in den Adern, so wie die Pflanzen, die vergiften, meistens weiße Milchsäfte haben. Er vergab leicht, ausgenommen den Mädchen, und vergoß abends im Theater oft mehr Tränen, als er mancher Verführten abgedrücket hatte – sein Herz war überhaupt nicht von Stein oder Höllenstein, und wenn er lange betete, wurd' er andächtig und suchte die ältesten Glaubenlehren hervor, um ihnen beizufallen. – Der Donner war für ihn eine Nachtwächterschnarre, die ihn aufweckte aus dem leisen Schlafe der Sünde. – Dürftigen griff er gern unter die Arme, zumal unter schöne. – Im ganzen genommen kann er selig werden, zumal da er nicht, wie etwan die Schuldner der großen Welt, seine Spielschulden bezahlt, und da er in seinem Herzen ein angebornes Duellmandat gegen Schießen und Hauen besitzt. Sein Wort hält er freilich noch nicht; auch würd' er, wenn er ärmer wäre, ohne Bedenken stehlen. Gewichtigen Leuten legt' er sich wedelnd zu Füßen, aber die Weiber zerrt' er wie ein Schoßhund an der Schleppe oder setzte sich mit entblößtem Gebisse zur Wehre.

Solche biegsame Wasserschößlinge flattern vor jedem satirischen Schlage zurück, und es ist ihnen, so sehr sie ihn verdienen, keiner beizubringen, weil die Einwirkung sich nur wie der Widerstand verhält; und Siebenkäs wünschte, Meyern wäre roher und rauher; denn gerade diese nachgiebigen, bereuenden, kraft-und saftlosen weichen Geschöpfe stehlen Glück, Kassenbestand, weibliche Unschuld, Ämter und guten Namen und sind völlig dem Mäusegift oder Arsenik ähnlich, der, wenn er echt ist, ganz weiß, glänzend und durchsichtig scheinen muß.

[98] Rosa erschien, sag' ich; aber unendlich schön: sein Schnupftuch war eine große, und seine beiden Locken zwei kleine Molucken voll Wohlgeruch – auf der Weste war (nach damaliger Sitte) ein ganzer gemalter Viehstand oder Zimmermanns zoologische Karte – seine Beinkleidchen und sein Röckchen und alles salzte die Weiber im Hause bloß durch den Vorübergang zu Lothischen Salzsäulen ein. Mich aber, gesteh' ich, blenden mehr seine bereiften sechs Ringfinger; – Schattenrisse, Gemälde, Steine, sogar Käferflügeldecken waren schön zum goldnen Beschlage seiner Finger verbraucht.

Von der Hand kann man recht gut den Ausdruck »sie wird mit Ringen wie ein Huf beschlagen« brauchen, da man ihn ja schon längst auf den Roßhuf selber anwandte, von welchem doch Daubenton durch Zergliederung erwiesen, daß er alle Teile unserer Hand befasse. Der Gebrauch dieser Hand- oder Fingerschellen ist unschuldig, ja Ringe sind Leuten, die in den Nasen welche brauchen, an den Fingern unentbehrlich. Denn nach der angenommenen Meinung sind diese metallne Überbeine der Finger zur Verunstaltung schöner Hände erfunden, gleichsam als Ketten und Nasenringe, um die Eitelkeit zu zähmen; daher Fäuste, die an sich häßlich sind, diese Entstellung leicht entraten. Ich möchte wissen, ob ein ähnlicher Gedanke von mir selber, warum eine schöne Hand eine höckerige Ringkugel (Sphära Armillaris) werden muß, auch wahr ist. Pascal trug nämlich einen großen eisernen Ring mit Stacheln um den bloßen Leib, um sich durch einen kleinen Druck darauf sogleich mit Schmerzen für jeden eiteln Gedanken abzustrafen: sollen nicht vielleicht die kleinern und schönern Ringe auf ähnliche Weise jeden eiteln Gedanken mit kleinen, aber vielen Schmerzen züchtigen? Wenigstens scheinen sie diese Bestimmung zu haben, da gerade Eitle die meisten tragen und die beringelte Hand am meisten bewegen.

Oft laufen unwillkommne Besuche froher ab als andere: man war heute lustig genug, Siebenkäs war in seinem Hause wie zu Hause – er guckte mit dem Venner auf den Markt. Die Frau hatte, nach ihrer Erziehung und nach der kleinstädtischen Sitte der mittlern Stände, nicht den Mut, im Konzert eines männlichen[99] Gesprächs etwas anders zu sein als stumm, höchstens obligat, sie ging und trug ab und zu und versaß die beste Zeit unten bei andern Weibern. – Der höfliche galante Rosa Everard kehrte gegen sie seine Hexenkunst, eine Frau auf einen Platz festzubannen, fruchtlos vor. Er klagte vor dem Ehemann, in Kuhschnappel sei wenig echte Feinheit und noch kein einziges Liebhaber-Theater, worauf man spielen könne wie in Ulm – die besten Moden und Bücher verschreib' er vom Auslande.

Siebenkäs bezeugte ihm bloß seine Freude über das – Bettelvolk auf dem Markt. – Er machte ihn aufmerksam auf die kleinen Buben, die in die rotgemalten Holztrompeten stießen, um, wenn nicht Jericho, doch das Trommelfell zu zerblasen. Aber er fügte mit Wohlbedacht hinzu, er solle darum die andern armen Teufel nicht übersehen, die in ihren Kappen die versprungene Nachlese des zerspalteten Klafterholzes, wie Bauinspektoren die Zimmerspäne, erhöben. – Er fragte ihn, ob er mit andern Kameralisten auch Lotterien und Lottos verwerfe und ob er glaube, daß das gemeine Wesen von Kuhschnappel bei der alten umgestürzten Tonne unten leide, auf deren Boden oben ein Zeiger, der um ein Zifferblatt von Pfefferkuchen und von Pfeffernüssen fuhr, gegen geringen Einsatz von den Teilnehmern umgeschnellt wurde auf Gefahr des Lottodepartements, eines gierigen alten Weibstücks, da mancher Junge statt eines Nüßchens einen Kuchen erwischte. Siebenkäs hatte das Kleine lieb, weil es in seinen Augen ein satirischer zerrbildnerischer Verkleinerspiegel alles großen bürgerlichen Pompes war. Der Venner gewann solchen zweideutigen Darstellungen nicht den geringsten Geschmack ab; allein der Advokat hatte auch gar nicht daran gedacht, durch sie eine andere Langeweile zu zerstreuen als seine eigene. »Darf ich doch«, sagt' er einmal, »mit mir selber alles laut sprechen, was ich nur will; was gehts mich an, daß ein anderer hinter meinem Rücken zuhört oder vor meinem Bauche?«

Endlich warf er sich, nicht ohne Beifall des Venners, der nun mit der Frau ein vernünftiges Wort zu reden hoffte, ganz unter das Marktvolk hinab. Everard wurde durch Firmians Entfernung erst in sein Element, in sein rechtes Hechtwasser gesetzt. Er stellte[100] einleitend vor Lenetten ein Modell von ihrer Geburtstadt auf; er kannte viele Gassen und Leute in Augsburg und war oft vor der Fuggerei vorbeigeritten, und ihm sei es noch wie heute, sagt' er, daß er sie einmal neben einer ungemein schätzbaren Matrone, was gewiß ihre Mutter gewesen, einen Damenhut nähen sehen. Er nahm ohne Bedenken in seine rechte Hand die ihrige, die sie ihm wie aus Dank für so teuere Erinnerungen leicht ließ, und drückte diese; dann ließ er plötzlich nach, um zu sehen, ob sie nicht im Gedränge der Finger etwas erwidert habe oder dem Verlust des Drucks wieder beizukommen suche – aber er hätte ebenso gut Götzens eiserne Hand mit seinen Diebsdaumen pressen können als ihre heiße. Er kam jetzo auf ihre Putzarbeit, sprach über die Coiffüren-Muster als ein Mann, der die Sache verstand, und nicht wie Siebenkäs, der ohne die geringste Sachkenntnis sich in dergleichen mischte, – und bot ihr zwei Lieferungen sowohl von Ulmer Mustern als von kuhschnapplerischen Kundleuten an. »Ich kenne einige Damen«, sagt' er und zeigte ihr in einem Taschenkalender das Verzeichnis von seinen Engagements zu den künftigen Wintertänzen, »die ich schon zwingen kann; ich tanze mit keiner, die nicht etwas von Ihnen aufhat.« – »So schlimm wirds wohl nicht sein«, versetzte vieldeutig Lenette. Er mußte sie letztlich bitten, ein wenig vor ihm zu arbeiten, weil er den Kern ihrer kriegerischen Macht zu schwächen hatte durch Teilung, wenn sie die Augen auf die Nadeln und nur die Ohren gegen ihn postieren konnte. Sie errötete, als sie zwei Stecknadeln ergriff und eine in das rote kleine runde Nähkissen des – Mundes steckte; das litt er nun nicht, er kannte die Gefahren eines Besteckens ganz – einesBedornens gegen Hasen wie er –, es sei nun, daß eine dieses Stilett selber oder daß sie nur den giftigen Grünspan davon hinunterschlucke. Er zog eigenhändig das Stichgewehr aus ihrer Lippenscheide, ritzte aber – wenigstens bejammerte er dieses – wenig oder nicht den Amarellen-Mund. Ein rechtschaffener Venner glaubt sich in solchem Fall zu den Heilkosten und Schmerzengelde verpflichtet; Everard zog freiwillig seine englische Patent-Pomade heraus und strich sie auf ihren linken Zeigefinger und trug mit diesem Pflaster-Spatel – er mußte [101] aber dabei ihre ganze Hand als den Schaft des Fingers anfassen und oft ohne seinen Willen drücken – den Salben-Lack auf die unsichtbare Wunde auf. Das unglückliche Stilett selber steckte er in sein Hemde, indem er ihr seine eigne Jabot-Nadel daraus gab und dabei seine zarte weiße Brust gern – erkältete. Ich bitte Leute, die den Dienst verstehen, inständig, meinen Helden freimütig zu beurteilen und mir im gesessenen Krieggericht die Bewegungen und Plane anzuzeigen, die falsch gewesen wären.

Daher ließ er die Verwundete nicht mehr arbeiten, sondern sich bloß die ausgebaueten Aufsätze vorweisen; von einem bestellt' er ein Exemplar für die gnädige Frau v. Blaise. Er bat sie, ihn aufzuprobieren, und rückte selber den Aufsatz so, wie ihn die Frau v. Blaise trug. Beim Himmel! er stand noch besser, als er gedacht hatte; und er schwur, so müss' er der Heimlicherin auch lassen, da sie besonders einerlei Länge mit Madame habe. Das letzte war erlogen und diese um eine ganze halbe Nasenlänge kürzer – auch sagt' es Lenette, die jene in der Kirche gesehen. – Rosa blieb dabei und setzte Seele und Seligkeit (denn in solchen Zwisten sprach er ordentlich ruchlos) zum Pfande, die gnädige Frau sei nicht länger, er nehme das Abendmahl darauf, er habe sich 100 mal mit ihr gemessen und sie sei einen halben Zoll länger als er selber. »Beim Himmel!« sagt' er plötzlich und sprang auf, »ich führe ja ihr Längenmaß wie ihr Tailleur bei mir, ich darf mich ja nur mit Ihnen messen.«

Ich will hier kleinen Mädchen eine goldne Kriegregel, die ich selber gemacht, nicht vorenthalten: »Streite nie lange mit einem Manne, worüber es sei – die Wärme im Wortwechsel ist auch eine – man vergisset sich und greift zuletzt zu Beweisen durch syllogistische Figuren, die der Feind begehrt und dann umsetzt in poetische, ja in plastische Figuren.«

Lenette stellte sich, im schnellen Wirbel der Begebenheiten schwindelnd, gutmütig an das Rekrutenmaß, an ihren Rekruten Rosa; er lehnte seinen Rücken an ihren: »So ists nichts«, sagt' er »ich seh' es nicht« und schnallte seine rücklingsgebognen, gerade über ihrer Herzgrube eingeknöpften Finger wieder auf. Er sprang herum, stellte sich vor sie, umfing sie locker und wiegte sich gegen [102] sie, um durch die Nivellierwaage des Auges zu erforschen, ob beider Stirnen ineiner Ebene lägen. Seine klaffte um einen ganzen Zoll über ihre hinaus; er umschnürte sie fester und sagte errötend: »Sie hatten doch recht; aber ich hatte nur Ihre Schönheit zu Ihrer Länge addieret« und drückte in solcher Nähe seinen roten Mund gar wie Siegellack auf die Urkunde der Wahrheit, auf ihren.

Sie wurde beschämt, verlegen, weich und unwillig, hatt' aber nicht den Mut, gegen einen vornehmen Patrizium in ihre Entrüstung auszubrechen. Nun sprach sie kein Wort mehr. Er setzte sie und sich ans Fenster und sagt' ihr, er woll' ihr, hoff' er, andere Lieder vorlesen, als da unten verkäuflich herumgetragen würden. Er war nämlich einer der größten Dichter in Kuhschnappel, wiewohl er bisher mehr seine Verse bekannt gemacht, als daß diese ihn bekannt gemacht hätten. Seine Gedichte glichen wie die meisten jetzigen ganz den Musen selber, indem sie, wie die Musen, echte Kinder des Gedächtnisses waren. Jede altfränkische Stadt hat wenigstens ihren neumodischen Gecken, der die Honneurs macht; und jede kalte prosaische, reichsgerichtlich-stilisierte hat doch ihr Genie, ihren Dichter und Empfinder; oft werden beide Stellen von einem Subjekte verwaltet wie hier. Der Große und der Kleine Rat hießen ihren Rosa ein Kraftgenie, von der Genie-Seuche angesteckt. Diese Seuche gleicht der Elefantiasis, welche Troil in seiner Reise durch Island im 24. Briefe richtig beschreibt und die darin besteht, daß der Patient an Haaren, Ritzen, Farbe, Beulen der Haut und allem völlig einemElefanten ähnlich sieht, nur daß er seine Stärke nicht hat und in einem kalten Klima lebt.

Everard zog eine rührende Elegie aus der einen oder linken Tasche, worin (ich meine in der Elegie) ein an der Liebe verfalbender Edler sich selber niedersang, und er merkte voraus an, er wolle gern solche ihr vorlesen, falls er sie anders vor Rührung durchbringe; aber bald preßte dem Verfasser das Gedicht mehr als eine Träne und Rührung ab, und er mußte zu seiner Ehre ein neues Beispiel abgeben, daß, wie männlich und kalt auch er und Dichter seinesgleichen sich bei den größten Leiden der Menschheit [103] zu fassen wissen, sie sich doch nicht ganz bei denen der Liebe bezwingen können, sondern weinen müssen. Sie bereuen freilich solche Tränen nicht. Rosa inzwischen, der sich wie diebische Spieler immer an einer widerspiegelnden Fläche aufhielt und wär' es Wasser, Fensterscheibe oder polierter Stahl – um die weibliche Physiognomie im Fluge zu treffen, nahm in einem Spiegelchen des Rings der linken Hand, worin er die Elegie vorhielt, nur einige tragische Tau-Spuren in Lenettens Augen wahr, welche sein Dichten nachgelassen. Nun holte er aus der zweiten Tasche eine Ballade (sie muß längst gedruckt sein) hervor, worin eine unschuldige Kindmörderin mit einem weinenden Abschied vom Geliebten ihrem Schwert entgegengeht. Die Ballade hatte (sehr unähnlich seinen andern poetischen Kindern) wahres poetisches Verdienst, da er zum Glück – wenigstens für das Gedicht selber einen solchen Geliebten vorstellte und mithin aus dem Herzen zu dem Herzen sprechen konnte. Schwer zu malen ist die Rührung und Zerfließung, welche in Lenettens Angesicht erschien; ihr ganzes Herz stand weinend in den blinden Augen; sie hatt' es gar nicht gewohnt, so erfaßt zu werden von Wirklichkeit und Dichtkunst zugleich. Da warf der Venner die Ballade im Feuer weg und sich an – Lenettens Hals und sagte:»Mitempfinderin, Edle, Hehre!«

Ich kann das Erstaunen nicht malen, womit sie, die einen Übergang vom Weinen zum Küssen gar nicht begriff, ihn wegdrückte. Jetzo half es nichts – er war in der Rührung – er foderte ein Andenken dieser »hehren bezaubernden Minute«, nur einen Flock Kopfhaare von ihr. – Ihr niedriger Stand und das großgedruckte Beiwort und überhaupt ihr Unvermögen, nur zu begreifen, was er mit ihrem schwarzen Pelzwerk, und wenn sie ihm ganze Troddeln und Bettzöpfe davon zuschnitte, machen wolle, alles das setzte ihr den dummen Gedanken in den Kopf, er wolle einen Büschel Haare, um damit – zu hexen, etwan um ihr die Liebe antun zu lassen. –

Er hätte sich jetzo auf der Stelle vor ihr erstechen, auseinandersäbeln, lebendig pfählen können – – sie hätte es kalt gesehen, sie hätt' ihn etwan mit ihrem Blute gerettet, aber mit keinem Härchen.

[104] Er hatte noch ein Mittel in petto – überhaupt war ihm ein solcher Vorfall noch niemals vorgekommen – er hob die Hände zum Schwur in die Höhe und beteuerte, er wolle ihr von Hrn. v. Blaise die Erbschaft ihres Mannes und die Anerkennung desselben als Vetter – weil er jenem nur die Nichte sitzen zu lassen drohen dürfe – recht leicht verschaffen, wenn sie die Schere nähme und ihm nur ein härnes Andenken, nur so viel als ein viertels Schnurrbart betrage, abschneide.

Sie wußte vom Zwiste nichts, und er war also, zum Nachteil seines Enthusiasmus, zu einer umständlichen prosaischen Erzählung der species facti des ganzen Prozesses genötigt. Zu seinem wahren Glücke führte er das Zeitungblatt noch in der Tasche, in welchem die Erbschaftkammer sich im Drucke nach der Existenz des Advokaten erkundigt, und konnt' ihr solches hinhalten. Da fing die geplünderte Frau bitterlich an zu weinen, nicht über die Einbuße der Erbschaft, sondern über das lange Schweigen ihres Mannes und am meisten über die Zweifelhaftigkeit ihres jetzigen –Namens, da sie nicht wisse, sei sie an einen Siebenkäs oder an einen Leibgeber verheiratet; – ihre Tränen strömten stärker, und sie hätte in der Trunkenheit des Schmerzes dem Betrüger vor ihr alle ihre schönen Locken hingegeben, wenn nicht, indem er knieend nur um eine bat, ein Zufall die ganze Kette dieser Minuten zerrissen hätte.

Wir wollen aber vorher nachschauen, wo ihr Ehemann herumläuft – anfangs zwischen den Buden; denn das vielstimmige Getümmel und die Olla Potrida von wohlfeilen Genüssen und die aufgeschlagene Musterkarte der Lumpen, aus und auf denen wir Kleidermotten unsere Trachten und Gehäuse zusammenflicken, alles dieses senkte seine Seele in humorisch-melancholische Betrachtungen über unser aus farbigen Minuten, Stäubchen, Tropfen, Dünsten und Punkten zusammengestoppeltes Musaik-Gemälde des Lebens ein. Er lachte und hörte mit einer nur wenigen Lesern begreiflichen Rührung einen Bänkelsänger an, der gellend mit seinem Rhapsoden-Stabe in der einen Hand auf das ausgespannte illuminierte große Blatt eines greulichen Mordes hindeutete, und in der andern gedruckte kleinere Blätter mitteilte, [105] worin das Unglück und der Mörder mit keinen hellern Farben als mit poetischen den Deutschen vorgemalt waren. Siebenkäs machte eine Bestellung von zwei Exemplaren, die er einsteckte, um sie abends zu lesen.

Das traurige Mordstück zeichnete im Hintergrunde seiner Seele die verteidigte Kindmörderin und den Rabenstein aus, auf den die warmen Tränen gefallen waren, womit sein losgespaltnes, nur einem einzigen Menschen verständliches Herz unter dem letzten Riß geblutet hatte. – Er verließ den tobenden Marktplatz und suchte die schweigende Natur und das für Freundschaft und Schuld zugleich bestimmte Isolatorium auf. Es ist ein sonderbares und liebkosendes Gefühl, auf einmal aus einem wühlenden Markte in den ruhigen Umkreis der einfarbigen Schöpfung zu treten, in ihren stummen dunkeln Dom.

Er bestieg mit schwerer Brust die bekannte Stätte, deren harten Namen ich weglassen will, und sah sich auf dieser Ruine in der Schöpfung wie ein letztes Wesen um: weder im Blau des Himmels noch auf dem Grün der Erde fand er eine zweite Stimme. Nur eine verlorne Grille schwatzte noch einsilbig in den aufgedeckten Furchen aus den Stoppeln der abgetriebnen Ährenwaldung. Die Vögel scharten sich unter bloßen Mißlauten zusammen und flogen in die häufigern grünen Garnwände, statt in den entlegnen grünen Frühling. Über die Auen ohne Blumen, über die Beete ohne Ähren schweiften blasse Gespenstergebilde der Vergänglichkeit, und über den großen ewigen Gegenständen, über Wäldern und Bergen, hing ein nagender Nebel, als wenn sich in seinen Rauch die erschütterte stäubende Natur auflösete. – – Aber ein lichter Gedanke zerteilte den dunkeln Staubregen der Natur und der Seele in einen weißen Nebel und den Nebel in bunten Tau und ließ den Tau auf Blumen fallen; er schauete nach Nord-Osten an die Berge, die sein zweites Herz verbargen und hinter denen sein Freund, wie ein im Herbste früher kommender Mond, in einem blassen Bilde aufstieg; und der Frühling, an dem er seinen Heinrich besuchen und wiedersehen wollte, fing jetzo schon an, für ihn eine breite Straße dahin mit Grün und Blumen auszuschlagen. Wie spielt der Mensch mit der Welt um sich und [106] kleidet sie schnell in die Gespinste seines Innern um! Jetzo senkte sich der unbefleckte Himmel mit einem nähern Blau auf die falbe Erde hernieder. – Tönte nicht der künftige Frühling schon von weitem über einen ganzen Winter herüber im Abendgeläute des Weide-Viehes, im Wildrufe der Waldvögel und in den ungehemmten Bächen, die in den künftigen Blumen-Überhang hinein flossen? – Und als eine zuckende Puppe neben ihm noch in der halben eingerunzelten Raupenhülse hing und ihren Blütenkelchen entgegenschlief – und als das Seelenauge der Phantasie von den Grummethaufen in die Abendpracht des Heumonats hinüberblickte – und als jeder vielfarbige Baum gleichsam zum zweiten Male blühte – und als die bunten Gipfel wie vergrößerte Tulpen einen Regenbogen auf den Duft des Herbstes zogen: – so jagten nun nur frühere Mailüfte dem flatternden Laube nach und wehten unsern Freund mit hebenden Wogen an und stiegen mit ihm auf und hielten ihn empor über den Herbst und über die Berge und er konnte über die Berge und Länder wegschauen und siehe, er sah alle Frühlinge seines Lebens, die für ihn noch in Knospen lagen, wie Gärten nebeneinander stehen und in jedem Frühlinge stand sein Freund! –

Er verließ den Ort; aber er streifte in den Wiesen, worin man jetzo nicht ängstlich den Fußsteig zu suchen brauchte, noch lange herum, hauptsächlich damit man es seinen Augen nicht ansähe – zumal da ihm heute so viele Marktleute begegneten –, an wen er unterweges gedacht habe. Aber es half ihm wenig; in gewissen Verfassungen quillet die geritzte Seele wie verwundete Bäume unaufhörlich und beim kleinsten Bestreifen.

Er mied Augenzeugen, besonders wie Rosa, darum, weil er, wie ich leider sagen muß, gerade in der Rührung, es sei aus Scham oder Lebhaftigkeit, am geneigtesten war, seinen Zustand durch Auffahren zu verbergen. Endlich fiel ihm eine Waffe zum Siege über sich in die Hand: der Gedanke, daß er seinem Gaste noch genug für das unhöfliche Wegbleiben abzubitten und zu vergüten habe.

Als er ankam – welcher sonderbarer Anblick! Der alte Gast war fort – ein neuer war da – und neben ihm sein Weib in Tränen. [107] Bei seinem Eintritt trat Lenette an ein Fenster, und ein neuer Tränenguß fiel nieder. »Frau Armenadvokatin«, fuhr der Schulrat noch immer fort und hielt ihre Hand, »schicken Sie sich ums Himmels willen in den Willen Gottes – es ist ja leichtlich zu richten und zu schlichten. – Ich verstatte gern eine Traurigkeit des Herzens; aber eine gemäßigte sei es.« Lenette sah ihren Mann gar nicht an, sondern durchs Fenster. Der Schulrat erzählte jetzo erstlich alles das, was ich schon erzählt habe – indes Firmian, unter dem Horchen und Blicken auf ihn, die glühende Hand der abgekehrten Lenette faßte –; dann fuhr er fort: »Als ich hereintrat, du großer Gott, so lag Ihro Gnaden vor der Frau Advokatin auf den Knieen mit weltlichen Tränen und war gesonnen – ich muß es besorgen –, ihr ihre teure Ehre zu nehmen. Ich aber riß solchen auf, ganz freimütig, und fragte ihn mit paulinischer Unerschrockenheit, die ich vor Gott und Menschen zu verantworten gedenke: ›Ew. Gnaden, sind das die Lehren, die ich Denenselben als Ihr Privatlehrer gegeben habe, soll ein Christ solchergestalt auf die Kniee fallen? Pfui, Hr. von Meyern, pfui, Hr. von Meyern!‹« – Jetzo geriet der Schulrat wieder in einen entsetzlichen Eifer und fuhr in der Stube, die Hände tief in den plüschnen Rocktaschen, auf und ab. Firmian sagte: »Gegen einen solchen Hasen gibt es leicht einen Feldscheu und einen Gartenzaun; aber was gehet es dich an, Liebe«, sagt' er, »und über was weinest du so sehr?« – Sie fing stärker an; da stemmte der Rat die Hände in die Seite und sagte zornig zu ihr: »So? Frau Armenadvokatin, solche schlechte Wurzeln fassen meine heutigen Tröstungen bei Ihnen? – Ich hätte mich dessen ganz und gar nicht vermutet. So hab' ich denn ganz umsonst, muß ich merken, Ihnen in meiner Kutsche, da ich die Ehre hatte, Sie von Augsburg hieher zu fahren, die großen Glückseligkeiten der Ehe, noch dazu, eh' Sie nur solche schon genossen, gleichsam in den Wind mit allem möglichen Feuer vorgehalten; und es ist Ihnen ordentlich alles wie weggeblasen, was ich Ihnen im Wagen sagte, wie selig eine Gattin durch einen Gatten wird, wie sie über seinen Besitz oft beinahe vor Freude weinen muß, wie beide nur ein Herz sind und ein Leib, und beide alles miteinander teilen, Freud' und [108] Leid, jeden Bissen, jeden Wunsch, ja das kleinste Geheimnis... Aber der Schulrat Stiefel ziehet, seh' ich, mit einer langen Nase ab, Frau Advokatin!«.... Da überfuhr und trocknete sie heftig zweimal hintereinander die Augen, blickte ihn gewaltsam heiter mit den freundlichsten Augen an und sagte tief heraufgezogen, aber linde und nicht schmerzlich, nichts als: »Ach!« – Der Schulrat senkte seine Hand mit den bloßen Fingern auf ihre niederhängende wie ein Priester und sagte: »Der Herr aber sei Ihr Arzt und Helfer in allen Ihren Nöten (er konnte nun selber vor kommenden Tränen wenig mehr sagen), Amen, das heißet, ja, ja, es soll also geschehen.« Hier umarmte und küßte er den Mann, aber sehr warm und sagte: »Schicken Sie zu mir, wenn bei der Frau Liebsten kein Trost verfangen sollte – und Gott richte doch beide auf. – O .... weswegen ich eigentlich da bin... Die Rezension vom Oster-Programm muß am Mittwoch fertig sein ich schulde Ihnen auch acht oder mehr Zeilen Honorar für den letzten Wisch, dem Sie ein paar gute Wischer gegeben.«

Aber als er geschieden war, blieb Lenette nicht so getröstet zurück, als man vermuten sollte; sie lehnte am Fenster, in ein tiefes, aber verzweifelndes Staunen und Sinnen verloren. Firmian stellte ihr vergeblich vor, daß er ja seinen oder ihren jetzigen Namen niemals mehr ändere und daß ihre Ehre und Ehe und Liebe ja nicht an elenden Namenzügen hängen, sondern an seiner Person und an seinem Herzen. Sie unterdrückte ihr Weinen, aber den ganzen Abend blieb sie bekümmert und schweigend.

Niemand nenne aber den guten Firmian zu argwöhnisch, wenn er, der erst einen verunglückten Kirchenräuber der Ehe, den Venner, losgeworden, jetzo an einen vulkanischen Ausbruch denkt, der leicht über eine weite Strecke seines Lebens Steine und Asche werfen kann, wenn sein Freund Stiefel wirklich, wie es scheint, seine Lenette, obwohl schuldlos, liebgewonnen. Das ganze Verhalten desselben von den Höflichkeiten des Hochzeittages bis zu seinen häufigen Besuchen und bis auf seine heutige Erbosung über den Venner und auf seine Erweichung, alles das machte ein zusammengehörendes Gemälde einer innigen, wachsenden, obwohl rechtschaffenen und unbewußten Liebe aus. Ob [109] ein versprungener Funke davon in Lenettens Herzen sich verhalte und nachglimme, das konnt' er noch nicht wissen; aber trotz der Rechtschaffenheit seines Freundes und seiner Frau mußte bei den jetzigen Verhältnissen sein Sorgen so stark als sein Hoffen sein.

– Lieber Held! – Bleib aber einer! – Das Schicksal will, wie ich immer deutlicher merke, allmählich die einzelnen Stücke zu einer guten Drill-Maschine, um den Diamanten deines Stoizismus zu durchbohren, ineinander fügen, oder auch aus Dürftigkeit, häuslichem Verdruß, Prozessen und Eifersucht nach und nach britische Scher- und Seng-Maschinen geschickt zusammenbauen, um wie am feinsten englischen Tuche jede kleine falsche Faser wegzuscheren und wegzusengen. Wenn dergleichen geschieht, so komme nur als ein so herrlicher englischer Zeug aus der Presse, als je einer auf die Leipziger Tuch- und Buchhändlermesse geliefert worden, und du wirst glänzen.

Viertes Kapitel

Eheliche partie à la guerre – Brief an den haar-lustigen Venner – Selbertäuschungen – Adams Hochzeitrede – das Abschatten und Verschatten


Ich beobachte nichts schärfer und protokolliere nichts weitläuftiger als zwei Tag- und Nachtgleichen, die eheliche, wenn nach den Flitterwochen die Sonne in die Waage tritt, und die meteorologische draußen, weil ich imstande bin, aus der Witterung in beiden das Wetter wunderbar auf lange Zeit vorauszusagen. Am wichtigsten ist mir das erste Gewitter im Frühjahr und im Ehestand; die andern alle ziehen aus seiner Gegend her. Als der Schulrat zum Hause hinaus war: umfaßte der Armenadvokat seine zürnende Huldin und überschüttete sie mit allen Beweismitteln, mit Beweisen zum ewigen Gedächtnis, mit halben Beweisen, mit Beweisen durch Augenschein, mit Haupteiden und Schlußfiguren, womit nur eigne Zärtlichkeit zu erhärten oder fremde zu bekehren ist. – – Der Beweistermin strich ohne [110] Nutzen vorbei: er hätte ebensogut den harten kalten Taufengel in der Hauptkirche umhalsen können, so kalt und stumm verblieb der seinige. Der Pelzstiefel war der blutstillende Tourniket um Lenettens offne strömende Pulsader gewesen: durch sein Fortgehen hatt' er den Lerchenschwamm seiner Zunge von ihren Augen gezogen – und nun gossen sie ohne Maß darnieder.

Siebenkäs ging oft ans Fenster und in die Kammer, um ihr zu verbergen, daß er sie nachahme und daß ihn ihr Schmerz, der so wenig vernünftig war, gleichwohl zu einem sympathetischen hinreiße. Man erträgt und verzeiht einen übertriebnen Kummer leichter, den man selber machte, als den andere verursachen. Den andern Tag drückte eine unausstehliche Stille das Zimmer. Da es bloß das erste Beet in der ehelichen Samenschule war, in das die Kerne zu Zankäpfeln gelegt wurden: so hörte man noch kein Rauschen der Saat dabei. Eine Frau vermags im ersten Zwiste noch nicht, sondern erst im 4ten, 10ten, 10000ten ist sie imstande, zugleich mit der Zunge zu verstummen und mit dem Torso zu lärmen und jeden Sessel, den sie wegschiebt, jeden Querl, den sie hinstreckt, zu ihrer Sprachmaschine und Sprachwelle zu verbrauchen und desto mehr Instrumentalmusik zu machen, je länger ihre Vokalmusik pausiert. Lenette Wendeline verrichtete und fragte alles so leise, als hätte ihr Ehe-Lehnpropst das Podagra und krümmte seine wunden Füße am zitternden Bettbrette.

Den dritten Tag fiel es dem Propste verdrüßlich, und mit Recht. Ich bekenn' es, ich will mich gern und stark mit meiner Frau, wenn ich sie hätte, veruneinigen und ich bin bereit, mit ihr in einen Wortwechsel zu geraten statt in einen Briefwechsel; aber etwas würde mir ans Leben greifen, das lange trübe weinende Nachzürnen derselben, das wie der Schirokkowind einem Manne zuletzt alle Lichter, Gedanken und Freuden ausbläst und am Ende das Lebenslicht selber. So ist uns allen ein heftiges Gewitter im Sommer nicht unangenehm, eher erfrischend; aber man muß es verwünschen, bloß des elenden trüben nassen Wetters wegen, das darauf einfällt und einige Tage Bestand hat. Siebenkäs war desto verdrüßlicher, da er nichts in der Welt seltener war als eben verdrüßlich. Wie andere Juristen sich selber unter die torturfreien [111] Menschen zählen, so hatte er sich längst selber durch den Epiktet so gegen die Folter der Seele, den Kummer, verteidigen lassen, wie er die Kindmörderin gegen eine andere verteidigt hatte. Die Juden glauben: nach der Ankunft des Messias werde die Hölle ans Paradies gestoßen, damit man einen größern Tanzsaal habe, und Gott tanze vor. – Siebenkäs tat das ganze Jahr lang nichts als alle seine Marterkammern und Kreuzschulen an die Lustzimmer seiner Bagatelle anbauen und einfugen, um darin größere Ballette zu tanzen. Er sagte oft, man sollte eine kleine Medaille für den Staatsbürger aussetzen, der dreihundert und fünf und sechzig Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45 Sekunden lang nicht knurrte und nicht brummte.

Anno 1785 hätt' er die Medaille nicht gewonnen; er war am dritten Tage, am Sonnabend, so toll über seine schweigende Frau, daß er noch toller wurde über den Störenfried Everard. Überhaupt konnte dieser Minnesinger und Minnesöldner nächstens wieder ins Haus kommen und die Göttin Zwietracht, die in Voltairens Henriade als Direktrice und Ambassadrice die besten poetischen Dienste verrichtet, in das häusliche Volklied eines Advokaten einführen als Maschinengöttin, um den Knoten des ehelichen Bandes zu lösen und einen neuen zu knüpfen mit dem Venner. Siebenkäs schrieb ihm also folgende akademische Streitschrift:


»Ew. Hochwohlgeb. Gnaden erkühn' ich mich in diesem kleinen Memoriale die Bitte vorzutragen:

Dieselben möchten zu Hause bleiben und mir Ihre Besuche entziehen.

Sollten Sie einiger Haartouren von meiner Frau benötigt sein: so erbietet sich Endesunterschriebener zu den Lieferungen und will sie abschneiden. Wollen Dieselben ein Jus compascui oder eine Koppeljagd bei mir exerzieren und selber kommen: so werd' ich diese Gelegenheit mit Vergnügen ergreifen, mir aus Ihnen eigenhändig so viel Haare, als zu einem Andenken nötig sind, mit den Wurzeln wie Monatrettige auszuziehen. Ich bin oft in Nürnberg (der hohe Rath wollt' es nicht haben) mit einem [112] adligen betagten ›Prügelknecht 24‹ auf die benachbarten Dörfer schmausen gegangen, d.h. mit einem Informator, der sich aus den Seitenhaaren drei kleiner Patrizier in den Lehrstunden eine schöne mausfarbne Beutelperücke zusammengezauset und exzerpiert hatte, die der Mann noch aufhaben wird. Er lag diesem Seidenbau ob, oder vielmehr er blattete die kleinen Köpfe darum außen ab, damit er besser mit seinen Strahlen die Früchte innen zeitigen konnte, wie man im August aus denselben Gründen die Weinstöcke entlaubt. Der ich ansonsten verharre etc.«

Es ärgert mich, wenn ichs dem Leser nicht beibringen kann, daß der Advokat diesen bittern Brief ohne die geringste Bitterkeit der Seele hinschrieb: dieses holzersparende Mitglied hatte sich so sehr in die fortglänzenden Satiren der drei lustigen Weisen aus London – Butler, Swift, Sterne –, dieser drei Leiber des satirischen Riesen Geryon oder dieser drei Parzen gegen den Toren, hineingelesen, daß das Mitglied nicht mehr wußte, ob es bitter sei oder nicht – über das satirische Kunstwerk vergaß er die Auslegung, ja er vergab sogar einer Stachelrede auf sich selber für ihren Wuchs und Bau gern die längsten Stacheln. Ich berufe mich auf seine »Auswahl aus den Papieren des Teufels«, deren satirische Giftblasen und Giftstacheln nur in seinem Dintenfasse und in seiner Schreibfeder, d.h. in seinem Kopfe, aber nicht in seinem Herzen waren.

Ich bitte die Leser hier, den Geist der Sanftmut jedem Laute – weil unsere Worte mehr als unsereTaten die Menschen erzürnen –, aber noch mehr jedem Blatte einzublasen; denn wahrlich wenn Ihnen Ihre Korrespondenten ein schriftliches Pereat längst verziehen haben, so schwillet doch, wenn das Sauerampfer Blättchen wieder in die Hände fällt, der alte Sauerteig des Hasses [113] wieder auf. – Dafür können Sie im andern Falle auf eine gleiche Ewigkeit einer erschriebenen Wärme vertrauen; wahrhaftig, hätte ein langer schneidender Dezemberwind mein Herz zu allen Bewegungen für ein anderes, das sonst wahre Johannes-Briefe weiche Hirten- und Hirtinnen-Briefe an mich erlassen, steif und unbiegsam gemacht: so verschlüge dies wenig, sobald ich nur diese Schäfer-Briefe aus meinem Briefgewölbe voll Brieftaschen oder Brief-Ranzen wieder heraus zöge. Der Anblick der geliebten Hand, des willkommnen Siegels und der lieblichen Worte und der papierne Spielraum so mancher Entzückung würfe auf das starre Herz wieder den Sonnenschein der veralteten Liebe; es würde sich wie ein beschienener Blumenkelch wieder der kleinen Vorzeit auftun, und alle Gedanken würden, und wäre ich erst vorgestern beleidigt, sagen: »Ach, ich habe dem Verfasser (der Verfasserin) bisher wohl zu viel getan.« – So trieben viele Heilige des 1ten Säkuls Teufel aus Besessenen aus, bloß durch – Briefe.

Eben diesen Sonnabend kam wie ein jüdischer Sabbat der Pelzstiefel gleichsam gerufen. Ich hab' es oft gesehen, daß ein Gast das Heftpulver und Bindewerk zwischen zwei keifenden Ehehälften geworden, weil sie aus Scham und Not gezwungen waren, wenigstens so lange miteinander freundlich zu tun und zu sprechen, als der Gast zuhorchte. Jeder Eheherr sollte einen oder ein paar Gäste in Vorrat haben, welche kämen, wenn er litte unter der Eheherrin, die den stummachenden Teufel zu lange im Leibe hätte; sie müßte doch wenigstens, solange die Herren blieben, reden und den eisernen Diebapfel des Schweigens – der mit dem Zankapfel auf einem Aste wächset – aus dem Munde nehmen. – Der Schulrat stellte sich ganz dicht vor Lenette Wendeline, wie vor seine Schülerin, und fragte sie, ob sie das erste Kreuz ihrer Ehe so geduldig getragen habe wie eine Kreuzschwester Hiobs. Sie schlug tief die großen Augen nieder und wickelte einen fingerlangen Faden an einen Zwirn-Schneeball und atmete voller. Ihr Mann vertrat sie und sagte: »Ich war ihr Kreuzbruder und trug das Querholz der Last – ich ohne Murren, sie ohne Murren. – Im 12ten Jahrhundert zeigte man noch den nachgelassenen Misthaufen, [114] worauf Hiob geduldet hatte. Unsere zwei Sessel sind die Misthaufen und sind annoch zu sehen.« – »Gutes Weib!« sagte Stiefel mit dem sanftesten Pianissimo aus dem Grobgedackt und Schnarrwerk der männlichen Brust und legte seine große blütenweiße Hand auf ihr vorquillendes Stirn-Rabenhaar. Siebenkäs hörte ein vielfaches sympathetisches Echo dieser Worte in seiner Seele und legte seinen Arm um die Schultern Lenettens, die über die ehrende Freundlichkeit des andern Mannes im Amte selig errötete; er drückte sanft ihre linke Seite an seine rechte und sagte: »Wahrlich das ist sie – sie ist sanft und still und geduldig und nur gar zu emsig – wäre nicht der ganze Heerbann der Hölle in der Gestalt des Venners gegen unser kleines Gartenhaus des Glücks angerückt, um es abzudecken: Herr Rat, wir hätten lange froh darin gehauset bis weit in den Winter unserer Jahre. Denn meine Lenette ist gut, und zu gut für mich und für viele andere.« Hier umgürtete der gerührte Stiefel ihre mit dem Knaul gefüllte Hand am Sitz des Pulses mit seinen fünf Fingern – denn die leere hatte der Mann –; und das Wundwasser für unsere Schmerzen, dessen große Tropfen, durch die gebundnen Hände nicht verwischt, aus ihren gesenkten Augen zitternd auf die Wangen zogen, machte die männlichen Herzen unendlich weich; ohnehin konnte ihr Mann niemand lange loben, ohne daß ihm die Augen überflossen. Er fuhr schneller fort: »Sie sollt' es auch recht gut bei mir haben, aber mein Mütterliches wurde mir so grausam vorenthalten. Und auch da noch hätte ich sie ohne Erbschaft glücklich gemacht wie sie mich, wir hatten keinen Zwist, keinen einzigen trüben Augenblick – nicht wahr, Lenette, nichts als Ruh' und Liebe hatten wir – bis der Venner kam! – Der nahm uns viel.« – Der Schulrat hob erboset die geballte Faust in die Lüfte und sagte, mit ihr in diese hauend: »Du Höllenkind! Du Räuberhauptmann und Flibustier! Du seidner Katilina und Schadenfroh! – Gedenkst du das und deine andern Streiche einmal zu verantworten? – – Hr. Armenadvokat, das erwart' ich wenigstens von Ihnen, daß Sie, wenn er wieder um Haare ansucht, ihn bei seinen Haaren hinausgeleiten oder dieser Pelz-Made, wie Sie selber sagen, mit einem Stiefelknecht auf die [115] Achsel klopfen und mit einer Beißzange die Hand drücken – mit einem Worte, ich leid' ihn nicht mehr hier.«

Und hier schob Siebenkäs, um fremde und eigne Rührung auszukühlen, die Nachricht ein, er habe alles schon getan und dem Venner die nötigen Inhibitoriales übermacht. Der Pelzstiefel schnalzte freudig mit der Zunge und nickte billigend mit dem Kopfe; denn eine hohe Obrigkeit war ihm zwar Christi Unterkönig, und ein Graf ein Halbgott, und ein Kaiser ein ganzer; aber eine einzige Todsünde, die einer von ihnen beging, kostete diesem seine ganze gebückte Freundschaft, und gegen einen lateinischen Donatschnitzer, der sogar aus einem kronengold-haltigen Kopfe gekommen wäre, hätt' er sich ohne Bedenken in einem ganzen lateinischen Osterprogramma aufgemacht. Der Weltmann behauptet den aufrechten Anstand und die gekrümmte Seele; der Schulmann hat oft beide nicht. Lenettens letzte Wolken verzogen sich alle, da sie hörte, daß dem Venner ein papierner Verwahrstock und spanischer Reiter unter ihre Stubentüre gesetzt worden. »Nun fleucht er also von mir? Dem Erlöser sei Dank! Er leugt und treugt ja auch überall«, sagte Lenette. »So spricht man eigentlich nicht, ausgenommen schnitzerhaft, Frau Armenadvokatin, denn die unregelmäßigen Zeitwörter kriechen, lügen, gießen, riechen, ziehen, die als verba anomala im Imperfectokroch, trog, log und so weiter haben, werden von guten deutschen Grammatikern im Praesens durchaus regelmäßig gebeugt, nämlich flektieret – nur die Dichter machen ihre Ausnahmen wie leider überall – und jeder sagt daher vernünftig: man lügt, kriecht, trügt, nämlich in der gegenwärtigen Zeit.«

– »Lassen Sie doch«, sagte Siebenkäs, »meiner guten Augsburgerin ihre lutherischen Beugungen; sie tut mir ordentlich damit sanft, mit solchen unregelmäßigen Zeitwörtern; sie sind ja schmalkaldische Artikel aus der augsburgischen Konfession.« Hier zog sie das Ohr ihres Mannes freundlich an ihren Mund herab und sagte: »Was koch' ich abends? – Du könntest es aber dem Herrn wohl sagen, daß ichs mit meinen Reden ja gut gemeint. – Und frage doch, mein lieber Firmian, wenn ich draußen [116] bin, den geistlichen Herrn, ob unsere Ehe in der Hl. Schrift recht erlaubt ist.« Er fragte sogleich jetzo; der Pelzstiefel antwortete langsam: »Wenn man auch nichts erwägt als das Beispiel der Lea, die anonym unter dem Pseudo-Namen Rahel noch in der Hochzeitnacht dem Jakob zugeschoben worden und deren Ehe die Bibel gutgeheißen: so wär' uns das schon genug; wechseln denn aber die Namen oder die Leiber Ringe? und kann denn der Zweck der Ehe von einem Namen erreicht werden?« – Ein gegen ihn aufgehobenes, in Milde zergangenes Angesicht und ein demütiges Auge voll Heiterkeit waren Lenettens Antwort auf seine Frage und ihr Dank für seinen Konsistorialbescheid.

Sie ging in die Küche, kam aber unaufhörlich wieder, um immer an den Tisch, woran beide Männer saßen, zu treten und das Licht zu schneuzen – was wohl niemand in der ganzen Stube ihr als eine besondere Sehnsucht und Dankbarkeit für Stiefel auslegen wird als höchstens ich und der Advokat –; der Schulrat inzwischen entriß ihr beständig die Lichtschere und beteuerte: es sei seine Schuldigkeit. Siebenkäs sah wohl, daß Stiefels beide Nebenplaneten von Augäpfeln sich immer um seinen Uranus (Lenetten) drehten; aber er vergönnte gern dem lateinischen Ritter dieses von einer Dulzinee versüßte Ritteralter und vergab, wie meistens die Männer, einem Nebenbuhler eher als einer Ungetreuen – wie die Weiber hingegen mehr die Nebenbuhlerin hassen als den Ungetreuen –; er wußte noch dazu, daß Stiefel selber nicht wisse, was oder wen er wolle und liebe, und daß er alle Schulleute und Autoren leichter rezensiere als sich; denn so hielt der Rat z.B. seinen Zorn für Amteifer, seinen Stolz für Amtwürde, sein Leben für ein tägliches Sterben, seine Leidenschaften für Schwachheitsünden und diesesmal seine Liebe für Menschenliebe. Lenettens Treue war vom Schlußstein der Religion fest gewölbt, und durch des Venners Erschütterung hatte sich das hl. Kirchengewölbe nicht im geringsten gesenkt.

Jetzo watete der Postbote herauf mit einem neuen Sternbilde, das er in den friedlichen Familien-Himmel setzte, mit diesem Briefe von Leibgeber:


[117] Baireuth,

den 21. September 1785


Mein lieber Bruder und Vetter und Oheim

und Vater und Sohn!


Denn Deine zwei Herzohren und zwei Herzkammern sind mein ganzer Sippschaftbaum; wie Adam, wenn er spazieren ging, seine ganze künftige Blutverwandtschaft und seine lange niedersteigende Linie – noch ist sie nicht ausgezogen und zu Ende rastriert – bei sich führte, bis er Vater wurde und seine Frau zeugte. Wollte Gott, ich wäre der erste Adam gewesen!... Siebenkäs, ich beschwöre Dich, laß mich diesem Gedanken besessen nachsetzen und im ganzen Briete kein Wort weiter vorbringen, als was das Kniestück von mir als erstem Menschenvater weiter malt!

Gelehrte kennen mich wenig, welche vermuten, ich wünsche deshalb der Adam zu sein, weil Pufendorf und viele andere mir die ganze Erde als eine europäische Besitzung im Indien des Universums, als mein patrimonium Petri, Pauli, Judae und übriger Apostel rechtlich zuerkennen, indem ich als der einzige Adam und Mensch, folglich als der erste und letzte Universalmonarch, wenn auch noch ohne Untertanen, auf die ganze Erde Anspruch machen konnte und durfte. An solche Dinge mag wohl der Papst als heiliger, wenn auch nicht erster Vater denken, oder er hat schon vor Jahrhunderten daran gedacht, da er sich als den Majorat- und Erbherrn aller der Erde einverleibten Länder aufstellte, ja sich nicht einmal schämte, auf seine Erdenkrone noch ein Paar, eine Himmel und eine Höllenkrone, zu türmen.

Wie wenig will ich haben! Bloß darum hätt' ich der alte und älteste Adam sein mögen, um an meinem Hochzeitabend mit der Eva außen am Spalier des Paradieses in unsern grünen Tändelschürzen und in unsern Pelzen auf und ab zu spazieren und eine hebräische Hochzeitrede an die Mutter aller Menschen zu halten.

Eh' ich die Rede anfange, merk' ich an, daß ich vor meinem Falle den überaus glücklichen Gedanken gehabt, das Vorzüglichste von meiner Allwissenheit aufzunotieren. – Denn ich hatte im Stande der Unschuld alle Wissenschaften innen, die [118] Universal- wie die Gelehrtenhistorie, die verschiedenen peinlichen und andern Rechte und die alten toten Sprachen sowohl als die lebendigen und war gleichsam ein lebendiger Pindus und Pegasus, eine tragbare Loge zum hohen Licht und gelehrte Gesellschaft und ein Taschen-Musensitz und kurzes goldnes Siècle de Louis XIV – bei dem Verstande also, den ich hatte, wars damals weniger ein Wunder als ein Glück, daß ich das Beste von meiner Allwissenheit in müßigen Stunden zu Papier brachte; – als ich nachher fiel und einfältig wurde, hatt' ich die Exzerpten oder ein räsonierendes Verzeichnis meines vorigen Wissens in Händen und schöpfte daraus.

»Jungfer!« – so fing ich hinter dem Paradies den Sermon an – »wir sind zwar die ersten Eltern und gesonnen, die andern Eltern zu zeugen; aber du denkst an nichts, wenn du nur mit deinem Löffel in einen verbotenen Äpfel-Mus fahren kannst. Ich als Mann und Protoplast sinne nach und will heute im Auf- und Abgehen der Hochzeitprediger und Strohkranzredner – ich wollt', ich hätte mir einen fremden dazu gezeugt – bei unserer heiligen Handlung sein und mir und dir in einer kurzen Traurede vorstellen:

Die Zweifels- und die Entscheidgründe oder die rationes dubitandi und decidendi der Protoplasten – oder das erste Eltern und Hochzeit-Paar (ich und du nämlich) begriffen im Reflektieren und Betrachten – und zwar wie es betrachtet

in der ersten Pars die Ursachen und Gründe, die Erde nicht zu besamen, sondern heute noch auszuwandern, das eine in die alte, das andere in die neue Welt – und in der

zweiten Pars die Gründe, es dennoch bleiben zu lassen und zu heiraten; – worauf dann ein kurzer Elenchus oder usus epanorthoticus erscheinen und die Nacht beschließen muß.


I. Pars


Andächtige Zuhörerin! so wie du mich da siehst im Schafpelze, ernsthaft, denkend und recht: so steck' ich doch voll Narrheiten nicht sowohl als voll – Narren, die mancher Weise als Einschiebsel [119] durchschießt. Ich bin zwar kleiner Statur und das Weltmeer 25 lief mir ziemlich über die Knorren und besprützte mein neues Tierfell; aber beim Himmel! ich wandle hier mit einem Säetuch umhangen, worin die Sämerei aller Völker liegt, auf und ab und trage das Repertorium und die Verlagkasse des ganzen Menschengeschlechts, eine ganze kleine Welt und einen orbem pictum vor mir her, wie Hausierer ihr offnes Warenlager auf dem Magen. Denn Bonnet, der im Magen mit steckt, wird, wenn er herausgehoben wird, sich niedersetzen und es auf seinem Schreibpulte dartun, daß alles ineinanderstecke, eine Parenthese und Schachtel in der andern, daß im Vater der Sohn, im Großvater jene beiden, im Urgroßvater folglich der Großvater mit seinem Inserat, im Ururgroßvater der Urgroßvater mit dem Inserat des Inserats und mit allen seinen Episoden sitze und warte. Sind denn deinem Bräutigam allhier – denn dir, liebe Braut, kann man gar nicht faßlich genug sein – nicht einverleibt alle Religionparteien und, die Präadamiten ausgenommen, sogar die Adamiten 26 und alle Riesen, selber der große Christoffel – jedes Völkerpersonale – alle für Amerika bestimmte Schiffladungen von Negern und das rot gezeichnete Päckel, worin die von den Engländern verschriebene Ansbacher und Baireuther Soldateska ist? – Heva, steh' ich nicht vor dir und bin, wenn man mein Inneres ansieht, eine lebendige Judengasse – ein Louvre aller regierenden Häupter, die ich alle zeugen kann, wenn ich sonst will und mich nicht die erste Pars abbringt? Bewundern wirst du mich und doch auch auslachen, wenn du mich aufmerksam anschauest und die Hand auf meine Achsel legst und denkst: hier in diesem Manne und Protoplastiker sitzen nun alle Fakultäten und Männer – alle philosophischen Schulen und alle Näh- und Spinn-Schulen ohne Zank – die besten altfürstlichen Häuser, wiewohl noch nicht rein aus dem gemeinen Schiffvolk ausgeklaubt – die ganze freie Reichsritterschaft, aber freilich noch [120] unter ihre Zinsbauern und Häusler und Kossäten verpackt – Nonnenklöster mit Mönchklöstern legiert – alle Kasernen und Landesdeputierte, der Domkapitel nicht zu gedenken, die aus ihren Dompröpsten, Dechanten, Senioren, Subsenioren und Domherren bestehen! Welch ein Mann und Enak! wirst du dazusetzen. Du hast recht, Gute! das bin ich, ordentlich der Hecktaler des Menschen-Münzkabinetts, der Gerichthof aller Gerichte, noch dazu ganz besetzt, ohne Abgang eines einzigen Beisitzers, das lebendige corpus juris aller Zivilisten, Kanonisten, Kriminalisten, Feudalisten und Publizisten: hab' ich nicht Meusels Gelehrtes Deutschland und Jöchers Gelehrten-Lexikon vollständig in mir und Jöchern und Meuseln selber, der Supplementbände nicht zu erwähnen? – Ich wollte, ich könnte dir den Kain vorzeigen – dieses würde, wenn mich die zweite Pars überredete, unser erster Fechser und Ranke sein, unser Prinz von Wallis Kalabrien, Asturien und Brasilien – du würdest sehen, wenn er durchsichtig wäre – welches ich glaube –, wie alles wie Biergläser in ihm ineinander steckte, alle ökumenische Konzilien und Inquisitionen und Propaganden und der Teufel und seine Großmutter. – Aber, Schönste, du hast vor deinem Falle nichts von deiner Scientia media niedergeschrieben wie ich und guckest also stockblind in die Zukunft hinaus. – Allein ich, der ich ganz hell durch sie blicke, ersehe aus meiner Chrestomathie, daß, soll' ich mich wirklich meines Blumenbachischen nisus formativus bedienen und in das jus luxandae coxae oder primae noctis 27 heute einige protoplastische Blicke werfen, daß ich nicht zehn Narren, wie etwan sonst einer tut, machen würde, sondern ganze Billionen Zehner und die Einer dazu, angesehen alle in mir seßhafte Stockböhmen – Pariser – Wiener – Leipziger – Baireuther – Höfer – Dubliner- Kuhschnappler (und ihre Weiber und Töchter dazu) durch mich zum Leben kommen würden, unter denen allemal gegen 1000000 über 500 sein werden, die keine Vernunft annehmen und doch keine haben. Duenna, du kennst die Menschen noch wenig, bloß zwei, denn die Schlange ist keiner; aber [121] ich weiß, was ich produziere, und daß ich mit meinem limbus infantum zugleich ein Bedlam aufmache. – Beim Himmel! ich zittre und klage, wenn ich in die Jahrgänge der Jahrhunderte nur zwischen die Blätter hineingucke und nichts darin sehe als Blut-Kleckse und bunte Narren-Quodlibets – wenn ich die Mühe überrechne, bis ein Jahrhundert nur eine leserliche Hand schreiben lernt, die so gut ist wie die eines Elefantenrüssels oder eines Ministers – bis die arme Menschheit durch die Trivial- und Winkelschulen und durch die Hausfranzösinnen hindurch ist, so daß sie mit Ehren in lateinische Lyzeen, in Fürsten- und Jesuiterschulen gesetzt werden kann, bis sie gar den Fecht- und Tanzboden, die Zeichenstunden und ein dogmaticum und clinicum besuchen kann. Beim Henker! mir wird schwül – dich nennt freilich niemand die Bruthenne des künftigen Starenflugs, den Kabliau-Rögner, in welchem Leuwenhoek 9 1/2 Millionen Stockfisch-Eier zählt; dir legt mans nicht zur Last, Evchen, aber deinem Manne, der hätte gescheuter sein (wird man sagen) und lieber gar nichts zeugen sollen als solches Gesindel, wie die meisten Räuber sind – gekrönte Imperatoren auf dem römischen Thron und Statthalter auf dem Römischen Stuhl, wovon jene sich nach Antonin und Cäsar und diese nach Christus und Petrus nennen werden und unter welchen Leute sind, deren Thronstuhl ein Lüneburgischer Torturstuhl der Menschheit und ein Steinischer Geburtstuhl des Gottseibeiuns ist, wenn er nicht gar ein umgekehrter Grêve-Platz wird, der zugleich zu Hinrichtungen des Ganzen und zu Freudenfesten der Einzelnen dient. 28 – Auch wird man mir den Borgia, den Pizarro, den hl. Dominikus und den Potemkin vorwerfen. Gesetzt auch, ich wüßte den Vorwurf dieser schwarzen Ausnahmen abzulehnen: so werd' ich doch einräumen müssen (und Anti-Adams werdens utiliter akzeptieren), [122] daß meine Abkömmlinge und Kolonisten keine halbe Stunde leben können, ohne eine Torheit zu denken oder zu begehen – daß der Riesenkrieg der Triebe in ihnen keinen Friedenschluß, selten einen Waffenstillstand erhält – daß der Hauptfehler des Menschen bleibt, daß er so viele kleine hat – daß ihm sein Gewissen beinahe zu nichts dient als zum Hassendes Nächsten und zum kränklichen Gefühle fremder Übertretungen – daß er seine Unarten nicht eher wegwerfen will als auf dem Totenbette, an das ihm ein Beichtstuhl geschoben wird, wie die Kinder vorher zu Stuhle gehen, ehe sie zu Bette gebracht werden – daß er die Sprache der Tugend lernt und liebt und den Tugendhaften anfeindet, wie die Londner sich französische Sprachmeister halten und den Franzosen selber gram sind. – – Eva, Eva, wir werden schlechte Ehre einlegen mit unserer Hochzeit; Adam heißet nach dem Grundtext rote Erde, und wahrlich es werden meine Backen ganz daraus bestehen und erröten, wenn ich nur an die unaussprechliche und unausgesetzte Eitelkeit und Einbildung unserer Urenkel denke, die gerade mit den Jahrhunderten schwillt. Keiner wird sich bei der Nase zupfen als etwan einer, der sich selber rasiert – der hohe Adel wird auf die Deckel der geheimen Gemächer sein Familien-Wappen brennen lassen und den Schwanzriemen seiner Gäule in seinen Namenzug verschlingen – die Rezensenten werden sich über die Skribenten, diese über jene stellen – der Heimlicher v. Blaise wird sich von Waisen die Hand küssen lassen, die Damen von jedem, und Höhere den ausgenähten Rocksaum. Heva, ich hatte meine prophetischen Extrakte aus der Welthistorie bloß erst bis ins 6te Jahrtausend fortgeführt, als du gerade unter dem Baum anbissest und ich aus Einfalt dir nachaß und mir alles entfiel; – Gott weiß, wie erst die Narren und Närrinnen der übrigen Jahrtausende aussehen! Jungfer! wirst du jetzo den Sternocleidomastoideum, welchen Sömmering den Kopfnicker nennt, gebrauchen und damit dein Ja sagen, wenn ich dir die Frage vorlege: willst du gegenwärtigen Hochzeitprediger zu deinem ehelichen Gemahl haben? –

Du wirst freilich versetzen: wir wollen wenigstens die zweite Pars anhören, worin die Sache auch von der andern Seite betrachtet [123] wird. – Und wahrlich, wir hätten allerdings beinahe vergessen, andächtigste Zuhörerin, zur


II. Pars

zu schreiten und miteinander die Gründe zu erwägen, welche Protoplasten oder erste Eltern bewegen, es zu werden und sich zu kopulieren und dem Schicksal zur Säe- und Spinnmaschine des Leins und Hanfes, des Flachses und Wergs zu dienen, dessen unübersehliches Netzwerk und Zuggarn es um die Erdkugel windet. – Mein Hauptbeweggrund – und deiner hoffentlich auch – ist nach meinem Gefühle der Jüngste Tag. Denn falls wir beide die Entrepreneurs des Menschengeschlechts werden: so werd' ich alle meine Enkel, die am Jüngsten Tage aus der verkalkten Erde aufdampfen, in den nächsten Nebenplaneten sich zusammenstellen sehen zur letzten Heerschau und unter diesem Kinder- und Enkelsegen Leute antreffen, die Verstand haben und mit denen sich ein Wort reden läßt. – Männer, deren Leben durch lauter Donnerwetter ging und die es in einem verloren, wie nach dem römischen Glauben die Günstlinge der Götter vom Donner erschlagen werden, und die gleichwohl in keinem Gewitter Augen oder Ohren zubanden. – Ferner stehen dort, seh' ich die vier herrlichen heidnischen Evangelisten, Sokrates, Kato, Epiktet, Antonin, die mit ihren Kehlen wie mit angeschraubten 200 Fuß langen Feuerspritzen-Schläuchen in allen Häusern herumgingen und solche vor jeden verdammten Brand der Leidenschaften hielten und ihn gänzlich ausspritzten mit dem reinsten besten Alpen-Wasser. – Überhaupt von den vortrefflichsten Leuten werd' ich der Ur-Papa und du die Ur-Mama werden, ist es uns sonst beliebig. Ich sage dir, Eva, ich hab' es hier in meinem Exzerpten und Kollektaneen schwarz auf weiß, daß ich der Vorfahr, der Ahnherr, das Bethlehem und die plastische Natur eines Aristoteles, Platon, Shakespeare, Newton, Rousseau, Goethe, Kant, Leibniz sein werde, insgesamt Leute, die noch gescheuter denken als ihr Protoplast selber. Eva, wirkliches angesehenes Mitglied der gegenwärtigen fruchtbringenden [124] Gesellschaft oder produzierenden Klasse im Staat, die aus dir und dem Trauredner besteht, ich schwöre dir, ich werde eine Stunde voll einiger seligen Ewigkeiten haben, wenn ich auf dem Nebenplaneten den Kreis von Klassikern und von Wiedergebornen flüchtig durchlaufen und endlich vor Wonne auf den Satelliten niederknieen und sagen werde: ›Guten Morgen, meine Kinder! Ihr Juden tatet sonst geheime Stoß- und Schußgebete, wenn euch ein Weiser aufstieß; – aber was soll ich für eines tun, das lang genug ist, da ich alle Weise und Fakultisten auf einmal sehe und Blutverwandten vor mir, die sich mitten im Wolfhunger der Triebe gleichwohl der verbotenen Äpfel und Birnen und Ananas zu entäußern wußten und die mitten im Wahrheitdurste keinen Gartendiebstahl am Baum des Erkenntnisses begingen, indes ihre ersten Eltern das verbotne Obst angriffen, ob sie gleich nie Hunger fühlten, und den Baum des Erkenntnisses, ob sie gleich alle Erkenntnisse schon hatten, die der Schlangennatur ausgenommen.‹ Dann werd' ich vom Boden aufstehen und unter den Enkel-Schwarm hineinlaufen und einem auserlesenen Nachfahrer von mir an das Herz fallen und meine Arme um ihn schlingen und sagen: ›Du treuer, guter, zufriedener, sanfter Sohn – und hätt' ich meiner Heva, der Bienenmutter der gegenwärtigen Immen-Schwärme um uns her, niemand als nur dich in einer Brut-Zelle sitzend zeigen können in der zweiten pars meines Trau-Sermons, die Frau hätt' es überlegt und mit sich reden lassen.‹«... Und der treue gute Sohn bist Du, Siebenkäs, und liegst und bleibst an der heißen rauhhaarigen Brust

Deines

Freundes.


Nachschrift

und Clausula Salutaris


Verdenke mir diesen meinen lustigen Hausball und Hexentanz auf dem Lumpenpapier nicht, ob Du gleich leider ein Infinitesimal-Teil des deutschen Völkerstammes bist und als solcher einen solchen Ideentanz weder leiden noch begreifen solltest. Daher lass' ich für die deutsche Unbehülflichkeit auch nichts drucken, sondern [125] werfe ganze Bogen, die ich mit dergleichen schäkernden Ideen-Fischchen vollgelaicht, anstatt in den Buchladen sogleich in den Ort, wohin solche Werke sonst, weil sie die Durchganggerechtigkeit durch den Buchladen ausüben, erst im Alter kommen. – Ich war acht Tage in Hof; und privatisiere jetzo in Baireuth; ich schnitt in beiden Städten Gesichter, nämlich fremde Silhouetten; die meisten Köpfe aber, die meiner Papierschere saßen oder standen, mutmaßten, es sei in meinem nicht richtig. Schreibe mir das Wahre von der Sache; denn es wäre mir nicht gleichgültig, weil ich sowohl in Vermächtnissen als in andern bürgerlichen Verrichtungen behindert würde, falls ich, wie gesagt, wirklich nicht recht gescheut wäre. – Schließe noch bei tausend Grüße und Küsse an deine fromme und schöne Lenette und ein Kompliment an den Hrn. Schulrat Stiefel, nebst einer Frage, ob er mit dem Magister Stiefel, Predigern zu Holzdorf und Lochau (bei Wittenberg), von weitem verwandt ist, der das Ende der Welt (und irrig, glaub' ich) auf früh um 8 Uhr 1533 weissagte und am Ende nur sein eignes erlebte. – Auch leg' ich für Euch beide und für den Programmen-Anzeiger zwei Programmen vom Professor Lang allhier, die baireuthischen Generalsuperintendenten betreffend, und eines vom Dr. Frank in Pavia bei. – Ein reiz-, kraft-, geist- und seelenvolles Mädchen wohnt hier im Gasthofe zur Sonne vornen heraus (ich hinten hinaus). Ich samt meinem Gesichte gefall' ihr unbeschreiblich, was ich sehr gern glaube, da ich Dir so ähnlich sehe und uns beide nichts unterscheidet als bloß der Fuß, mit dem ich hinke. Ich rühme mich daher vor Schönheiten nur meiner Schwachheit und Deiner Ähnlichkeit. Hab' ich recht gehört, so ist die Dame eine arme Nichte des alten Oheims mit der zerbrochnen Glasperücke, der sie auf seine Kosten studieren läßt für die Ehe irgendeines vornehmen Kuhschnapplers von Stand. Es kann sein, daß der Frachtzettel sie als Bräutigams-Gut bald zu Euch schickt.... So weit meine ältesten Neuigkeiten! Die neueste kann erst kommen, nämlich Du selber zu mir nach Baireuth, wenn ich und der Frühling miteinander (denn übermorgen reis' ich ihm nach Italien weit entgegen) wiederkehren und wir, ich und der Lenz, gemeinschaftlich [126] die Welt auf eine Art ausschmücken, daß Du gewiß in Baireuth selig sein wirst, so sehr sind dessen Häuser und Berge zu loben. Und so leb etwas wohl!


*


Alle schwören darauf, daß der Kuhschnappler von Stande, für welchen die Nichte des Heimlichers studiert, niemand ist als der Venner Rosa, welcher das noch übrige Stümpfchen von seinem herabgebrannten Herzen, das für das Anstecken der Herzen der ganzen weiblichen Welt, wie das Gemeinlicht eines Wirtes für das Anstecken der Köpfe einer tabakrauchenden, bisher gebrannt, zu einer Brautfackel verbrauchen und sie damit nach seinem Hause leuchten will.

Da im Briefe drei Himmel inliegend waren, für jeden Seligen einer – für die Frau das Kompliment – für den Pelzstiefel die Programmen – für den Advokaten der Brief selber: so würd' es mich nicht gewundert haben, wenn das beschenkte Kleeblatt und Terzett vor Freuden getanzt hätte. Der berauschte Rat denn das fröhliche Blut stieg in seinen mäßigen Kopf- schlug die Werke, obgleich das gewürfelte Tischtuch schon aufgebreitet war, auf diesem auf und schnitt und griff hungrig die drei gedruckten Voressen und literarischen petits soupers auf dem zinnenen Teller schon vor dem Beten an, bis ihn die Bitte, zu bleiben, erinnerte, zu weichen. Aber unter dem Scheiden bat er sich als Sporteln für die Mühe, das Austrägalgericht und der Mittlermann zwischen beiden oder das bindende Laugensalz zwischen seinem Öl und ihrem Wasser gewesen zu sein, einen neuen Schattenriß Lenettens aus; denn den alten, von Leibgeber ausgeschnittenen, worauf ihn dessen Brief gebracht, und den er bekanntlich zum Geschenk bekommen, hatte er zufällig in sein Nachtkamisol gesteckt und mit diesem und dessen ähnlicher Farbengebung in die Waschwanne geschickt. »Der Riß soll noch heute vom Stapel laufen«, sagte Siebenkäs. Als der Schulrat die Eheleute verließ und ers Lenetten ansah, daß ihr Ringfinger jetzo einen weichern Ehering anhatte, welchen nur er weiter gefeilet und mit Seide ausgefüttert zu haben glaubte: so schüttelte er [127] freudig ihre Hand und sagte: »Ich will ja willig so oft kommen, als nur das Kleinste vorfällt, ihr scharmanten Leute.« Lenette antwortete: »Ja, recht oft.« Aber Siebenkäs setzte hinzu: »Noch öfter!«

Indes schien hinterher der Ring fast wieder zu drücken, und Adjunkten der philosophischen Fakultät müssen, da sie Seelenlehre lesen, sich wundern, daß der Advokat unter dem Essen wenig mit der Frau, und sie mit jenem sprach; aber der Grund war: der Leibgeberische Brief lag statt des weißen Brotes neben dem Teller und Brote, und sein feuriger Liebling glänzte aus: Baireuth über das weite dunstige Dunkel herüber an seine Seele – ihr erstes künftiges Aneinanderfallen schwebte zauberisch seinen Seufzern vor – die Hoffnung senkte ihr reinigendes Licht in den dumpfen mephitischen Schacht, worin er jetzo keuchte und grub – und der künftige Frühling stand wie ein mit Lichtern umhangner Münsterturm hell und hoch in der Ferne und trieb seine Strahlen durch die dicke Nacht herüber.....

Endlich kam er wieder zu sich, nämlich zur Frau – Leibgebers Kraftbild hatt' ihn ohnehin über die steinige spitzige Gegenwart der Zufälligkeiten weggehoben – der alte Freund, der oben im Chor das Gesicht der Braut ausgeschnitten und der nachher bei der ersten Flitterwoche mitgewesen, warf ihm die Blumenkettenschlinge über und zog ihn damit an die stille Gestalt neben sich heran: »Nu, liebste Lenette, wie ist denn dir.« sagt' er erwachend und nahm die Hand der Ausgesöhnten; aber sie hatte die weibliche Unart, nämlich Art, daß sie ihre Versöhnung noch länger verdeckte als ihre Entrüstung, wenigstens verschob, und daß sie gerade dann, wann die Ehrenerklärung und die Abbitte eines Fehlers schon vorüber war, auf eine neue Einsicht der Akten antrug. Die wenigsten Eheweiber – leichter die Mädchen – reichen einem Manne eilig die Hand und sagen: ich bin wieder gut. Wendeline hielt zwar ihre hin, aber zu kalt; und zog sie hurtig zurück, um das Tischtuch zu nehmen, das er mit spannen und brechen zu helfen gebeten wurde zum Tuch-Würfel. Er tats und lächelte – sie sah genau auf die rechte Geviertung des weißen Langvierecks – endlich bei dem letzten und dicksten Viereck[128] hielt es der Mann fest – sie zerrte und wollte ernsthaft aussehen – er schauete sie liebreich an – sie mußte doch lächeln – da entriß er ihr das Tuch und drückt' es schnell auf ihre Brust und sich dazu und sagte in ihren Armen: »Diebin, wie kannst du so sein gegen den alten Kauz Siebenkäs, oder wie er sonst noch heißt?« – Nun bog sich der Regenbogen eines hellern Lebens über die einsickernde Sündflut herüber, welche bisher dem Ehepaare schon bis an die Herzgrube gestiegen war.... Aber freilich, ihr Lieben, bedeuten jetzige Regenbogen oft das Gegenteil dessen, was der erste verstieß.

Der Preis, den er seiner Königin bei diesem Rosenfeste des Herzens zuerkannte, war eine verbindliche Bitte um den Schatten ihres holden Gesichts, um morgen damit dem Pelzstiefel ein Geschenk und eine Freude zu machen. Ich bin zwar jetzt gesonnen, für gebildete Menschen sein Abschatten hier abzuschatten; aber dies beding' ich mir, daß man nicht aufsehe, daß eine Feder ein Pinsel sei – oder ein Pinsel ein Poussiergriffel – oder ein Griffel ein Blumenstaubfaden, der eine Lilien- und Rosen-Generation nach der andern erschafft.

Der Advokat ließ sich vom Schuster Fecht ein Silhouetten-Brett vorstrecken; nämlich die Fassade einer neuen Taubenhöhle. In das eirunde Portal des Brettes griff die Schulter Lenettens wie ein Einlegemesser ein – ein weißer Bogen Papier war als Grundierung von de Piles darübergenagelt – der schöne warme Kopf wurde ans steife Papier angedrückt – er setzte den Bleistift oben an der Schattenstirn enthaltsam an, so schwer es auch war, in einer solchen Nachbarschaft der Wirklichkeit nach dem bloßen Schatten zu greifen – und fuhr die blumige schöne steile Anhöhe voll Rosen und Lilien herunter... Aber es kam nicht viel Sonderliches heraus: man dachte, er habe das Hinterhaupt leidlich abgeschattet. Er schielte immer auf die farbig beseelte Fläche neben seiner Hand zurück und riß daher so schlecht ab wie ein Schachtelmaler. »Wendeline dein Kopf sitzt auch nicht eine Minute fest«, sagt' er. Allerdings schwankte ihr Gesicht wie ihre Gehirnfibern vom stärkern Gange des Herzens und Atems; auf der andern Seite aber stolperte seine Reißfeder über das sanft erhobne [129] Bildwerk der kleinen Nase, fiel in die Spalte der Lippe und strandete auf der Untiefe des Kinns. Er küßte die Lippen, die er nicht treffen konnte und die sich immer zu sehr öffneten oder verschlossen, und holte einen Rasierspiegel und sagte: »Da sieh, hast du nicht mehr Gesichter als Janus oder ein indischer Gott? – Der Rat muß denken, du hättest Gesichter geschnitten, und ich sie gezeichnet. – Schau, da hast du gewankt, und ich bin dir nachgesetzt mit einem Gemsensprung, jetzo greift der Vorsprung des obern Gesichts über das untere wie eine Halbmaske hinaus. Bedenke nur, wie der Rat morgen gucken wird.«- – »Guter, nur noch einmal; ich will ja alles tun, damit es hübsch aussieht«, sagte errötend Lenette. Jetzo preßte ordentlich ein erstarrender Hals das weiche Gesicht an das Reiß-Brett, aber indem der Mann mit seinem Legestachel des Risses über die Stirn niederglitt, die ein Kugelausschnitt aus einer weißen Halbkugel zu sein schien so vernahm er statt des Atems ein zitterndes Zurückstemmen desselben und sah ein anglühendes Angesicht vom schwellenden Atem... Hier schlug auf einmal der Argwohn, wie ein zerspringender Brander, harte Trümmer seiner Freude an sein Herz, der Argwohn: »Ach liebt sie ihn vielleicht doch gewiß?« – (nämlich den Rat) Seine Feder blieb im stumpfen Winkel zwischen Stirn und Nase wie bezaubert eingestochen – er hörte nun das zitternde Ausatmen vernehmlich – seine Ätznadel zog schwarze Furchen am Rande des Schattens hinab, und als er auf dem zu gedrückten Munde stockte, auf dem bisher nichts Warmes gewesen war als seiner und ihre Morgenandacht, und als er dachte:

»Auch das soll mich treffen? auch diese Freude soll mir genommen werden? – und ich soll mir hier eigenhändig meinen Scheide- und Urias-Brief auszeichnen?« – so konnt' er nicht mehr – er schnellte das Reiß-Brett von ihrer Achsel – fiel an den verschlossenen Mund – küßte den gefangnen Seufzer auf – drückte seinen Argwohn zwischen seinem und ihrem Herzen tot und sagte immer fort: »Erst morgen, Lenette! – Zürne nur nicht! Bist du denn nicht mehr wie in Augsburg? – Verstehst du mich denn? – Weißt du etwan, was ich will?«- Sie antwortete unschuldig: »Ach, du wirst es übel nehmen, Firmian – nein, ich weiß es nicht.« – Und [130] die Göttin des Friedens nahm dem Gotte des Schlafes den Mohnkranz ab und flocht ihn in den Ölkranz ein – und führte das Ehepaar bekränzt und ausgesöhnt und Hand in Hand in die blinkenden Eisfelder der Träume – in den magischen getuschten Hintergrund des grellen bunten Tages – in unsere dunkle Kammer voll beweglicher Bilder einer verkleinerten Welt, wo der Mensch wie der Schöpfer unter niemand wohnt als unter Geschöpfen.

[131]
Ende der Vorrede und des ersten Bändchens

Der Leser wird noch aus dem Anfange der Vorrede wissen, daß ich so glücklich war, den alten Kaufmann auf eine große Mohngarbe zu bringen und seiner Tochter ein frohes Laubhüttenfest aus den Herzblättern des gegenwärtigen Hausgärtchens zu geben... Aber der böse Feind weiß einen Platzregen auf unsre schönsten Feuerwerke zu wehen. Ich tat nichts als meine Pflicht, wenn ich eine kleine Taschen-Leihbibliothek für ein armes stilles Ding von Mädchen war, dem der Alte keinen Umgang zuließ, der vernünftig war, als den mit dem Papagei und mit dem vorigen Gerichthalter.

Der erste stand in seinem Bauer neben ihrem Dintenfaß und Schmierbuch und erlernte von ihr, was ein Buchhalter als Deutsch-Italiener zur Korrespondenz zu wissen braucht. Und da ein Papagei allemal durch einen Taschenspiegel am Käfig zu Sprachsachen ermuntert wird: so sahen beide, die Sprachmeisterin und der Zögling, miteinander hinein. – Das andere, der Gerichthalter, war ich. Aber der Hauptmann ließ sie – aus Furcht vor uns verführerischen Prinzessinnenräubern und Raubbienen und weil ihre Mutter tot war und weil sie in der Schreibstube zu brauchen war – mit keinem Herrn reden als unter sechs Augen und vor ebensoviel Ohren. Daher kam selten ein Herr, außer mir, anstatt daß sonst ein Vater sich durch eine blühende Tochter ganze männliche Insektensammlungen ins Haus lockt, wie ein Kirschbaum, der am Fenster in Blüte steht, Wespen und Bienen in die Stube zieht. Es war nicht eines jeden Sache, wenn er ein gescheutes Wort – d.h. eines, das der Vater nicht hörte – mit ihr reden wollte, erst vor diesem Argus das Flötenregister zu ziehen und eine Stunde zu orgeln und hundert grüne Augen zuzusperren, um in zwei blaue zu schauen; meine Sache war es zwar, aber die Welt höre, was mir für ein Dankpsalm und für eine Dankadresse dafür ward.

[132] Der Alte hatte sich nämlich – mißtrauisch durch mein langes Dasitzen am vorigen Abend geworden – an diesem nur angestellet, als schlief' er, um zu sehen, auf was ich ausginge. Sein eiliges Entschlafen, wie sich der Leser aus dem Anfange dieser Vorrede besinnt, hätte mich überhaupt mehr frappieren sollen; ich hatte noch dazu selber schon aufs Gegenteil gerechnet und ihm deswegen Extrakte aus mehren Vorreden als dieser zu Niklasruhen oder Schlafpulvern zugedacht. Denn obgleich die Rabbinen lehren, daß zwölf Heukörbe mit leerem Gewäsche vom Himmel gefallen wären und daß neun davon bloß die Weiber aufgegriffen hätten 29: so ists doch nur mit der Einschränkung wahr, daß sich die Vorredner – und die Rechtsfreunde – besagte neun Körbe zu ihrer Nutznießung erheiratet haben, von ihren Weibern als Eingebrachtes.

Der diebische Horcher wartete liegend meinen Rapport von den zwei Blumenstücken und von den vier Kapiteln dieses Werkleins ab: am Ende des vierten prallte er in die Höhe wie eine aufschnellende Maulwurffalle, worauf man getreten hat, und fiel mich von hinten mit folgender Huldigungpredigt an: »Hat Sie denn der lebendige Teufel beim Schopf? – Sie kommen aus Berlin und wollen meiner leiblichen Tochter da atheistisches windiges Romanenzeug in den Kopf setzen, daß sie in kein Kontor mehr taugt, wie? Machen Sie mir meinen nicht warm, Herrrrr!«

»Nur auf ein Wort!« sagt' ich gelassen und zog ihn in die finstre ungeheizte Nebenstube hinaus, »Hr. Zopfhaupt, nur auf ein halbes Wort!«

In der dunkeln Sakristeistube legte ich die zwei Hände auf seine Achseln und sagte: »Hr. Zopfhaupt, denn so hieß unter Karl dem Großen ein jeder Hauptmann, weil damals die Soldaten – wie jetzo die Weiber – einen Zopf statt einer Fahne vor sich hatten 30. – – Ich beiße mich heute, wo das alte Jahr untergeht und ein neues auf, mit Ihnen nicht herum; ich beteur' Ihnen, daß ich der Sohn 31 des ****en bin und daß ich Sie nicht wieder [133] sehe und daß Sie gleichwohl alle Wiener Briefe haben sollen. Aber ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie Ihre Dlle. Tochter lesen. Jetzo lieset jeder Kaufherr, der sie heiraten kann, und jede Kauffrau, die schon einen hat: und gesponnen und gekocht wird in unsern Tagen – das sehen Sie aus den Hemden und Wänsten – bei aller Lektüre noch immer genug. Und verführen kann ein Leser gerade eine Leserin am schwersten und eine ABC-Schützin am besten. – – Das sehen Sie an der Stenzin. Hr. Hauptmann, ich bitte Sie!«

»Ei, daß dich – über den lebendigen Windfächel! was kümmert Sie mein Ding drinnen (seine Tochter).« war seine Replik. Ein wahrer Glückhafen wars für mich, daß ich in den zwei heiligen Abenden nichts, unter dem größten relatorischen Feuer, nichts von der Tochter in die Hände genommen hatte als – statt der ihrigen – etwan für einen Groschen Kopfhaar, das mir noch dazu in die Finger ordentlich wuchs. Es wäre wenig gewesen, im biographischen Relatorium ihre Hände zu ergreifen, es wäre gar nichts gewesen; aber wie gesagt, ich hatt' es bleiben lassen: du, hatt' ich zu mir gesagt, genieße ein schönes Gesicht wie ein Gemälde und eine weibliche Stimme wie einen Nachtigallenton und zerknülle das Gemälde nicht und erdrücke die Philomele nicht! Wie, muß denn jede artistische Tulpe zu einem Salat, jedes Altartuch zu einem Kamisol 32 verschnitten werden? – Bei solchen Grundsätzen ist jedem leicht die Angst begreiflich, in der ich sonst fast alle Abende über den Eindruck war, den etwan meine Gestalt in Paulinens Herz nachlassen könnte, bis ich mich damit beruhigte, daß ich ein Advokat und Gerichthalter wäre und daß ich mich also über zweierlei Schönheiten Miltons erhöbe, über seine poetischen und über seine physiognomischen, die dem Poeten den Ekelnamen Miß Milton zugezogen.

– Unter allen Wahrheiten glaubt man die am letzten, daß gewisse Menschen mit keiner zu bekehren sind; – daß der Zopfhaupt unter diese gewissen gehöre, fiel mir spät endlich bei, und [134] ich nahm mir vor, ihm keine andre Predigt zu halten als meine spaßhafte Straf- und Osterpredigt 33: »Hr. Zopfhaupt, leiser, Mademoiselle hört sonst jeden. Sie haben den guten Sommervogel ins Brief-Kopiebuch festgespießt; aber am Jüngsten Gerichte verklag' ich Sie, daß Sie ihr meine Werke nicht zu lesen geben. Ich wollte, Sie hätten sich nur wenigstens so lange schlafend gestellt, bis ich ihr die übrigen Teile von der kuhschnappelischen Historie hätte auserzählt gehabt, weil gerade in ihnen die wichtigsten Dinge, Siebenkäsens Zank, Tod und Heirat, vorkommen. – Mademoiselle! ich werde aber meinen Hrn. Verleger in Berlin ersuchen, Ihnen die folgenden Teile, sobald sie aus der Presse gehoben sind, noch feucht wie eine Zeitung zu übermachen. – Und damit Gott befohlen, Hr. Zopfhaupt, er schenke Ihnen statt des neuen Jahrs ein neues Herz und der guten Tochter ein zweites in ihres hinein.«

Der Elementenstreit unsrer ungleichartigen Bestandteile wurde immer lauter; – mehr sag' ich nicht, weil jeder Beisatz Rachsucht schiene. Glücklich preise – das darf ich zu allen Zeiten sagen – glücklich preise sich jede Tochter (aber die wenigsten erkennen es), die meine Werke lesen darf, wenn der Vater wacht. – Unglücklich ist jeder Oehrmannische Bediente, weil das Zopfhaupt ihn wie einen Windhund ausgehungert zu schnellern Läufern, aber nicht auf dem Klavier, so wie die Kinder der Tänzer nichts zu essen kriegen, um besser zu springen! Und glücklich ist jeder Dürftige, der nichts mit ihm zu tun hat, weil Jakob Oehrmann allen Menschen gerade so viel moralischen Kredit gibt, als sie kaufmännischen haben, an welches Rekrutenmaß des Wertes ihn die Kaufleute gewöhnt haben, die einander mit metallnen Ellen messen! Bloß ganz Arme hat er als Fußgestelle seiner Milde lieb, weil er Almosen, die er im Namen und aus dem Kammerbeutel der Stadt verteilt, für seine hält... Friede sei mit ihm! Ich hatte nur damals das Friedenfest der Seele, das ich im Fruchtstücke dieses Buchs beschrieben 34, noch nicht mitfeiern [135] helfen und hatte über das Erlaßjahr, das in unserm Herzen so lange gegen alle moralische Schuldner dauern soll wie der lange Reichstag, noch wenig von dem gelesen, was ich darüber geschrieben; ich hätte sonst dem Zopfhaupte nicht einmal widersprochen.

Durch meine Abschiedrede an die Tochter ärgert' ich ihn leider noch einmal, weil ich ihr und ihm einerlei wünschte, um zu verbergen, wem ich wünschte: »Ich sage Ihnen, Hr. Zopfhaupt und Mademoiselle, ein langes Lebewohl – ich werde Ihnen beiden keine meiner Lebenbeschreibungen in elysischen Abenden ohne Abschweifungen mehr erzählen können, und die hl. Abende und die hl. Tage werden vorübergehen, ohne daß ein Mann ins Haus tritt, der Sie beide sehr rührt. Das Schicksal erstatte beiden die Büchermacher durch Bücher – es gebe dem trägen Herzen zuweilen einen poetischen Schlag, der stillen Brust einen süßen Seufzer, der sie mit Ahndungen schwellt, Ihren beiden Augen einige Tropfen, wie sie ein Andante auspreßt, und führe Sie aus dem heißen Sommer voll Mühe statt in einen Nachsommer in einen blühenden singenden Lenz.... Und gute Nacht!«

– Und wär's mein Erbfeind: er würde mir nahe gehen, ich beim Abschiede dächte: du siehst ihn nicht mehr. Pauline war eigentlich keine Erbfeindin. – Draußen auf den Gassen liefen noch mehre Neujahr-Gratulanten, die Nachtwächter, herum, die ihre Wünsche in Blas-Musik setzten und in schlechte Verse. Mich bewegt allezeit ein steifer altväterischer roher Vers, zumal aus einem ihm angemeßnen Munde, inniger als ein saftloser neuer mit elenden Eis- und Federblumen, und eine ganz elende Poesie ist besser als jede mittelmäßige. Ich beschloß, zum Tore hinauszugehen und die Brust voll sehr unähnlicher Bewegungen – eben weil es erst 11 Uhr und die kalte Nacht voll Sterne war – und weil es die letzte des Jahrs war und ich in das neue nicht wie in das zweite Leben schlafend übergehen wollte, sondern wachend – ich beschloß, die schlagende erhitzte Brust ins Freie in einen stillern Zirkel zu tragen....

Wenn man einen Menschen in eine unabsehliche leere Sarawüste laufen ließe – und ihn nachher wieder in die engste Ecke [136] drückte: so würde ihn dasselbe sonderbare Gefühl seines Ich anfallen – der größte und der kleinste Raum beleben gleich sehr das Bewußtsein unsers Ich und seiner Verhältnisse. Nichts wird überhaupt öfter vergessen als das, was vergisset, das Ich. Nicht bloß die mechanischen Arbeiten der Handwerker ziehen den Menschen ewig aus sich heraus: sondern auch die Anstrengungen des Forschens machen den Gelehrten und den Philosophen ebenso taub und blind gegen sein Er und dessen Stand unter den Wesen; ja noch tauber und blinder. Nichts ist schwerer, als einen Gegenstand der Betrachtung, den wir allzeit außer uns rücken und vom innern Auge weit entfernen, um es darauf zu richten, zu einem Gegenstande der Empfindung zu machen und zu fühlen, daß das Objekt das Auge selber sei. Ich habe oft ganze Bücher über das Ich und ganze Bücher über die Buchdruckerkunst durchgelesen, eh' ich zuletzt mit Erstaunen ersah, daß das Ich und die Buchstaben ja eben vor mir sitzen.

– Der Leser sei aufrichtig: hat er nicht sogar jetzo, da ich darüber zanke, vergessen, daß er hier Buchstaben vor sich hat und sein Ich dazu?

Aber draußen unter dem schimmernden Himmel und auf einem Schneeberge, um den eine gestirnte weite starre Fläche glimmte, riß sich das Ich von seinen Gegenständen ab, an denen es nur eine Eigenschaft war, und wurde eine Person, und ich sah mich selber. Alle Zeit-Absätze, alle Neujahr- und Geburttage heben den Menschen hoch über die Wogen um ihn heraus, er wischt die Augen ab und blicket im Freien herum und denkt: »Wie trieb mich dieser Strom und übertäubte mein Gehör und überflutete mein Gesicht! – Jene Fluten drunten haben mich gezogen! Und diese oben, wenn ich wieder untertauche, wirbeln mich dahin!«

Ohne dieses helle Bewußtsein des Ich gibt es keine Freiheit und keine Gleichmütigkeit gegen den Andrang der Welt.

Ich will in meiner Erzählung fortfahren. Ich stand auf einem Eisberge, obwohl mit einer glühenden Seele – der zerspaltne Mond schien hell hernieder, und die Schattenstücke der Tannenbäume um mich lagen wie zerstückte Glieder der Nacht schwarz [137] auf dem Liliengrund aus Schnee. – Drüben, weit von mir, knieete, wie es schien, ein Mensch unbeweglich auf der Straße.

Jetzt schlug es 12 Uhr und das schlachtenvolle Jahr 1794 fiel mit seinen Strömen von Blut in das Meer der Ewigkeit; das nachsummende Wogen des Glockentons sagte mir gleichsam: jetzo hat das Schicksal euch Hinfälligen das alte Jahr mit dem 12ten Schlage bei der Versteigerung von Minuten zugeschlagen.

Der knieende Mensch auf der Straße stand nun auf und ging eilig davon. Ich konnte im hellen Mondlicht ihm und seinem Schatten lange nachsehen.

Ich verließ meinen Berg, den Grenzhügel zwischen zwei Jahren, und ging hinunter auf die Straße, wo der Mann geknieet hatte. Ich fand einen Kreuzweg und ein verlornes handdickes schwarzledernes Gebetbuch in Duodez, dessen Blätter gelb gelesen waren. Auf dem einzigen weißen vornen stand der Name des Besitzers, dessen Kniee hier tiefe Spuren in das harte Glatteis gehöhlt hatten. Ich kannt' ihn wohl, es war ein sogenannter Häusler, der zwei Söhne in den jetzigen Krieg stellen müssen. Als ich weiter nachsah: fand ich im Schnee einen Kreis, den der Furchtsam-Kecke als einen Ring gegen böse Geister gezogen hatte.

Ich erriet alles: der Blödsinnige, dessen Seele in einer ringförmigen Sonnenfinsternis lebte, wollte in der feierlichen Nacht das ferne dumpfe Donnern der Gewitter in der Zukunft behorchen und hatte sich nicht mit dem Körper, sondern mit der erniedrigten Seele auf die Erde gelegt, um den Vorschritt der fernen Feinde zu hören. »Eingeschränkte bange Seele«, dacht' ich, »warum sollen über die heitre stille Nacht die künftigen Toten mit ihren Wunden ziehen und deine schlafenden Söhne ohne Glieder? Warum willst du schon die fliegenden Flammen der so Feuerbrünste sehen und alles düstre Getümmel des ungebornen Jammers, der noch keine Zunge hat, vernehmen? Warum sollen auf die Särge, die im künftigen Jahre noch, wie in Pestzeiten, ohne Aufschrift stehen, die Namen kommen? – O, dein Salomons-Ring hat dich nicht beschirmt gegen den würgenden Geist in unsrer Brust. – Und die ungestalte Riesen-Wolke, hinter der[138] der Tod und die Zukunft steht, wird, wenn wir nahe an sie treten, der Tod und die Zukunft selber.« ... –

In solchen Stunden legen wir alle gern unsern Hut und unsern Degen auf die Bahre und uns dazu – die veralteten Narben brennen noch einmal, und unser falsch geheiltes Herz wird wie ein übel eingerichteter Arm wieder gebrochen. – Aber der grausame schneidende Blitz einer großen Minute, dessen Widerschein über den ganzen Strom unsers Lebens leuchtet und reicht, ist uns nötig, um uns gegen die Irrlichter und Johanniswürmchen, die uns in jeder Stunde antreffen und führen, blind zu machen, und der leichtsinnige Mensch hat eine heftige Erschütterung gegen seine kleinen immerfort nagenden Bewegungen nötig. Daher ist eine Neujahrnacht für uns kleine Schaltiere, die am Schiffe der Erde saugend kleben, wie die mythologische Nacht eine Mutter vieler Götter in uns – und in einer solchen Nacht geht für uns ein höheresNormaljahr an als das, darin 1624 anfing. Und mir war, als müßt' ich, es sei aus Demut oder Reue, in die Spuren des armen kinderlosen Vaters niederknieen.....

Jetzo trieb ein lebendiges Wehen auf einmal von der Stadt helle erheiternde Töne wie Blumenduft und Blütenstaub über die verhärteten Ebenen daher: Waldhörner und Trompeten warfen vom Turme der Stadt ihre lebendigen Töne über die schlafende Welt und führten froh und kräftig die erste Stunde des neuen Jahrs unter die ängstlichen Menschen ein. Und ich wurde auch froh und kräftig: Ich hob das Auge vom weißen Schleier des künftigen Frühlings auf und sah nach dem Monde; und auf seinen häufigern Flecken, welche in der Nähe grünen 35, sah ich unsern Erden-Frühling in Blumen ruhen und darin mit ausgebreiteten Flügeln zucken, um bald mit andern Zugvögeln zu uns, mit Lerchentönen und Pfauenspiegeln geschmückt, herabzufallen. –

Die entfernten Neujahrtöne flatterten noch immer um mich; ich wurde viel glücklicher und weicher und sah die künftigen [139] Schmerzen des neugebornen Jahrs, und sie glichen – so schön verkleideten sie sich – einigen vergangnen oder den Tönen um mich. So nimmt der Regen, der durch die große Höhle im Gebirge von Derbyshire fällt, in der Ferne den Klang von melodischem Getöne 36 an.

– Aber als ich umhersah und mir die weiße Erde wie eine weiße Sonne vorkam und der stille, vom tiefen Blau berührte Kreis um mich wie ein Familien-Zirkel verschwisterter Wesen – als die Töne, wie schönere Seufzer, meinen Gedanken nachfolgten – als ich am Sternenhimmel so viele tausend unverrückte Zeugen der schönen abgeblühten Minuten, deren Samen die höhere Güte weiter streuet, dankbar anschauete – als ich an die schlafenden Menschen um mich dachte und ihnen wünschte: »schließet froher morgen eure Augen auf«- und als ich an die wachenden unter mir dachte, deren eingeschlafne Seele denselben Wunsch bedarf: da wurde die Brust, die so schöne Töne und die heutige Nacht längst beklemmten, nun zu voll und zu schwer, und der blaue Himmel und der blitzende Mond und die flimmernden Berge aus Schnee flossen und sanken zusammen zu einem großen schwimmenden Schimmer. – – Und im und unter dem Getöne hört' ich die Stimmen meiner Freunde und guter Menschen, wie sie einander bang' und weich die Wünsche eines frohen neuen Jahrs brachten; aber ihre rührten mich zu sehr, und ich konnte meinen kaum denken: »O, es geh' euch allen wohl in jedem Jahre!«

[140]

Zweites Bändchen

Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen

Es hat mich oft verdrüßlich gemacht, daß ich jeder Vorrede, die ich schreibe, ein Buch anhängen muß als Allonge eines Wechselbriefes, als Beilage sub litt. A-Z. Andern privatisierenden Gelehrten werden schon ganze Bücher fertig und lebendig aus der Wiege zugeschickt, und sie brauchen nichts daran zu hängen als das goldene Stirnblatt der Vorrede und nichts mehr an der Sonne zu machen als die Aurora. Aber mich hat noch kein einziger Autor um eine Vorerinnerung ersucht, ob ich gleich schon seit einigen Jahren mehre Vorreden im voraus verfasse und auf den Kauf ausarbeite, worin ich künftige Werke nach Vermögen erhebe. Ja, ein ganzes Münzkabinett von solchen Preismedaillen und Huldigungmünzen, die ich für fremde Verdienste mit den besten Rändelmaschinen ausprägte, steht mir immer vor Augen und läuft täglich höher an; daher schlag' ich das Kabinett am Ende – es ist kaum anders zu machen – im ganzen los und gebe ein Buch voll bloßer präexistierender Vorreden – zu gedenklichen Werken – heraus.

Gleichwohl will man noch bis zur Ostermesse die Vorberichte einzeln abstehen; und Schriftsteller, die sich am ersten melden, können sich, da man ihnen den ganzen präludierenden Faszikel zuschickt, die Vorerinnerung ausklauben, in der ich, wie sie glauben, ein Buch am meisten lobe. Nachher aber, bei der Herausgabe der Vor- oder Lobreden im ganzen, die ich mit dem Meßkatalog durchschießen lasse, werden bloß die Gelehrten auf einmal in corpore, in coro verherrlicht, und ich biete sozusagen – wie 1775, die Königin Kaiserin der ganzen Wiener Kaufmannschaft – der ganzen Gelehrtenrepublik in Pausch und Bogen den Adel an; wiewohl ich an den armen Rezensenten, die sich das ganze Jahr an Tempeln des Ruhms und an Ehrenbogen krumm und arm mauern und leimen, die betrübten Belege vor [143] mir habe, daß weniger dabei herauskommt, wenn man die gelehrte Republik in sechs Folianten erhebt, als wenn man mit Sannazaro die venezianische in ebenso vielen Zeilen rühmt, deren jede ein Schenkbrief von 100 Fünftalerstücken für den Dichter ward.

Zur Probe will ich eine von jenen Vorreden in diese einschichten und mich stellen, als hätte mit ihr der berühmte Verfasser mein Buch auf Ersuchen versehen, welches noch dazu auch wirklich so ist. Ich lasse leicht mein Wesen oder Substratum in zwei Personen zerfallen, in den Blumenmaler und in den Vorberichtmacher. Ich les' aber mit Fleiß – denn ganz ohne Bescheidenheit kann keiner leben – für mich die allerelendeste Vorerinnerung aus, in der wahrhaftig mäßig genug gepriesen wird, und die den Autor des nachstehenden Werks mehr auf einen Leichen- als Triumphwagen hinaufhebt, den noch dazu nichts zieht; die andern Vorreden hingegen schirren die Nachwelt an, diese und die Lesewelt werden darin vor den Himmel-und Eliaswagen der Unsterblichkeit eingespannt und fahren die Verfasser....

Schlüßlich habe ich noch anzumerken, daß der treffliche Hr. Verfasser des Hesperus die Nachsicht für mich gehabt, meine Blumenstücke durchzusehen und solche mit folgender sehr leswerten Vorrede zu begleiten.

Vorrede vom Verfasser des Hesperus

Ich kann folgendes schlußkettenweise heischen (postulieren), und zwar in Gleichnissen.

Manche Schriftsteller, z.B. Young, zünden ihren Nervengeist an, der wie anderer Geist (eau de vie) alle Personen, die um das flimmernde Dintenfaß herumstehen, mit einer täuschenden Totenfarbe anwirft und bestreicht; – nur leider schaut beim Kunststück jeder nur den andern an, und keiner in den Spiegel; in den Menschen und in den Schriftstellern wird durch die Nachbarschaft der allgemeinen Sterblichkeit um sie her nichts als ihre Empfindung der eignen exzeptivischen (ausnehmlichen) Unsterblichkeit erhöht; aber dies labt uns alle ungemein.

[144] Daraus ergibt sich nun, dünkt mich, die Folge leicht 37, daß ein Dichter im fünften oder funfzigsten Stockwerk zwar Gesänge, aber keine Hochzeit und Haushaltung machen kann, geschweige ein gutes Haus: gleicht er nicht den Kanarienvögeln, die zum Hecken einen größern Bauer brauchen als zum Singen?

Und was tut denn, wenn dieses richtig ist, die Feder des Schriftstellers? Sie zieht wie eine Knabenfeder die Schrift, die die Natur schon mit bleicher Bleifeder in den Leser geschrieben, mit ihrer Dinte gar aus. Der Saite des Autors tönen nur die Oktaven, Quinten, Quarten, Terzen der Leser nach, keine Sekunden und Septimen; unähnliche Leser werden ihm nicht ähnlich, sondern nur ähnliche werden ihm gleich oder ähnlicher.

Und damit steht und fällt mein vierter Heischesatz: das Hufeisen des Pegasus ist die Bewaffnung am Wahrheit-Magnete, er zieht uns dann stärker; wiewohl wir hungrige Vögel sind, welche auf die Trauben des Poeten fliegen, als wären sie wahre, und die bloß den Jungen für gemalt ansehen, der schrecken sollte.

Jetzo macht sich der Übergang zum fünften Heischesatze von selber: daß der Mensch eine solche Achtung für jedes Altertum hegt, daß er sie sogar fortsetzt, wenn dasselbe bloß noch der Deckel und die Larve des Giftes ist, der es aufgelöset. Ich mache hier absichtlich zwei Belege dieses Satzes gar nicht namhaft – nämlich die in Wurmmehl zerfressene Religion und die ebenso zerkrümelte Freiheit –, sondern halte mich als Lutheraner nur an den dritten, die Reliquien, an denen man, wenn sie von den Würmern aufgefressen worden, (nach dem Jesuiten Vasquez 38) noch das anzubeten hat, was übrig ist, die Würmer eben. Taste daher nie den Wurmstock deiner Zeiten an, du wirst sonst sein Fraß; eine Million Würmer gelten schon einem guten Lindwurme gleich. [145] Dieses muß angenommen werden, wenn anders der sechste Heischesatz einen Sinn haben soll: daß kein Mensch völlig gleichgültig gegen alle Wahrheiten sein kann. Ja sogar, wenn er auch nur noch poetischen Spieglungen (Illusionen) huldigt und offen steht, so ehret er eben dadurch die Wahrheit, da in jeder Dichtung gerade das Wahre der berauschende Bestandteil ist, wie in unsern Leidenschaften bloß das Moralische berauscht. Eine Spieglung, die durchaus nichts wäre als eine, würde eben deshalb keine mehr sein. Jeder Schein setzet irgendwo Licht voraus und ist selber Licht, nur entkräftetes oder vielfach zurückgeworfenes. Nur gleichen die meisten Menschen unserer nicht sowohl aufgeklärten als aufklärenden Zeiten den Nachtinsekten, die das Taglicht fliehen oder mit Schmerzen empfinden, die aber in der Nacht jedem Nachtlicht, jeder phosphoreszierenden Fläche zuflattern.

Die Gräber der besten Menschen, der edelsten Blutzeugen sind gleich herrnhutischen eben und platt, und unsere ganze Kugel ist ein auf diese Art plattiertes Westminster – ach wieviel Tränentropfen, wieviel Bluttropfen, welche die drei Eck- und Standbäume der Erde, den Leben-, den Erkenntnis- und den Freiheitbaum, befeuchteten und trieben, wurden vergossen, aber nie gezählt! Die Weltgeschichte malet an dem Menschengeschlecht nicht, wie der Maler an jenem einäugigen König, bloß das sehende Profil, sondern bloß das blinde; und nur ein großes Unglück deckt uns die großen Menschen auf, wie totale Sonnenfinsternisse die Kometen. Nicht bloß auf dem Schlachtfeld, auch auf der geweihten Erde der Tugend, auf dem klassischen Boden der Wahrheit türmet sich erst aus 1000 fallenden und kämpfenden unbenannten Helden das Fußgestell, auf dem die Geschichte einen benannten bluten, siegen und glänzen sieht Die größten Heldentaten werden zwischen vier Pfählen getan; und da die Geschichte nur die Aufopferungen desmännlichen Geschlechtes zählet und überhaupt nur mit vergossenem Blute schreibt: so sind in den Augen des Weltgeistes unsere Annalen gewiß größer und schöner als in den Augen des Welthistorikers; die großen Aufzüge der Weltgeschichte werden nur nach den [146] Engeln oder Teufeln geschätzt, welche darin spielen, und die Menschen zwischen beiden werden ausgelassen.

Das sind die Gründe, worauf ich mich steife, wenn ich keck genug behaupte, daß wir aus den gefülltenFreudenblumen, sobald wir zu heftig an sie riechen, ohne sie ausgeschüttelt zu haben, unvermutet ein Marterinsekt hinaufschnaufen können durchs Siebbein ins Gehirn 39; und wer, man sage mir, holt das Kerbtier dann wieder heraus? – Hingegen aus Blumenstücken und deren gemalten Blumenkelchen ist wenig Bedenkliches zu schnupfen, weil ein gemaltes Gewürm, ein Wurmstück, immer bleibt, wo es sitzt. – –

Das ists, was ich in Gleichnissen zu heischen habe. Was das Publikum heischet, ist meine Meinung über gegenwärtige Blumenstücke. Der Verfasser ist ein hoffnungvoller junger Mann von fünf Jahren 40; ich und er waren von Kindesbeinen an Freunde und können uns vielleicht rühmen, daß wir, wie Aristoteles von den Freunden fodert, nur eine Seele haben. Er teilt mir alles zum Lesen und Prüfen mit, was er herausgeben will. Da ich ihm nun diese Blumenstücke mit den lebhaftesten, aber aufrichtigsten Äußerungen meines Beifalls wieder zustellte: so ging er mich darum an, mein Urteil darüber bekannter zu machen, das (wie er viel zu schmeichelhaft glaubt) vielleicht einiges Gewicht habe; um so mehr, da es unparteiischer sei, und welches er deshalb den Kunstrichtern als das Lineal und Linienblatt des ihrigen in die Hände geben wolle.

Im letzten treibt ers zu weit; ich kann nichts als bloß erklären, daß das Werkchen mir ordentlich aus der Seele geschrieben ist. Der Stoff selber nahm keinen größern dynamischen Aufwand an, als man im Buche macht, und so gern der Verfasser darin [147] gedonnert, gestürmt, geströmet hätte, so war doch in der Stube und Stubenkammer eines Armenadvokaten für Rheinfälle spanische Donnerwetter – tropische Orkane voll Tropen – und für Wasserhosen kein Platz, und er spart die besten Ungewitter auf für ein künftiges Werk. Ich habe seine Erlaubnis, den Titel dieses künftigen Werkes vorauszusagen: »Der Titan 41«. In diesem Werke will er der Hekla sein und das Eis seines Klimas und sich dazu entzweisprengen und (wie der isländische Vulkan) eine kochende Wassersäule von 4 Schuh im Durchmesser in eine Höhe von 90 oder 89 Schuh auftreiben, und zwar mit einer solchen Hitze, daß, wenn die nasse Feuersäule wieder heruntergefallen ist und in den Buchläden schwimmt, sie immer heiß genug sein soll, um Eier hart zu kochen oder deren Mütter weich. »Dann (sagt er allemal, aber sehr traurig, weil er merkt, die Hälfte unserer hiesigen Kämpfe und Ausbeuten sei von einer Schnurrpfeiferei nicht sonderlich verschieden, und die Wiege dieses Lebens schaukle und stille uns zwar, aber sie bringe uns nicht drei Schritte weiter; dann, sagt er) mag der arbor toxicaria macasseriensis 42 des Ideals, unter dem mir schon einige Haare ausgegangen sind, dann mag er mich immer vergiften und ins Land der Ideale schicken, ich habe doch unter seinem erhebenden tödlichen Brausen gekniet und gebetet. Und warum stände denn an dem von der Ewigkeit gewässerten Brunnen der Wahrheit das kleine Haus für den Wanderer fertig, das man Ruhe 43 nennt, ginge keiner jemals hinein?« – Er wünscht sich zu seinem breiten Deckenstücke nichts als einige (nur zwei) rechte Regenjahre, weil ein großer, heller, offner Himmel den Menschen überwältigt [148] und entrückt und die Feder-Kraft der Hand durch die Fülle des Auges lähmt; ein Punkt, worin der Büchermacher außerordentlich von dem Papiermacher (seinem Munitionlieferanten) abgeht, der seine Mühle gerade in nassem Wetter sperrt. – Noch wünsch' ich, daß man die wenigen Kapitel, die im ersten Bändchen stehen, rekapituliere und wiederlese, damit man besser wisse, was er eigentlich haben will; und in der Tat ist ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, auch nicht würdig, daß mans einmal lieset.

Schlüßlich munter' ich, obwohl als der unansehnlichste Klubbist und Stimmgeber des Publikums, den Hrn. Verfasser zu mehren Setzlingen und Infanten dieses Gelichters auf, mit dem Wunsche, daß die Lesewelt mit derselben Nachsicht, wie ich, über das Werkchen richte. Hof im Voigtlande, den 5. Jun. 1796.


Jean Paul Fr. Richter


*


Soweit geht die Vorrede meines Freundes. Im Grunde ists freilich lächerlich; aber auch meine Vorrede muß ordentlich beschlossen werden, und dann kann ich mich leider wieder nicht anders unterschreiben, als mein obiger Robinsonscher Freitag und Namenvetter tat, nämlich: Hof im Voigtlande, den 5. Jun. 1796.


Jean Paul Fr. Richter [149]

Fünftes Kapitel

Besen und Borstwisch als Passionwerkzeuge – Wichtigkeit eines Bücherschreibers – Nuntiaturstreitigkeiten über Lichtschneuzen – der Zinnschrank – die Hausnot und Hauslust


Die Katholiken zählen im Leben Christi funfzehn Geheimnisse auf, fünf freudenreiche, fünf schmerzenreiche und fünf glorreiche. Ich bin unserem Helden durch die fünf freudenreichen, die etwan der Lindenhonigmonat der Ehe zu zählen hat, bedächtig nachgegangen; ich komme nun mit ihm an die fünf schmerzhaften, mit denen die meisten Ehen das Gefolge ihrer Geheimnisse – beschließen. Seine hat noch, hoff' ich, fünf glorreiche......

Mit dem vorstehenden Absatze fing ich dieses Bändchen in der ersten Auflage unbefangen an, als wär' er völlig wahr; aber zweite stark umgearbeitete Auflagen fodern von selber mich auf, verbessernd beizufügen, daß die erwähnten funfzehn Geheimnisse sich nicht hinter einander, wie Stufen und Ahnen, gestellt, sondern, wie gute und schlechte Karten, sich einander durchschossen haben. Aber auch bei diesen Mischungen des Lebens überwiegt wenigstens durch Dauer die Lust den Schmerz, wie es ja dem Erdkörper selber ergangen, der zwar einige Jüngste Tage, aber nach ihnen desto mehre Frühlinge, mithin kleinere Schöpfungtage erlebte.

– Ich stelle dies alles absichtlich her, damit ich so manchen armen Schelm von Leser aus der Angst erlöse, er bekomme jetzt einen ganzen Band voll Tränen zu durchwaten, die er teils liest, teils mit vergießt; ein anderes ist ein Schriftsteller, der eine wahre Klapperschlange ist und so viele tausend Bezauberte vor sich kann so lange unruhig und angstvoll springen sehen, bis er solche hat.

Siebenkäs schickte sogleich den Eifersucht- und Ehe-Teufel zu allen andern Teufeln, als er am Morgen erwachte – denn der [150] stillende Schlaf hält den Fieber-Puls der Seele an, und seine Körner sind die Fieberrinde gegen das kalte Fieber des Hasses wie gegen das hitzige Fieber der Liebe –; ja er legte das Schatten Reißbrett hin und nahm von der gestrigen freien Übersetzung und Abschrift des Egelkrautschen Gesichts mit dem Storchschnabel eine verjüngte und treue und schwärzte solche gehörig. Als er fertig war, sagte er zur Frau aus Liebe: »Wir wollen ihm den Riß gleich heute zuschicken. Bis er selber kommt und ihn holt, da dauerts lange.« – »Jawohl«, versetzte sie, »bis zum Mittwochen dauerts, aber da hat ers längst vergessen.« – »Und doch«, entgegnete Siebenkäs, »wär' er früher herzubringen; ich brauchte ihm nur den gräflich-reußischen Dreifaltigkeit-Taler von 1679 zum Abkaufen zu schicken: so schickte er mir keinen Heller dafür, sondern brächte selber das Geld für den Taler, wie ers bisher immer mit dem Leibgeberschen Münzkabinett gehalten.« – »Oder«, sagte Lenette, »schick ihm lieber den Taler und das Gesicht zusammen: so hat er eine größere Freude.« – »Über was eine größere?« fragt' er. Sie wußte der närrischen Einspring Frage, ob sie von einer größern über das abgeschattete oder über das gemünzte Gesicht gesprochen, gar nicht recht zu begegnen und sagte in der Not: »Nun über die Sachen natürlich.« Er fragte aus Schonung nicht noch einmal.

Aber der Schulrat schickte nichts als die Antwort, er sei außer sich vor Freuden über die herrlichen Geschenke und werde daher spätestens Ende künftiger Woche selber kommen und sich bedanken und sich berechnen bei dem Hrn. Armenadvokaten. Das wenige Säuerliche, was in der unberechneten Antwort des sorgenlosen und zu freudenvollen Schulrates vorschmeckte, konnte der gerichtliche Pedell der Erbschaftkammer auf keine Weise dadurch versüßen, daß er eben eintrat und dem Advokaten die Antwort oder den ersten Satz oder die Exzeptionen des beklagten Heimlichers von Blaise überreichte, die in nichts als in einem Fristgesuche von drei Wochen bestanden, das ihm die Kammer gern bewilligt hatte. Siebenkäs lebte als sein eigner Armenadvokat freilich der gewissen Hoffnung, daß das Gelobte Land der Erbschaft, worin Milch und Honig über seinen Goldsand [151] fließen, von seinen Kindern werde erobert werden, wenn er in der juristischen Wüste auf dem Wege dahin längst verstorben sei; denn die Justiz belohnt gern die Tugend und das Recht der Väter an Kindern und Kindes-Kindern; inzwischen aber bliebs immer unbequem, daß er nichts zu leben hatte bei seinen Lebzeiten. Denn von dem gräflich-reußischen Dreifaltigkeit-Taler – für welchen Stiefel noch nicht einmal bezahlet hat – war ohnehin nicht länger zu leben, so wie von dem einzigen noch rückständigen Zopfdukaten aus Leibgebers nachgelassener »Reichskriegsoperationskasse« gegen den Heimlicher. Denn dieses Gold- und jenes Silberstück waren (ob ich es gleich bisher verschwiegen) der einzige Kassenbestand der Leibgeberischen Heilandkasse, mit welchem freilich niemand als ein Nachfolger des Heilands selber auszureichen vermochte. Es ist aber vielleicht mein Verschweigen der bisherigen Münzkabinett-Ausleerungen wieder ein Beweis, wie sehr ich den Leser, wo ich nur kann, mit sauern Sachen verschone.

»O ich will schon Rat schaffen«, sagte Siebenkäs ganz fröhlich und setzte sich heute emsiger an sein Schreibepult, um sich durch seine Auswahl aus den Papieren des Teufels je eher je besser einen beträchtlichen Ehrensold ins Haus zu leiten. Aber nun wird ein ganz anderes Fegfeuer immer höher um ihn angeschürt und aufgeblasen, von welchem ich bisher gar noch nichts sagen wollen und worin er schon seit vorgestern sitzt und brät. Lenette ist der Bratenkoch, und sein Schreibtisch ist der Lerchenrost. Er hatte sich nämlich unter dem stummen Keifen der vorigen Tage an ein besonderes Aufhorchen auf Lenetten gewöhnt, wenn er dort saß und an der Auswahl aus des Teufels Papieren schrieb: dies machte ihn völlig irre im Denken. Der kleinste Tritt, jede leise Erschütterung griff ihn wie einen Wasserscheuen oder Chiragristen an und brachte immer ein oder zwei gute junge Gedanken, wie ein größeres Geräusche Kanarienbrut und Seidenraupen, um das Leben.

Anfangs bezwang er sich recht gut; er gab sich zu bedenken, die Frau müse sich doch wenigstens regen und könne, solange sie keinen verklärten Leib und keine verklärten Möbeln handhabe, [152] unmöglich so leise in der Stube auftreten wie ein Sonnenstrahl oder wie ihre unsichtbaren guten und bösen Engel hinter ihr. Aber indem er bei sich diesen guten cours de morale, dieses collegium pietatis hörte, kam er aus dem satirischen Kontexte und Konzepte und schrieb bloß matter weiter.

Am Morgen nach jenem Silhouettier-Abende, wo ihre Seelen sich die Hände gegeben und den Fürstenbund der Liebe wieder erneuert hatten, konnt' er viel offener zu Werke gehen, und er sagte, sobald er statt des Schattenrisses nichts schwarz malte als die Urbilder, d.h. sobald er in der satirischen Rußhütte arbeitete, er sagte schon voraus zur Frau: »Wenns dir tulich ist, Lenette, so mache heute kein sonderliches Getöse – es ist mir beinah hinderlich, wenn ich dasitze und für den Druck arbeite.« Sie sagte: »Ich dächte, du hörtest mich kaum, so schleich' ich.«

Wenn der Mensch über die Tölpeljahre hinüber ist: so hat er noch jährlich einige Tölpelwochen und Flegeltage zurückzulegen: Siebenkäs tat die obige Bitte wahrlich in einer Tölpelminute. Denn nun hatte er sich selber genötigt, unter dem Denken aufzulauern, was Lenette nach dem Empfange des Bittschreibens vornehme. Sie lief jetzo über die Stubendiele und über die Fäden ihres häuslichen Gewerkes mit leisen Spinnenfüßen. Denn sie hatte wie andere Weiber nicht widersprochen, um zu widerstreben, sondern um nur zu widersprechen. Siebenkäs mußte fleißig aufpassen, um ihre Hände oder Füße zu hören; aber es glückte ihm doch, und er vernahm das meiste. Wenn man nicht schläft, so gibt man auf ein leises Geräusch mehr als auf ein großes acht: jetzt horchte ihr der Schriftsteller überall nach, und sein Ohr und seine Seele liefen, als Schrittzähler an sie angemacht, überall mit ihr herum – kurz, er mußte mitten in der Satire »Der Edelmann mit seinem kalten Fieber 44« abschnappen, aufspringen und zur Schleicherin sagen: »Ich horche schon seit einer Stunde auf das peinigende Trippeln hin; ich wollte lieber, du trabtest in zwei lauten Krupezien herum, die mit Eisen besohlet sind zum Takt-Stampfen 45, als so – geh lieber wie gewöhnlich, Beste!« [153] Sie tats und ging fast wie gewöhnlich. Er hätte gern, da er schon den lauten und den leisen Gang abgeschafft, auch gar den mittlern abgeordnet; aber ein Mann widerspricht sich nicht gern aneinem Morgen zweimal, sondern nur einmal. Abends ersuchte er sie bloß, sie möchte, solang' er seine Satiren entwerfe, in Socken gehen, besonders weil der Fußboden kühle: »Überhaupt«, setzt' er hinzu, »da ich jetzt vormittags nach Brot arbeite, so wird es gut sein, wenn du unter meinen literarischen Geschäften selber weiter keine tust als gerade die allernötigsten.«

Am Morgen saß er innerlich über jede Arbeit hinter ihm zu Gericht und hörte – er schrieb dabei immer fort, aber schlechter eine nach der andern ab, ob sie den Freipaß der Notwendigkeit bei sich habe. Der schreibende Dulder nahm manches auf die leichte Achsel; aber als Wendeline in der Schlafkammer mit einem langen Besen das Bettstroh unter den grüngefärbten Ehe-Torus trieb: so wurde dieses Kreuz seinen Schultern zu schwer. Dazu kam, daß er vorgestern in den alten Ephemeriden der Naturforscher gelesen, daß der Theolog Joh. Pechmann keinen Besen hören können – daß ihm das Rauschen desselben halb die Luft versetzet und daß er vor einem Gassenkehrer, der ihm bloß aufstieß, davongelaufen; eine solche Lektüre ließ ihn wider seinen Willen für einen ähnlichen Fall aufmerksamer und intoleranter zurück. Er rief, ohne aufzustehen, der Haus-Kehrerin in die Kammer hinaus: »Lenette, strähle und striegele jetzo nicht mit deinem Besen – er lässet mich nicht denken – Es war einmal ein alter Pfarrer Pechmann, der lieber zum Wiener Gassenkehren sich hätte verdammen lassen, als daß er es angehöret hätte, ja dem der Staupenschlag damit wäre erwünschter gewesen als der verdammte Ton, wie ein Besen wetzt und schleift. Und ich soll noch dazu neben dem Hausbesen einen vernünftigen Gedanken haben, der vor Buchdrucker und Buchsetzer kommen soll: das beherzige nur!«

Lenette tat jetzo, was jede gute Frau und ihr Schoßhund getan hätte: sie wurde stufenweise still. Ja sie dankte endlich gar den Besen ab und schob, als der Gatte so laut schrieb, als sie kehrte, bloß mit dem Borstwisch leise drei Strohähren und einige [154] Flaum-Federspulen unter die Bettlade. Der Redakteur der Auswahl aus des Teufels Papieren vernahm drinnen zum Glücke wider Verhoffen das Schieben: er stand auf und begab sich unter die Kammerpforte und sprach hinein: »Teuerste, die Höllenpein ist wohl die selbe, sobald ichs vernehme – Ja wedel das unglückliche Kehricht mit Pfauenschwänzen und Weihwedeln unters Bettbrett, schnaub es mit einem Blasbalg hinter den Topf hinunter: ich und mein Buch drinnen baden es aus und verkrüppeln notwendig.« – Sie versetzte: »Ich bin ohnehin fertig.«

Er machte sich wieder an die Arbeit und fassete den Faden in der dritten Satire »Von den fünf Ungeheuern und ihren Behältnissen, wovon ich mich anfangs nähren wollen« (in der gedruckten Ausgabe S. 46) wieder ganz munter auf.

Lenette drückte indes langsam die Kammertüre zu; er mußte also von neuem schließen, daß draußen in seiner Gehenna und Pönitenzpfarre wieder etwas gegen ihn im Werke sei. Er legte die Feder nieder und rief über den Schreibtisch hinweg: »Lenette, ich kanns nicht genau hören; bist du aber draußen wieder über etwas her, das ich nicht ausstehen kann: so bitt' ich dich um Gottes willen, stell es ein, mach einmal meine heutige Kreuzschule und meine Werthers Leiden darin aus – lasse dich sehen!« – Sie versetzte, aber mit einem vom heftigen Bewegen schwankenden Atem: »Nichts, ich mache nichts.« Er stand wieder auf und öffnete die Türe seiner Marterkammer. Die Frau bügelte darin mit einem grauen Flanell-Lappen und scheuerte das grüne Ehe-Gitterbette ab. Der Verfasser dieser Historie lag einmal als Pockenkranker in einem und kennt also die Art; aber der Leser wird vielleicht nicht wissen, daß ein solcher grüner Schlummerkäfig wie ein vergrößerter Kanarien-Heckbauer aussieht mit seinen zwei gegitterten Flügeltüren oder Fallgattern, und daß dieses Traum-Geländer und Treibhaus zwar plumper, aber auch gesunder ist als unsere tief behangenen Schlafbastillentürme, die uns mit nahen Vorhängen gegen jeden frischen Windstoß einwindeln. – – Der Armenadvokat nahm nichts zu sich als gähling einen halben Schoppen Stubenluft und hob langsam so an: »Du fegst und bürstest also, wie ich sehe, von neuem – und weißt, daß [155] ich drinnen im Schweiße sitze und für uns beide arbeiten will und daß ich seit einer Stunde fast ohne Verstand fortschreibe – himmlische eheliche Hälfte, um Gottes willen kartätsch einmal aus und richte mich nicht gänzlich mit dem Lappen zugrunde.« Lenette sagte voll Verwunderung: »Unmöglich, Alter, hast du es hineingehöret« und bohnte eiliger fort. Er fing ein wenig schnell, aber sanft ihre Hände und sagte lauter: »Auf hörst du! Das ist aber eben mein Unglück, daß ichs drinnen nicht hören kann, sondern alles nur denken muß – und der verdammte lange Wichs- und Besengedanke setzet sich an die Stelle der besten andern Gedanken, die ich hätte zu Papier bringen können! Trauter Engel, niemand würde seliger und gelassener fortarbeiten und hier sitzen als ich, wenn du bloß mit Traubenschüssen und Haubitzen und Hundertpfündern hinter mir feuertest und knalltest aus den hiesigen Schießscharten; aber einem leisen Lärm bin ich nicht gewachsen.«

Jetzo ärgerte ihn die lange Rede, und er führte sie mit dem Lappen aus der Kammer und sagte: »Es fället mir überhaupt hart, daß, wenn ich drinnen mich außerordentlich überspanne, um der Lesewelt eine Freude zu machen, daß in meiner Kammer zu gleicher Zeit für mich ein Hatzhaus aufgeschlagen wird, und daß sich das Bette eines Schriftstellers in einen Laufgraben umsetzt, aus dem ihn Bogenschüsse und Dampfkugeln verfolgen. Mittags unter dem Essen hab' ich nichts zu schreiben, und da will ich vernünftig und breit mit dir aus der Sache reden.«

Zu Mittag, da er die Gründe seines Morgenturniers aufstellen wollte, hatt' er vorher ein Gebetturnier zu halten: das Gebet bedeutet in Nürnberg und Kuhschnappel nicht wie bei Großen ein besonderes Erbamt und Meßgeschäft in der Hofkapelle, sondern das – Läuten um 12 Uhr. Der Eßtisch des Paars stand nämlich dicht an der Wand und wurde nicht eher mitten in die Stube gezogen, als wenn man daran aß. Nun konnt' es Siebenkäs nicht über zweimal in seiner Ehe – denn was Weiber 46 einmal vergessen, [156] das vergessen sie hernach tausendmal – dahin bringen er mochte seine Lunge so trocken predigen wie eine Fuchslunge, womit man jene kuriert –, dahin bracht' ers nie, sag' ich, daß die Tafel vorgeschoben wurde, eh' die Suppen-Mulde darauf dampfte: sondern erstnachher zog man beide ordentlich miteinander in die Stube, ohne jedoch unter dem Zuge mehr von der Suppenflut aufs Tischtuch zu verschütten, als man auf eine Laxier-Pille nachtrinkt.

Heute gings nicht anders: der Gatte zerkäuete langsam die Pille, auf die er Suppe nachaß – er sah dem spätern Vorrücken (wie dem der Äquinoktien) mit Angst und mit verlängertem Gesicht und Atem entgegen und zu und zündete bei der wiedergekehrten Suppen-Libation gelassen los, aber so: »Im Grunde, Lenette, leben wir auf einem guten Schiff; denn Seefahrer verschütten ihren Suppenteller, weil das Fahrzeug immer wanket, und ich und du auch. Sieh her! – Im ganzen hängt der Mittagtisch mit dem Morgen-Besen zusammen und sekundiert ihn; diese zwei Verschwornen blasen deinem Manne noch das Lebenlicht aus, um mich stark auszudrücken.«

Nach diesem Predigt-Eingange kam statt eines Kanzelliedes der Pritschenmeister von Kuhschnappel, welcher mit einem großen Bogen Papier eintrat und den Advokaten als einen Honoratior zum Andreasschießen auf den 30. Nov. invitierte. Jeder von uns hat gewiß aus dem vorigen so viel bei sich behalten, daß von Gold nichts mehr im Hause war als der Zopfdukaten. Gleichwohl konnte Siebenkäs nicht gut aus der Schützengesellschaft austreten, ohne sich selber vor der ganzen Stadt ein testimonium paupertatis (Zeugnis der Armut) zu schreiben. Am Ende war auch für einen so guten Schützen und Jägersohn wie er ein Schützenlos ja nichts Geringers als eine Bergwerk-Kuxe, eine Aktie in der Ostindischen Kompanie. Dabei konnt' er, wenn er mitschoß, seiner Frau zum ersten Male öffentliche Ehre machen, welche sie als eines Ratkopisten Tochter aus Augsburg wohl erwarten [157] durfte. Nur war dem ernsten Schützenhanswurst der ungewöhnliche Zopfdukaten gar nicht zum Auswechseln beizubringen, zumal da ihn der Advokat eigentlich erst verdächtig machte durch die Wiederholung: »Es ist in der Tat ein guter echter Schwanz- und Zopfdukaten. Ich selber«, setzte er hinzu, »trage zwar keinen Zopf, aber ein Goldstück kann dergleichen sehr gut, des preußischen Königs wegen, der den seinigen auf ihm ausmünzen und verewigen wollen. Frau, es kann ja mein Hausherr, der Friseur, herauf, der muß am besten wissen, ob es ein Zopfdukaten ist, da er Zöpfe schon ohne Dukaten täglich unter den Händen hat.« Der kuhschnappelsche Pickelhering lachte darüber nicht im geringsten. Der Friseur erschien und bestätigte ganz, es sei ein Zopf, und trug sich höflich selber zum Verwechseln an. Haarkräusler können laufen; in fünf Minuten brachte er das Silber für den Zopf. Nachdem der gesetzte Lustigmacher das Seinige vom Schwanzdukaten eingesteckt: so standen in Lenettens Angesicht allerlei doppelte Frag- und Ausrufzeichen umher, und Siebenkäs fuhr in seiner Mittagpredigt fort: »Die Hauptgewinste, Lenette, bestehen beim Vogel in Zinngeschirr und in Geld, bei den andern Tieren, wornach wir schießen, meist in Viktualien. Ich glaube, ich und du werden am Andreastage nicht nur aus einer neuen Bratenschüssel speisen, sondern auch einen frischen Braten darin, den ich dir samt der Schüssel in die Küche schießen kann, wenn ich mich sonst anstrenge. – – Überhaupt ängstige dich nicht, Schöne, weil unser Geld ausgeht; stelle dich nur hinter mich, ich bin dein Erdsack oder Schanzkorb oder gar deine Tranchée-Katze, und mit meiner Kugelbüchse, besonders aber mit meinem Dintenfasse gedenk' ich den Teufel der Armut in einiger Entfernung von uns zu halten, bis mir mein ehrlicher Vormund das Mütterliche aushändigt. Nur stören mußt du um Gottes willen nicht meinen Fleiß durch den deinigen; – dein Besen und dein Lappen haben mich heute um bare 16 Ortstaler 47 gebracht. Denn sobald ich 1 Druckbogen meiner teuflischen Papiere nur zu 8 Reichstlr. (den Rtlr. à 90 Kr.) rechne – er kann freilich noch mehr betragen –, [158] so hätt' ich heute 48 Ortstaler erschreiben können, wenn ich außer dem Druckbogen noch einen halben gemacht hätte. – Ich mußte aber mitten im Feuer in der Kammer zu dir viele Worte sagen, für die ich keinen Kreuzer Ehrensold beziehe: du solltest mich doch endlich für einen alten dicken Spinnen- oder Kankerkörper ansehen, den man in eine Schachtel sperrt (mein Stubennest ist gar nichts Besseres) und welcher darin mit der Zeit zu einem köstlichen Goldhorn oder Juwel eindorrt. So oft ich eintunke, zieh' ich – hab' ich dir öfter gesagt – ordentlich einen Goldfaden aus dem Dintenfaß, denn ich habe Gold im Munde eben in der Morgenstunde.

Iß hinunter und horche aber zu: ich bringe dir jetzo das Vorzüglichste vom Werte eines Autors bei Gelegenheit bei und gebe dir den Schlüssel über vieles.... Im Schwabenland, im Sachsen- und im Pommerland sind Städte, in denen Autorenfleischtaxatores sitzen, wie hier unser alter Metzgermeister; man nennt sie aber gemeiniglich die Schmeckherren 48 oder Geschmackherrn, weil sie vorher jedes Buch kosten und nachher den Leuten sagen, ob es ihnen schmecken werde. In der Erbosung nennen wir Autores sie freilich oft Rezensenten; aber sie können uns gerichtlich darüber belangen. Da die Schmeckherren selten Bücher schreiben, so haben sie besser Zeit, die der fremden Leute durchzusehen und zu taxieren. Ja oft haben sie selber schlechte gemacht und wissen also sogleich, wie ein schlechtes sein muß, wenn sie eines vorbekommen. Manche sind aus demselben Grunde Schutzpatrone der Autoren und ihrer Bücher, weswegen der hl. Nepomuk den Schutzpatron der Brücken und der Leute, die darüber gehen, macht – weil er nämlich selber einmal von einer ins Wasser geworfen worden. Unter diesen Herren wird nun meine Schreiberei dort herumgeschickt, sobald sie in Druck gebracht worden ist, wie dein Gesangbuch. Jetzt gucken sie meine Sachen durch, ob ich recht deutlich und leserlich (weder zu grob noch zu klar) geschrieben – ob ich keine falschen Buchstaben, kein kleines e statt eines großen E, oder ein F statt eines Ph gesetzt – [159] ob die Gedankenstriche nicht zu lang und nicht zu kurz sind, und was sonst dergleichen ist – ja oft urteilen sie sogar (welches ihnen aber nicht gebührt) über die Gedanken selber, die ich hingeschrieben. Hobelst und wetzest du nun mit dem Besen hinter mir herum: so mach' ich vieles falsch und erzdumm, und es wird nachher so hingedruckt. Das tut aber einem Menschen wahren Schaden. Denn die Schmeckherren reißen mit ihren fingerlangen Nägeln – der Knopfmacher ihre sind kürzer, aber nicht die der Beschneider bei den Juden –, bevor sie dem Buche, wie die Beschneider dem Judenbuben, einen Namen geben, überall da, wo es verdruckt ist, abscheuliche Schnittwunden und Löcher ins schönste Papier – Dann lassen sie einen fliespapiernen Zettel draußen im Reiche, im Sachsen-und im Pommerlande umlaufen, auf welchem sie mich ausfilzen und mir einen bösen Leumund machen und es vor allen Schwaben geradezu sagen, ich sei ein Esel.... Gott bewahre! Und einen solchen Staupbesen hätt' ich bloß deinem Besen zu danken – Schreib' ich freilich vortrefflich und leserlich und recht mit wahrem Verstand – wie denn dort kein Bogen von meinen teuflischen Papieren ohne Vernunft ausgefertigt ist –, überleg' ich jedes Wort und jedes Blatt, eh' ichs schreibe; scherz' ich auf diesem Bogen, lehr' ich auf jenem, gefall' ich auf allen: so muß ich dir auch sagen, Lenette, daß die Schmeckherren Leute sind, die so etwas zu schmecken wissen und die sich nichts daraus machen, sich hinzusetzen und Laufzettel zirkulieren zu lassen, auf denen das Geringste, was sie von mir sagen, das ist, daß ich von Universitäten etwas mit hinweggebracht habe und für solche also wieder etwas liefern könne. Kurz, sie sagen, sie hättens nicht in mir gesucht und ich hätte Gaben. Ein dergleichen Lobpreisen aber, das dem Manne widerfährt, Lenette, das kommt nachher auch seiner Frau zustatten; und wenn sie in Augsburg herumfragen: ›wo hält sich denn dieser berühmte Siebenkäs eigentlich auf?‹ so wirds in der Fuggerei allemal Leute geben, die sagen: ›in Kuhschnappel; er hat eine Ratkopisten-Tochter Egelkraut von hier geheiratet und lebt sehr vergnügt mit der Person.‹«


»Wie oft«, versetzte sie, »hast du mir das nicht vorerzählt von [160] der Buchmacherei! Der Buchbinder sagt mir auch das nämliche, weil er täglich die besten Bücher in Händen hat und bindet.« – Dieses gar nicht tadelnd gemeinte Vorrücken seiner eignen Wiederholungen schmeckte ihm nicht recht; denn der Fehler hatte sich ihm bisher, wie ein Fieber, verlarvt. Ehemänner, sogar geistreiche und wortarme, sprechen in der ehelichen Behaglichkeit so uferlos überfließend außen mit der Frau als jedermann innen mit sich selber; vor niemand aber in der Welt wiederholt man sich öfter als vor dem eignen Ich, ohne sich das Wiederholen nur abzumerken, geschweige nachzuzählen. Letztes beides hingegen tut die Ehefrau, welche, gewohnt, täglich von ihrem Ehemann die scharfsinnigsten und unverständlichsten Aussprüche zu vernehmen, solche ja nicht vergessen kann, sondern behalten muß, wenn sie sich wiederholen!

Unerwartet erschien wieder der Haarkräusler und brachte einen kurzen Nebel mit. Er sagte, er sei bei allen armen Sündern seines Hauses herumgegangen, habe aber vergeblich bei den Kahlmäusern um so viel Vorschuß vom nahen Martini-Hauszins angehalten, als er heute bedürfe, um sein Schützenlos einzukaufen. Die ganze Besatzung war freilich einer solchen Geldleistung schon darum sechs volle Wochen vor dem Zahltermin nicht gewachsen, weil die meisten es auch am Termine selber nicht in der Gewalt hatten. Der Sachse kam also mit seinem Gesuche zum Grandat seines Hauses, zum Dukatenherrn, wie er den Advokaten nannte. Dieser konnte die geduldige Haut, die sich über alle vorige Nein nicht erzürnte, mit keinem neuen erschrecken er und die Frau trugen, was sie an kleiner Münze vom Dukaten übrig hatten, zusammen und entließen den frohen Mietherrn mit der wirklichen Hälfte des Zinses, mit drei Gulden. Sie selber behielten nichts als die – Angst, was sie abends – anzünden wollten: nicht zwei Groschen zu einem halben Pfunde Lichter waren mehr da, nicht einmal die Lichter in natura.

Ich kann nicht sagen, daß er totenblaß oder ohnmächtig oder wahnsinnig darüber wurde. Gepriesen sei jede Männerseele, die die stoischen Eisenmolken nur einen halben Frühling lang getrunken und die nicht, wie eine Frau, vor dem kalten Gespenste [161] der Armut gelähmt und erfroren zusammenstürzt. Die übertriebenste Scheltrede gegen den Reichtum ist in einem Jahrhundert, dem alle bessere Sehnen entzwei geschnitten worden, nur die allgemeine des Geldes nicht, ersprießlicher und edler als die richtigste Herabwürdigung der Dürftigkeit: denn Pasquille auf den Goldkot assekurieren dem Reichen das Glück, falls auch die Glückgüter scheiterten, und dem Armen schieben sie statt herber Gefühle den süßern Sieg dar über unter. Alles Unedle in uns, alle Sinnen, die Phantasie und alle Beispiele sind ohnedas vereinigte Lobredner des Goldes: warum will man noch der Armut ihren rechtlichen Beistand und einen chevalier d'honneur abspenstig machen, die Philosophie und den Bettelstolz?

Das erste, was Siebenkäs statt des Maules aufmachte, war die Türe und in der Küche der Zinnschrank: aus diesem hob er leis und ernsthaft eine Glockenschüssel und einen Drilling von zinnernen Tellern auf einen Stuhl. Lenette konnte nicht länger schweigend zuschauen; sie schlug die Hände zusammen und sagte schamhaft leise: »Ach du barmherziger Gott! wir werden doch nicht unser Zinn verkaufen?« – »Versilbern will ichs nur«, sagt' er. »Wie die Fürsten aus Turmglocken, so können wir aus der Glockenschüssel Glockentaler gewinnen. Du wirst dich doch nicht schämen, elendes Eßgeschirr, solche tierische Särge, fein auszumünzen, da der Herzog Christian zu Braunschweig 1662 einen silbernen Fürsten-Sarg in eigentlichem Sinne zu Geld machte, nämlich zu Talern. Ist denn ein Teller ein Apostel? Und doch haben große Fürsten viele Apostel, sobald sie von Silber waren, ein Hugo von St. Caro und andere die Werke derselben, gleichsam in Kapitel und Verse und Legenden zerfället und sie analysiert ausgesandt aus der Münze in alle Welt!«

»Torheiten!« versetzte sie. –

Wenige Leser werden hinzufügen: was sonst? – Daher hätt' ich bei diesen weniger längst den Advokaten über den für Lenetten unfaßbaren mündlichen Stil entschuldigen sollen.

Er selber rechtfertigte sich nämlich hinreichend damit, daß die Frau ihn stets von weitem verstanden, auch wenn er die gelehrtesten Kunstwörter und ausgesuchtesten Anspielungen gewählt, [162] um sich recht zu üben und zu hören; »die Weiber«, wiederholte er, »verstehen alles von weiten und fernen und verschleifen daher eine Zeit, die besser anzuwenden ist, mit keinen langen Einholungen von Urteln über die ihnen unverständlichen Wörter.« Indes ist dieser Umstand doch etwas verdrießlicher für das »Wörterbuch zu Jean Pauls Levana« von Reinhold und halb für mich.

»Torheiten!« hatte Lenette versetzt. Firmian bat sie bloß, das Zinn in die Stube mitzubringen, er wolle drinnen vernünftig aus der Sache sprechen. Er hätte ebensogut vor einer mit Heu ausgepolsterten Menschenhaut seine Gründe ausgeführt. Vorzüglich rückte sie ihm vor, er habe durch den Einsatz in die Schützenkasse seine ausgeleeret. Dadurch brachte sie ihn selber auf die beste Replik: »Ein Engel!«, sagt' er, »hat mir das Einsetzen geraten; am Andreastage kann ich alles wieder verdienen und verzinnen, was ich heute versilbere. – Dir zu Gefallen will ich nicht bloß die Schüssel und die Teller, sondern auch das übrige Zinngerät, das ich als Schützenglied herunterschieße, behalten und zum Zinnschrank schlagen. Ich gestehe dir, anfangs wollt' ich die Gewinste verhandeln.« –

Was war zu machen? – In der Dämmerung wurden die verwiesenen Eßgeschirre in den Korb der alten Sabel (Sabine) gesenkt, die im ganzen Reichsmarktflecken sich in den Ruf gesetzt, daß sie außer ihrer Propre-Handlung (Eigenhandel) diese Kommissionhandlung (Auftraghandel) mit einer schonenden Verschwiegenheit, als handle sie mit gestohlnem Gut, betreibe; »niemand«, sagte sie, »konnt' es aus mir herauswinden, wem die Sachen allemal gehören; und der selige Seckelmeister, dem ich ja all sein Hab und Gut hausieren trug, sagte oft, ich suchte meines gleichen.«

Aber ihr armen Eheleute! was hilft euch aber dieser Sabbat 49 oder diese Christus-Höllenfahrt in euerer Vorhölle? Heute legen sich die Flammen um, und ein kühler Seewind labet euch; aber morgen, übermorgen steiget wieder der alte Rauch und das alte [163] Feuer vor euern Herzen auf! – Und doch will ich euern Zinnmarkt mit keiner Handelsperre belegen; denn ob man gleich entschieden weiß, daß morgen derselbe Hunger wiederkehrt, so tut man doch nicht übel, wenn man den heutigen vertreibt.

Am andern Tage drang Siebenkäs bloß darum auf eine größere Stille um sich, weil er eine so lange Rede dafür gehalten hatte. Die gute Lenette, die eine lebendige Waschmaschine und Fegemühle war und für welche der Wasch- und der Küchenzettel die Natur eines Beicht- und Einleitscheines 50 anzog, gab alles eher aus den Händen – fast seine – als den Bohnlappen und Kehrbesen. Sie dachte, es sei nur sein Eigensinn, indes es ihrer war, gerade in der Morgenstunde, die für ihn ein doppeltes Gold im Munde hatte, das aus dem Goldnen Zeitalter und das metallische, den Blasbalg des Pedalschnarrwerks zu treten und hinter dem Autor zu orgeln und zu brausen. Nachmittags konnte sie ein 32füßiges Register ziehen, wenn sie wollte; aber sie war nicht aus ihrem alten Gange zu bringen. Eine Frau ist der widersinnigste Guß aus Eigensinn und Aufopferung, der mir noch vorkam; sie lässet sich für ihren Mann wohl den Kopf abschneiden vom parisischen Kopfabschneider, aber nicht die Haare daran. Ferner kann sie sich viel für fremden Nutzen, für eignen nichts versagen; sie kann für einen Kranken drei Nächte Schlaf, aber für sich, um selber besser zu schlafen, sich nicht eine Minute Vor-Schlummer außer dem Bette abbrechen. Selige und Schmetterlinge können, obgleich beide ohne Magen sind, nicht weniger essen als eine Frau, die auf den Ball oder an den Traualtar gehen will, oder die für Gäste kocht; verbeut ihr aber weiter niemand ein Esaus-Gericht als der Doktor und ihr Körper, so isset sie es den Augenblick. Der Mann kehret es mit seinen Opfern gerade um. –

Lenette suchte, von entgegengesetzten Kräften getrieben, von seinen Ermahnungen und ihren Neigungen, die weibliche Diagonallinie zu gehen und erdachte sich das Religioninterim, daß sie ihr Fegen und Scheuern so lange abbrach, als er saß und schrieb. Sobald er aber nur zwei Minuten ans Klavier, vors Fenster [164] oder über die Schwelle trat, so handhabte sie die Waschböcke und Poliermaschinen der Stube wieder. Siebenkäs wurde bald diesen jämmerlichen Wechsel und dieses Posten-Ablösen seines und ihresBesens gewahr; und ihr wartendes Auflauern auf sein Herumgehen mattete ihn und seine Ideen entsetzlich ab. Anfangs bewies er recht große Geduld, soviel als ein Ehemann nur hat, nämlich eine kurze; aber da ers lange im stillen übersonnen hatte, daß er und das Publikum unter dem Stuben-Wichsen miteinander leiden und daß eine ganze Nachwelt von einem Besen abhange, der so bequem nachmittags arbeiten konnte, wenn er bloß die Akten vornehme: so platzte die zornige Geschwulst plötzlich entzwei, er wurde toll, d.h. toller, sprang vor sie hin und sagte: »Den Henker noch einmal! ich merk' dich schon: du passest auf mein Laufen. Erschlage mich lieber in der Güte und zeitig – Hunger und Ärgernis reiben mich ohnedies vor Ostern auf. Bei Gott! ich fasse nichts; sie sieht es so klar, daß mein Buch unser Speiseschrank wird, woraus ganze Brotspenden herausfallen – und doch hält sie mir den ganzen Morgen die Hand, daß nichts fertig wird. Ich sitze schon so lange auf dem Nest und habe noch nichts heraus als den Bogen E, wo ich die Himmelfahrt der Gerechtigkeit beschreibe (p. 69) – Lenette! ach Lenette!« – – »Wie ichs aber auch mache«, sagte sie, »ists nicht recht. So lasse mich ordentlich kehren wie andere Weiber.« Sie fragte ihn noch unschuldig, warum ihn denn der Buchbinderjunge – das sind meine Worte, nicht ihre –, der den ganzen Tag auf einer Kindergeige phantasierte und Alexanders-Feste auf ihr setzte und hatte, nicht störe mit seinen gellenden unharmonischen Fortschreitungen, und warum er das neuliche Essen-Kehren besser als das Stuben-Kehren habe leiden können. Da ers nun in solcher Eile nicht in seinen Kräften hatte, den großen Unterschied mit wenigen Worten auseinanderzusetzen: so fuhr er lieber wieder auf und sagte: »Ich soll dir hier lange Reden gratis halten, und dort entgeht mir ein Ortstaler nach dem andern Himmel! Kreuz! Wetter! Das bürgerliche Recht, die römischen Pandekten lassen nicht einmal einen Kupferschmied in eine Gasse ziehen, worin ein Professor arbeitet – und meine Frau will härter [165] sein als ein alter Jurist? ja will der Kupferschmied selber sein? – Lenette, schau, ich frage wahrlich den Schulrat darüber!« Das half viel.

Jetzo langte gar der Betrag für den Dreifaltigkeit-Taler noch vor dem Schulrat an; eine höfliche Aufmerksamkeit, welche niemand bei einem so kenntnisvollen Manne gesucht hätte. Es wird gewiß alle Leser so sehr erfreuen, als wären sie selber Gatten Lenettens, daß diese den ganzen Nachmittag ein Engel war; ihre Handarbeit hörte man so wenig als ihre Finger-oder Näharbeit – manche unnötige schob sie sogar auf – eine Schwester Rednerin, die einen göttlichen Kopfputz trug, aber in den Händen zum Ausbessern, begleitete sie die ganze Treppe hinunter, nicht sowohl aus Höflichkeit als in der zarten Absicht, die wichtigsten Nähpunkte, welche sie mit ihr abgesprochen, noch einigemale unten durchzusprechen, ohne daß der Advokat oben es hörte.

Dies rührte den alten Lärm-Abpasser und faßte ihn bei seiner schwachen und weichen Seite, beim Herzen. Er suchte lange in sich nach einem rechten Danke dafür herum, bis er endlich einen ganz neuen fand. »Höre, Kind«, sagt' er und nahm sie bei der Hand unbeschreiblich freundlich, »würd' ich mich nicht als einen vernünftigen Menschen zeigen, wenn ich abends scherzte und schriebe, ich meine, wenn der Mann schüfe, wo die Frau nicht wüsche? Besieh dir vorher ein solches Nektar- und Ambrosialeben: wir säßen einander gegenüber bei einem Lichte – du tätest deine Stiche – ich täte meine satirischen – sämtliche Handwerker des Hauses klopften nicht mehr, sondern wären beim Bier – Haubenzubringerinnen ließen sich ohnehin so spät nicht mehr sehen und hören. – Davon will ich gar nicht reden, daß natürlich die Abende immer länger werden und folglich auch mein Schreiben und Scherzen darin ebenfalls. – Was denkst, oder wenn du lieber willst, was sagst du dazu, zu einem solchen neuen Leben und Wehen? Denn nimm nur noch vorzüglich dazu, daß wir eben bei Geld sind und der gräflich-reußische Dreifaltigkeit-Taler ordentlich wie gefunden uns alle sämtlich umprägt, Stiefel und mich zum Vater und Sohn, und dich zum Heiligen Geist, der von uns beiden ausgeht!«

[166] »O sehr scharmant«, versetzte sie; »so dürft' ich doch am Morgen alle meine Sachen ordentlich machen, wie einer vernünftigen Hausfrau gebührt.« – »Jawohl«, fügt' er bei, »den Morgen schrieb' ich ruhig an meinen Stachelschriften weiter und paßte auf den Abend, an welchem ich da fortführe, wo ichs am Morgen gelassen.«

Der Nektar- und Ambrosia-Abend brach wirklich an und suchte seinesgleichen unter den bisherigen Abenden. Ein Paar junge Eheleute bei einem Lichte einander an einem Tische gegenüber in harmlosen und stillen Arbeiten wissen freilich von Glück zu sagen: er war voll Einfälle und Küsse; sie war voll Lächeln, und ihr Schieben der Bratpfanne fiel ihm nicht stärker ins Gehör als ihr Ziehen der Nähnadel. »Wenn Menschen – sagte er, höchst vergnügt über die häusliche Kirchenverbesserung bei einem Lichte doppelten Arbeitlohn verdienen, so brauchen sie sich, soviel ich einsehe, nicht auf ein elendes wurmdünnes gezogenes Licht einzuziehen, wobei man nichts sieht als das einfältige Licht selber. Morgen wenden wir ohne weiteres ein gegossenes auf.«

Da ich einiges Verdienst dieser Geschichte darein setze, daß ich aus ihr nur Ereignisse von allgemeiner Wichtigkeit aushebe und mitteile: so halte ich mich nicht lange dabei auf, daß abends das gegoßne Licht erschien und einen matten Zwist entzündete, weil der Advokat bei dieser Lichtkerze seine neue Lehre von der Lichteranzündung wieder zum Vorschein brachte. Er hegte nämlich den ziemlich schismatischen Glauben, daß jedes Licht vernünftigerweise bloß am dicken Ende – vollends ein dickes anzuzünden wäre, und nicht oben am magern, und daß deswegen auch an allen Lichtern zwei Dochte vorstächen; »ein Brenn-Gesetz«, fügt' er hinzu, »wofür ich wenigstens bei Weibern von Vernunft nichts weiter anzuführen brauche als den Augenschein, daß ein herabbrennendes Licht – wie herabbrennende Schwelger durch Fett-und durch Wassersucht – sich gegen unten immer mehr verdickt; hat man es nun oben in Brand gesteckt, so erleben wir unten einen überfließenden unbrauchbaren Talgblock, Pflock und Strunk im Leuchter; hingegen aber, wie schön und [167] symmetrisch legt sich das Flußfett der dickern Hälfte allmählich um die magere, gleichsam sie mästend, und gibt ihr Gleichmaß, wenn wir die dicke zuerst anbrennen!«

Lenette setzte seinen Gründen etwas Starkes entgegen, Shaftesburys Probierstein der Wahrheit, das Lächerliche. »Wahrhaftig«, sagte sie, »jeder würde lachen, der nur abends hereinträte und es sähe, daß ich mein Licht verkehrt in den Leuchter gesteckt, und alle Schuld gäbe man der Frau.« Somit mußte in diesem Kerzenstreit eine Konkordienformel die Parität festsetzen, daß er seine Lichter unten, sie ihre oben ansteckte. Jetzo aber bei der Simultankerze, die schon oben dick war, ließ er sich das Interim des falschen Leuchtens gefallen.

Allein der Teufel, der sich vor dergleichen segnete und kreuzigte, wußte es so zu karten, daß dem Advokaten noch an diesem Tage die rührende Anekdote zum Lesen in die Hände fiel, wie dem jüngern Plinius die Gattin die Lampe fort gehalten, damit er bei dem Schreiben sähe. Jetzt unter dem freudigen Verfassen der Auswahl aus des gedachten Teufels Papieren verfiel nun der Advokat darauf, daß es herrlich wäre und ihm die Unterbrechungen ersparte, wenn Lenette statt seiner jedesmal das Licht schneuzte. »Ei sehr gern«, antwortete sie. Die ersten funfzehn bis zwanzig Minuten ging und schien alles recht gut.

Darnach hob er einmal das Kinn seitwärts gegen das Licht wie einen Zeigfinger empor, um an das Putzen zu erinnern. – Wieder einmal berührte er zu gleichem Zwecke bloß still die Lichtputze mit der Federspitze; später rückte er ein bißchen den Leuchter und sagte sanft: »Das Licht!« Nun nahm die Sache mehr eine Wendung ins Ernste, indem er auf dem Papiere dem Eindunkeln schärfer aufzupassen anfing, so aber sich durch dieselbe Lichtschere, von welcher er in Lenettens Hand sich so viel Licht für seine Arbeit versprochen, grade in seinem Gange aufgehalten fand, wie ein Herkules durch Krebsscheren im Kampfe mit der Hydra. Das elende dünne Gedankenpaar, die Lichtputze mit der Lichtschnuppe, tanzte keck Hand in Hand auf allen Buchstaben seiner schärfsten Satiren auf und ab und ließ sich sehen vor ihm. – »Lenette«, sagt' er bald wieder, »amputiere [168] doch zu unserer beiden Besten den dummen Schwarz Stummel!« – »Hab' ichs vergessen?« sagte sie und putzte geschwind.

Leser von historischem Geist, wie ich sie mir wünsche, sehen nun schon leicht voraus, daß die Umstände sich immer mehr verschlimmern und verrenken müssen. In der Tat hielt er jetzo häufig an sich, harrte, ellenlange Buchstaben hinreißend, auf eine wohltätige Hand, die ihn vom schwarzen Dorne der Lichtrose befreiete, bis er endlich in die Worte ausbrach: »Schneuz!« – Er griff zur Mannigfaltigkeit in Zeitwörtern und sagte bald: »lichte!« – bald: »köpfe!« – bald: »kneip ab!« – Oder er versuchte anmutigen Abwechsel in andern Redeteilen und sagte: »Die Lichtputze, Putzmacherin! – es ist wieder ein langer Sonnenflecken in der Sonne« – oder: »Ein artiges Nachtlicht zu Nachtgedanken in einer artigen Correggios-Nacht, inzwischen schneuz!« –

Endlich kurz vor dem Essen, als der Kohlenmeiler in der Flamme wirklich hoch gestiegen, schlang er einen halben Strom Luft in die Brust und sagte, ihn langsam herauströpfelnd, in grimmiger Milde: »Du schneuzest und stutzest sonach, wie ich sehe, nichts, der schwarze Brandpfahl mag wachsen bis an die Decke. Nun gut! Ich will lieber selber der Komödienlichtputzer und Essenkehrer sein bis zum Tischdecken; aber unter dem Essen will ich als ein vernünftiger Mann dir sagen, was zu sagen ist.« – »Das tu nur!« sagte sie sehr froh.

»Ich hatte mir allerdings«, fing er an, als sie ihm und sich vorgelegt hatte, jeder Person zwei Eier, »vieles Gute von meinen Nachtarbeiten versprochen, weil ich angenommen, du würdest das leichte Schneuzen immer in den richtigen Zeiten besorgen, da ja eine vornehme Römerin für ihren vornehmen Mann, Plinius junior, mit den Kaufleuten zu reden, sogar ein Leuchter ward und den Lampendocht gehalten. So aber ist die Sache nichts, weil ich nicht wie ein glücklicher Armkrüppel mit dem Fuße unter dem Tische schreiben kann, oder wie ein Hellseher ganz im Finstern. Was ich jetzo vom ganzen Leuchter habe, ist, daß er eine alte Epiktetslampe ist, bei der ich den Stoiker [169] mache. Wie eine Sonne hatte das Licht oft zwölf Zoll Verfinsterung, und ich wünschte vergeblich, Herzchen, eine unsichtbare Finsternis, wie man sie oft am Himmel hat. Die verfluchten Licht-Schlacken hecken eben jene dunkeln Begriffe und Nachtgedanken aus, die ein Autor bringt. O Gott, hättest du hingegen gehörig geschneuzt!« –

»Du spaßest gewiß«, versetzte sie; »meine Stiche sind viel feiner als deine Striche, und ich sah doch recht hübsch.«

»So will ich dir denn psychologisch und seelenlehrerisch beibringen«, fuhr er fort, »daß es bei einem Schriftsteller und Denker gar nicht darauf ankommt, ob er mehr oder weniger sehen kann, aber die Lichtschere und Lichtschnuppe, die ihm immer im Kopfe steckt, stülpt sich gleichsam zwischen seine geistigen Beine wie einem Pferde der Klöppel und hindert den Gang Schon nachdem du kaum ordentlich geputzt hast, und ich im Lichte lebe, lauer' ich auf die Minute des neuen Scherens. Dieses Lauern nun kann in nichts bestehen, da es unsichtbar und unhörbar ist, als in einem Gedanken, jeder Gedanke aber macht, daß man statt seiner keinen andern hat – – und so gehen denn die sämtlichen bessern Gedanken eines Schreibers vor die Hunde. – Und doch sprech' ich noch immer nur vom leichtesten Übel – denn ich brauchte ja nur an ein Licht- Schneuzen so wenig zu denken als an das meiner Nase; – aber wenn vollends das sehnlich erwartete Schneuzen sich nicht einstellen will – das schwarze Mutterkorn der reifen Lichtähre immer länger wächst – die Finsternis sichtbar zunimmt – eine wahre Leichenfackel einen schreibenden Halbtoten beleuchtet – dieser sich die eheliche Hand gar nicht aus dem Kopfe schlagen kann, die mit einem einzigen Schnitte ihn von allen diesen Hemmketten loszumachen vermöchte: dann, meine liebe Lenette, gehört wahrlich viel dazu, wenn ein Schriftsteller nicht schreiben will wie ein Esel oder stampfen wie ein Trampeltier, wenigstens ich weiß ein Lied davon zu singen.«

Sie versicherte darauf, wenn es sein wirklicher Ernst sei, so wolle sie es morgen schon machen.

In der Tat muß ihr die Geschichte das Lob geben, daß sie [170] tags darauf ihr Wort hielt und nicht nur viel öfter putzte als gestern, sondern ordentlich ohne Aufhören, zumal als er ihr einige Male mit Kopfnicken gedankt hatte. »Zu oft indes – sagt' er endlich, aber ungemein freundlich – schere denn doch nicht. Studierest du auf gar zu feine Subsubsubdivisionen (Unterunterunterabteilungen) des Dochtes, so gerät man fast in die alte Not zurück, da ein abgekneiptes Licht so dunkel brennt als eines mit ganz freiwüchsigem Dochte – was du figürlich auf Welt- und Kirchenlichter anwenden könntest, wenn du sonst könntest –; sondern nur einige Zeit nach und einige vor dem Schneuzen fällt gleichsam entre chien und loup jene schöne mittlere Zeit der Seele, wo sie herrlich sieht; freilich dann ein wahres Götterleben, ein recht abgemessenes doppeltes Schwarz auf Weiß im Licht und im Buch!«

Ich und andere freuen uns eben nicht besonders über diese neue Wendung der Sache; der Armenadvokat legt sich dadurch offenbar die frische Last auf den Hals, die mittlere Entfernung oder den Mittelstand zwischen dem kurzen und dem langen Dochte immer unter dem Schreiben, wenn auch oberflächlich, zu berechnen und zu beobachten; welche Zeit bleibt ihm dann zur Arbeit?

Nach einigen Minuten tat er, als sie vielleicht noch zu früh schneuzte, die Frage, obwohl mehr zweifelnd: »Ist wieder schwarze Wäsche da?« Darauf, als sie wohl etwa fast zu spät schneuzte, blickte er sie fragend an: »Nu, nu!« – »Gleich, gleich!« sagte sie. – Endlich, als er bald darauf sich zu sehr ins schreibende Stechen vertieft hatte und die Frau sich ins nähende, traf er, erwacht auf einmal aufblickend, einen der längsten Lichtschnuppen-Spieße am ganzen bisherigen Lichte an, noch dazu umrungen von mehr als einem Räuber – – »Ach Gott, das ist ja ein Jammerleben!« rief er und packte grimmig die Lichtschere an und putzte das Licht – aus.

Jetzo in den finstern Ferien hatt' er die schönste Muße, an- und aufzufahren und Lenetten mehr ausführlich vorzuhalten, wie sie ihn bei seinen besten Einrichtungen abmartere und, gleich allen Weibern, kein Maß halte und bald zu viel, bald zu wenig [171] schere. Da sie aber schweigend Licht machte, setzte er sich in noch stärkeres Feuer und warf die Frage auf, ob er bisher wohl etwas anderes von ihr begehrt als die allergrößten Kleinigkeiten und ob denn jemand anders sie ihm bisher sämtlich abgeschlagen als sie, seine liebliche Ehefrau. »Antworte!« sagt' er.

Sie antwortete nicht, sondern setzte das angezündete Licht auf den Tisch und hatte Tränen im Auge. Es war zum ersten Male in der Ehe. Da durchschauete er, wie ein Magnetisierter, den ganzen Krankheitbau seines Innern und beschrieb ihn, zog auf der Stelle den alten Adam aus und warf ihn verächtlich in den fernsten Winkel. Dies vermochte er leicht, sein Herz stand der Liebe und der Gerechtigkeit so offen, daß, sobald sich diese Göttinnen zeigten, seine zornige Stimme aus dem Vordersatze ankam als die mildeste im Nachsatze, ja er konnte die Streitaxt einhalten mitten im Niederhieb.

Nun wurde der Hausfriede 51 geschlossen, ein Paar nasse und ein Paar helle Augen waren die Friedeninstrumente, und ein Westfälischer Vertrag gab jeder Partei ein Licht und volle Scherfreiheit.

Aber diesen Frieden verbitterte bald die Empfindung, daß die Hausgöttin der Armut, Penia, die eine unsichtbare Kirche und tausend Stille im Lande und die meisten Häuser zu Stifthütten und Lararien hat, wieder ihre körperliche Gegenwart und Allmacht äußerte. Es war kein Geld mehr da. Er hätte eher alles verkauft, sogar seinen Körper, wie der alte Deutsche, eh' er bei seinem wachsenden Unvermögen, heimzuzahlen, seine Ehre und seine Freiheit zu heimfallenden Pfändern verschrieben, ich meine, eh' er geborgt hätte. Man sagt, die englische Nationalschuld könne, wenn man sie in Talern auszahle, einen ordentlichen Ring um die Erde wie ein zweiter Gleicher gehen; ich habe diesen Nasenring am englischen Löwen, oder diese ringförmige Finsternis, oder diesen Hof um die britische Sonne [172] noch nicht gemessen. Siebenkäs, das weiß ich, hätte eine solche negative Geldkatze um den Leib für einen Stachelgürtel, für einen Eisenring der Schiffzieher und für einen herz-zusammenschnürenden Schmachtriemen gehalten. Gesetzt auch, er hätte borgen und nachher, wie Staaten und Banken, aufhören wollen zu zahlen – welches kluge Schuld- und Edelleute leicht vermeiden, indem sie gar nicht anfangen zu zahlen –: so hätt' er doch, da nur ein Freund (der Rat Stiefel) und niemand weiter sein Gläubiger geworden wäre, unmöglich diesen Geliebten, der ohnehin in der ersten Klasse der geistigen Gläubiger stand, in die fünfte oder durchfallende setzen lassen können; eine solche Doppel-Sünde gegen Freundschaft und Ehre zugleich erspart' er sich, wenn er nur geringere Dinge als beide verpfändete, nämlich Möbeln.

Er bestieg wieder, aber ganz allein, den Zinnschrank in der Küche und untersuchte und besichtigte durch das Gitter, was darhinter zwei oder drei Mann hoch stehe. Ach ein einziger Teller stand wie ein doppeltes Ausrufzeichen hinter dem Vormann. Diesen Hintermann zog er heraus und gab ihm zu Reisegefährten und Refugiés noch eine Heringschüssel, eine Sauciere und Salatiere mit; nach dieser Reduktion des Heeres ließ er die restierende Mannschaft sich in eine längere Linie ausdehnen und lösete die drei großen Lücken in zwanzig kleine Zwischenräume auf. Dann trug er die Geächteten in die Stube und kam wieder und rief seine Lenette aus des Buchbinders seiner heraus in die Küche: »Ich betrachte schon«, fing er an, »seit einer Achtelstunde unsern Schrank: ich kann nichts merken, daß ich neulich die Glockenschüssel und die Teller herausgehoben – merkst du was?« – »Ach, alle Tage merk' ichs«, beteuerte sie.

Nun geleitete er sie, bange vor einer längern Aufmerksamkeit, eilig in die Stube vor die neuen tätigen und leidenden Absonderunggefäße und deckte ihr sein Vorhaben auf, dieses vierstimmige Quadro aus dem Zinn-Tone in den Silberton zu übersetzen als ein guter Musikus. Er schlug ihr darum das Verkaufen vor, damit sie leichter ins Verpfänden willigte. Aber sie riß alle Register der weiblichen Orgel, das Schnarrwerk, das [173] Flötengedackt, die Vogelstimme, die Menschenstimme und zuletzt den Tremulanten heraus. Er mochte sagen, was er wollte: sie sagte, was sie wollte. Ein Mann sucht den eisernen Arm der Notwendigkeit nicht zu halten oder zu beugen, er steht kalt dem Schlage desselben; eine Frau zieht wenigstens einige Stunden auf den tauben metallenen Ellenbogen, eh' er sie fässet, los. Siebenkäs legte ihr vergeblich das gelassene Fragstück vor, ob sie ein anderes Mittel wisse. Auf solche Frage schwimmen im weiblichen Gehirn statt einer ganzen Antwort tausend halbe Antworten herum, die eine ganze machen sollen, wie in der Differentialrechnung unendlich viele gerade eine krumme Linie bilden – solche unreife, halbgedachte, flüchtige, sich nur wechselseitig schirmende Gedanken waren: Er hätte nur seinen Namen nicht ändern sollen, so hätt' er die Erbschaft – er könnte ja borgen – draußen sitzen seine Klienten warm, und er fodert sein Geld nicht von ihnen – überhaupt sollte er nur weniger verschenken – um die Defensiongebühren von der Kindermörderin sucht er nicht einmal nach – er hätte nur den halben Hauszins nicht voraus geben sollen. Denn vom letzten konnt' er wenigstens einige Tage leben. – Man setze immer der Mehrzahl solcher weiblicher Halbbeweise die Minderzahl eines ganzen entgegen: es verfängt nichts; die Weiber wissen wenigstens so viel aus der schweizerischen Jurisprudenz, daß vier halbe oder ungültige Zeugen einen ganzen oder gültigen überwiegen 52. – Am gescheutesten verfährt einer, der sie widerlegen will, wenn er sie – ausreden lässet und seines Ortes gar nichts sagt; sie werden ohnehin bald auf Nebendinge verschlagen, worin er ihnen Recht gibt, indes er ihnen sogar in der Hauptsache mit nichts widerspricht als mit der Tat. Sie verzeihen keinen andern Widerspruch als den – tätigen. – Siebenkäs wollte leider mit der chirurgischen Winde der Philosophie die zwei wichtigsten Glieder Lenettens einrichten, den Kopf und das Herz, und hob derowegen an: »Liebe Frau, in der Hauptkirche singst du mit [174] jedermann gegen die zeitlichen Güter, und doch sind sie an deinem Herzen angemacht wie Brust- und Herzgehenke. – Sieh, ich geh' in keine Kirche, aber ich hab' eine Kanzel in meiner eignen Brust und setze eine einzige helle Minute über diesen ganzen zinnernen Quark. – Sei redlich, hat denn dein unsterbliches Herz bisher den traurigen Verlust der Glockenschüssel verspürt, und war diese dein Herzbeutel? Kann dieses miserable Zinn, von uns in Stücken eingenommen und verschluckt, wie die Ärzte es gepulvert gegen Würmer eingeben, nicht auch fatale Herzwürmer abtreiben? – Nimm dich zusammen und betrachte unsern Schuhflicker: tunkt er nicht ebenso freudig in seine blecherne Sauciere ein, in der sich zugleich der Braten ausstreckt? – Du sitzest hinter deinem Nähkissen und kannst nicht sehen, daß die Menschen toll sind und schon Kaffee, Tee und Schokolade aus besondern Tassen, Früchte, Salate und Heringe aus eignen Tellern, und Hasen, Fische und Vögel aus eignen Schüsseln verspeisen – Sie werden aber künftig, sag' ich dir, noch toller werden und in den Fabriken so viele Fruchtschalen bestellen, als in den Gärten Obstarten abfallen – ich tät' es wenigstens, und wär' ich nur ein Kronprinz oder ein Hochmeister, ich müßte Lerchenschüsseln und Lerchenmesser, Schnepfenschüsseln und Schnepfenmesser haben, ja eine Hirschkeule von einem Sechzehn-Ender würd' ich auf keinem Teller anschneiden, auf dem ich einmal einen Acht-Ender gehabt hätte – – Da doch die beste Welt hienieden die beste Kammer 53 und die Erde eine gute Irrenanstalt ist, worin wie in einer Quäkerkapelle einer um den andern als Irrenprediger vikariert: so sehen die Bedlamiten nur zweierlei Narrheiten für Narrheiten an, die vergangnen und die künftigen, die ältesten und die neuesten – ich würde ihnen zeigen, daß ihre von beiden annehmen.« –

Lenettens ganze Antwort war eine unbeschreiblichsanfte Bitte: »Tu es nicht, Firmian, verkaufe nur das Zinn nicht!« –

»Meinetwegen also!« (erwiderte er mit bittersüßer satirischer Freude über den Fang des schillernden Taubenhalses in der [175] Schnait, die er so lange vorgebeeret hatte). »Der Kaiser Antonin schickte zwar sein echtes Silbergeschirr in die Münze, und mir wär's noch weniger zu verargen; aber meinetwegen! Es soll kein Lot verkauft werden, sondern alles nur – versetzt. Du bringst mich zum Glück darauf; denn am Andreastage kann ich, ich mag nun den Schwanz oder den Reichsapfel herunterschießen oder gar König werden, alles mit Spaß auslösen, ich meine mit dem baren Gewinste, besonders die Salatiere und Sauciere. Ich lasse dir Recht: haben wir denn nicht die alte Sabel im Haus, die alles hin und wider trägt, das Geld und die Ware?«

Nun ließ sie es geschehen. Das Andreasschießen war ihr Notschuß und Fortunatuswünschhütlein, die hölzernen Flügel des Vogels waren an ihre Hoffnung als ein wächsernes Flugwerk geschnallet, und das Pulver und Blei war wie bei Fürsten ihre Blumen-Sä merei künftiger Freudenblumen. Du Arme in manchem Sinne! Aber eben Arme hoffen unglaublich mehr als Reiche, Daher greifen auch die Lottos wie andere Epidemien und die Pest mehr arme Teufel an als reiche. Siebenkäs, der nicht nur auf den Verlust der Möbeln, sondern auch des Geldes verschmähend heruntersah, war im stillen des geheimen Vorsatzes, den Bettel beim Zinngießer wie eine Reichspfandschaft ewig sitzen zu lassen, gesetzt auch, er würdeKönig, und bei demselben bloß, wenn er einmal unter dessen Werkstatt vorbeiginge, die Verpfändung in einen Verkauf zu verwandeln.

Nach einigen hellen, stillen Tagen legte der Pelzstiefel wieder eine Abendvisite ab. Unter den Drangsalen ihrer Fruchtsperre, bei den Gefahren des Einschwärzens und da beinahe eine Träne oder ein Seufzer als Aufschlag, der entrichtet werden mußte, auf jeden Laib Brot geleget war, da hatte Firmian kaum Muße, geschweige Lust gehabt, an seine Eifersucht zu denken. – Bei Lenetten muß es sich gerade umkehren, und falls sie Liebe gegen Stiefel hegt und trägt, so muß diese freilich auf seinem Gelddünger mehr wachsen als auf des Advokaten Acker voll Hungerquellen. Der Schulrat hatte kein Auge, das den versteckten Jammer eines Haushaltens unwillkürlich hinter dem Lächeln antrifft; er merkte gar nichts. Aber eben dadurch hatte [176] dieses freundschaftliche Drei eine heitere Stunde ohne Nebel, worin, wenn nicht die Glücksonne, doch der Glückmond (die Hoffnung und die Erinnerung) schimmernd aufstieg. Siebenkäs hatte doch wieder ein gebildetes Ohr vor sich, das sich in das närrische Schellengeläute und in die Trompeterstückchen seiner leibgeberischen Laune fand. Lenette fand sich nicht darein, und auch der Pelzstiefel verstand ihn nur, wenn er sprach, nicht wenn er schrieb. Beide Männer sprachen, wie die Weiber, anfangs bloß von Personen, nicht von Sachen; nur daß sie ihre skandalöse Chronik die Gelehrten- und Literargeschichte hießen. Der Gelehrte will alle kleine Züge, sogar die Montierstücke und Leibgerichte eines großen Autors kennen; aus demselben Grunde hat die Frau auf die kleinsten Züge einer durchreisenden Großfürstin, bis auf jede Schleife und Franse, ein ungemeines Augenmerk. Dann kamen sie von den Gelehrten auf die Gelehrsamkeit – – und dann flohen alle Wolken des Lebens, und im Reiche der Wissenschaften wurde das trauernde, mit dem Hungertuche verhüllte Haupt wieder aufgedeckt und aufgerichtet. – Der Geist ziehet die Bergluft seiner Heimat ein und blickt von der hohen Alpe des Pindus hinab, und drunten liegt sein schwerer, verwundeter Leichnam, den er wie einen Alp seufzend tragen mußte. Wenn ein dürftiger verfolgter Schulmann, ein dürrer fliegender Magister legens, wenn ein Pönitenzpfarrer mit fünf Kindern oder ein gehetzter Hauslehrer jämmerlich dort liegt, mit jeder Nerve unter einem Marterinstrument: so kommt sein Amtbruder, um welchen ebensoviel Instrumente sitzen, und disputiert und philosophiert mit ihm einen ganzen Abend lang und erzählt ihm die neuesten Meinungen der Literaturzeitungen. – Wahrlich dann wird die Sanduhr der Folterstunde 54 umgelegt – dann tritt glänzend Orpheus mit der Leier der Wissenschaften in die physische Hölle der zwei Amtbrüder, und alle Qualen brechen ab, die trüben Zähren fallen vom glänzenden Auge, die Furienschlangen ringeln sich zu Locken auf, das Ixionsrad rollet nur musikalisch in der Leier um, und die armen Sisyphi sitzen ruhig auf ihren zwei Steinen [177] fest und hören zu.... Aber die gute Frau des Pönitenzpfarrers, des fliegenden Lesemagisters, des Schulmanns, was hat diese in der nämlichen Not für einen Trost? – außer ihrem Manne, der ihr eben deswegen manches nachsehen sollte, hat sie keinen.

Der Leser weiß noch aus dem ersten Teile, daß Leibgeber drei Programme aus Baireuth geschickt; das vom Dr. Frank brachte Stiefel mit und trug ihm die Rezension desselben für den kuhschnappelschen Götterboten deutscher Programmen an. Dabei zog er noch ein anderes Werklein aus der Tasche, das öffentlich zu beurteilen war. Der Leser wird beide Werke mit Freuden empfangen, da mein und sein Held kein Geld im Hause hat und also von der Beurteilung derselben doch einige Tage leben kann. Die zweite Schrift, die aufgerollet wurde, betitelte sich: Lessingii Emilia Galotti. Progymnasmatis loco latine reddita et publice acta, moderante J.H. Steffens. Cellis 1778. – Es sollen sich viele Mithalter des Götterbotens deutscher Programme über die späte Anzeige dieser Übersetzung aufgehalten und den Boten gegen die Allg. Deutsche Bibliothek gehalten haben, die, ihres geräumigen allgemeinen deutschen Bezirkes ungeachtet, doch gute Werke schon die ersten Jahre nach ihrer Geburt anzeigt, zuweilen schon im dritten, so daß oft wirklich noch das Lob des Werkes in letztes eingebunden werden kann, weil sich die Makulatur davon noch nicht vergriffen. Aber der Götterbote hat mehre Werke von 1778 nicht angezeigt und überhaupt damals gar nicht anzeigen können, weil er erst fünf Jahre darauf – selber ans Licht trat.

Siebenkäs sagte freundlich zum Pelzstiefel: »Nicht wahr, wenn ich die Herren Frank und Steffens geschickt rezensieren soll, so muß meine gute Lenette nicht hinter mir hobeln und brausen mit dem Borstwisch?« – Das hätte wahrlich viel auf sich, sagte ernsthaft der Rat. Nun wurde bei ihm eine scherzhafte und gemilderte Berichterstattung aus den Akten des häuslichen Inhibitiv-(Verbiet-)Prozesses eingereicht. Wendelinens freundliche gespannte Augen suchten das rubrum (den roten Titel) und das nigrum (das Schwarze oder den Inhalt) des Stieflischen Urtels [178] aus seinem Gesichte, das beide Farben trug, abzustehlen und wegzulesen. Aber Stiefel begann trotz seiner mit lauter Seufzern der sehnsüchtigen Liebe für sie ausgedehnten Brust sie anzureden, wie folgt: »Frau Armenadvokatin, das geht durchaus nicht – Denn etwas Edlers hat Gott nicht erschaffen als einen Gelehrten, der schreibt und denkt. Zehnmal hunderttausend Menschen sitzen in allen Weltteilen gleichsam auf Schulbänken um ihn, und vor diesen soll er reden – Irrtümer, von den klügsten Völkern angenommen, soll er ausreuten, Altertümer, längst verschwunden wie ihre Inhaber, soll er deutlich beschreiben, die schwersten Systeme soll er widerlegen oder gar erst machen sein Licht soll durch massive Kronen, durch die dreifache Filzmütze des Papstes, durch Kapuzen und Lorbeerkränze dringen und die gesamten Gehirne darunter erhellen – das soll er, das kann er; aber, Frau Advokatin, mit welcher Anstrengung! – Es ist schwer, ein Buch zu setzen, noch schwerer, zu schreiben. Mit welcher Spannung schrieb Pindar und vor ihm schon Homer, ich meine in der Ilias! – Und so einer nach dem andern bis auf unsere Zeiten. – Ists dann ein Wunder, wenn große Skribenten in der entsetzlichsten Anstrengung aller ihrer Ideen oft kaum wußten, wo sie waren, was sie taten und wollten, wenn sie blind und taub und gefühllos gegen alles wurden, was nicht in die fünf innern geistigen Sinnen fiel, wie Blindgewordene im Traume herrlich sehen, im Wachen aber wie gesagt blind sind? – Aus einer solchen Anstrengung kann ich mirs erklären, warum Sokrates und Archimedes dort standen und gar nicht wußten, was um sie tobe und stürme – warum im tiefen Denken Cardanus sein Zipperlein vergaß – andere die Gicht – ein Franzos die Feuerbrunst – und ein zweiter Franzose das Sterben seiner Frau.«

»Siehst du«, sagte Lenette leis und froh zu ihrem Manne, »wie will ein gelehrter Herr es hören, wenn seine Frau wäscht und fegt?« – Stiefel ging unerschüttert weiter im Kettenschluß: »Zu einem solchen Feuer, besonders ehe man noch hineinkommt, ist Windstille zuvörderst erforderlich. Daher wohnen in Paris die großen Gelehrten und Künstler bloß in der St. Viktorstraße, weil die andern Straßen zu laut sind. So dürfen eigentlich neben Professoren [179] keine Schmiede, Klempner, Folienschläger in einer Gasse arbeiten.« –

Siebenkäs setzte ernsthaft dazu: »Besonders Folienschläger. – Man sollte nur bedenken, daß die Seele mehr Ideen als ein halbes Dutzend 55 nicht beherbergen kann: tritt nun die des Getöses als eine böse Sieben ein, so macht sich eine oder die andere, die man durchdenken oder niederschreiben könnte, natürlicherweise aus dem Kopfe fort.«

Stiefel foderte freilich der Frau den Handschlag als ein Pfandstück ab, daß sie wie eine Josuas-Sonne jedesmal stillstehen wollte, wenn Firmian die Feinde schlug mit seiner Feder und Geißel. »Hab' ich nicht selber«, entgegnete sie, »schon einigemal den Buchbinder gebeten, nicht so arg auf seine Bücher zu schlagen, weil mein Mann es höre, wenn er seine Bücher macht?« Sie gab indes dem Rate die Hand; und er schied zufrieden von Zufriednen und hinterließ ihnen die Hoffnung gefriedigter Stunden.

Aber ihr Guten, wozu dienet euch der Friedensetat bei euerem halben Solde, in dem kühlen, leeren Waisenhaus der Erde, in dem ihr darbet, bei den dunkeln labyrinthischen Irr-Klüften eueres Schicksals, worin der Ariadnens-Faden selber zur Schlinge und zum Garne wird? – Wie lange wird sich der Armenadvokat mit dem Pfand-Schilling des Zinns und mit dem Ertrage der zwei Rezensionen, die er nächstens machen wird, hinfristen können? – Allein wir sind alle wie der Adam in den Epopöen und halten unsere erste Nacht für den Jüngsten Tag und den Untergang der Sonne für den der Welt. Wir betrauern alle unsere Freunde so, als gäb' es keine bessere Zukunft dort, und betrauern uns so, als gäb' es keine bessere hier. – Denn alle unsere Leidenschaften sind geborne Gottesleugner und Ungläubige.

[180]
Sechstes Kapitel

Ehe-Keifen – Extrablättchen über das Reden der Weiber – Pfandstücke – der Mörser und die Rappeemühle – der gelehrte Kuß – über den Trost der Menschen – Fortsetzung des sechsten Kapitels


Dieses Kapitel fängt sich gleich mit Geldnot an; der jämmerliche, zerlechzte Danaiden-Eimer, womit das gute Ehepaar seine wenigen Groschen oder Goldkörner aus dem Paktolus aufzog, war immer in zwei Tagen wieder ausgetropft, wenigstens in dreien. Dasmal indessen konnten die Leute doch auf etwas Gewisses fußen, das nicht unbeträchtlich war, auf die zwei Rezensionen der zwei dagelassenen Rezensierstücke – auf 4 fl. konnten sie gewiß rechnen, wenn nicht auf 5.

Am Morgen nach dem Kusse setzte Firmian sich wieder auf seinen kritischen Schöppenstuhl und beurteilte. Er hätte ein Heldengedicht machen können, so wenig sausten die bisherigen Passatwinde der Morgenstunden. Er zeigte der Welt von früh 8 Uhr bis mittags um 11 Uhr das Programm des Dr. Franks in Pavia günstig an, das betitelt war: Sermo Academicus de civis medici in republica conditione atque officiis ex lege praecipue erutis auct. Frank 1785. Er beurteilte, lobte, tadelte und exzerpierte das Werkchen so lange, bis er glaubte, er habe damit so viel Papier vollgemacht, daß der Ehrensold für das Papier dem Pfandschilling für die Heringschüssel, für die Salatiere und Sauciere und den Teller beikomme – nämlich einen Bogen lang war seine Meinung über die Rede, und 4 Seiten und 15 Zeilen.

Der Morgen war unter seinem Femgericht so schön abgelaufen, daß der Feimer nachmittags ein zweites halten wollte, über das rückständige zweite Werkchen. Bisher hatt' ers nicht gewagt; er hatte nachmittags nur advoziert, nicht rezensiert, und nur als Defensor (Verteidiger), nicht als Fiskal (Ankläger) gearbeitet. Er konnte sich recht gut damit rechtfertigen, daß immer nachmittags die Mädchen und Mägde mit Hauben kämen und Mäuler voll Sprachschätze mitbrächten und auftäten, daß sie, reicher als die Araber, die nur 1000 Wörter für 1 Gedanken [181] haben, ebenso viele Redarten für einen verwahrten und daß sie überhaupt, wie verdorbne Orgeln, sogleich, ohne gegriffen zu sein, mit zwanzig Pfeifen flöteten, sobald nur die (Lungen-) Bälge gingen – – das war ihm gelegen; denn in den Stunden, worauf diese weiblichen Wecker gestellet waren, ließ er seine juristischen losschnarren und trieb unter den Prozessen seiner Lenette seine eignen weiter. Es störte ihn gar nicht; er versicherte: »Ein Advokat ist gar nicht irre zu machen, er mag sei nen Perioden eröffnen und fortstoßen wie er will – sein Periode ist ein langer Bandwurm, den ich ohne Schaden prolongiere, abbreviere (verlängere, abkürze) – denn jedes Glied ist selber ein Wurm, jedes Komma ein Periode.«

Aber mit dem Rezensieren wollt' es nicht gehen. Ich will indes so viel für die Ungelehrten (denn die Gelehrten haben die Rezension längst gelesen) treulich niederschreiben, als er nach dem Essen wirklich fertig brachte. Er schrieb den Titel von Steffens' lateinischer Übersetzung der Emilia Galotti hin und fuhr so fort:

»Gegenwärtige Übersetzung erfüllet endlich einen Wunsch, den wir so lange bei uns herumgetragen haben. Es ist in der Tat eine auffallende Erscheinung, daß bisher noch so wenige deutsche Klassiker ins Lateinische für Schulmänner übersetzet worden sind, die für uns doch fast alle römische und griechische Klassiker verdeutschet haben. Der Deutsche hat Werke aufzuzeigen, welche verdienen, daß sie ein Schulmann und Sprachgelehrter lieset; aber er kann sie nicht verstehen (obwohl übertragen), weil sie nicht lateinisch geschrieben sind. Lichtenbergs Taschenkalender tritt zugleich in einer deutschen Ausgabe – für Engländer, welche Deutsch lernen – und in einer französischen für den deutschen hohen Adel ans Licht; warum werden aber deutsche Originalwerke und dieser Kalender selber nicht auch Sprachgelehrten und Schulmännern in die Hände gegeben in einer guten lateinischen, aber treuen Übersetzung? Sie sind gewiß die ersten, welche die Ähnlichkeit (in der Ode) zwischen Ramler und Horaz bemerken würden, wäre jener verdolmetscht. Rezensent gesteht gern, daß er immer große Bedenklichkeiten darüber gehabt, daß man Klopstocks Messiade nur in zwei Rechtschreibungen [182] geliefert, in der alten und in seiner – daß aber weder an eine lateinische Ausgabe für Schulleute – denn Lessing hat in seinen Vermischten Schriften kaum die Anrufung übersetzt – noch an eine im Kurialstil für die Juristen, noch an eine im planen prosaischen für Meßkünstler oder an eine im Judendeutsch für das Judentum gedacht worden.«....

So weit hatt' ers; aber dann mußt' er aufhören, weil eine Hausjungfer nicht aufhörte, sondern immer wiederholte, was ihre Frau – die Seckelmeisterin – wiederholet hatte, wie nämlich die Nachthaube gesteckt werden sollte: zwanzig Male entwarf sie den Karton und Vorriß der Haube und drang auf Eiligkeit. Lenette beantwortete und vergalt alle ihre Tautologien mit ähnlichen. Kaum hatte die Hausjungfer die Türe zugemacht, so sagte der Rezensent: »Ich habe nicht ein Wort geschrieben, solang die Windmühle da klapperte. Lenette, ists denn eine gänzliche Unmöglichkeit, daß ein Weib sagt, es ist vier Uhr, anstatt zu sagen, es hat vier Viertel auf vier Uhr geschlagen? – Kann keine sagen, morgen ist der Kopf-Lumpen fertig und damit gut? Kann keine sagen, einen Ortstaler verlang' ich dafür und damit gut? Keine, lauf' Sie morgen wieder herauf und damit holla? Kannst denn dus nicht?« – Lenette versetzte kalt: »Du denkst freilich, alle Leute denken wie du!«

Lenette hatte überhaupt zwei weibliche Unarten, über die schon Millionen männliche Speiteufel oder Raketen, nämlich Flüche, in den Himmel aufgefahren sind – die eine, daß sie dem Laufmädchen in der Stube jeden Auftrag wie ein Memoriale in zwei Exemplaren überreichte und nachher mit ihr hinausging und ihr dieselbe Sache noch drei- oder viermal anbefahl – – die andere, daß sie, Siebenkäs mochte schreien wie er wollte, allezeit das erstemal fragte: »wie?« oder »was sagst du?« Ich rate und preise selber den Weibern, sobald sie über die Antwort verlegen sind, diese Foderung eines – Sekundawechsels an; aber in andern Fällen, wo man von ihnen statt der Wahrheit nur Aufmerksamkeit verlangt, ist dieses ancora und bis, das sie dem eilfertigen Sprecher zurufen, ebenso beschwerlich als entbehrlich. – Solche Dinge sind in der Ehe so lange Kleinigkeiten, als ihr Märterer sie[183] nicht rügte; nach dem Rügegerichte aber sind sie noch schlimmer – denn sie kommen öfter vor – als Todsünden und Felonien und Brüche.

Würde der Verfasser dieses durch dergleichen Pleonasmen in seinen Arbeiten gehemmt: so würd' er weiter nichts machen am wenigsten eine Strafpredigt – als – weil man ihn gerade aufmunterte – folgendes


Extrablättchen über das Reden der Weiber


Der Verfasser des Buchs über die Ehe sagt: eine Frau, die nicht spricht, sei dumm. Aber es ist leichter, sein Lobredner als sein Jünger zu sein. Die klügsten Weiber sind oft stumm unter Weibern, und die dümmsten und stummsten sind oft beides unter Männern. Im ganzen gilt vom weiblichen Geschlecht die Bemerkung über das männliche, daß die Menschen am meisten denken, die am wenigsten sprechen, so wie die Frösche aufhören zu quaken, wenn man ein Licht ans Weiher-Ufer stellt. – Übrigens kommt das viele weibliche Sprechen von ihren sitzenden Arbeiten; die sitzenden Handwerker, Schneider, Schuster, Weber, haben mit ihnen nicht nur die hypochondrischen Phantasien, sondern auch das viele Sprechen gemein.

Die Arbeittischlein der weiblichen Finger sind grade die Spieltafeln weiblicher Phantasien, und die Stricknadeln werden innerlich Zauberstäbchen, womit sie die ganze Stube in eine Geisterinsel voll Träume verwandeln; daher zerstreuet ein Brief oder ein Buch eine Verliebte mehr als vier Paar Strümpfe, die sie strickt. Die Affen reden nicht – wie die Wilden sagen –, um nicht zu arbeiten; aber viele Weiber reden eben doppelt, weil sie arbeiten.

Ich habe nachgedacht, zu welchem Zweck. Anfangs scheint es, die Natur ordne jenes Wiederholen des Gesagten zur Ausbreitung metaphysischer Wahrheiten an; denn da nach Jacobi und Kant Demonstration nichts ist als Fortschritt in identischen Sätzen, so demonstrieren die Weiber, da sie immer vom nämlichen zum nämlichen fortschreiten, unaufhörlich. Gleichwohl [184] ist gewiß der Natur an folgendem Nutzen mehr gelegen. Die Baumblätter verharren, wie scharfe Naturforscher behaupten, in einer flatternden Bewegung, um die Luft durch dieses stete Geißeln zu reinigen: diese Schwingung tut beinahe die Dienste eines schwachen kleinen Windes 56. Es wäre aber ein Wunder, wenn die sparsame Natur das viel längere, das siebzigjährige Schwingen der weiblichen Zungen ohne Absicht veranstaltet hätte. Die Absicht mangelt aber nicht; es ist dieselbe, warum die Blätter wackeln; der ewige Pulsschlag der weiblichen Zunge soll der Erschütterung und Umrüttelung der Atmosphäre forthelfen, die sonst anfaulte. Der Mond hat sein Wassermeer und der weibliche Kopf sein Luftmeer, das er gesund zu schütteln hat. Daher würde ein allgemeines pythagoreisches Noviziat in die Länge Epidemien nach sich ziehen – und Nonnen-Kartausen Pesthäuser. Daher nehmen unter kultivierten Völkern, die mehr sprechen, die grassierenden Krankheiten ab. Daher ist die Einrichtung der Natur wohltätig, daß die Weiber gerade in großen Städten – ferner im Winter – ferner in Zimmern – und in großen Gesellschaften am meisten sprechen; denn eben in diesen Orten und Zeiten ist die Luft am meisten verdorben, voll abgesetzten Phlogiston, und der Windfächel bedürftig. Ja die Natur tritt hierin über alle Dämme der Kunst; denn wiewohl viele europäische Weiber den amerikanischen, die, um zu schweigen, den Mund voll Wasser nehmen, es nachzutun versuchten und daher bei Besuchen ihn mit Tee oder Kaffee vollmachten: so tat doch gerade diese Flüssigkeit dem wahren weiblichen Sprechen mehr Vorschub als Abbruch.

Ich bin hierin, hoff' ich, weit entfernt von jenen engbrüstigen Teleologen, die jedem großen Sonnengange der Natur noch kleine Holzwege und Endabsichten unterschieben und vorstecken; solchen mag es geziemen – ich aber schäme mich – zu vermuten, daß das Oszillieren der weiblichen Zungen, deren Nutzen[185] sich genugsam durch die Bewegung der Luft erweiset, vielleicht dazu diene, irgendeinen Sinn oder Gedanken geistiger Wesen z.B. der weiblichen Seele selber – auszudrücken als Typus. Das gehöret unter die Dinge, von denen Kant sagt, daß man sie weder behaupten noch widerlegen kann. Ja ich wollte eher glauben, daß das Reden ein Zeichen sei, daß das Denken und innere Tätigsein aufhöret, wie in einer guten Mühle die Warnglocke nicht eher klingeln darf, als bis jene kein Getreide mehr zu mahlen hat. – Jeder Ehemann weiß auch, daß die Zunge noch darum in den weiblichen Kopf eingeheftet worden, damit sie durch ihren Klang richtig ansage, wenn darin ein Widerspruch, etwas Unregelmäßiges oder etwas Unmögliches herrschet 57. So hat auch Hr. Müller in seiner Rechenmaschine ein Glöckchen angebracht, dessen Klingeln bloß erinnern soll, daß in der Maschine ein falsches Rechenexempel oder irgendein Rechenverstoß vorkomme. – Jetzo ists die Pflicht des Physikers, hierin weiter zu forschen und abzuurteln, wieweit ich etwan fehlgehe.


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Ich wills nur offenbaren: der Advokat hat dieses Blättchen gemacht 58.

Er vollendete seine Rezension erst den Morgen darauf. Er wollte freilich seine wenigen Gedanken über die Übersetzung der »Emilia« so lange öffentlich sagen, bis mit dem Gelde für die Gedanken seine Stiefeln konnten vorgeschuhet werden – anderthalb Druckbogen verlangte Fecht für das Paar –, aber er hatte nicht die Zeit dazu; noch heute mußt' er mit dem Setzer-Augenmaß die Handschrift ausrechnen und den Lohn erheben.

Die Rezensionen gingen ab an den Redakteur: der kritische Kostenzettel lief – da für den Bogen 2 fl., die Seite zu 30 Zeilen, kamen – auf bis zu 3 fl. 4 Gr. und 5 Pf. – Sonderbar! der Mensch [186] lacht, wenn er Geistiges und Körperliches, Verstand und Ehrensold, Schmerzen und Schmerzengeld in Verhältnis gestellet findet; ist denn aber nicht unser ganzes Leben eine Äquation (oder Gesellschaftrechnung) zwischen Seel' und Leib, und ist nicht alle Einwirkung auf uns körperlich, und alle Rückwirkung aus uns geistig?

Das Laufmädchen brachte nichts zurück als einen Gruß statt der Silberblätter, wozu seine Dinte sich hatte kristallisieren sollen. Der Pelzstiefel hatte gar nicht daran gedacht. Die Zerstreuung des Studierens machte den Schulrat kalt gegen eignen Reichtum und blind für fremde Armut: er bemerkte wohl einen Hiatus, aber der mußte in keinem eignen oder fremden Strumpfe, Schuhe u.s.w. sein, sondern in einem Manuskripte. Ein inneres Feuer verblendete diesen Glücklichen gegen das faule phosphoreszierende Holz um ihn; und glücklich ist jeder Schauspieler im Schuldrama der Erde, dem die höhere innere Täuschung die äußere ersetzt oder verdeckt, und vor welchem im Taumel seiner geistigen Rolle die stümperhaften Landschaften an den Theaterwänden blühen und rauschen unter der Regenmaschine aus Erbsen, und den das Auseinanderschieben der Wände nicht weckt.

Aber unsere zwei Geliebte beunruhigte die schöne Blindheit des Rates sehr; ihr kleines Sternbild, das ihnen heut leuchten sollte, sank, in Sternschnuppen aufgelöset, auf die Erde. – Stiefeln tadl' ich nicht, er hatte, wenn kein Auge, doch ein Ohr für das Elend; hingegen vor euch, ihr Großen und Reichen, die ihr, unbehülflich im Honigfladen eures Genusses und mit klebrigen Flügeln in euerem flüssigen Rosenzucker schwimmend, es nicht leicht findet, die Hand zu regen und damit aus der Geldrolle den Lohn für die zu ziehen, welche eueren Honigbehälter füllen halfen, vor euch wird einmal eine richtende Stunde treten und euch fragen, ob ihr wert waret zu leben, geschweige zu genießen, wenn ihr sogar die kleine Mühe des Bezahlens flohet, indes der Niedere sich der großen des Verdienens unterzog. Aber ihr würdet besser sein, wenn ihr bedächtet, wieviel Jammer euere gemächliche Trägheit, eine Geldrolle zu öffnen oder eine kurze Rechnung zu lesen, oft unter Arme verbreite; wenn ihr euch das [187] trostlose Zurückprallen einer Gattin vorstelltet, deren Mann ohne Lohn umkehrt, und ihr Darben und das Durchstreichen so vieler Hoffnungen und die kummerhaften Tage einer ganzen Familie....

Der Armenadvokat nahm also wieder sein närrisches Versilbergesicht vor und ging in allen Winkeln herum und trat den Preßgang nach Möbeln, die er pressen wollte, mit dem Augenglase an. Wie ein guter Fürst oder auch ein guter englischer Minister sich zu Nachts im Bette aufsetzt und den Kopf auf den Ellenbogen stützt und darin nachdenkt, an welche Artikel oder Stämme voll Birkensaft er den Weinbohrer einer neuen Abgabe ansetzen, oder wie er, in einer andern Metapher, den Torf der Taxen so stechen soll, daß neuer nachwächst: also Siebenkäs. Er untersuchte, den Kaperbrief in den Händen, jede Flagge, die ihm vorkam – er hob sein Scherbecken in die Höhe und setzte es wieder hin – er rüttelte die paralytische Lehne eines alten Sessels und knackte damit, er probierte ihn noch mehr, indem er sich hineinsetzte, und stand wieder auf. – – Ich unterbreche mich in meinem Perioden, wenn ich es flüchtig herwerfe, daß Lenette dieses gefährliche Konskribieren und Messen der Landeskinder recht wohl verstand und daß sie in einem fort gegen dieses Pfänderspiel mit Hiobsklagen protestierte. – Er hob ferner einen alten gelben Spiegel mit vergoldetem Laubwerk, der in der Kammer dem grünen Bette-Sparrwerk gegenüber hing, vom Haken herab, besah ihn an dem hölzernen Unterfutter und der Aasseite, schob ein wenig die Spiegeltafel auf und ab und hing ihn wieder hin – einen alten Feuerbock, desgleichen einen Kammertopf, die dreispännig da waren, nämlich als Drillinge, diese berührte er gar nicht, sondern schob solche bloß mit dem Fuß weiter unter ihre Bedachung – von einer porzellanen Butterbüchse in Gestalt einer Kuh (nach damaligem plastischen Witze) hob er flüchtig den Rücken ab und sah bloß hinein, stellte sie aber leer und voll Staub auf das Gesimse als Zier – länger wog er mit beiden Händen einen Gewürzmörser und stellte ihn wieder in den Wandschrank zurück – er sah immer gefährlicher und munterer aus – er zerrete mit den zwei Armen ein Gefach aus der [188] Kleiderkommode hervor, schob Tellertücher und einen italienischen Blumenstrauß zurück und wollte ein Trauerkleid von grilliertem Kattun ein wenig überblättern..... Aber hier flog Lenette auf, fiel ihm in den blätternden Arm und sagte: »Warum nicht gar! So weit solls, wills Gott, nicht mit mir kommen!«

Er drückte kalt das Gefach hinein, sperrte den Wandschrank wieder auf und hob den Gewürzmörser bedachtsam auf den Tisch heraus und sagte: »Meinetwegen! es kann also der Mörser forttanzen!« – Dadurch, daß er diese Schand- und Türkenglocke mit der ganzen Hand wie mit einem Dämpfer umgriff, konnte er den Stößel oder Klöppel recht gut ohne Sang und Klang aus der Höhlung ziehen. Er wußte längst, daß sie eher das Kleid ihrer Seele als das grillierte Überkleid jenes Kleides verpfände; aber er wollte absichtlich, wie der römische Hof, um die ganze Hand anhalten, um leichter den Finger zu bekommen, nämlich den Mörser – auch hofft' er durch bloßes Repetieren seiner Behauptung die Gründe derselben zu ersetzen und Lenetten durch häufiges Vorführen des Popanzes und Wauwaus allmählich mit dem letzteren zu befreunden, ich meine mit dem Versatze des grillierten Kattuns. Er hob deshalb so an: »Wir haben freilich jahraus jahrein wenig zu stampfen – außer wenn wir ein Viertel Mastvieh schlagen lassen – aber zu was das grillierte Kleid aufbehalten wird, das sage mir – du kannst den Kattun nicht öfter antun als ein einziges Mal, wenn ich für meine Person mit Tod abgehe. – Lenette, das frisset mir das Innere an – münze den Rock aus – merz ihn aus – ich schließe aus meinem Kleiderschrank zwei Paar Trauerschnallen bei, mit denen ich nichts mehr einzuschnallen verhoffe!« –

Sie lärmte unbändig und kanzelte mit Verstand alle »leichtsinnige, lüderliche Haushälter« ab, eben weil sie zu befahren hatte, er werde nunmehr alle die Möbeln, die er heute wie ein Fleischbeschauer geschätzet und befühlet hatte, eines nach dem andern in das Schlachthaus unter das Schlächter-Messer führen und wohl gar – du treuer Jesus! – den grillierten Rock auch. »Lieber leid' ich Hunger«, sagte sie, »als daß ich den Mörser um ein Spottgeld verschleudere. Morgen abend kömmt ja der Hr. [189] Rat und überbringt dir das Schreibgeld« (für die zwei Rezensionen).

»Das lässet sich hören«, sagt' er und trug den ausgerissenen Stößel waagrecht mit zwei Händen in die Kammer auf Lenettens Kopfkissen; dann trug er den Mörser, als den Spielraum der Spielwelle, abgesondert nach und stellte ihn auf seines: »Wenn ihn die Leute«, sagt' er, »schellen hörten, so dächten sie (denn wir stoßen nichts darin), ich wollt' ihn versilbern; und das möcht' ich nicht gern.«

Ihre beiderseitige Zentralkasse, die sich in seiner baumwollenen grün-gelben Börse und in ihrer angehangenen breiten Geldtasche aufhielt, mochte sich auf drei – Groschen gut Geld belaufen. Abends sollte ein Groschenbrot für die Barschaft geholt werden, und der Rest des metallischen Samens mußte morgen als Saat des Früh- und des Mittagstückes ausgeworfen werden. – Das Laufmädchen lief nach Brot aus; kam aber wieder mit dem Groschen und mit der Hiobspost: es liege so spät nichts mehr auf allen Bäckerläden als Zweigroschenbrote – der Vater (der Altreis Fecht) habe auch nichts bekommen. Das war eben erwünscht: der Advokat konnte mit dem Schuster in Kompanie treten und so, indem beide Associés ihre zwei Groschen in eine Kasse legten, leicht den Zweigroschenlaib erstehen. Die Fechtischen wurden befragt; der Schuster, der gar kein Geheimnis aus seinen täglichen Falliments machte, repartierte: Von Herzen gern! es soll' ihn Gott strafen, verzeih' es ihm Gott, wenn er und sein Lumpenpack heute etwas gefressen oder etwas ins Maul genommen hätten als Schuhdraht. – Kurz, die Vereinigung des gelehrten Standes mit dem dritten hob den Brotmangel, und die zwei Bündner wogen den zersägten Laib auf einer billigen Waage gleich, auf der die Ware zugleich der Gewicht-und Passierstein war. – – Ach! ihr Reichen! ihr wisset auf eueren Himmelbrot-Wägen nicht, wie unentbehrlich der Armut kleine Gewichte, Apothekerwaagen, Hellerbrote, eine Mahlzeit für 8 Kreuzer, wofür noch das Hemde unter dem Essen gewaschen wird 59, und ein Brotschnitthandel ist, wo bloße Brot-Scherben und schwarzer [190] Brotpuder 60 für Geld zu haben ist – und wie ein ganzer froher Abend einer Familie daran hängt, daß euere Zentner in Loten feilstehen! –

Man aß sich froh und satt; Lenette war gefällig, weil sie ihren Willen durchgesetzt. Der Advokat stellte nachts leise das wartende Pfandstück auf einen weichen Sessel. Am Morgen machte sie ihm durch Stille das Schreiben leichter. Es war aber ein gutes Zeichen, daß sie den Mörser nicht aus der Kammer in den Wandschrank zurücksetzte. Siebenkäs schoß übrigens aus diesem Bombenmörser allerlei Fragen in Bogen ab; er wußte gewiß, daß heute oder morgen diese Loretto- und Harmonikaglocke gegen geringes Abzuggeld noch über die Grenzen marschiere. Eine Frau wartet nur gern das Äußerste ab.

Abends klopfte der Pelzstiefel an. – Es war lächerlich und menschlich zugleich, zu erwarten, das erste, was der Redakteur des Götterbotens bringe, sei das kritische Macherlohn, damit man dem Redakteur wenigstens einen geheizten Leuchter und ein volles Bierglas vorzusetzen vermöge. Über eine solche Bangigkeit geht nichts, weil die Beschämung auf einmal alle Springfedern im Menschen zerbricht. Siebenkäs fragte nichts darnach, weil er wußte, Stiefel frage auch nichts darnach. – Aber die arme Lenette, deren Schamröte besonders durch die Liebe gegen Stiefeln höher wurde! – Endlich zog der Rat aus der Tasche man erwartete allgemein die Erscheinung der Rezensier-Sporteln – bloß seine Rappeemühle oder sein Schnupftabakreibeisen und griff in die Rocktasche, um eine halbe Stange Rappee auf die kleine Häckselbank zu stellen. Er hatt' aber die Stange schon aufgerieben. Er griff in die Hosentasche, um Geld zu einer neuen zu holen. Wahrhaftig er hatte – hier stieß er einen Fluch aus, für den er in England Fluchgebühren hätte geben müssen – die ganze Börse samt den Beinkleidern nicht nur (es waren seine plüschene), sondern auch samt dem richtig abgezählten Päckel eingewickelter Rezensier-Gebühren aus Dummheit zum Schneider geschickt. Er sagte, es wäre nicht das erste mal und der Meister sei recht [191] ehrlich zum Glück; die Sache war aber, er hatte nie den Inhalt seiner Börse auswendig gewußt. – Unbefangen bat er Lenetten: ihm eine Stange Rappee zu verschaffen, morgen übersend' er das Darlehn zugleich mit dem gelehrten Arbeitlohn. Siebenkäs fügte schelmisch bei: »Laß auch Bier mit holen, Beste.« – Er stellte sich mit dem Pelzstiefel ans Fenster, aber er konnte wohl vernehmen, daß die arme Frau – deren Herz gedrückt unter Seufzern lag und das die peine forte et dure ausstand – in die Kammer schleiche und ungehört den Gewürz-Holländer (Lumpenhacker) vom Sessel in die Schürze lege.

Nach einer guten halben Stunde kam endlich Rappee – Bier Geld – und Freude in die Stube; die Glockenspeise des Mörsers war in eine bessere für den Magen umgesetzt, und diese Glocke war gleichsam das Wandelglöckchen gewesen, das hier nicht bloß wie bei den Papisten eine Transsubstantiation oderBrotverwandlung anzeigte, sondern sogar eine selber erfuhr. Diese Gewürz-Lohmühle war schnell in Sägeblätter für die Rappee-Sägemühle des Rates auseinander gelegt. – Das Blut lief jetzo nicht mehr zwischen Klippen und Steinen, sondern ohne Wellen neben Wiesen über kleine Silberkörner des Lebens hinweg. So ist der Mensch: im großen Elend richtet ihn die nächste frohe Minute auf, im großen Glück schlägt ihn die entfernteste, noch unter dem Horizonte stehende trübe nieder. – Kein Großer, der Küchenmeister, Kellerschreiber, Kapaunenstopfer und Mundbäcker hat, wird von dem Vergnügen, zu bewirten oder bewirtet zu werden, gelabt; er bekommt und erstattet keinen Dank; aber der arme Wirt steht mit dem armen Gast, mit dem er den Laib und die Kanne halbiert, im Wechselbunde des Dankes.

Der Abend unterband mit einer weichen Binde den Morgen des Schmerzes – der Mohnsaft von 60 Tropfen Freude wurde jede Stunde eingenommen, und die Arzenei betäubte und berauschte sanft. Siebenkäs gab beim Abschiede dem alten guten Hausfreund einen herzlichen dankbaren Kuß für seinen aufheiternden Besuch, Lenette stand mit dem Leuchter in der Hand darneben. Der Mann, um sie zu entschädigen, daß er heute ihren kleinen Eigensinn im Mörser zu Grütze zerstoßen, sagte schnell und [192] freundlich zu ihr: »Gib ihm noch einen dazu.« Die Röte schlug wie eine Flamme an ihren Wangen hinauf, und sie bog sich zurück, als hätte sie schon einem Munde auszuweichen. Es lag am Tage, sie wäre, hätte sie nicht das Amt einer Fackelträgerin versehen, davongelaufen in die Kammer. Der Rat stand in einer leuchtenden Freundlichkeit – wie etwan eine weiße Wintergegend im Sonnenschein – vor ihr und paßte darauf, daß – sie ihn küsse. Das fruchtlose Lauern verdroß ihn zuletzt und noch mehr das voreilige Zurückkrümmen; beleidigt, aber im alten freundlichen Glanze warf er die Frage auf: »Bin ich keines Kusses wert, Frau Advokatin?« Der Mann sagte: »Sie werden doch nicht erwarten, daß die Frau ihn gibt – sie steckte ja mit dem Leuchter Ihr Haar und alles in Brand.« Jetzo neigte sich der Pelzstiefel langsam und bedächtig und gebietend auf den umflammten Mund herab und setzte seinen heißen auf ihren, wie eine halbe Stange tropfendes Siegellack auf die andere halbe. Lenette gab ihm durch das Zurückbiegen des Hauptes mehr Fläche; jedoch muß man sagen, daß sie, indem sie den linken Arm mit dem Leuchter, der Feuergefahr wegen, weit in die Luft hinaushielt, den Rat mit dem rechten, einer andern, nähern Feuergefahr wegen, höflich wegzustemmen vieles tat. Noch nach seinem Abgange schien sie ein wenig verlegen – ihr Gang hatte etwas Schwebendes, als wenn eine große Entzückung sie mit ihren Flügeln aufwehete – die Abendröte hielt auf ihren Wangen immerfort an, als der Mond schon hoch stand – und ihre Augen glänzten, ohne Aufmerksamkeit, ihr Lächeln kam eher als ihre Worte, und sie sagte wenige – an den Gewürzmörser wurde gar nicht gedacht sie faßte alles leiser und sanfter an und sah einigemal vom Fenster in den Himmel – sie hatte gar keine Eßlust mehr zum halben Zweigroschenlaibe und trank kein Bier, sondern einige Gläser Wasser mehr – – Ein anderer, z.B. ich, hätte die Finger aufgehoben und geschworen, er seh' ein Mädchen schweben, das heute vom Geliebten den ersten Kuß erlitten.

Ich würde meinen Schwur nicht bereuet haben, wenn ich am Tage darauf in das schnelle Morgenrot gesehen hätte, das an Lenetten bei der Ankunft der Gelder für die Rezensionen und [193] für den Rappee auffloh. Es war ein Wunder und eine Höflichkeit, daß der Pelzstiefel das Anleihen zur Tabak-Pechscharre nicht zurückzuzahlen vergessen hatte – kleine Schulden von 2, 3 Gr. kamen ihm immer aus dem zerstreueten Kopf. Aber Reiche, die immer weniger Geld mit sich schleppen als Arme und die es von diesen daher entlehnen, sollten solche Klitterschulden an eine Gedächtnissäule im Kopfe schreiben, weil es ungerecht ist, in den Beutel eines armen Teufels einzubrechen, der noch dazu keinen Habedank für seinen in den Lethefluß fallenden Groschen bekömmt...

– Ich gäbe zwei Bogen von diesem Manuskript darum, wenn das Schwenkschießen einmal käme, bloß weil das gute Ehepaar so sehr darauf und auf die Vogelstange bauet. Denn die Lage dieser Leute wird immer härter, die Tage ihres Schicksals gehen mit denen des Kalenders vom Oktober in den November, d.h. vom Nachsommer in den Vorwinter über, und moralische Fröste und Nächte nehmen mit den physischen zu. Ich will aber ordentlich fortfahren. –

Überhaupt ist schon der November, der die Britennovembrisieret, an sich der schlimmste Monat im ganzen Jahrgang, für mich ein wahrer Septembriseur; ich wollt', ich hätte den Winterschlaf bis zu Anfange des Christmonats. Der fünfundachtziger November hatte beim Antritte seiner Regierung einen fatalen pfeifenden Atem, eine kalte Hand wie der Tod und eine unangenehme Wolken-Tränenfistel; er war nicht auszustehen. Der Nordostwind, den man im Sommer so gern als einen Vorboten des beständigen Wetters hinter seinen Ohren herlaufen hört, bringt im Herbste bloß eine beständige Kälte mit. Unsern Eheleuten war die Wetterfahne eine Trauerfahne; sie zogen zwar nicht wie arme Tagelöhner mit Körben und Karren aus in den Wald nach abgefallenem Ast- und Leseholz, aber sie handelten doch den Wald-Fahrern dieses Brennholz, das erst durch ein zweites abgedampfet werden mußte, nach dem Gewichte wie indische Hölzer ab. Das naßkalte Wetter tat aber dem Beutel des Advokaten nicht halb so viel Eintrag als seinem – Stoizismus: er konnte nicht hinauslaufen und auf einen Berg steigen und sich [194] umschauen und sich rund im Himmel das suchen, was den beklommenen Menschen tröstet, was die Nebel des Lebens niederschlägt, was uns hinter einer anglimmenden Nebelbank wenigstens führende Nebelsterne zeigt. Wenn er sonst auf den Rabenstein oder auf eine Höhe stieg: so hob sich die Aurora der Glücksonne unter dem Horizont glimmend herauf – die Qualen des Erdenlebens lagen und schossen wie andere Vipern nur in den Klüften und Tiefen, und keine Klapperschlange konnte sich mit ihren Zähnen aufbäumen bis an seinen Berg – ach da im Freien, da in der Nachbarschaft vor dem Meere des unübersehlichen Lebens und des hohen Himmels, da zieht der blaue Kohlendampf unserer erstickenden Lage tief unter uns, da fallen die Sorgen wie Blutigel vom blutenden Busen, da breitet der Erhobene die wundgedrückten losgeketteten Arme wie fliegend im reinen Äther aus und will mit ihnen alles umfassen, was über ihm ruht, und strecket sie, gleichsam wiederkommend, nach dem unendlichen unsichtbaren Vater hin und nach der sichtbaren Mutter, nach der Natur, und sagt: »Nimm nur diese Linderung nicht zurück, wenn ich drunten wieder in den Schmerzen und im Nebel bin.« – Und darum sind Gefangne und Kranke so unglücklich in ihren festen Ketten; sie bleiben in ihrer Tiefe angeschlossen, worüber sinkende Wolken gehen, und sehen nur von weitem auf die Berge hinauf, wo man, wie in Sommermitternächten auf denen der Polarländer, die unter den Horizont gefallene Sonne mit einem milden, gleichsam schlummernden Angesicht in der Tiefe glimmen sieht. – Aber in solchem schlechten einsperrenden Wetter war ihm statt des Trostes der Empfindung, der sich unter dem freien Himmel entwickelt, der Trost der Vernunft beschieden, der im Treibscherben der Stube fortkommt. Sein größter, den ich jedem anlobe, war dieser: die Menschen stehen unter einer doppelten Notwendigkeit, unter der täglichen, die sie ohne Murren dulden, und unter der jährlichen und seltenen, die sie nur zankend tragen. Die tägliche und ewig wiederkommende ist die, daß im Winter bei uns kein Getreide blühet – daß wir nicht einmal, wie so manches Vieh, Flügel tragen – oder daß wir vollends nicht uns auf die Ringgebirge des Mondes stellen können, um[195] von da herab an den meilentiefen Abgründen die hinabsteigende köstliche Sonnenbeglänzung zu verfolgen. Die jährliche oder seltene Notwendigkeit ist, daß es in die Kornblüte regnet, daß wir in manchen Erden-Sumpfwiesen nicht gut und daß wir zuweilen, weil wir Hühneraugen oder keine Schuhe haben, gar nicht gehen können. Allein die jährliche Notwendigkeit ist ja so groß als die tägliche, und es ist gleich unsinnig, sich gegen Schlag-Lähmung als gegen Flügellosigkeit zu sperren; alles Vergangne – und dieses allein ist der Gegenstand der Qual – ist so notwendig und eisern, daß es in den Augen eines höhern Wesens derselbe Unsinn ist, ob ein Apotheker über seine abgebrannte Apotheke murrt oder ob er darüber stöhnt, daß er nicht im Mond botanisieren kann, wiewohl er in den dasigen Phiolen manches fände, was er in den seinigen vermisset.

– Ich will hier ein Extrablättchen über den Trost in unserem windigen naßkalten Leben aufsetzen. – Wer wieder über eine kurze Abschweifung äußerst verdrüßlich ist und kaum bei Trost, der suche eben seinen Trost im


Extrablättchen über den Trost


Es kann, d.h. es muß noch eine Zeit kommen, wo es die Moral befiehlt, nicht bloß andere ungequält zu lassen, sondern auch sich; es muß eine Zeit kommen, wo der Mensch schon auf der Erde die meisten Tränen abwischt, und wär' es nur aus Stolz! –

Die Natur reißet zwar mit solcher Eile Tränen aus den Augen und Seufzer aus der Brust, daß der Weise nie den Trauerflor vom Körper ganz abheben kann; aber seine Seele trage keinen! Denn ist es einmal Pflicht oder Verdienst, das kleinste Leiden heiter zu übernehmen: so muß auch das Verschmerzen des größten noch Verdienst sein, nur ein größeres, so wie derselbe Grund, der die Vergebung kleiner Beleidigungen gebietet, auch für das Verzeihen der größten gilt.

Das erste, was wir am Schmerze – wie am Zorn – zu bekämpfen oder zu verschmähen haben, ist seine giftige lähmende Süßigkeit, [196] die wir so ungern mit der Arbeit des Tröstens und der Vernunft vertauschen und vertreiben.

Wir müssen nicht begehren, daß die Philosophie mit einem Federzuge die umgekehrte Verwandlung von Rubens nachtue, der mit einem Striche ein lachendes Kind in ein weinendes umzeichnete. Es ist genug, wenn sie die ganze Trauer der Seele in Halbtrauer verwandelt; es ist genug, wenn ich zu mir sagen kann: »Ich will gern den Schmerz tragen, den mir die Philosophie noch übriggelassen; ohne sie wär' er größer und der Mückenstich ein Wespenstich.«

Sogar der körperliche Schmerz schlägt seine Funken bloß aus dem elektrischen Kondensator derPhantasie auf uns. Die heftigsten Stiche erlitten wir ruhig, wenn sie eine Tertie lang währten; aber wir stehen ja eben nie eine Schmerzenstunde aus, sondern nur zusammengereihete Schmerzen-Tertien, deren sechzig Strahlen bloß die Phantasie in den heißen Stich- und Brennpunkt einer Sekunde fasset und auf unsere Nerven richtet. Das Peinlichste am körperlichen Schmerze ist das – Unkörperliche, nämlich unsere Ungeduld und unsere Täuschung, daß er immer währe.

Wir wissen alle gewiß, daß wir uns über manchen Verlust in zwanzig, zehn, zwei Jahren nicht mehr betrüben; warum sagen wir nicht zu uns: »So will ich denn lieber eine Meinung, die ich in zwanzig Jahren verlasse, lieber gleich heute wegwerfen; warum will ich erst zwanzigjährige Irrtümer abdanken, und nicht zwanzigstündige?«

Wenn ich aus einem Traum, der mir ein Otaheite auf den schwarzen Grund der Nacht hinmalte, wieder erwache und das blumige Land zerflossen erblicke: so seufz' ich kaum und denke, es war nur geträumt. Wie, und wenn ich diese blühende Insel wirklich im Wachen besessen hätte und wenn sie durch ein Erdbeben eingesunken wäre: warum sag' ich nicht da: die Insel war nur ein Traum? Warum bin ich untröstlicher bei dem Verlust eines längern Traums als bei dem Verlust eines kürzern (denn das ist der Unterschied), und warum findet der Mensch eine große Einbuße weniger notwendig und wahrscheinlich als eine kleine? –

Die Ursache ist: jede Empfindung und jeder Affekt ist wahnsinnig [197] und fodert oder bauet seine eigne Welt; der Mensch kann sich ärgern: daß es schon oder erst 12 Uhr schlägt. – Welcher Unsinn! Der Affekt will nicht nur seine eigne Welt, sein eigenes Ich, auch seine eigne Zeit. – Ich bitte jeden, einmal innerlich seine Affekten ganz ausreden zu lassen und sie abzuhören und auszufragen, was sie denn eigentlich wollen: er wird über das Ungeheuere ihrer bisher nur halb gestammelten Wünsche erschrecken. Der Zorn wünschet dem Menschengeschlecht einen einzigen Hals, die Liebe ein einziges Herz, die Trauer zwei Tränendrüsen und der Stolz zwei gebogne Knie! –

Wenn ich in Widmanns Höfer Chronik die ängstlichen blutigen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges durchlas, gleichsam durchlebte; wenn ich das Hülferufen der Geängstigten wieder hörte, die in den Donaustrudeln ihrer Zeit arbeiteten, und das Zusammenschlagen der Hände und das wahnsinnige Herumirren auf den zerstreueten mürben Brücken-Pfeilern wieder sah, gegen welche schäumende Wogen und reißende Eisfelder anschlugen und wenn ich dann dachte: alle Wogen sind zerflossen, das Eis zerschmolzen, das Getümmel ist verstummt und die Menschen auch mit ihren Seufzern: so erfüllte mich ein eigner wehmütiger Trost für alle Zeiten, und ich fragte: »War und ist denn dieser flüchtige Jammer unter dem Gottesackertore des Lebens, den drei Schritte in der nächsten Höhle beschließen, der feigen Trauer wert?« – Wahrlich wenn es erst, wie ich glaube, unter einem ewigen Schmerze wahre Standhaftigkeit gibt, so ist ja die imfliehenden kaum eine.

Eine große, aber unverschuldete Landplage sollte uns nicht, wie die Theologen wollen, demütig machen, sondern stolz. Wenn das lange schwere Schwert des Kriegs auf die Menschheit niedersinkt und wenn tausend bleiche Herzen zerspalten bluten – oder wenn im blauen reinen Abend am Himmel die rauchende heiße Wolke einer auf den Scheiterhaufen geworfnen Stadt finster hängt, gleichsam die Aschenwolke von tausend eingeäscherten Herzen und Freuden: so erbebe sich stolz dein Geist und ihn ekle die Träne und das, wofür sie fällt, und er sage: »Du bist viel zu klein, gemeines Leben, für die Trostlosigkeit eines Unsterblichen, [198] zerrissenes unförmliches Pausch- und Bogen-Leben – auf dieser aus tausendjähriger Asche geründeten Kugel, unter diesen Erdengewittern aus Nebel, in dieser Wehklage eines Traums ist es eine Schande, daß der Seufzer nur mit seiner Brust zerstiebt, und nicht eher, und die Zähre nur mit ihrem Auge.« –

Aber dann mildere sich dein erhabner Unmut und lege dir die Frage vor: wenn nun der verhüllte Unendliche, den glänzende Abgründe und keine Schranken umgeben und der erst die Schranken erschafft, die Unermeßlichkeit vor deinen Augen öffnete und dir sich zeigte, wie er austeilt die Sonnen – die hohen Geister – die kleinen Menschenherzen – und unsere Tage und einige Tränen darin: würdest du dich aufrichten aus deinem Staube gegen ihn und sagen: Allmächtiger, ändere dich! –

Aber ein Schmerz wird dir verziehen oder vergolten: es ist der um deine Gestorbnen. Denn dieser süße Schmerz um die Verlornen ist doch nur ein anderer Trost; – wenn wir uns nach ihnen sehnen, ist es nur eine wehmütigere Weise, sie fortzulieben – und wenn wir an ihr Scheiden denken, so vergießen wir ja so gut Tränen, als wenn wir uns ihr frohes Wiedersehen malen, und die Tränen sind wohl nicht verschieden....

[199]
Fortsetzung und Beendigung des sechsten Kapitels

Der grillierte Kattun – neue Pfandstücke – christliche Vernachlässigung des Judenstudiums – der aus den Wolken gereichte Helfarm aus Leder – die Versteigerung


Im siebenten Kapitel wird das Schwenk- und Andreasschießen gehalten: das jetzige füllet der winterliche dornige Zwischenraum bis dahin oder das Wolfmonat mit seinem Wolfhunger. Siebenkäs würde sich damals geärgert haben, wenn ihm jemand vorausgesaget hätte, mit welchem Mitleiden sein Aktivhandelflor von mir werde beschrieben und mithin von Millionen Menschen aller Zeiten werde gelesen werden; er verlangte kein Mitleiden und sagte: »Wenn ich lustig bleibe: warum seid ihr denn mitleidig?« Die Möbeln, die er neulich gleichsam wie der Tod berühret oder mit dem Waldhammer seiner Hand angeplätzet hatte, wurden nach und nach ausgeholzet und abgetrieben. Der geblümte Spiegel in der Kammer, der sich zum Glück selber in keinem sah, wurde zuerst von der Toten- oder Abendglocke im Bahrtuch einer Schürze aus dem Hause geläutet. Eh' er ihn in die Reihe dieses Totentanzes zog, schlug er Lenetten einen Stellvertreter vor, das Trauerkleid von grilliertem Kattun, um sie daran zu gewöhnen. Es war das censeo Carthaginem delendam (ich stimme für die Zerstörung Karthagos), das der alte Kato alle Tage auf dem Rathaus nach jeder Rede sagte.

Darauf wurde der alte Sessel – anstatt daß der Armstuhl Shakespeares lotweise wie Safran abgesetzt wird oder nach Karats – im ganzen losgeschlagen, und der Feuerbock (ein Dachstuhl fürs Brennholz) zog als Begleiter mit. Siebenkäs war so vernünftig, daß er vorher sagte: censeo Carthaginem delendam d.h. täten wir nicht gescheuter, wenn wir den grillierten Kattun versetzten?

Sie konnten kaum zwei Tage vom Bock und vom Sessel leben.

Jetzt wurde die alchemische Verwandlung der Metalle an dem Scherbecken und dem Kammertopfe versucht, und Tafelgüter und Tafelgelder daraus gemacht. Freilich sagte er vorher: censeo.

[200] – Es ist der Mühe kaum wert, daß ich bemerke, wie wenig ein Handelzweig Früchte abwarf, der mehr ein Holz- als ein Fruchtast war.

Die magere Porzellankuh oder Butterbüchse wäre nach dem Verkaufe kaum über einen Tag lang ihre nährende Milchkuh geworden, wenn sie nicht sieben Potentaten (nämlich deren elendeste Kupferstiche) begleitet hätten als Dareingabe, wofür die Hökerin einige Schmelzbutter beischoß. Censeo, sagte er daher. Viele müssen sich noch erinnern aus meiner Erzählung, daß er neulich, da er die Todesanzeigen unter die Möbeln austeilte, die Tellertücher, welche so nahe am grillierten Rocke lagen, nicht auffallend berücksichtigte; jetzt aber wurd' er auch diesen ein Leichhuhn und Galgenpater und reutete sie bis auf wenige aus. Als sie fort waren, merkt' er kurz vor Martins-Tag beiläufig an, daß die Tellertücherpresse noch vorhanden, es aber nicht abzusehen sei, was sie anfangen und pressen wolle. »Wenn es sich gerade so träfe«, fuhr er heiterer fort, »so könnte die Presse allerdings so lange Urlaub erhalten, bis wir uns selber aus der Glanz-, Öl- und Tellertücherpresse des Schicksals glatt herausgehoben hätten und die umkehrenden Tellertücher einknüpfen könnten ins Knopfloch.« – Anfangs war er sogar willens gewesen, die Leichenprozession umzuwenden und die Presse als Vortänzerin und Vorlauf den Tellertüchern vorauszuschicken; er hätte dann mit der Prozession zugleich den Syllogismus bloß so umgekehrt: »Ich sehe nicht ab, was wir mit den Tüchern anstellen und wie wir sie glatt erhalten, bevor die Presse wieder im Hause ist.«

Ich bin es fest und steif überzeugt, daß hier die meisten, wie Lenette, über meinen Handelkonsul Siebenkäs und über seinen hanseatischen Bund mit allen Leuten, die etwas an sich handelten, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mit ihr sagen werden: »Der leichtsinnige Mensch! So muß er zum Bettler werden: die herrlichen Möbeln!!« – Firmian antwortete ihr allemal: »Ich soll demnach herknien und heulen und vor Trauer wie ein Jude den Rock zerreißen, der schon zerrissen ist, und die Haar ausraufen, da sie der Gram oft in einer Nacht ausrupft? – Ists denn nicht an deinem Heulen genug, bist du nicht meine verordnete [201] praefica und Klagefrau? – Weib, ich schwöre aber dir und so teuer als wenn ich auf Schweinborsten 61 stände: will es Gott haben, der mich so lustig geschaffen, will ers haben, daß ich mit achttausend Löchern im Rocke und ohne Sohlen an Strümpfen und Stiefeln in der Stadt herumziehe, soll ich immer mehr verarmen (hier wurden seine Augen wider Willen feucht und seine Stimme ungewiß): so soll mich der Teufel holen und mit der Quaste seines Schwanzes totpeitschen, wenn ich nicht dazu lache und singe – und wer mich bejammern will, dem sag' ich ins Gesicht, er ist ein Narr. Beim Himmel! Die Apostel und Diogenes und Epiktet und Sokrates hatten selten einen ganzen Rock am Leibe, ein Hemd gar nicht – und unsereiner soll sich in diesem kleinstädtischen Jahrhundert nur ein graues Haar darüber wachsen lassen?«-

Recht, mein Firmian! – Verachte das enge Schlauch-Herz der großen Kleidermotten um dich und der menschlichen Bohrkäfer in den Möbeln. – Und ihr, armen Teufel, die ihr mich eben leset – ihr möget nun auf Akademien oder auf Schreibstuben oder gar in Pfarrwohnungen sitzen – die ihr vielleicht keinen ganzen, wenigstens keinen schwarzen Hut aufzusetzen habt, richtet euch an der großen griechischen und römischen Zeit, worin ein edler Mensch, wie das Bildnis des Herkules, unbeschämt ohne Tempel und ohne Kleider war, über die weibische Nachbarschaft euerer Tage auf und verhütet es nur, daß euer Geist nicht mit euerer Lage verarme, und dann hebet stolz euer Haupt in den Himmel, den ein ängstlicher Nordschein Überzieht, dessen ewige Sterne aber durch das nahe blutige dünne Gewitter brechen!

– Es waren nur noch einige Wochen auf das Andreasschießen hin, auf das Lenette alle ihre Wünsche vertröstete und anwies, gleichwohl kam ein Tag, woran sie etwas Schlimmers wurde als traurig – trostlos.

Der Martinitag wars; an diesem sollte den aus Lenettens Salzburg Ausgewanderten, den Tellertüchern, auch die Presse als ihre Oberin nachgehen; aber niemand im ganzen Reichsflecken wollte [202] die Presse annehmen. Nur ein Jude blieb der einzige Anker der Hoffnung, weil in dessen Noahkasten von Kaufladen sich alle Tiere und Waren hineinretteten. Zum Unglück aber suchte ihn die Tellertücherpresse grade an einem jüdischen Feiertage auf, den er strenger hielt als jedes Wort. Morgen wollt' er sehen.

– Ist es aber nicht – man erlaube mir ein wichtiges Wort zu seiner Zeit – eine äußerst gefährliche Nachlässigkeit der Regierungen, daß die jüdischen Fest-und Fasttage und ihre andern gottesdienstlichen Zeiten jetzo, wo die Juden in deutschen Staaten gleichsam die Generalpächter und Metallkönige der Christen sind, nicht öffentlich und allgemein zum Vorteile so vieler bekannt und verkündigt werden, welche bei ihnen borgen oder sonst handeln wollen? Wer anders leidet dabei als gerade die angesehensten Klassen, Personen von Geburt, von Range, vom Stabe, welche an Festen von Haman, von Ostern, von Tempeleroberung, von Gesetzes-Freude ihre Papiere bringen und Gelder suchen, aber keine dafür haben können? Sollten nicht in allen Kalendern – wie glücklicherweise längst in den berlinischen und bayerischen – die jüdischen Feste bezeichnet werden, sogar bis auf Stunde ihrer Dauer, oder in Zeitungen oder durch Ausrufer verkündigt und in Schulen eingeprägt? Unsere Festkalender braucht freilich der Jude nicht, da wir ihm zu Gefallen gern jeden Sonntag verschieben und aussetzen, und wär' es der erste im Jahr, das Fest der jüdischen Beschneidung, und er wird deshalb auch künftig, wenn die jüdische Universalmonarchie wirklich eintritt, seinem Judenkalender keinen Christenkalender anhängen, wie wir jetzo dem christlichen den jüdischen; aber die Notwendigkeit, den Christen schon in Schulen die jüdischen Festzeiten und ihre religiösen Gebräuche mehr einzuschärfen, wird erst künftig recht einleuchten, wenn die Juden endlich Deutschland zu ihrem Gelobten Lande erhoben und uns den Kreuz-und Rückzug in das asiatische zu einem Heiligen Grabe und einem heiligen Schädelberge übrig gelassen haben.

Gleichwohl sollten wir nicht (wünsch' ich, um diese Abschweifung mit einer zu schließen) künftig, wenn wir die christlichen Zähler jüdischer Nenner werden, als neue Kreuzzügler das [203] Palästina wieder suchen, nach welchem die Juden selber wenig fragen und jagen. Gewiß werden sie künftig gegen uns weit mehr Geist der Duldung beweisen, als wir sonst leider gegen sie gezeigt; eben ihr Handelgeist, den man ihnen bisher so sehr verdacht und aufgerückt, wird sich zu einem Schutzgeiste für uns arme Christen aufstellen und sich unserer annehmen, da wir ihnen zum Abkaufen und Verspeisen der weggeworfenen unpräparierten Hinterviertel des Viehs (sie dürfen ohne Ausäderung ja bloß die Vorderteile genießen) so unentbehrlich sind. Wer anders als Christen kann ihnen das Vieh, das sie am Schabbes 62 nicht zur Arbeit erniedrigen dürfen, vertreten und die nötigen Spann-und Hand-Dienste leisten, und wem wollen sie, gleich den alten Republikanern, Arbeit und Handwerke übertragen als uns, gleichsam ihren edlern Heloten und Sklaven, für welche sie daher gewiß mehr Schonung haben werden als für ihre bisherigen untreuen Wechselschuldner? – –

Ich kehre zu unserm Armenadvokaten zurück und berichte weiter, daß er morgens am Martinitage kein Kauf-Geld erhalten konnte und folglich auch keineMartinsgans dafür. Lenettens Jammer über die entflogene Gans ihrer Konfession muß man selber fühlen. Die Weiber – welche weniger nach Essen und Trinken fragen als die besten aszetischen Philosophen 63, ja mehr nach diesen selber als nach jenen – sind gleichwohl nicht zu bändigen, wenn ihnen gerade gewisse chronologische Lebenmittel entgehen; ihr Hang zu bürgerlichen Festlichkeiten macht, daß sie lieber Festlieder und Evangelien entraten als zu Weihnachten die Stollen – zu Ostern die Käskuchen – am Martinitag die Gans; ihr Magen fodert, wie ein katholischer Altar, an jedem hl. Fest [204] einen andern Fest-Überzug. Daher ist dieses kanonische Gebäck ihr zweites Abendmahl, das sie, wie das erste, nicht des Gaumens halber nehmen, sondern »der Ordnung wegen«. – Siebenkäs fand im Antonin und Epiktet kein Mittel und keine Ersatzmänner der Gans, womit er die wimmernde Lenette hätte stillen können, die immer sagte: »Wir sind doch auch Christen und gehören zur lutherischen Gemeinde: und heute haben alle Lutheraner Gänse auf dem Tisch; so wars bei meinen sel. Eltern. – Aber du glaubst an nichts.« – Aber der Unglaubige schlich noch am späten Judenfeiertage zum Juden, welcher einen artigen Gänsestall mit dünnen und mit fetten Lebern als einen Poststall für auswärtige Glaubengenossen hielt. Er zog bei ihm eine hebräische Duodezbibel aus der Tasche und legte sie auf den Tisch mit den Worten: er find' an ihm mit Freuden einen wackern Gesetzstudierenden; einem solchen aber geb' er am liebsten seine Bibel ganz, ohne einen Heller zu verlangen; er selber könne sie als eine unpunktierte (ohne Selblauter) ohnehin nicht gut lesen, zumal da es ihm auch mit einer punktierten nicht gelinge. »Aber meine Serviettenpresse«, setzte er hinzu und brachte sie unter dem Schanzlooper hervor, »möcht' ich gern hier ablegen, da sie mich beschweren würde. Ich wünschte nämlich gern aus Ursachen einen Ganser aus Ihrem Stalle mitzunehmen – er kann immer zaundürr sein –; Sie mögen ihn meinetwegen an einem so heiligen Tage für ein Almosen nehmen, das Sie mir geben. Hol' ich die Presse wieder ab: so können wir ja immer noch weiter aus der Sache sprechen.«

So bracht' er denn wirklich, um die freien Religionübungen seiner Frau nicht zu hindern, den Kontrovers-Ganser ein, der zur Polemik und zu den Unterscheidlehren zu gehören schien; und den Tag darauf aßen die zwei Doktoranden Martinisten Lutheristen den Schmalkaldischen Artikel – wie denn oft durch die schmalkaldischen Warenartikel von Eisen die theologischen verfochten wurden – gar nach; und das Kapitolium des lutherischen Lehrbekenntnisses war, wie mich dünkt, leicht durch dieses Tier (das man über einem Autodafee gebraten) errettet worden.

Aber an eben diesem Morgen kam der Perückenmacher herauf, [205] den er allemal mit dem größten Vergnügen sah – heute aber nicht, denn gestern, am Martinitag, war der Quatemberschoß der Hausmiete bekanntlich gefällig gewesen. Der Friseur präsentierte sich gleichsam als einen stummen Wechsel auf Sicht; aber er foderte höflich nichts, sondern meldete bloß: den Montag vor Andreas sei öffentliche Versteigerung von vielen Sachen, und wenn er etwan etwas dazu zusammensuchen wolle: so woll' er als beständiger vom Groß- und Kleinen-Rat bestallter Verauktionierung-Proklamator es ihm hiemit gemeldet haben.

Er war kaum die Treppe wieder hinab, so gab Lenette die größten, aber leisesten Zeichen des Kummers von sich, »daß er sie gemahnt habe, und daß nun alle Leute im Hause ihr unordentliches Haushalten wüßten, weil er von Möbeln geredet«. Es war unbegreiflich, wie nur die Frau hoffen konnte, daß bisher niemand es gemerkt habe, da Arme die Armut am er sten erraten. Indes hatte sich doch auch Firmian geschämt, zum Friseur zu sagen, er habe sich bisher das Bestallungschreiben eines Auktionators seiner eignen Möbeln zugefertigt. Hier fühlte er, daß er vor einer Person und vor Armen mehr über seine Dürftigkeit erröte als vor einer ganzen Stadt und vor Reichen – und er fuhr zornig auf über die verdammten Wind-Versetzungen der menschlichen Eitelkeit in die edelsten Teile. –

Sogar dem Leser kann der mit lauter Distelköpfen eingefaßte Weg zum Andreastage nicht länger vorkommen als meinem Helden, der noch dazu die Distelköpfe insgesamt anfassen und ausreißen mußte; sein Garten des Lebens glich immer mehr einem guten englischen, worin nur stachlichte und leere, aber keine Obstbäume gelitten werden.

Jeden Abend, wenn er das Schloß am Gitterbette aufdrückte, sagt' er äußerst vergnügt zu seiner Lenette: »Jetzt sind nur noch 20 (oder 9, oder 18, oder 17) Tage hinauf das Schwenkschießen.« Aber nun hatte der Haarkräusler und Versteigerungausrufer Lenetten – obgleich die Abende lang und dunkel und vortrefflich für arme Pfandherren waren und den verschämten nackten Jammer der armen Leute zudeckten – gänzlich verderbt; sie schämte sich vor den Leuten im Hause. Firmian, der sich über die Unerschöpflichkeit [206] seines Kopfes und seines Hauses zugleich verwunderte und der immer zu sich sagte: »Ich bin doch neugierig darauf, was mir heute wieder beifallen wird, und wie ich mich aus dieser Affäre ziehe«- Firmian hatte einige Tage nach dem Martini-Essen wieder zwei gute Möbeln im Vorschlag, einen langen Stechheber und ein breites großes Schaukelpferd (von seiner Kindheit). »Wir haben weder ein Faß noch ein Kind«, sagte er dazu; aber die Frau bat ihn um Gottes willen: »Das Schaukelpferd (sagte sie, als es in denPfandstall gezogen werden sollte) und der Stechheber stechen zu weit aus der Schürze und aus dem Korbe heraus, und im Mondschein kanns jeder sehen – tu mir um Gottes willen die Schande nicht an!«

Und doch mußte etwas fort; Firmian sagte in einer sonderbaren, schneidenden und gerührten Laune: »Sein muß es – das Schicksal trommelt wie Prizel 64 unten auf der Trommel, und der Hafer springt in die Höhe – wir müssen aber einmal vom Trommelfelle fressen.«

»Alles«, sagte sie erschöpft, »nur nichts Bauschendes – laß mich selber suchen.« Sie suchte, zog die oberste Schublade der Kommode und hob einen Strauß von italienischen Blumen empor und sagte: »lieber das da!« und weinte nicht und lächelte nicht. Er hatt' es oft gesehen, aber da er ihrs selber am vorigen Neujahr- und Verlobungtage als seiner Verlobten geschenkt hatte, und da es so romantisch schön war – eine weiße Rose, zwei rote Rosenknospen und ein Einfaßgewächse von Vergißmeinnicht setzten den bunten Nachschatten einer abgewelkten Flora zusammen –, so hatten sich alle Fibern seines empfindlichen Herzens vor der Entäußerung dieses bunten Schaugerichts aus einer reichern frohern Zeit gesträubt. Dieses verzichtende, duldsame Hingehen des Nachflors an ihrer Brust erschütterte die seinige, als wenn tausend große Seufzer sich darin drängten. – »Lenette! (sagt' er, unendlich erweicht) es sind ja die Blumen bei unserer Verlobung.« –

[207] »Aber wer wird sie viel kennen? (sagte sie froh und kalt). Und sie sind doch nicht so groß wie andere Sachen.«

»Hast du es denn vergessen«, stammelte er, »wie ich dir damals die Bedeutung des Straußes erklärte?«

»Ei, die Vergißmeinnicht (sagte sie noch kälter und über ihr Gedächtnis erfreuet) wollen sagen, daß ich dein nicht vergesse und du mein nicht – die Knospen bedeuten Freude – nein, die Knospen bedeuten die Freude, die noch nicht ganz da ist – und die weiße Rose – das weiß ich wahrhaftig selber nicht mehr.«....

»Schmerz bedeutet sie (sagte er hingerissen), Unschuld und Gram und ein bleiches weißes Angesicht bedeutet sie.« Er fiel ihr weinend um den Hals und rief es beinahe: »Du Gute! du Gute! ich kann ja nichts dafür – ich wollte dir gerne alles geben, aber ich habe nichts.«....

Er hörte plötzlich auf, denn sie hatte unter der Umarmung das Schubfach in die Kommode zurückgedrückt und sah ihn mit hellen sanften Augen an, in denen keine einzige Träne war. Sie fuhr im Tone der vorigen Bitte und mit einer größern Hoffnung fort: »Nicht wahr, ich behalte den Heber und das Pferd? – Und für den Strauß bekommen wir auch mehr.« – Er sagte in einem fort und in immer weichern Tönen: »Lenette! – beste Lenette!«

»Warum denn nicht?« fragte sie immer sanfter; denn sie verstand ihn nicht. »Lieber den Rock vom Leibe versetzt!« antwortet' er. Aber da sie jetzo besorgte, er ziel' auf ihr grilliertes Trauerkleid, und da sie eben darum in Rührung kam – und da sie auf einmal die wärmsten Predigten gegen alles Verpfänden großer Möbeln hielt – und da er so klar ersah, ihre vorige Kälte sei keine künstliche: so wußt' er leider alles, so wußt' er das Herbste, was kein Philosoph mit seinen süßen Tropfen mildern und versetzen kann – – nämlich:

entweder sie lieb' ihn nicht mehr, oder sie hab' ihn nie geliebt. Nun waren die Flechsen seinen Armen entzweigeschnitten, die sonst das Unglück wegstemmten; er konnte in der Entkräftung des (geistigen) Faulfiebers nichts sagen als das: »Mache, was du willt; mir gilts nun gleich.« – Darüber ging sie froh und eilig hinaus zur alten Sabel, kam aber sogleich wieder zurück. Dies [208] war ihm lieb, er konnte, seit drei Augenblicken viel tiefer vom Schmerze angefressen, noch das Bittere mit den ruhigen Worten nachholen: »Lege doch dein Myrtenkränzchen mit zum Blumenstrauß: so fällt er etwas mehr ins Geld und Gewicht, da das Kränzchen wirklich so schön gearbeitet ist als meine welschen Blumen nimmermehr.«

»Mein Brautkränzchen?« rief Lenette, zornig errötend, und zwei harte Tränen entschossen ihr, »nein, das geb ich absolut nicht her, ich nehm' es in den Sarg mit, wie meine selige Mutter. – Hast du es nicht selber an meinem Ehrentage in die Hand genommen, da ichs unter dem Frisieren heruntergetan und auf den Tisch gelegt, und hast selber gesagt, es sei dir so wichtig (ich habe die Worte genau gemerkt), ja lieber als die Trauung? Nein, ich bin und bleibe deine Frau und halte das Kränzchen wie mein Leben fest.«

Jetzt bewegte sich sein Herz ganz anders und sehr nach dem ihrigen zu; er versteckte es aber hinter die Frage, warum sie so bald wiedergekommen. Die alte Sabel – hörte er nun – war nämlich bei dem Buchbinder gesessen; bei diesem wieder der Venner von Meyern, der gewohnt war, vom Pferde abzusteigen und teils beim Buchbinder nachzusehen, welche Neuigkeiten die Damen da binden ließen und wie bunt broschieren, teils beim Schuhflicker das Bein mit dem Reitstiefel auf die Werkstatt zu stellen und eine Stulpe fester nähen zu lassen und nach allerlei zu fragen. Die Welt – was doch nichts anders heißen kann als so viele fleißige Zungendrescherinnen, als Kuhschnappel für seine tauben Ähren aufzuweisen hat – kann allerdings aus allem mutmaßen wollen, der Venner sei ein wirklicher Heinrich der Vogelsteller für mehr als eine Frau im Hause, welches letzte wieder für ihn eine weibliche Volière sei; aber ich verlange Beweise. Lenette ließ sich hingegen auf keine ein, sondern ergriff ohne weiteres eine fromme Flucht vor dem Vogelsteller Rosa.

Mit keiner sonderlichen Schamröte über die Wandelbarkeit des Menschenherzens erzähl' ich weiter, daß jetzo Firmians zusammengedrückte Brusthöhle um viele Zolle weiter wurde und geräumig für ein bedeutendes Vergnügen, bloß weil Lenette ihr [209] Hochzeitkränzchen so fest gehalten und bei dem Venner so kurz ausgehalten; – »sie ist doch treu, wenn nicht warm, oder am Ende wohl gar warm«, sagte er sich. Er ließ ihr daher mit Freude ihren Willen und seinen dazu, das Kränzchen in Haus und Herz zu behalten. Darauf ließ er ihr, wenn auch weniger freudig, ohne weitern Strauß über den Strauß, den andern Willen, der nicht ihr Gefühl versehrte, sondern nur seines; die kleine Gedächtnis-Staude wurde bei einer höflichen Frau, die den Titel Taxatrizin führte, unter dem Schwure verpfändet, sie mit dem ersten Taler, der am Andreastage von der Vogelstange falle, einzulösen. – –

Das Blutgeld des seidenen Gebüsches wurde so zerstückt, daß man es in den kotigen Weg bis zum Sonntage vor dem Schwenkschießen gleichsam als Steinchen zum Auftreten werfen konnte. Dieser Sonntag (27. Nov. 1785) war vor dem Montag, auf welchen die Versteigerung anberaumet war – den Mittwoch steht er (hofft' er) und wir alle (hoff' ich) an der Vogelstange gewiß.

Freilich am Sonntage mußt' er durch einen von mehren Gewittern angelaufnen Strom hindurch; wir wollen alle nach; aber ich sage voraus, in der Mitte ists tief.

Der Magen seines innern Menschen zeigte einen unglaublichen Ekel und eine umgekehrte peristaltische Bewegung gegen alles Verpfänden seit der Blumenaffäre. Die Sache war: er konnte die Frau auf nichts mehr verweisen – anfangs verwies er sie auf die Vogelstange – dann, als Mörser und Sessel die Festung ohne Sang und Klang geräumet hatten, Dinge, die nicht als Schützen Preise um den Vogel hingen, da verwies er sie auf öffentliche Versteigerungen, worin er alles um halbes Geld zu erstehen sich getraue – zuletzt verwies er zwar immer auf jene, aber nicht um Passiv-, sondern um Aktivhandel darin zu treiben und ihnen Fabrikate nicht sowohl abzunehmen als zuzuführen, worin Spanien hinter ihm bleibt.

Oft wird der Sieger über große Beleidigungen von der kleinsten übermannt; ebenso ists mit unsern Schmerzen: die harte feste Brust, auf welche eine qualenvolle Vergangenheit vergeblich drückte, bricht oft, wie ein lang überspültes Eis, unter dem leichtesten Fußtritt des Schicksals ein. Er hatte bisher sich ganz gut [210] aufrecht gehalten und seine Landfracht ungebückt getragen und froher als viele. Er hatte bisher den Henker nach allem gefragt. Hatt' er sich nicht (um nur einiges anzuführen) im Anzuge über den deutschen Kaiser gesetzt, der (sagt' er) an seinem Ehrentage in Frankfurt nichts anzuziehen habe als einen entsetzlich-alten, von Karl abgelegten Kaiserrock, nicht viel besser als Rabelais' alter, indes seiner um viele Jahrhunderte jünger sei als der kaiserliche? Hatt' er nicht seiner Frau, da sie trübe seinen perennierenden überständigen Kleiderflor überschauete, zugemutet, sich vorzustellen, er diene mit tausend andern Ansbachern in der neuen Welt und das Schiff, das ihnen neue Monturen zuzufahren habe, werde gekapert, so daß die ganze Mannschaft nichts anzuziehen behielte, als was sie hatte ablegen wollen? – Und er fußte seit langem auf etwas Besseres – offenbar auf echte Apathie – als auf sein einziges Stiefelpaar, das sich durch zweimaliges Vorschuhen wie ein Taschenperspektiv oder eine Posaune zusammengeschoben hatte zu guten Halbstiefeln, so wie die lange Kultur auch die deutschen Körper um vieles abkürzte und aus diesem Langgewehr Kurzgewehr machte.

Aber am Sonntag, wovon ich sprechen will, machte ihn ein einziger kleiner Raub- und Unglückvogel, der über die öde Sarawüste seiner Lage flog, viel zu scheu. Er selber hätte eher das Gegenteil erwartet: denn da er bisher die Sitte hatte, sich gegen alle dunkle Trauerszenen voraus zu rüsten durch Probekomödien, ich meine, da er alle künftige Aktenstücke, die der Heimlicher von Blaise gegen ihn liefern konnte, im voraus durchlas und so die künftige Last als einegegenwärtige spielend auflud, um nachher das Spiel umzukehren: so nahm es ihn sehr wunder, daß das gewisseste vorausgesehene Übel, sobald es aus der Zukunft nahe an uns herantritt, in der Nähe längere Dornen habe als in der Ferne. Als nämlich am Sonntage in den luftleeren Raum seiner Brust noch der Amtbote der Erbschaftkammer mit dem lang erwarteten dritten Fristgesuche des Heimlichers kam und mit dem dritten Ja-Dekret darauf: so wurde es seiner Seele bei diesem neuen Zug des Stiefels aus der öden Luftglocke übel und engbrüstig. – –

[211] – Ich habe im Schwalle meiner offiziellen Berichte das zweite Fristgesuch absichtlich unerwähnt gelassen, weil ich wohl hoffen durfte, daß jeder Leser, der nur ein halbes Schiffpfund Akten oder nur eine einzige Liquidation (Rechnung) von Rechtsfreunden in Händen gehabt, es ohnehin voraussetzen werde, daß nach dem ersten Fristgesuche notwendig das zweite erscheine. Eine Schande ist es für unsere Justiz, daß ein redlicher, rechtlicher Beistand so viele Gründe, ich möchte sagen Lügen, aufsetzen muß, eh' er die kleinste Notfrist erficht; er muß sagen, seine Kinder und seine Frau seien todkrank, er habe Fatalien und 1000 Arbeiten und Reisen und Krankheiten; indes es hinreichen sollte, wenn er beibrächte, daß die Verfertigung der unzähligen Fristgesuche, mit denen er überhäuft sei, ihm wenig Zeit zu andern Schriften belasse. Man sollte einsehen, daß die Fristgesuche offenbar wie andere Gesuche auf die Verlängerung des Prozesses hinarbeiten, wie alle Räder der Uhr bloß zur Hemmung des Hauptrades ineinandergreifen. Ein langsamer Pulsschlag verkündigt nicht nur in Menschen, sondern auch in Rechtshändeln ein langes Leben. Ich denke, ein Advokat, der Gewissen hat, nötigt gern, solang er kann, nicht sowohl dem Prozesse seines Klienten – diesen schlöss' er sogleich, könnt' er sonst – als dem seines Gegners ein ausgedehntes Leben auf, um den Gegner teils heimzusuchen, teils abzuschrecken, oder um ihm ein günstiges Urtel, wofür niemand stehen kann, von Jahr zu Jahr zu entrücken, so wie in Gullivers Reisen Leute mit einem schwarzen Stirn-Klecks zur Qual ein unaufhörliches Leben erhalten. Der gegenseitige Sachwalter denkt nun wieder der gegnerischen Seite dieselbe Kriegs-Verlängerung zu – und so wickeln beide Patronen beide Klienten in ein langes Akten-Zuggarn ein, und jeder meint es gut. Überhaupt sind Rechtsfreunde die Leute nicht, denen die Rechte so gleichgültig sind wie das Recht, und sie wollen dagegen lieber handeln als schreiben; wie Simonides auf die königliche Frage, was Gott sei, sich einen Tag Bedenkzeit ausbat – dann wieder einen – und wieder einen – und immer einen, weil kein Leben diese große Frage erschöpft: so hält der Jurist nach jeder Frage, was ist Rechtens, von Zeit zu Zeit um [212] Fristen an – er kann die Frage nie auflösen – ja er würde, wenns die Richter und die Klienten wollten, seine ganze Lebenzeit mit der schriftlichen Beantwortung einer solchen Rechtsfrage zusetzen. Advokaten machen aus einer solchen Denkart, so gemein ist ihnen solche, nicht viel. –

– Ich komme zurück. Siebenkäs sank beinahe unter dem weltlichen eisernen Arm und dessen sechs langen Dieb- und Schreibfingern darnieder. Die Dünste auf seiner Lebenbahn zogen sich in Morgennebel zusammen – diese in Abendwolken – diese in Regenschauer. »Es geht manchem armen Teufel zu hart«, sagt' er. Hätt' er eine lustige Frau gehabt, er hätt' es nicht gesagt; aber eine Kreuzschlepperin voll Jeremiaden, eine elegische Dichterin voll Hiobiaden war selber ein zweites Kreuz.

Er durchsann nun alles: er hatte kaum so viel, um den künftigen Kalender zu kaufen – oder einen Bund Hamburger Federn (denn seine Satiren erschöpften weniger seine Kräfte als die Flederwische Lenettens, so daß er manchmal den geröteten Pfeifenansatz des Pelzstiefels zu einem Schreibkiel verschneiden wollte) – er wollte gern Teller in Nährmittel (es waren aber keine da) verwandeln und den Galliern nachschlagen, die ein rundes Stück Brot anfangs zum Teller, dann zum Nachessen verbrauchten, oder gar den Hunnen, die ihren Sattel von Fleisch, den sie gar ritten, nachher verspeiseten – seine Halbstiefeln mußten für das bevorstehende Schwenkschießen zum drittenmal vorgeschuhet und abbrevieret werden, und es war nichts dazu da als der Artist Fecht – er hatte an jenem großen Tage überhaupt nichts anzuziehen, nichts einzustecken und weder im Beutel etwas, noch im Kugelsack, noch im Pulverhorn...

Ein Mensch treibe nur absichtlich seine Angst aufs höchste: so fället der Trost plötzlich, wie ein warmer Regentropfen, vom Himmel in sein Herz. – Siebenkäs katechisierte sich jetzt schärfer, was ihn denn eigentlich peinige: nichts als die Furcht, auf dem Schießgraben ohne Geld, ohne Pulver und Blei und ohne die dritte Abbreviatur der Stiefeln zu erscheinen. »Weiter nichts?« antwortet' er. »Was will mich denn zwingen, überhaupt zu erscheinen? – Ich bin ja der Affe«, setzt' er hinzu, »der jammert, daß [213] er die mit Reis gefüllte Pfote nicht aus der enghalsigen Flasche ohne Korkzieher bringen kann – ich darf ja nur mein Schützenlos und meine Büchse verkaufen, ich darf ja nur die Pfote aufmachen und leer herausziehen.«

Er beschloß, am Auktiontage die Büchse zu holen und sie dem Proklamator und Friseur in die Versteigerung mitzugeben.

Er stieg, wundgedrückt vom Tage, ins Bette, auf dessen unbestürmten Ankerplatz er sich den ganzen Tag vertröstete: »Das Gute hat doch die Nacht an sich«, sagt' er, indem er darin sitzend die Federn gleich verbreitete, »daß sie den Menschen lichtfrei, holzfrei, kostfrei, zechfrei, kleiderfrei hält, nur ein Bette muß einer haben – ein Armer ist doch so lange glücklich, als er liegt, und zum Glücke steht er nur die Hälfte seines Lebens.« Die Ohnmachten der Seele oder des Frohsinns gleichen denen des Körpers, die nach Zimmermann 65 aufhören, wenn der Kranke eine waagrechte Lage annimmt. –

Wär' am Bett ein Bettzopf gewesen: so hätt' ich diesen die Ankerwinde genannt, womit er sich am Montag langsam vom Ruheplatz in die Höhe drehte. Er stieg darauf zum Dachstuhl hinauf, wo in einer alten vernagelten langen Feldkiste seine Büchse gegen Mißbrauch verschlossen lag. Sie war ein kostbares Erbstück von seinem Vater, der Pikeur und Büchsenspanner bei einem großen Reichsfürsten gewesen. Er hob mit dem Baumheber, d.i. mit einem Eisenkloben, das Brett samt den Wurzeln d.h. Nägeln auf; – und das erste, was voran lag, war ein lederner Arm, der ihm ordentlich durch die Seele fuhr. Denn der Arm hatt' ihn sonst häufig ausgeprügelt.

Es wird mich nicht zu weit verschlagen, wenn ich nur ein einziges Wort darüber verliere. Diesen Parade-Arm hatte nämlich am Leibe, wie im Felde eines Wappens, Siebenkäsens Vater seit der Zeit geführet, daß er seinen wahren angebornen Arm in Kriegdiensten des gedachten großen Reichsfürsten zugesetzt hatte, der ihn sogleich zu einiger Belohnung als Büchsenspanner bei der Obrist-Jägermeisterei anstellte. Den adjungierten Arm trug der Büchsenspanner an einem Haken der linken Achsel, [214] mehr wie einen Rockelor-Ärmel oder verlängerten Hand- und Armschuh zur Zierde, als etwan wie einen Maulchristen von Parade-Arm. Bei der Erziehung aber tat ihm der lederne Arm die Dienste einer Schulbuchhandlung und Bibelanstalt und war der Kollaborator des fleischernen. Gemeine Fehler, z.B. wenn unser Firmian falsch multiplizierte – oder auf dem Hühnerhunde ritt oder Schießpulver aus Näscherei leckte – oder eine Tabakpfeife zerbrach, solche strafte der Büchsenspanner gelinde, nämlich bloß mit dem Stock, der überhaupt in guten Schulen an den Kinderrücken als Saftröhre und Stechheber aufläuft und solche mit wissenschaftlichem Nährsafte tränkt, oder der die Deichsel bleibt, woran ganze vorgespannte Winterschulen lustig ziehen. Aber zwei andere Fehler sucht' er ernsthafter heim. Wenn nämlich ein Kind unter dem Essen lachte, oder wenn es in den langen Tisch- und Abendgebeten stockte oder irrte: so amputierte er schnell mit dem angebornen Arm den erworbnen und schlug mit dieser Krieggurgel – sein eigner Ausdruck – seine lieben Kleinen entsetzlich. Firmian erinnerte sich noch recht gut, als wär' es ihm gestern begegnet, daß einmal er und seine Schwestern eine ganze halbe Stunde unter dem Essen von diesem Streitflegel alternierend gedroschen wurden, weil das eine zu lachen anfing, indem um das andere ernste dieser lange Muskel flatterte. Noch heute erbitterte das Leder sein Herz. Ich sehe recht gut den Nutzen ein, wenn Eltern und Lehrer es versuchen, mit dem organisierten Arm den leeren auszuhenken und vermittelst dieser Vereinigung und diesem Konkordat zwischen weltlichem und geistlichem Arm einen Zögling zu schlagen; aber nur muß es allezeit geschehen; über nichts ergrimmen Kinder mehr als über neue Marterinstrumente oder über einen neuen Spielraum der alten. Ein an Rückenstrafen und Lineale gewöhntes Kind darf nicht mit Ohrfeigen und nackten bloßen Händen angegriffen werden; ein an diese verwöhntes leidet wieder Lineale nicht. Der Verfasser dieser Blumenstücke wurde einmal in seinen frühern Jahren mit einem Pantoffel geworfen. – Die Narbe von diesem Wurfe bricht noch jetzt in seiner Seele auf, indes er ordentlicher Prügel sich nur schwach erinnert. –

[215] Siebenkäs zog den Zucht-Arm heraus und die Büchse dazu; aber welch ein Fund lag darunter! – Jetzo war ihm geholfen. Wenigstens konnt' er doch zu Andreas mitschießen in kürzern Stiefeln – und überhaupt konnte er doch einige Tage essen, was er wollte. – Was freilich ihn und mich bei der ganzen Sache am meisten erstaunen läßt (erklären lässet sichs aber immer), war bloß, daß er nicht eher daran gedacht hatte, da doch sein Vater ein Jäger war; wiewohl ich auf der andern Seite gern gestehe, daß dieser Tag nicht besser auserlesen sein konnte, weil in ihn gerade die Versteigerung fiel.

Der Knebelspieß – der Pferdeschwanz – der Vorlaß – das Fuchseisen – der Stoßdegen – die Hausapotheke und die Maske mit einem Halse, lauter Dinge, die er bisher in der Feldkiste nicht gesucht hatte, konnten ja den Augenblick hinabgetragen und aufs Rathaus geschoben werden, damit der frisierende Sachse sie losschlüge. –

Und das geschah auch. Er war nach langen Unglückfällen warm-durchfreuet über einen Zufall. Er zog der ganzen zur Versteigerung abgegangenen Kiste – bloß die lederne Schlag-Ader und die Büchse blieb zurück – selber nach, um zu hören, was man droben biete.

Er stellte sich zunächst an den hektischen Hausherrn hinter die Versteigertafel mit seinen zu langen Halbstiefeln. Das ganze gleichsam in einer Feuergefahr oder Plünderung zusammengeworfne Möbeln-Heergeräte, meistens verkauft von Verarmenden, meistens gekauft von Armen, machte seine Begriffe von Minute zu Minute immer kleiner von diesem zusammengesetzten Schöpf- und Pumpenwerk und überhaupt von der Maschinerie, welche den Springbrunnen einiger kleiner Lebenstrahlen im Springen und Glänzen erhält, und er selber, der Maschinenmeister, wurde immer männlicher. Es ärgerte ihn, daß sein Geist gestern ein unechter Edelstein gewesen, den ein Tropfen Scheidewasser verdunkelt und der Farbe beraubt; denn ein echter glänzet fort. – Nichts macht humoristischer und gegen die Ehre der Stände kälter, als wenn man die des seinigen vertauschen muß mit der Ehre der Person oder des Werts, und wenn man überhaupt [216] sein Inneres immer mit Philosophie gleichsam wie ein Diogenesfaß gegen äußere Verletzungen überziehen, oder wenn man, in einer schönern Metapher, wie die Perlenmuschel, die Löcher, welche Würmer in unsere Perlenmutter bohren, mit Perlen der Maximen vollschwitzen muß. – Inzwischen sind Perlen besser als eine unversehrte Perlenmutter; ein Gedanke, den ich mit Golddinte schreiben sollte.

Ich stelle so viele Philosophie mit gutem Grund voraus, weil ich den Leser dahin bringen will, daß er nicht zu viel Lärm über das erhebt, was der Armenadvokat jetzo – machen will, genau betrachtet einen unschuldigen Spaß, nämlich den, daß er – da ohnehin die gepuderte Lunge des Proklamators lieber keucht als schreiet – diesem Hammerherrn den Glockenhammer der Versteigerung abnimmt und alles selber versteigert. Er tats in der Tat nur eine halbe Stunde lang und noch dazu bei seiner eignen Ware; ja er hätte sich hier bedacht, das Hammerwerk zu pachten, hätt' es nicht seiner Seele so unbeschreiblich wohlgetan, den Pferdeschwanz, den Knebelspieß, den Vorlaß etc. in die Höhe zu heben und hämmernd auszurufen: »Vier Groschen auf den Pferdeschwanz zum erstenmal – fünf Kreuzer auf den Vorlaß zum zweitenmal – einen halben Ortstaler auf das Fuchseisen zum erstenmal – zwei Gulden auf den Stoßdegen zum dritten- und letztenmal.« Er tat, was ein Auktionator soll, er lobte die Ware; er blätterte vor den anwesenden Jägern (der Adler auf der Vogelstange hatte, wie Aas, entfernte hergelocket) den Pferdeschwanz auf, strich ihn nach dem Haar und wider das Haar und versicherte, er getrauete sich, mit den Schlingen davon die Dohnenschnait durch den Schwarzwald durchzuführen. Den Vorlaß setzt' er in sein Licht, er zeigte der Gesellschaft den hölzernen Schnabel, die Schwingen, die Fänge und den Überzug mit dem Federspiel und wünschte, es wär' ein Falke da, um das Luder auf den Vorlaß zu legen und ihn zu locken.

Die Rechnungen in seinem Haushaltkalender, die ich darüber wegen meines elenden Gedächtnisses zweimal nachgesehen, setzen die Summe, die er von den vielen gegenwärtigen Jägern erhob, auf 7 fl. frk. ohne die Groschen. Und dabei ist die Hausapotheke[217] und die langhälsige Maske nicht einmal gerechnet; denn diese mochte kein Mensch. – Zu Hause ließ er den ganzen Kronschatz und Tilgungfonds in den breiten Gold-Tornister Lenettens laufen, wobei er sie und sich vor den Gefahren eines großen Reichtums warnte und beiden die Exempel von übermütigen Begüterten vorhielt, so am Ende fallieren mußten.

– Im siebenten Kapitel, das ich sogleich anfangen werde, kann ich nach so viel tausend Hausplagen das gelehrte Deutschland endlich in den Schießgraben versetzen und ihm meinen Helden vorführen als ein löbliches Schützenmitglied, das Kugeln und Büchsen hat und das anständig – gekleidet weniger als – gestiefelt ist: denn jetzt werden Kugeln gegossen, Büchsen gescheuert, und Stiefeln ziehen Schuhe an. Fecht näht die dreiviertels Stiefeln auf seinem Knie zu halben um und besohlet sie mit dem – ledernen Arm, über den bisher Redens genug war. In meinen Tagen, wo man sogar Badinen (Stöckchen) von Leder trägt, als wären die welken Arme daraus, hätt' aus dem Jägerarm ein Stock in einem bessern Sinne gemacht werden können, wie man noch die Nashornfelle in Spazierstöcke zerschneidet.

Siebentes Kapitel

Das Vogelschießen – das Schwenkschießen – Rosas Herbst-Feldzug – Betrachtungen über Flüche, Küsse und Landmilizen


Nichts tut mir bei dieser an sich schönen Historie mehr Schaden, als daß ich mir vorgenommen, sie in vier Alphabete zusammenzudrängen; ich habe mir dadurch selber allen Platz geraubt, auszuschweifen. Ich gerate hier metaphorisch in den Fall, worin ich einmal ohne Metapher war, als ich den Durchmesser und den Umkreis der Stadt Hof ausmessen wollte. Ich hatte nämlich den Catelschen Schrittzähler mit einem Haken rechts an den Hosenbund und die am Schenkel niederlaufende Seiden-Schnur unten am Knie an eine krumme Stahlspitze angemacht, und die drei Weiser auf einer Scheibe – denn der erste Weiser zeigt 100, der zweite 1000 Schritte, der dritte bis 20000 – liefen ordentlich wie [218] ich selber, als ein Frauenzimmer kam, das ich nach Hause führen sollte. Ich bat sie, mich zu entschuldigen, da ich den Catelschen Schrittzähler angetan und nun in der Längenmessung von Hof schon so viele Schritte gemacht: »Sie sehen offenbar«, setzt' ich dazu, »daß der Schrittzähler, wie ein Gewissen, jeden Schritt aufschreibt – und mit einem Frauenzimmer muß ich noch dazu kleinere Schritte machen und tausend in die Quere und rückwärts; das rechnen die drei Weiser aber alles zum Durchmesser es geht gar nicht, Vortreffliche!« Jetzo sollt' es eben deswegen gehen, und man lachte mich aus. Ich schraubte mich aber fest ein und schritt nicht vor. Zuletzt versprach ich doch, daß ich sie mit meinem Schrittzähler heimführen wollte, wenn sie – denn ich konnte mich nicht niederkrempen bis auf die Hüfte – zweimal nach meinen Weisern sehen und mir sie ablesen würde, das erstemal jetzo, das zweitemal in ihrem Hause, damit ich die Schritte, die ich mit besagtem Frauenzimmer täte, von der Größe Hofs subtrahieren könnte. – – Der Vertrag wurde redlich genug gehalten. Dieser kleine Bericht soll mir einmal Nutzen schaffen, falls mein perspektivischer Abriß von der Stadt Hof- die Hoffnung dazu will ich nicht genommen haben – wirklich ans Licht träte, und falls Höfer, die mich mit dem Frauenzimmer und mit dem nachschleifenden Zähler am Knie gesehen, mir vorwürfen, es hinke alles und neben einem Frauenzimmer könne man kaum seine Schritte abmessen, geschweige die einer Stadt. – –

Der Andreastag war schön und hell und nicht sehr windig; es war ordentlich warm und nicht so viel Schnee in den Furchen, daß man damit eine Nußschale voll Wein abkühlen oder einen Kolibri hätt' erwerfen können. Dienstags vorher hatte Siebenkäs mit hinaufgeschauet, als die Vogelstange ihren majestätischen Bogen beschrieb und niederging, um den schwarzen Gold-Adler mit seinem offnen Flugwerk aufzuspießen und mit ihm in die Höhe zurückzusteigen. Er wurde bewegt, da er dachte: der Raubvogel droben hält und verteilt in seinen Fängen die ängstlichen oder die heitern Wochen deiner Lenette, und unsere Fortuna hat sich in diese schwarze Gestalt zusammengezogen und verwandelt und nur die Flügel und die Kugel behalten. –

[219] Als er am Andreasmorgen in seinen abgekürzten, mit Galoschen besetzten Stiefeln von Lenetten mit Küssen schied, sagte sie: »Unser Herrgott gebe dir Glück und Stern – und bewahre dich, daß du mit dem Gewehre kein Unglück anrichtest.« – Sie fragte noch etliche Male, ob er nichts vergessen habe – das Augenglas – oder das Schnupftuch – oder den Beutel. »Überwirf dich ja nicht (bat sie noch zuletzt) draußen mit dem Hrn. v. Meyern!« – Und noch zuletzt, als vor dem Rathause schon einige Probedonnerschläge der Trommel fielen, setzte sie ängstlich hinzu: »Erschieße dich um Gottes willen nicht selber – es wird mir den ganzen Vormittag eiskalt über den Leib laufen, sooft ein Schuß geschieht.« –

Endlich wickelte der zusammengeringelte Schützenknäul sich in langen Fäden ab, und der wallende Zug schlug, wie eine lange Riesenschlange, unter Trommetenschall und Trommelknall laufende Wellen, und jeder Schütze war ein Schlangenbuckel. – Eine Fahne, gleichsam der Kamm der Schlange, war auch dabei, und unter ihr war ein Fahnenträger angebracht, der seinen Rock als die tiefere Fahne trug. – Die Stadt-Soldateska, die mehr durch Gehalt als Anzahl glänzte, durchschoß mit weißen Rockblättern den gefleckten Kalender der Schützengesellschaft. – Der versteigernde Haarkräusler tanzte als der einzige gepuderte gemeine Mann mit der bleichen Hutgriffspitze daher, in der gehörigen Entfernung von den vornehmen ledernen Zöpfen, die er heute angebunden und gepudert hatte. – Die Menge fühlte, was wahre Hoheit sei, als sie gebückt hinaufsah zum Schützendirektor, zum Hrn. Heimlicher von Blaise, der mitzog als die Aorte des ganzen Schlagadersystems, als das Elementarfeuer aller dieser Irrlichter und Zündpulver und, kurz zu reden, als schottischer Meister der Schützenloge. – Glücklich war die Frau, die herausguckte und vor welcher der Mann vorbeizog als Schützenglied – glücklich war Lenette, denn ihr Mann war mit dabei und sah höflich hinauf, und die kurzen Stiefeln standen ihm recht gut, die im alten und neuen Stil zugleich gearbeitet waren und wie Menschen an den alten Adam den kurzen neuen angezogen hatten.

Ich wünschte, der Schulrat Stiefel hätte etwas nach dem Andreasschießen [220] gefragt und herausgesehen nach seinem Orest; aber er rezensierte fort. –

Als nun diese Prozessionraupen auf der Vogelwiese des Schießgrabens wie auf einem Blatte wieder aneinanderkrochen – als der Adler im Horste des Himmels wie das Wappentier der Zukunft hing – als die Blasinstrumente, die bisher die wandelnde musikalische Truppe nicht fest genug am Mund ansetzen konnte, jetzt geradeaus schrieen an den Lippen der stehenden – und als der Zug, laut trabend und die Gewehre auf den Boden stauchend, ins leere hallende Schießhaus rauschte: so war, genau genommen, kein Mensch mehr recht bei Sinnen, sondern jeder seelenbetrunken; und doch war noch nicht einmal geloset, geschweige geschossen. Siebenkäs sagte sich selber: »Es ist nur eine Lumperei, aber seht, wie wir alle taumeln, wie bloß eine welke ununterbrochne, zehnmal ums Herz herumgeführte Blumenkette von süßenKleinigkeiten es halb erstickt und halb verfinstert.« Unser saugendes Herz ist aus durstiger Brauseerde gemacht, die ein warmer Regen aufbläht und die dann im Schwellen und Steigen allen Pflanzen in ihr die Wurzeln entzweireißet.

Nun ließ Hr. v. Blaise, der in einem fort meinen Helden anlächelte und die andern anfuhr mit der Grobheit der Herrschsucht, die Lose ziehen, welche die Ahnenfolge der Schützen ordneten und entschieden. Die Leser können dem Zufalle nicht ansinnen, daß er das Glückrad halte und hineingreife und hinter seiner Binde unter 70 Nummern gerade die erste für den Advokaten herausfühle und fange; indessen zog er doch die 12te für ihn. – Endlich gaben die tapfern Deutschen und Reichsstädter auf den römischen Adler Büchsenfeuer. Zuerst trachtete man ihm nach der Krone. Der Eifer und das Zielen der Kronwerber war der Wichtigkeit der Sache angemessen: waren nicht mit diesem goldnen Wetterdache, wenn die Kugel es herabstieß, die Kroneinkünfte von 6 fl. frk. verbunden, wobei ich beträchtliche Kronengüter nicht einmal anschlage, die in drei Pfund Werg und in einem zinnernen Barbierbecken bestehen?- Die Menschen taten was sie konnten; aber das Schießgewehr setzte die Krone des Adlers leider nicht unserem Helden, sondern Nro. 11, seinem [221] Vormann, dem hektischen Sachsen, auf. Der Mann braucht, es, da er wie der Prinz von Wallis die Kronschulden noch eher hatte als die Krone selber.

Nichts wendet bei einem solchen Vogelschießen alle Langweile mehr ab als die gute Einrichtung, daß dazwischen ein Schwenkschießen eingeschoben wird; ein Mann, der auf das langsame Viertelausschlagen von 69 Schüssen mit seinen eignen warten muß, hat Kurzweile genug, wenn er unterdessen seine Büchse für niedrigere Dinge laden kann, z.B. für einen Kapuzinergeneral. Das Schwenkschießen in Kuhschnappel ist nämlich von dem an andern Orten eingeführten nicht verschieden, sondern eine Leinwand rutschet hin und her, auf der die gemalten Eßwaren wie auf einem Tischtuch stehen, die man durchlöchern muß, um die Originale davon einzuernten, wie die Kronprinzen die Konterfeien ihrer Bräute und dadurch diese selber erheben, oder wie Hexen bloß das Abbild zerstechen, um das Urbild zu treffen. Die Kuhschnappler schossen diesesmal nach einem auf die Geh-Leinwand gefärbten Kniestück, von dem recht viele behaupteten, es repräsentiere einen Kapuzinergeneral. Es ist mir bekannt, daß einige sich mehr an den roten Hut, den das Stück aufhatte, hielten und es darum gar für einen Kardinal ausgaben oder für einen Kardinalprotektor; aber diese habens offenbar erst mit denen auszufechten, die beiden Sekten widersprechen und sagen, es stelle nur die babylonische Hure vor, nämlich eine europäische. Aus diesem mag man ungefähr schließen, was an einem andern Gerüchte sein mag, dem ich in der ersten Stunde widersprach, daß nämlich die Augsburger sich an dieses effigie-Arkebusieren gestoßen und daher wirklich dem Reichsfiskal schriftlich vorgestellet hätten, sie fänden sich beschwert und die eine Konfession litte darunter, sobald im Hl. Röm. Reich nur ein Ordengeneral und nicht zugleich ein lutherischer Generalsuperintendent abgeschossen würde. Ich hätte gewiß mehr davon vernommen, wär's nicht bloßer Wind. Ja ich mutmaße sogar, daß dieses Märchen weiter nichts sei als eine falsche Tradition von einem andern Märchen, das mir neulich ein Wiener von Geburt über dem Essen vorlog: es hätten sich nämlich [222] in den ansehnlichen Reichsstädten, worin die Nivellierwaage des Religionfriedens ein schönes Gleichgewicht der Papisten und Lutheristen festgestellt, viele lutherischerseits geregt und beschwert, daß, ob darin gleich Nachtwächter und Zensores, d.i. transzendente Nachtwächter, Wirte und Bücherverleiher in gleicher Zahl vorhanden wären, doch stets ein zahlreicheres papistisches Personale gehangen würde, so daß recht klar, es sei nun mit oder ohne Jesuiten, ein so wichtiger und hoher Posten im Staate, als der Galgen sei, gar nicht nach jener reichsgesetzlichen Parität wie das Reichs-Kammergericht, sondern mit einiger Parteilichkeit für Katholiken besetzet worden. – Ich wollte neulich im Dezember der Literaturzeitung öffentlich gegen die Sage aufstehen; aber das Reich wollte die Einrückgebühren nicht auf sich nehmen.

Ob man gleich aus dem Schießstand nur auf einen Kapuziner hielt: so war doch das Schwenkschießen in seiner Art so wichtig als das stehende. Ich muß sagen, es waren Eß-Prämien auf die verschiedenen Gliedmaßen des Ordengenerals gesetzt, die anlockend waren für Schützen, die dachten. Ein ganzes böheimisches Schwein wurde als Pürschgeld für das Herz des gedachten Kapuziner-Peischwas gegeben, welches man aber nur durch einen einzigen Ruß-Klecks, nicht größer als eine Schmink-Musche, angedeutet hatte, um den Schützen den Treffdank mit Fleiß recht sauer zu machen. Der Kardinalhut war leichter zu bekommen, daher war er nur mit zwei Flußhechten besetzt. Der Zierdank eines Okulisten, der den zwei Augäpfeln des Protektors neue aus Kugeln einsetzte, bestand in ebensoviel Gänsen. Da er mitten im Gebet gemalet war: so verlohnt' es wohl der Mühe, durch seine gefalteten zweischürigen zweimännischen Hände eine Kugel zu treiben, weils nicht weniger war, als schoß man einem rennenden geräucherten Schweine die zwei Vorderschinken unter dem Leibe hinweg. Jeder Fuß aber war gar auf einen Hinterschinken fundiert. Ich mache mir nichts daraus, es auf Kosten des Reichsflecken öffentlich zu erklären, daß nichts am ganzen Protektor schlechter – mit einem schmälern Mahlschatz und Treffer – salariert war als der Nabel; denn es war nichts aus ihm mit der besten Kugel zu holen als eine Bologneser Wurst. [223] Der Advokat war um die Krone gekommen; aber das Glück warf ihm nachher dafür den Kardinalhut zu, worin zwei Flußhechte lagen. – Hingegen den Kopf des Adlers und den Kopf des Generals deckte eine echte passauische Kunst vor seinen Kugeln zu. Er hätte der babylonischen Hure wenigstens gern ein Auge ausgeschossen, um eine Gans zu fällen – es ging auch nicht.

Die Pürschregister, die echt sind, weil sie unter den Augen des Turniervogts v. Blaise vom Schützensekretär geschrieben wurden, melden, daß der Kopf, der Ring im Schnabel und das Fähnlein wirklich den Nummern 16, 2, 63 in die Hände fielen.

Siebenkäs hätte seiner lieben Frau wegen, die mit der Mittagsuppe auf ihn wartete, sehr gewünscht, wenigstens den Zepter, worauf man jetzo hielt, den Adlerfängen auszubrechen und an seine Büchse anzuschienen als Bajonett.

Alle Nummern, die diesen goldnen Eichenzweig zu brechen suchten, waren vorüber, nur die schlimmste nicht, sein Vordermann und Hausherr – dieser feuerte, und der vergoldete Harpune zitterte – Siebenkäs feuerte, und der Aalstachel schoß hernieder. – Die Herren Meyern und Blaise lächelten und gratulierten – die Quer- und Gerade-Pfeifer stießen bei der Ankunft eines neuen Vogelgliedmaßes in ihre Hifthörner (wie Karlsbader bei der Ankunft eines frischen Badgasts tun) und sahen dabei strenge und aufmerksam in ihre Partitur, ob sie gleich ihre Trompeterstückchen schon öfter geblasen hatten wie Nachtwächter – alle Infanten, ich meine alle Jungen, stellten ein Wettrennen nach dem Zepter an – aber der Pritschenmeister trat zerstäubend unter sie und las den Zepter auf und händigte mit der einen Hand die Regierunginsignie dem Advokaten ein, mit der andern seine haltend, die Pritsche.

Siebenkäs besah lächelnd den kleinen Holzast, an dem oft die summenden Schwärme ganzer anfliegender Staaten fortgetragen werden, und verbarg seine Freude unter diese Satire, die der regierende Heimlicher vernahm und auf sich bezog: »Ein schöner Froschschnepper! – Es sollte eigentlich ein Honigvisierer sein, es werden aber die Bienen selber damit zerknickt, um ihre Honigblase auszuleeren – wie Kinder bringen die Woiwoden und Dynasten [224] die Landes-Bienen um und zeideln statt der Waben die Mägen. – Ein recht närrisches Gewehr! – Es ist von Holz und etwan ein abgebrochenes, vergoldetes, zugespitztes, ausgezacktes Stück von einem Schäferstabe, womit die Schäfer oft auf der Weide das Fett aus den Schafen winden 66 – insofern ja!« – Er fühlt' es selber nicht mehr, wenn er die größte satirische Bitterkeit ausgoß, von der in seinem Herzen kein Tropfen war: er verkehrte oft mit einem Scherze, den er nur aus Scherz sagte, Bekannte in Feinde und begriff nicht, was die Leute böse machte und warum er nicht mit ihnen so gut wie ein anderer spaßen dürfe.

Er steckte den Zepter unter den Überrock und trug ihn, weil vor dem Essen nicht bis zu seiner Nummer herum geschossen werden konnte, in seine Behausung. Er hielt ihn straff und steif voraus wie der Schellenkönig seinen und sagte zu Lenetten: »Da hast du einen Vorlegelöffel und eine Zuckerzange ineinem Stück!« Er meinte nämlich die zwei zinnernen Schieß-Prämien, den Vorlegelöffel und die Zuckerzange, die beide in Gesellschaft einer Ambe von 9 fl. frk. dieses Zepterlehn begleiteten. Es war genug für einen einzigen Schuß. Darauf stattete er den Bericht vom Hecht-Fang ab. Lenette, von der er wenigstens erwartet hätte, sie würde in den ersten fünf Sekunden die fünf Tanzpositionen in einem Haushalle durchmachen und Eulers Rösselsprung dazu auf dem Schachbrett der Stube, Lenette tat, was sie konnte – nämlich gar nichts, und sagte, was sie wußte – nämlich die Nachricht, daß die Hausherrin sich bei der Buchbinderin über das Außenbleiben des Mietzinses greulich aufgehalten und über ihren eignen Mann dazu, der ein Fuchsschwänzer und Komplimentarius sei und die Leute nicht grob genug mahne. »Ich erzähle«, wiederholte der Zepter-Inhaber, »ich habe heute die Flußhechte und einen Zepter glücklich geschossen, Wendeline Egelkraut!« und klopfte vor Ingrimm mit der Zepter-Zornrute auf den Tisch, auf welchen die zwei Gedecke und Bestecke getragen wurden. Sie antwortete endlich: »Lukas ist schon gelaufen gekommen [225] und hat mir alles hinterbracht; ich habe eine rechte Freude darüber, aber ich glaube, du wirst noch viel mehr schießen. Das sagt' ich auch zur Buchbinderin.« Sie lenkte wieder ins Fahrgleis; aber Firmian dachte: »Jammern kann sie laut genug, aber jubilieren nicht, wenn unsereiner mit Hechten und Zeptern unter den Armen heimkehrt!« – Geradeso war die Ehefrau des zärtlichen Racine, als dieser einen geschenkten langen Beutel mit Louis XIV d'or in die Stube warf.

– Woher habt ihr, liebe Weiber, die Unart her, daß ihr gerade, wenn der Eheherr gute Nachrichten oder Geschenke bringt einen unausstehlichen Kaltsinn gegen seine Fracht auskramt, und daß in euch gerade, wenn das Schicksal den Wein euerer Freude blühen lässet, die Fässer mit dem alten trübe werden? Kommts von euerer Sitte, an euch, wie euer Ebenbild, der Mond, nur die eine Seite zu zeigen, oder von einer mürrischen Laune gegen das Schicksal, oder von einem süßen überströmenden Freudengefühl, welches das Herz zu voll macht und die Zunge zu schwer? – Ich glaube, es kommt oft von allem auf einmal her. – Bei Männern – und auch bei Weibern, immer bei einem unter Tausenden – kanns noch von der melancholischen Betrachtung über die Haifische kommen, die uns den Arm abreißen, mit dem wir unten im finstern Meer vier Perlen der Freude beklommen und atemlos sammeln; oder von einer noch tiefern Frage: ist nicht die innigere Wonne nur ein Ölblatt, das uns eine Taube über unsere um uns brausende ausgedehnte Sündflut hereinträgt 67 und das sie aus dem fernen hoch über die Fluten steigenden sonnenhellen Paradiese abgenommen? Und wenn wir von dem ganzen Olivengarten statt aller Früchte und Blüten nichts erhalten als nur ein Blatt, soll uns dieses Friedenblatt und diese Friedentaube mehr geben als Frieden, nämlich Hoffnung? –

Firmian ging mit einer Brust voll wachsender Hoffnungen auf den Schießgraben zurück. Das Menschenherz, das in Sachen des Zufalls gerade gegen die Wahrscheinlichkeitrechnungen kalkuliert, [226] und das darum auf eine Terne hofft, weil es eine gewonnen – denn daraus sollt' es eben das Widerspiel schließen –, oder das darauf zählt, die Adlerklaue zu holen, weil es den Zepter dazu aufgelesen, dieses im Fürchten und Hoffen unbändige Menschenherz brachte auch der Advokat auf den Graben mit.

Er erwischte aber die Klaue nicht. Nach den ineinandergefalteten betenden Fängen oder Händen des Kapuzinergenerals, diesen Exponenten und Devisen zweier Vorderschinken, feuerte Siebenkäs gleichfalls – umsonst.

Es tat nichts; es war noch immer mehr am Adler, als jetzo an Polen wäre, wenn man dieses oder sein Wappen – es ist ein silberner im roten Blutfelde – auf einem Throne oder einer Vogelstange in die Höhe richtete und von einer Schützengesellschaft verschiedener Armeen abschießen ließe.

Noch nicht einmal der Reichsapfel war herunter. Nro. 69, ein schlimmer Vorfahr, Hr. Everard Rosa von Meyern, hatte zum Schusse angelegt – er wollte diesen verbotenen Apfel brechen – ein solcher Stettiner und Fangball für Fürsten selber war ihm zu wichtig, als daß er des Gewinstes wegen nach ihm hätte fangen wollen, ihn flammte bloß die Ehre an – er schoß.... und er hätte ebensogut rückwärts zielen können. Rosa, dem diese Obstart zu hoch hing, mengte sich errötend unter die Zuschauerinnen und teilte selber Äpfel, nämlich Parisäpfel aus und sagte jeder, wie schön sie sei, um sie zu überreden, er sei es selber. In den Augen einer Frau ist ihr Lobredner anfangs ein recht gescheuter Mensch, endlich ein ganz hübscher Mensch; Rosa wußte, daß die Weihrauchkörner der Anis sind, dem diese Tauben wie toll nachfliegen.

Unser Freund brauchte sich vor keinem Obstbrecher zu ängstigen – vor dem 2ten, 8ten, 9ten gar nicht – als vor dem 11ten, vor der Büchse des Sachsen, der wie ein Teufel schoß. Es gab wenige unter den Siebzigern, die nicht diese verdammte Galgennummer zum Henker, wenigstens ins – Pflanzenreich verwünschten, wo sie gerade mangelt 68. Der Friseur drückte ab – schoß dem Adler ins Bein – und das Bein blieb samt der Reichskugel droben hangen.

[227] Der Mietmann und Advokat trat ein, aber der Hausherr blieb im Schießstand, um sich über seinen Unstern satt zu fluchen. Jener setzte sich unter dem Anlegen seines Kugelziehers auf die erhöhte Kugel vor, gar nicht auf diese zu halten, sondern auf den Schwanz des Adlers, um dieses Obst bloß herab zu – schütteln.

In einer Sekunde fiel der wurmstichige Weltapfel ab – Der Sachse fluchte über alle Beschreibung.

Siebenkäs betete beinahe innerlich, nicht weil eine zinnerne Senfdose, eine Zuckerdose und 5 fl. frk. mit dem Apfel in seinen Schoß niederregneten, sondern über das gute Schicksal, über die warme, wie ein Glanz heraustretende Sonne im Ringe eines fernen Gewölkes. »Du willst«, dacht' er, »meine Seele prüfen, gutes Geschick, und bringest sie daher, wie die Menschen Uhren, in alle Lagen, in steilrechte und waagrechte, in ruhige und unruhige, um zu sehen, ob sie recht gehe und recht zeige. – – Wahrlich, sie soll es!« –

Er ließ diese kleine bunte Vexier-Erdkugel von einer Hand in die andere laufen und spann und weifte folgenden Kettenschluß: »Welche Kopien-Ahnenfolge! Lauter Gemälde in Gemälden, Komödien in Komödien! – Der Reichsapfel des Kaisers ist ein Bild der Erdkugel und hat eine Handvoll Erde als Kern 69 – mein Reichsapfel da ist wieder ein verkleinertes Bild des kaiserlichen und hat noch weniger Erde, gar keine – die Senf– und Zuckerdosen sind wieder Bilder dieses Bildes. – Welche Reihe von Verkleinerungen, ehe der Mensch genießet!« – Die meisten Freuden des Menschen sind bloße Zurüstungen zur Freude, und seine erreichten Mittel hält er für erreichte Zwecke; die brennende Sonne des Entzückens wird unserem schwachen Auge nur in den 70 Spiegeln unserer 70 Jahre gezeigt – jeder Spiegel wirft ihr Bild dem andern milder und bleicher zu – und aus dem siebzigsten Spiegel schimmert sie uns erfroren an und ist ein Mond geworden 70. [228] Er lief nach Haus, aber ohne den Apfel, dessen Ernte er seiner Frau erst abends notifizieren wollte. Es letzte ihn sehr, wenn er während seiner Schieß-Vakanzen aus dem öffentlichen Getümmel in seine enge stille Stube schleichen, das Wichtigste hurtig erzählen und sich dann wieder ins Getöse werfen konnte. Da seine Nummer eine Nachbarin von Rosas Nummer war und da also beide dieselben Schießferien hatten; so wunderts mich, daß er auf den Venner von Meyern nicht auf demselben Steige unter seinem Fenster traf; denn dieser wandelte seines Orts mit aufgehobenem Kopfe da wie eine Ameise auf und nieder. Wer einen jungen Herrn dieser Art erschlagen will, such' ihn unter (wenn nicht in) dem Fenster eines Mädchen auf; so hebt ein vorsichtiger Gärtner, der Maueresel oder Kellerasseln töten will, nur die Blumentöpfe in die Höhe und merzet sie darunter in Partien aus.

Siebenkäs traf den ganzen Nachmittag keinen Span mehr; den Schwanz selber, an den er sich vorher so glücklich gewandt hatte, um den Hl. Römischen Reichsapfel zu kriegen, bracht' er nicht herunter. Er ließ sich spät mit der Miliz des Reichsfleckens nach Haus pfeifen und trommeln. Er machte vor der Tür seiner Frau den Ruprecht, der den Kindern am Andreastage zum ersten Male Schrecken und Obst zubringt, brummend nach und warf ihr statt aller Äpfel den – geschossenen ein. Man halt' ihm den Spaß zu gut; ich sollte aber solche Winzigkeiten gar nicht berichten.

Als sich Firmian aufs Kopfkissen legte, sagt' er zu seiner Frau: »Morgen um diese Zeit wissen wirs, Frau, ob wir ein Paar gekrönte Häupter auf diese Kopfkissen bringen oder nicht – morgen unter dem Niederlegen will ich dich wieder an diese Minute erinnern.« – Als er aus dem Bette sprang, sagt' er: »Heute spring ich wohl zum letztenmal als gemeiner Mann ohne Krone heraus.« Er konnt' es nicht erwarten, bis er den betaueten defekten Vogel voll Schußwunden und Knochensplitterungen wieder sah; aber seine Hoffnung, sich an ihm zum König zu schießen, hielt nur so lange an, als er den Adler nicht sah. Er ging daher gern einen Vorschlag des listigen Sachsen ein, der immer den Kugeln seines Nummernnachbars mit seinen vorgearbeitet hatte; der Vorschlag [229] war: »Halbpart im Gewinst und Verlust beim Vogel und Kardinal«. Diese Maskopei verdoppelte die Hoffnungen des Advokaten, indem sie solche halbierte.

Aber die zwei Waffenbrüder brachten den ganzen Vormittag nicht einen bunten Splitter herunter; denn nur gefärbte Späne können Vogelschützen, und nur ungefärbte können Wespen brauchen. Jeder hielt innerlich den andern für seinen Unglückvogel; denn in Sachen des Zufalls will lieber der Mensch nach abergläubigen Gründen erklären als gar nicht erklären. Die flatterhafte babylonische Hure wich so spröde aus, daß der Haarkräusler einmal nahe am Kerle, der sie hin und her zog, vorbeiknallte.

Aber nachmittags traf er endlich mit seinem Kupidos-Pfeil ihr schwarzes Herz und also das Schwein dazu. Firmian erschrak fast: er sagte, er nehme von diesem Schwein, diesem Herzpolypen am Herzen des babylonischen Lustmädchen, nichts an als den Kopf, er müßte denn selber etwas treffen. Jetzo stand nur noch der Vogel-Torso, gleichsam das Rumpfparlament, an die Stange gepfählt, das die Kron-Lustigen zu dissolvieren suchten. Das Lauffeuer der Begeisterung ging jetzo von Brust zu Brust, von jedem Zündpulver aufgeschürt, das von einer Büchsenpfanne aufflog; und mit dem arkebusierten Vogel zitterten allemal die übrigen Schützen zugleich. –

Ausgenommen den Hrn. von Meyern, der fortgegangen und – da er alle Menschen, besonders unsern Helden in solchen Erwartungen sah – zur Frau Siebenkäs marschieret war, bei der er der König einer Königin und mit mehr Gewißheit als ein Schützenkönig zu werden hoffte. Das Augenglas, hinter dem er nach jenem Adler und nach dieser Taube zielte – denn er hielts wie Pariser mitten in der Stube vor –, sollt' ihm, dacht' er, wenigstens die Taube erlegen helfen. Aber ich und die Leser schleichen ihm nachher alle in die Siebenkäsische Stube nach.

Die 70 Nummern hatten schon zweimal vergeblich zum Königschusse geladen: der zähe Stummel auf der Stange regte sich kaum. Die armen zappelnden Menschenherzen wurden beinahe von jeder Kugel durchbohrt und erschüttert. Die Besorgnisse [230] wuchsen, die Hoffnungen wuchsen; aber die Flüche am meisten, diese Stoßgebete an den Teufel. Die Theologen hatten im 7ten Jahrzehent dieses Jahrhunderts den Teufel oft in der Feder, als sie ihn entweder leugneten oder behaupteten; aber die Kuhschnappler Schützen weit mehr, besonders die Patrizier. –

– Seneca hat unter den Mitteln gegen den Zorn das einfachste ausgelassen: den Teufel. Die Kabbalisten rühmen zwar die Heilkraft des Schemhamphorasch, eines entgegengesetzten Namens, sehr; aber ich sehe, daß das Fleck- und Scharlachfieber des Zorns, das man leicht aus dem Phantasieren des Patienten vermerkt, vielleicht ebensogut, als ob man Amulette umhinge, nachlässet und weicht, wenn man den Teufel anruft; in dessen Ermanglung die Alten, denen der Satan ganz fehlte, bloßes Hersagen des Abc's anrieten, worin freilich der Name des Teufels mit schwimmt, aber in zu viele Buchstaben verdünnet. So erlösete auch das Wort Abrakadabra, diminuendo ausgesprochen, vom körperlichen Fieber. Wider das Entzündungfieber des Zorns müssen nun desto mehre Teufel genommen werden, je mehr materia peccans (Krankheitmaterie) durch die Absonderung des Mundes abzuführen ist. Gegen den kleinen Unwillen ist »der Teufel!« oder »alle Teufel!« hinlänglich. Aber gegen das seitenstechende Fieber das Zorns würd' ich schon »den Satan und seine höllische Großmutter« verschreiben und das Mittel doch noch mit einem Adjuvans (Verstärkung) von einigen Donnerwettern und Sakramenten versetzen, da die Heilkräfte der elektrischen Materie so bekannt sind. Man braucht mir nicht zu sagen, daß gegen völlige Hund- oder Zornwut solche Gaben dieses spezifischen Mittels wenig verfangen; ich würde allerdings einen Preßhaften dieser Art »von allen Schock Teufeln fortführen und zerreißen« lassen. Immer bleibt der Teufel offizinell: denn da sein Stich uns in Zorn versetzt, so muß er selber dagegen genommen werden, wie man den Skorpionenstich durch zerquetschte Skorpionen heilt. – –

Der Tumult der Erwartung rüttelte die Edelleute mit der Groschengalerie des Staats in eins zusammen; die Edelleute oder Patrizier vergessen bei solchen Gelegenheiten – so auch auf der Jagd, in ökonomischen Geschäften –, wer sie sind, nämlich etwas [231] Besseres als Bürgerliche. Einem Edelmann sollt' es meines Erachtens nie aus dem Kopfe kommen, daß er sich zumVolke verhalte, wie die Schauspieler jetzo zum Chorus. Zu Thespis' Zeiten sang der Chorus die ganze Tragödie handelnd ab, und ein einziger Schauspieler, der Protagonist hieß, fügte einige Reden ohne Gesang über die Tragödie hinzu – Äschylus führte einen zweiten ein, genannt Deuteragonist – Sophokles gar einen dritten, den Tritagonisten – Neuerer Zeiten blieben die Spieler stehen, und der Chorus wurde gar weggelassen, man müßt' ihn denn als beklatschend in Rechnung bringen. So ist nach und nach auf der Erde, dem Nationaltheater der Menschheit, der Chorus oder das Volk weggeschoben worden – nur mit mehr Vorteil als auf dem engern Theater – und aus Spielern, wozu man besser die Protagonisten (Fürsten), die Deuteragonisten (Minister) und die Tritagonisten (Große) angestellt, zu richtenden und klatschenden Zuschauern erhoben worden, und der athenische Chorus sitzt bequem auf dem Parterre neben dem Orchester und Theater unserer guten Haupt- und Staataktio nen. –

Es war schon 2 1/2 Uhr und der Nachmittag kurz; der lecke Vogel wankte nicht. Alle Welt schwur, der Schreiner, der ihn ausgebrütet aus dem Bloch, sei eine Kanaille und hab' ihn aus zähem Astholz gebauet. – Endlich schien er sich entfärbt und geschunden zu senken. Der Friseur, der wie alle gemeine Leute nur gegen einzelne Personen, nicht gegen eine Gesellschaft gewissenhaft war, nahm jetzo ohne Bedenken statt der Doppelflinte heimlich doppelte Kugeln, eine für sich, eine für seinen Mitschützen, um durch dieses Zersatzmittel den Adler niederzuschlagen. – – »Der Satan und seine höllische Großmutter!« sagt' er nach dem Schusse und brauchte gehörig die obengedachte kühlende Methode. –

Er fußte nun auf seinen Mietmann und gab seine Büchse dazu her. Siebenkäs platzte hinauf – – »alle Schock Teufel«, sagte der Sachse, »sollen mich zerreißen!« wobei er die Dosis der Teufel wie der Kugeln ohne Not gegen sein Fieber verdoppelte.

Beide ließen nun mutlos ihre Hoffnungen wie ihre Büchsen sinken; denn es waren mehre Prätendenten an diesen Thron vorhanden, [232] als man deren einmal unter dem Galienus zählte, die auf den römischen wollten und deren nur dreißig waren. Die feuernde Septuaginta hielt abwechselnd entweder Schießröhre oder Sehröhre in Händen, um zu sehen, daß dieses im Himmel hängende Sternbild mehr Kugeln einschließe als das astronomische des Adlers. Alle Gesichter der Zuschauer waren gegen diese Keblah des Vogels gebreitet, wie die jüdischen nach dem ruinierten Jerusalem. – Die alte Sabel saß ohne Kunden hinter ihrem Ladentisch voll Freßmittel und guckte selber hinauf. – Die ersten Nummern gaben sich gar nicht die Mühe, ein Sukzessionpulver wieder auf die Pfanne zu schütten – Firmian bejammerte die dumpfen im dicken Erdenblute schwimmenden Menschenherzen, für die jetzo die untergehende Sonne und der gefärbte Himmel und die weite Erde unsichtbar waren oder vielmehr eingekrochen zu einem zerhackten Holzstrunk; das gewisseste Zeichen, daß ihre Herzen im ewigen Gefängnis des Bedürfnisses lagen, war, daß niemand eine witzige Anspielung auf den Vogel oder auf das Königwerden machen konnte. Der Mensch kann nur an Dingen, die seine Seele ohne Ketten lassen, Ähnlichkeiten und Beziehungen wahrnehmen. Firmian dachte: dieser Vogel ist für dieses Volk der wabre Vorlaß mit dem Federspiel, den ich versteigert habe, und das Geld liegt als das Luder darauf. Er hatte aber doch drei Gründe, weswegen er gern König geworden wäre – erstlich um sich tot zu lachen über seine Krönung – zweitens seiner Lenette – und drittens des Sachsen wegen.

Allmählich feuerte die zweite Hälfte der 70 Ältesten ab, und die ersten Nummern luden wieder zum Spaße wenigstens. Kein Mensch schoß mehr ohne eine zwiespännige Ladung. Unsere zwei hanseatischen Bündner näherten sich wieder dem Schusse, und Siebenkäs borgte sich, da der Abend immer dunkler wurde, ein schärferes Augenglas, das er, wie einen Finder am Teleskop, auf die Büchse schraubte.

Nro. 10 hob das Vogelpräparat aus der Angel, der Schießklotz klebte nur noch durch seine Schwere daran, weil sie das Holz fast mit Blei gesättigt und inkrustieret hatten, so wie gewisse Quellen Holz in Eisen umsetzen. –

[233] Der Sachse durfte den Adler-Rumpf nur bestreifen, so fuhr der Stößer nieder, ja nur die Stange – ach, der Abendwind durfte nur einmal stark ausschnauben. Er legte an – zielte ewig (denn 50 fl. hingen jetzt in der Luft), drückte los – das Zündkraut verloderte allein – die Musikanten hielten schon die Trompeten waagrecht und die Notenblätter steilrecht – die Jungen standen schon um die Stange und wollten das fallende Gerippe auffangen – der Pritschenmeister konnte vor Erwartung keinen Spaß mehr machen, und seine staunende Seele saß mit oben neben dem Federvieh – – der gepreßte Haarkräusler drückte wieder ab – das Zündkraut brannte wieder allein – er schwitzte, glühte, bebte, lud, zielte, drückte und schoß – – entweder zwei oder drei haßfurtische Ellen hoch über den Vogel hinaus.

Er trat still und bleich und mit kalten Schweißen zurück und tat keinen einzigen Fluch, ja ich vermute, er schickte einige heimliche Gebete ab, damit sein Bundgenoß das Federwildpret durch Gottesgnade erangelte. –

Firmian trat hin, – dachte mit Fleiß an etwas anderes, um seine pochende Erwartung anzuhalten – zielte nach diesem im Abenddunkel schwebenden Anker seiner kleinen Stürme nicht lange – feuerte – sah den Block wie Fortunens Rad sich oben dreimal umkreisen und endlich – losspringen und herunterfliegen...

– Wie bei der Krönung der alten französischen Könige allzeit ein lebendiger Vogel in den Himmel flatterte; – wie bei der Apotheose der römischen Kaiser ein Adler aus dem Scheiterhaufen gen Himmel stieg: so flog bei der Krönung meines Helden einer herunter. – –

Die Jungen und die Trompeten schrien – der eine Teil des Volkes wollte den neuen König wissen und sehen, der andere strömte dem Hanswurste entgegen, der das zersplitterte Kugeln- Gehäuse und Besteck, den Adlerbauch, emporgehalten durch die Mitläufer trug – der Kräusler lief schreiend entgegen: »vivat der König!« und sagte, er selber sei einer mit – und Firmian trat still unter die Türe und war froh, aber gerührt....

Jetzo ist es einmal Zeit, daß wir alle in die Stadt laufen und nachschauen, was Rosa, während der Ehemann den Thron bestieg, [234] bei der Frau desselben gewann, ob einen schönern oder einen Pranger, und wie viele Stufen er zu einem von beiden hinaufkam. –

Rosa klopfte vor Lenettens Tür an und schritt sogleich hinein, damit sie nicht erst herauskäme und sähe, wer da sei. Er habe sich von der Schützengesellschaft losgerissen – ihr Mann komme bald nach, und er erwarte ihn hier. – Die Büchse desselben sei wieder recht glücklich: mit diesen Wahrheiten ging er der Erschrocknen entgegen, aber mit einem angenommenen vornehmen kalten Erdgürtel auf dem Gesicht. Er schritt gleichgültig in der Stube auf und ab. Er fragte, ob das Aprilwetter sie gesund lasse; ihn matt' es mit einem schleichenden Fieber ab. Lenette stand furchtsam am Fenster, mit den Augen halb auf der Straße, halb auf der Stube. Er blickte im Vorbeigehen nach ihrem Nähtisch und nahm ein rundes papiernes Haubenmesser und eine Schere und legte alles wieder hin, weil ihn einige Nadelbriefe anzogen. »Das ist gar Numero 8«, sagte er, »diese Nadeln sind viel zu groß – Madam 71. – Man könnte die Köpfe zu Schrot Nro. 1 gebrauchen. – Hier haben Sie Schrot Nro. 8, nämlich einen Brief Nro. 1. – Die Dame muß mir danken, an der Sie ihn verstecken.«

Dann trat er schnell an sie und zog ein wenig unter ihrem Herzen, wo sie einen ganzen Köcher oder eine Dornhecke von Nadeln zum Verlage stecken hatte, eine kühn und gleichgültig heraus, hielt sie ihr unter die Augen und sagte: »Sehen Sie die schlechte Verzinnung; jeder Stich damit schwärt.« Er warf die Nadel zum Fenster hinaus und machte Miene, die übrigen Nadeln aus der Gegend des Herzens, worein das Schicksal ohnehin lauter übel verzinnte drückte, herauszuziehen und wohl gar seinen Nadelbrief in dieses schöne Nähkissen zu schieben. Aber sie sagte mit einer eiskalten Gegenwehr der Hand: »Geben Sie sich keine Mühe.« – »Ich wünschte«, sagt' er und sah nach der Uhr, »Ihr Hr. Gemahl käme; der Königschuß muß längst getan sein.«

Er nahm wieder den papiernen Hauben-Karton und die Schere [235] zur Hand, aber als sie ihm mit einem Blicke voll Sorge, er verderbe ihr Muster, nachsah, holt' er lieber ein in Hippokrene getauchtes poetisches Blatt heraus und schnitt es zum Zeitvertreib wie einen flachen Diamanten zu konzentrischen Herzen in einer Schneckenlinie. Er, der das Herz immer wie Auguren dem Opfervieh zu stehlen suchte, dem wie einer Koketten Herzen, wie Eidechsen die Schwänze, nachwuchsen, sooft er seines verloren, er hatte das Wort Herz, das die Deutschen und die Männer fast zu erwähnen scheuen, immer auf der Zunge oder Gemmenabdrücke davon in der Hand.

Ich glaube, er ließ die Nadeln und die vollgereimten Herzen darum da, weil die Weiber immer mit Liebe an einen Abwesenden denken, dessen Nachlaß ihnen vor Augen steht. Rosa gehörte unter die Menschen beiderlei Geschlechts, die überall keinen Scharfsinn, keine Feinheit und keine Menschenkenntnis zeigen, außer in der Liebe gegen ein fremdes Geschlecht.

Er katechisierte aus ihr jetzt allerhand Koch- und Waschrezepte heraus, die sie trotz ihrer frommen Einsilbigkeit mit aller Fülle von Wörtern und Zutaten verschrieb. Zuletzt macht' er Anstalt zum Abzug und sagte: die Zurückkunft ihres Gemahls wär' ihm erwünscht, da er mit ihm über eine gewisse Sache nicht gut draußen auf dem Schießgraben unter soviel Leuten und im Beisein des Hrn. v. Blaise sprechen könne. – »Ich komme wieder«, setzt' er dazu, »aber die Hauptsache will ich Ihnen selber sagen«, und setzte sich mit Stock und Hut vor sie hin. Er wollte eben anfangen, als er merkte, sie stehe: er legte alles weg, um ihr einen Stuhl gegenüberzustellen. Seine Nachbarschaft schmeichelte wenigstens ihrer Schneiderischen Haut; er roch paradiesisch, sein Schnupftuch war ein Bisambeutel und sein Kopf ein Rauchaltar oder eine vergrößerte Zibetkugel. So bemerket auch Shaw, daß das ganze Viperngeschlecht einen eignen Wohlgeruch ausdampfe.

Er hob an: sie errate leicht, daß es den fatalen Prozeß mit dem Hrn. Heimlicher betreffe. – Der Hr. Armenadvokat verdiene zwar in der Tat nicht, daß man sich für ihn verwende, aber er habe eine treffliche Frau, die es verdiene. (Er druckte »treffliche« [236] durch einen flüchtigen Handdruck mit Schwabacher.) – Er habe das Verdienst, daß er den Hrn. v. Blaise zu einem dreimaligen Aufschub seines Neins gebracht, weil er selber bisher nicht mit dem Hrn. Advokaten sprechen können. – Aber jetzo nach dem neuern Vorfalle, wo ein Pasquill des Hrn. Leibgebers, dessen Hand man gut kenne, an einer Ofenstatue des Hrn. Heimlichers zum Vorschein gekommen 72, sei von des letzten Seite an ein Nachgeben oder gar an ein Herausgeben der Erbschaft nicht zu denken. – Darüber aber blut' ihm nun das Herz, zumal da er seit seiner Kränklichkeit zu vielen Anteil an allem nehme; er wisse recht gut, in welche mißliche Lage ihre (Lenettens) häusliche Verfassung durch diesen Prozeß geraten, und er habe oft über manches vergeblich geseufzet. – Mit Freuden woll' er ihr daher, was sie zum Kostenverlage brauche, vorschießen – sie kenne ihn nur noch nicht und stelle sich das, was er allein für sechs kuhschnappelsche Armenanstalten aus reiner Menschenliebe monatlich tue, vielleicht kaum vor, er habe aber seine Belege.

– – In der Tat zog er sechs Quittungen der Armenkommissionen heraus und hielt sie ihr hin. – Ich würde mich nicht als den unparteilichen Mann beweisen, für welchen ich gelte, wenn ich nicht frei eingestände, daß der Venner einen gewissen Trieb wohlzutun und aufzuhelfen gegen Dürftige jedes Alters und Geschlechtes von Jugend auf in Taten gezeigt, und daß eben das Bewußtsein einer solchen weitherzigen Handelweise gegenüber der engherzigen kargen in Kuhschnappel ihm einen gewissen besondern Stolz gegen die filzigen Richter seiner freigebigen Verführungen zu eigen gemacht. Denn sein Gewissen gab ihm das Zeugnis, daß er diese Sünden erst beging, wenn er, seine Verwandlung aus einer Spinne in einen wohltätigen Edelstein rückwärts [237] umkehrend, wieder schillernde Gewebe spann und mit ihnen voll glänzender geweinter Tautropfen einiges fing. – –

Für eine solche Frau vollends wie Lenette – fuhr er fort – tät' er wohl andere Dinge; und ein Beweis sei schon, daß er den Gesinnungen des Heimlichers gegen ihr Haus Trotz biete und daß er selber von ihrem Mann Reden verschluckt, die er wahrlich als Patrizius noch von niemand einzustecken gewohnt gewesen. – »Fodern Sie doch Geld, beim Himmel, soviel Sie brauchen«, beschloß er.

Die zitternde Lenette glühte vor Scham über die Enthüllung ihrer Armut und ihres Verpfändens. Er suchte die Wogen in ihr durch einige Tropfen glattes Öl zu stillen und tadelte daher seine Braut in Baireuth vorläufig: »Ich wünsche«, sagt' er, »daß sie, die zu viel lieset und zu wenig arbeitet, in Ihre Schule der Haushaltung gehe. Wahrlich, eine Frau von solchen Reizen wie Sie, die sie selber nicht kennt, von solcher Geduld, von solchem häuslichen Fleiße sollte ein ganz anderes Haushalten zum Spielraum haben.« Ihre Hand lag jetzo im Fußblock und Personalarrest der seinigen still; die Demut der Dürftigkeit band ihr die Flügel, die Zunge und die Hände. Seine Freundschaft und seine Habsucht achteten bei Weibern keine Grenzsteine, die er alle diebisch auszuheben suchte; die meisten Männer gleichen in ihrem zerstörenden Hunger dem Häher, der die Nelke zerrupft, um den Nelkensamen aufzuhacken. Er drückte jetzt an ihr niedergesenktes Auge einen langen feuchten Blick der Liebe an, ließ ihn da noch fest, wenn sie es aufhob, und brachte so absichtlich – indem er die Augenlider gewaltsam offen hielt und noch dazu an rührende Sachen dachte – mehr Tropfen aus der Augenhöhle herauf als nötig sind, kleinere Kolibris zu erlegen. Jede erlogene Rührung wurde in ihm, wie in guten Schauspielern, eine wahre und jede Schmeichelei ein Gefühl der Achtung. Er fragte, als er Tropfen genug im Auge und genug Seufzer in der Brust verspürte: »WissenSie, warum ich weine?« Sie sah unschuldig- und gutmütig-erschreckend auf in seine Augen, und ihre tropften. »Darüber (fuhr er aufgemuntert fort), daß Sie kein so gutes Los haben, als Sie verdienen.« – Selbstischer Zwerg! jetzt hättest du die [238] bange, in allen Tränen einer langen Vergangenheit ertrinkende Seele schonen sollen!

Aber er, der nur künstlerische, flüchtige, winzige Vexierschmerzen und nie erwürgende Qualen kannte, schonte die Gequälte nicht. Was er indes zur Brücke von seinem Herzen in ihres machen wollte, den Kummer, das wurde gerade der Schlagbaum; ein Tanz oder irgendein fröhlicher Taumel der Sinne hätte ihn bei dieser gemeinen rechtschaffnen Frau weiter gebracht als drei Kannen selbstischer Tränen. Er lud hoffend seinen blühenden, mit Kummer betrachteten Kopf auf die Hände in ihren Schoß ab....

Aber Lenette schoß in die Höhe, so daß er kaum sich nachbringen konnte. Sie schauete ihm fragend in die Augen..... rechtschaffene Frauen müssen, glaub' ich, eine eigne Theorie über die Blitze der Augen haben, um die gelben der Hölle von den reinen des Himmels abzusondern – der Wüstling wußte von seinem Auge so wenig, wie Moses von seinem ganzen Antlitz, daß es blitze. Ihr Auge fuhr gleichsam vor dem versengenden fremden zurück; es ist aber auch meine historische Pflicht- da so viele tausend Leser und ich selber auf den wehrlosen Everard eindringen –, es nicht zu verbergen, daß Lenette den ganzen Abend die etwas rohen und freien Zeichnungen, die ihr der Schulrat Stiefel von den Kriegschauplätzen aller Wüstlinge und besonders des gegenwärtigen mit einer sehr breiten Reißkohle vorgezogen hatte, im Kopfe aufbreitete und über jeden Rück- und Vorschritt Rosas argwöhnisch stutzte.

Und doch werd' ich jetzo dem armen Schelm mit jedem Worte schaden, das ich weiter schreibe; ja viele Damen, die aus den salischen Gesetzen oder aus Meiners wußten, daß man sonst geradeso viele Strafgelder gehen mußte, wenn man die weiblichen Finger berührte, als wenn man den männlichen mittlern weghieb – nämlich 15, Schillinge, diese Damen, die schon über Rosas Finger-Drücken sich so sehr ereifert haben und es strafen wollen, diese werden vollends nicht zu versöhnen sein, wenn ich fortfahre, weil sie aus Mallet 73 wissen, daß sonst Leute, die wider [239] fremden Willen küßten, durch Urtel und Recht Landes verwiesen wurden. – Ja viele jetzige Weiber beharren noch auf der Strenge der altdeutschen Pandekten und verweisen den Lippendieb – da in den Rechten 74 Landesverweisung und Verstrickung an einen Ort einander ablösen und ersetzen – zwar nicht aus dem Zimmer, aber sie zwingen ihn doch, darin zu bleiben; auf ähnliche Art verurteilen sie einen Schuldner, dem sie ihr Herz gegeben, und ders gar behalten will, zumEinlager im Torus. –

Der aufspringende Rosa hatte nach seinem Fehlsprunge nichts zur Entschuldigung seines Fehlers mehr übrig als die Vergrößerung desselben – er umhalste demnach die marmorne Göttin.... Aber es steht mir eine Bemerkung im Weg, die ich vorher machen muß. Viele gute Schönen beschirmen nämlich ihr Versagen durch Gewähren; sie leisten, um sich für ihren tugendhaften Feldzug selber zu besolden, in kleinern Dingen keinen Widerstand, sie geben mehre Besitztümer und Verschanzungen von Kleidern und Worten preis, um geschickt dem Feinde – zuvorzukommen und zu begegnen, so wie kluge Kommandanten die Vorstädte abbrennen, um oben in ihrer Festung besser zu fechten. –

Ich machte diese Reflexion bloß, um zu bemerken, daß sie auf Lenetten gar nicht passe. Sie hätte mit ihrem engelreinen Geiste und Körper geradezu in den Himmel eintreten können, ohne sich erst umzukleiden; sie konnte ihr Auge, ihr Herz, ihren Anzug, alles mit hinauf nehmen, nur ihre Zunge nicht, die ungebildet und unbedachtsam war. Sie sträubte sich also gegen die Hausdieberei, die Everard an ihren Lippen verüben wollte, auf eine Art, die für einen so kleinen Obstdiebstahl zu ernsthaft und zu unhöflich war, und die es nicht so sehr gewesen wäre, wenn Lenette sich des Schulrates grelle Weissagungen von Rosa hätte aus dem Kopfe so schlagen können.

Rosa hatte auf einen angenehmern Grad der Weigerung gerechnet. Seine Hartnäckigkeit half ihm nichts – gegen die größere. Ein Mückenschwarm von leidenschaftlichen Entschlüssen sauste betäubend um ihn. Aber da sie endlich sagte – sie wirds [240] vom Schulrat haben –: »Gnädiger Herr, es steht ja in den hl. Zehn Geboten, du sollt dich nicht lassen gelüsten nach deines Nächsten Weib«: so tat er aus dem Kreuzwege zwischen Liebe und Groll einen langen Sprung in seine – Tasche und holte einen welschen Strauß heraus. »So nehmen Sie nur, Sie Häßliche, Unerbittliche, nur diese Vergißmeinnicht zum Angedenken – mehr begehr' ich beim Henker ja nicht!« Er hätte den Augenblick mehr begehrt, wenn sie ihn nahm; aber sie drückte wegsehend den seidnen Strauß mit zwei Händen zurück. Jetzt wurde die Honigwabe der Liebe in seiner Seele zu echtem Honigessig gesäuert; er wurde verflucht toll und warf die Blumen weit auf die Tafel hinüber und sagte: »Es sind Ihre versetzten Blumen selber – ich hatte sie ausgelöset bei der Taxatrizin – Sie müssen sie wohl behalten.« – Nun wich er von dannen, verbeugte sich aber, und die wunde Lenette tats auch.

Sie nahm den giftigen Strauß und besichtigte ihn am helleren Fenster – ach ja wohl waren es die Rosen und die Rosenknospen, an deren Eisendornen gleichsam das Blut von zwei zerstochnen Herzen hing. Indes sie so weinend und erliegend und mehr betäubt als aufmerksam durchs Fenster sah, nahm sie es wunder, daß ihr Seelenpeiniger, der laut die Treppe hinabgeflogen war, doch nicht herauskam aus der Haustüre. Nach langem aufmerksamen Lauern, worin die Angst wie ein Trost den Kummer überschrie und die Zukunft die Vergangenheit, galoppierte pfeifend und mit der Hutspitze gen Himmel zielend der gekrönte Haarkräusler daher und schrie einlaufend nur vorläufig hinauf: »Frau Königin!« Denn er mußte vor allen Dingen in seine eigne Stube einbrechen und vier Leute auf einmal zu Königen ausrufen und zu Königinnen. – –

Es ist nun Pflicht, den Leser in den Winkel mitzunehmen, wo der Venner hockt. Er war von Lenetten geradesweges zur Perückenmacherin hinabgestiegen im doppelten Sinn, eine jener gemeinen Frauen, die das ganze Jahr gar nicht daran denken – denn kein Pferd muß so viel wegarbeiten wie sie –, etwan untreu zu werden, und die es nur dann werden, sobald ein Versucher kommt, den sie weder locken noch fliehen, und die vielleicht [241] beim nächsten Brotbacken den Vorgang wieder vergessen haben. Überhaupt ist der Vorzug, den die meisten weiblichen Honoratiores ihrer Treue vor der Treue der höhern Damen geben, ebenso groß als zweifelhaft, da es in den mitt ern Ständen nur wenige Versucher gibt – und nur rohe dazu. Rosa war – so wie der Erdwurm zehn Herzen 75 führt, die von einem Ende des Wurms bis zum andern langen – innen mit ebensoviel Herzen besetzt und gefüttert, als es Arten von Weibern gibt; für feine, plumpe, fromme, sittenlose, für alle hatt' er sein besonderes Herz zur Hand. Denn wie Lessing und andere so oft den einseitigen Geschmack mißbilligen und den Kunstrichtern einen allgemeinen predigen, der die Schönheiten aller Zeiten und Völker empfindet, ebenso dringen Weltleute auf einen allgemeinen Geschmack für lebendige zweifüßige Schönheiten, der keine Manier ausschließet, und welchen alle letzen. Den hatte der Venner. In seiner Seele war ein solcher Unterschied zwischen seinen Empfindungen für die Perückenmacherin und zwischen denen für Lenetten, daß er aus Rache gegen diese sich auf der Treppe vorsetzte, den Unterschied zu überspringen und zur Hausherrin zu schleichen, deren engbrüstiger Mann sich draußen für eine andere Krönung konföderierte und abarbeitete. Sophia (so hieß sie) hatte immer beim Buchbinder Perücken ausgekämmt, wenn der Venner dort saß und Romane seines Lebens heften ließ: da hatten beide einander durch Blicke alles gesagt, was keine fremden verträgt. Meyern trat mit der kühnen Miene in die kinderlose Stube, die einen Epopöen-Dichter verriet, der sich über den Anfang wegsetzt. In der Stube war ein Verschlag von Brettern, worin wenig oder nichts war – kein Fenster, kein Stuhl, einige Wärme aus der Stube, ein Wandschrank und das Bette des Paars. –

Rosa hatte sich sogleich nach den ersten Komplimenten unter die Türe des Verschlags gestellet, weil er so spät nicht gern jedem vorbeilaufenden Auge – denn die Straße ging dem Fenster vorbei – eine anstößige Vermutung mitgehen wollte. Auf einmal sah Sophie ihren Gatten um das Fenster rennen. Der Vorsatz [242] einer Sünde verrät sich durch überflüssige Behutsamkeit: Rosa und Sophia fuhren so sehr über den Renner zusammen, daß diese dem Edelmann riet, in den Verschlag zurückzutreten, bis ihr Mann wieder auf den Schießgraben zurück sei. Der Venner stolperte ins Allerheiligste zurück, und Sophie stellte sich unter die Pforte des Verschlags und tat – da ihr Mann die Tür aufmachte und hereintrat –, als wenn sie aus ihr herauskäme, und zog sie hinter sich nach. Er hatte kaum die Standerhöhung ausgesprudelt, als er mit der Klage entfloh: »Die droben weiß es gar nicht.« Die Freude und ein schneller Trunk hatten seine lichtesten Gedanken mit einem Heerrauch entkräftet; er lief an die Treppe hinaus, schrie unten hinauf – denn er wollte wieder zurück zur Schützen-Prozession –: »Madam Siebenkäsin!«- Sie eilte die Hälfte herab und hörte zitternd den frohen Bericht – und warf ihm entweder als Maske der Freude oder als eine Frucht der größern Liebe gegen den glücklichern Gatten – oder als eine andere, der Freude gewöhnliche Frucht der Angst die Frage hinab: ob Hr. v. Meyern noch drunten sei. – »War er denn bei mir da?« sagt' er – und seine Frau versetzte ungebeten unter der Stubentüre »War er denn im Hause?« – Lenette antwortete argwöhnisch: »Hier oben – aber er ist noch nicht hinaus.«

Der Haarkräusler wurde mißtrauisch – denn Lungensüchtige trauen keiner Frau und halten, wie Kinder, jeden Schornsteinfeger für den Teufel mit Hörnern – und sagte: »Es ist nicht richtig, Sophel!« Die kurze Hirnwassersucht vom heutigen Trinken und der halbe Anteil am Throne und an den 50 fl. verstärkten seinen Mut so sehr, daß er sich innerlich vorsetzte, den Venner auszuprügeln, wenn er ihn in einem gesetzwidrigen Winkel ertappte. Er machte demnach Entdeckreisen – erstlich im Hausplatz, und seine Fährte und Witterung war Rosas wohlduftender Kopf – er folgte der Weihrauchwolkensäule in die Stube nach und merkte zuletzt, der Ariadnensfaden, der Wohlgeruch, werde immer dicker und hier unter diesen Blumen liege die Schlange, wie überhaupt nach Plinius 76 wohlriechende Wälder Nattern beherbergen. Sophia wünschte sich in die unterste von[243] Dantes Höllen hinab, aber im Grunde saß sie ja schon drunten. Dem Friseur leuchtete ein, daß ihm, halte sich der Venner einmal im zugeklappten Meisenkasten des Verschlages auf, daß ihm dann der Petz gewiß bleibe im Bärenfang; und er sparte sich also bis zuletzt das Gucken in diesen auf. Es ist historisch gewiß, daß er ein Frisiereisen ergriff, um mit diesem Visitiereisen den Kubikinhalt des finstern Verschlags zu messen. Drinnen schwenkt' er im Dunkeln die Zange waagrecht, stieß aber an nichts. Darauf schob er die Sonde oder den Sucher in mehr als einen Ort hinein, zuerst ins Bette, dann unter das Bette, brauchte aber jedesmal die Vorsicht, daß er die Beißzange, die nicht glühend war, auf- und zudrückte, falls etwan eine Locke im Finstern zwischen die beiden Tellereisen fiele. Der Kloben fing nur Luft. Jetzt kam er an einen Wand- und Kleiderschrank, dessen Türe seit sechs Jahren aufklaffte; denn da in diesem lüderlichen Haushalten der Schlüssel vor ebenso vielen Jahren verloren war, so mußte das Einschnappen des Schlosses verhütet werden; aber heute war die Türe eng angezogen – der schwitzende Venner tats und stand darin. – Der Kräusler drückte sie gar ins Schloß hinein, und jetzo war das Zuggarn über die Wachtel gezogen.

Er konnte nun ruhig machen, was er wollte, und allen Geschäften gelassen vorstehen; denn der Venner konnte nicht 'raus.

Er sandte die blutrote widerbellende Sophia an den Schlosser und dessen Mauerbrecher ab; sie war aber des festen Vorsatzes, bloß eine Lüge statt des Schlossers mitzubringen. Nach ihrem Abmarsch holt' er den Altreis Fecht herab, damit dieser zugleich der Zeuge und der Meßhelfer dessen wäre, was er im Schilde führte. Der Schuhflicker schlich in die Stube nach. Der Hektiker ging in den Kanarienbauer hinaus und redete den im Bauer selber inhaftierten Vogel an, indem er mit der Zange an die Pforte der Engelsburg klopfte: »Gnädiger Herr, ich weiß, Sie sitzen darin – regen Sie sich – jetzo bin ich noch mutterseelenallein – ich breche still mit der Zange den Schrank auf und lasse Sie fort.« – Er legte das Ohr an die Türe dieses Spandaus und sagte, als er den Arrestanten seufzen hörte: »Sie schnaufen jetzo, gnädiger Herr – denn ich lieg' an der Tür – wenn der Schlosser kommt und [244] aufbricht, so sehen wir Sie alle, und ich rufe das ganze Haus her. – Ich verlange aber nur ein Geringes – und lasse Sie im stillen herausspringen, bloß Ihren Hut will ich und einige Groschen Geld und Ihre Kundschaft.«

– Endlich klopfte der Baugefangne innen an seine Klosettüre und sagte: »Ja, ich stecke hier innen. Lass' Er mich nur heraus, Er soll alles haben. – Ich will von innen mit aufsprengen.« Der Perückenmacher und der Altreis setzten das Brechzeug am Sprachgitter des Burgverließes an, und der Gefangne stieß von innen heraus; während dem Erbrechen der Jubelpforte unterhandelte der Friseur weiter und verfällete den Klausner in die Kosten des Schlosserlohns – und endlich setzte Rosa wie eine bewaffnete Pallas aus der geöffneten Stirnhöhle ans Licht. »Ohne mich«, sagte Fecht, »hätt's der Hausherr gar nicht aufgebracht.«

Rosa machte große Augen über diesen Neben-Erlöser aus dem Personalarrest – nahm den wohlriechenden Hut ab (den der berauschte Kräusler auf seinen Kopf und also in den Realarrest setzte) – warf beiden aus der Westentasche einige Tropfen vom goldnen Regen zu – und eilte aus Furcht vor ihnen und dem Schlosser barköpfig im Finstern nach Hause. – Der Friseur aber, dessen Scheitel nahe an der dreifachen Krone der vorigen Kaiser 77 und der jetzigen Päpste war – denn der Vogel warf ihm die Krone zu, der Venner den Hut, und die Frau wollt' ihm auch etwas aufsetzen – der Friseur ging wohlgemutet mit der neuen Märtererkrone aus Filz, die er schon unter dem ganzen Schwenkschießen dem Venner beneidet hatte, in den Schießgraben hinaus, um wieder hereinzuziehen mit seinem Nebenkaiser unter seinen Reichskindern und Hintersassen.

Der Perückenmacher nahm seinen einem Mitkönige anständigern Hut vor dem königlichen Bruder, Siebenkäs, ab und erzählt' ihm einiges. Der Heimlicher v. Blaise lächelte wie Domitian heute freundlicher als jemals, wobei dem Vogelkaiser nicht wohl ward; denn Freundlichkeit und Lächeln macht das Herz, wie [245] spiritus nitri das Wasser, kälter, wenn es kalt, und wärmer, wenn es warm war – von einer solchen Freundlichkeit war nichts zu erwarten als ihr Widerspiel, wie in der alten Jurisprudenz 78 die größere Frömmigkeit einer Frau bloß bedeutete, daß sie mit dem Teufel einen Bund gemacht. Aus den Marterwerkzeugen Christi wurden heilige Reliquien – oft werden aus solchen Reliquien der Heiligen erst die Folterinstrumente. – Der herrliche Zug ging unter dem nickenden Blitzen des ganzen wankenden Sternenhimmels, in den neue Sternbilder zerplatzender Raketen aufzogen. Die Nummern, die nach dem Könige den Schuß gehabt, feuerten in die Luft und salutierten mit dieser Kanonade gleichsam das königliche Paar. Die zwei Könige gingen nebeneinander, und der zur Perückenmacher-Innung zünftige konnte vor Freude und Bier nicht recht stehen, sondern hätte sich gern auf einen Thron gesetzt. – – Aber darüber, über diese 70 Jünger des Adlers und über die zwei Reichsvikarien, versäumen wir ganz andere Dinge. –

Nämlich die Stadtsoldaten, die mit dabei sind – eigentlich die Marktfleckensoldaten 79. – Ich will viel über sie denken und nur halb so viel sagen. Eine Stadtmiliz, eine Landmiliz, besonders die kuhschnappelische, ist ein ernsthafter Heerbann, der bloß zum Verachten der Feinde gehalten wird, indem er ihnen unhöflich stets den Rücken, und was darunter ist, zukehrt, so wie auch eine gut geordnete Bibliothek nur Rücken zeiget. Hat der Feind Herz: so verehret der Heerbann wie der tapfere Sparter die Furcht; und wie Dichter und Schauspieler den Affekt selber heftig empfinden und vormachen müssen, den sie mitzuteilen wünschen, so sucht der besagte Bann das panische Schrecken erst selber zu zeigen, in das er Feinde versetzen will. Um nun einen solchen Kriegsknecht oder Friedenknecht in der Mimik des Erschreckens zu[246] üben, wird er täglich am Tore erschreckt; man nennt es ablösen. Ein Friedenkamerad schreitet gegen das Schilderhaus und fängt Feld- und Friedengeschrei an und macht nahe vor seiner Nase feindliche Bewegungen; der wachhabende schreiet auch, macht noch einige Lebensbewegungen mit dem Gewehr und streckt es sodann und läuft davon; der Sieger aber behauptet in dem kurzen Winterfeldzuge das Schlachtfeld und nimmt den Wachtrock um, den er jenem als Beute ausgezogen. Allein damit nicht einer allein auf Kosten der andern erschrocken werde: so wechseln sie mit dem Siegen ab. Ein solcher Krieger voll Gottesfrieden kann oft im Kriege sehr gefährlich werden, wenn er gerade im Laufen ist und sein Gewehr mit dem Bajonett zu weit wegwirft und so den zu kühnen Nachsetzer harpuniert. Kostbare Milizen dieser Art werden zu ihrer größren Sicherheit an öffentliche Plätze, wo sie unverletzlich sind, z.B. unter die Tore gestellt, und so werden solche Harpunierer recht gut von der Stadt und ihrem Tor bewacht; wiewohl ich doch oft, wenn ich vorbeiging, gewünschet habe, man sollte einem solchen Ritterakademisten einen starken Knüttel in die Hände geben, damit er etwas hätte, womit er sich widersetzen könnte, falls ihm ein Durchreisender sein Gewehr nehmen wollte.

Manchem wird es vorkommen, als ob ich auf diese Art die Mängel der Landmilizen nur künstlich verdeckte, und ich mache mich darauf gefasset; aber es ist nicht schwer einzusehen, daß dieses Lob auch auf alle kleine, auf der Fürstenbank stehende Heere reiche, die angeworben werden, damit sie anwerben. Ich will mich darüber jetzt auslassen. Villaume gibt Erziehern den Rat, die Kinder »Soldatens« spielen zu lehren, sie exerzieren und Wache stehen zu lassen, um sie durch dieses Spiel an gelenke und feste Stellungen des Körpers und Geistes zu gewöhnen, d.h. um sie geradezurichten und abzuhärten. In Campens Institut ist dieses Soldatenspiel schon lange für Eleven im Schwung. War es denn aber Hrn. Villaume so wenig bekannt, daß diese Schulexerzitien, die er uns vorschlägt, schon längst von jedem guten kleinen Reichsfürsten eingeführet waren? Glaubt er denn, es ist etwas Neues, wenn ich ihn versichere, daß die Fürsten junge [247] starke Kerle, sobald sie die heilige Länge haben, abholen und exerzieren lassen, um ihre Landeskinder mores, Stellung und alles zu lehren, was in der Kreuz- und Fürstenschule des Staats erlernet werden muß? In der Tat verstehen oft in den winzigsten Fürstentümern und Reichsgauen die Soldaten alles, was zu wirklichen gehört: sie präsentieren ihr Gewehr, stehen aufrecht an Portalen und können rauchen, wenn nicht feuern, lauter Dinge, die ein Pudel leicht erlernt, aber ein Bauerntölpel schwer. Ich leit' es aus diesen Kriegübungen her, daß sich viele sonst gescheute Männer bereden ließen, die Vexier-Soldateska kleiner Reichsstände für eine wirkliche ernsthafte zu halten, da sie doch sonst hätten sehen müssen, daß mit so kleinen Heeren weder ein kleines Land zu verteidigen noch ein großes anzufallen sei und daß es auch dieses gar nicht brauche, weil in Deutschland die Parität der Religionen schon die Parität der Mächte vertritt. – Hunger, Frost, Blöße, Strapazen sind die Vorteile, welche Villaume durch das Soldatenspiel seinen Zöglingen als ebenso viele Schulen der Geduld zu schaffen meint; das sind aber eben gerade die Vorteile, die die Staats-Realschule für die obengedachten jungen Kerle und noch besser als Villaume gewinnt, und darauf zweckt ja alles ab. Es ist mir recht gut bekannt, daß häufig ein Drittel des Landes gar nicht zum Soldaten gemacht und mithin in nichts geübt wird; es ist aber auch das wahr, daß, wenn es nur einmal so weit gebracht ist, daß zwei Drittel des Landes die Flinte statt der Sense auf der Achsel haben, daß alsdann dem letzten Drittel, weil es beträchtlich weniger zu mähen, zu dreschen und zu leben hat, die gedachten Vorteile (des Hungers etc.) fast gratis zuwachsen, ohne daß das Drittel einen einzigen Schuß tut. Man vervielfältige nur in einem Lande – in einem Ländchen – in einer Land- – in einer Mark- – in einer Grafschaft die Kasernen in hinreichender Anzahl: so werden sich von selber die restierenden Häuser als Fuggereien und Wirtschaftgebäude um die Kasernen anlegen, ja als echte Klöster, worin die drei Kloster-Gelübde – es ist niemand Pater Provinzial als der Fürst – nicht sowohl abgelegt als gut gehalten werden.

Wir hören jetzt die zwei Reichsvikarien in ihre Behausung [248] treten. Der Friseur züchtigt seine Frau mit nichts als mit dem Rapport der Sache und zeigt ihr den Hut. Der Advokat belohnte die seinige mit dem Kusse, den sie andern Lippen abgeschlagen. Sie machte ihm, wenn nicht mit der Erzählung, doch mit der Erzählerin eine Freude und versteckte überhaupt nichts als den italienischen Strauß und dessen Erwähnung – sie wollte seinen frohen Abend nicht trüben und ihn nicht auf die Schmerzen und Vorwürfe jenes andern bringen, wo sie es verpfändete. – Ich hatte mit vielen Lesern erwartet, Lenette werde die Botschaft der Thronbesteigung viel zu kaltsinnig aufnehmen – sie betrog uns alle: viel zu freudig tat sie's; aber aus zwei guten Gründen: sie hatte die Nachricht schon vor einer Stunde erhalten, und also hatte das erste weibliche Trauern über eine Freude der Freude darüber schon Platz gemacht; denn Weiber gleichen dem Wärmmesser, der in einer schnellen Wärme einige Grade sinket, eh' er um viele ordentlich steigt. Der zweite Grund, der sie so nachgiebig und teilnehmend machte, war ihr beschämendes Bewußtsein des vorigen Besuchs und des verhehlten Straußes; denn man ist oft hart, weil man stark war, und übt Duldung – weil man sie braucht. – Nun wünsch' ich der ganzen königl. Familie wohl zu schlafen und gesund im achten Kapitel zu erwachen.

Achtes Kapitel

Bedenklichkeiten gegen das Schuldenbezahlen – die reiche Armut am Sonntag – Thronfeierlichkeiten – welsche Blumen auf dem Grabe – neue Distel-Setzlinge des Zanks


Siebenkäs, ein König und doch ein Armenadvokat und holzersparendes Mitglied, stand den Morgen als ein Mann auf, der, die Spesen etc. abgerechnet, bare 40 fl. frk. jede Stunde auf den Tisch legen konnte. Er genoß den ganzen Vormittag das für Tugendhafte mit einem besondern Reize versetzte Vergnügen, Schulden abzutragen – erstlich beim Sachsen die Hausmiete – bei den Fleischern, Bäckern und andern Krankenwärtern unserer [249] dürftigen Maschine die kleinen Duodezrechnungen. Denn er glich den vornehmsten Personen, die von den geringsten nur Lebenmittel borgen und kein Geld, wie manche Richter nur mit jenen, nicht mit diesem zu bestechen sind.

Daß er übrigens seine Schulden abführt, kann ihm keiner verdenken, der weiß, daß er von geringem oder gar keinem Herkommen ist. Von einem Manne von Stande erwartet man als seiner anständiger, daß er seine Zinsen nicht bezahle – wozu ihn schon die Kreuzzüge verbinden, in welchen seine ältern Ahnen mit dienten und folglich, bloß unter den Römischen Stuhl eingepfarret, nichts zu verzinsen brauchten –, am wenigsten seine Schuldposten. Denn einem Mann von feinem Ehrgefühle, z.B. einem Hofmann, etwas borgen, heißet dasselbe mehr oder weniger versehren. Diese Beleidigung seines Gefühls sucht der feine Mann zu verzeihen und will sich also die ganze Beleidigung samt ihren Umständen ganz aus dem Sinne schlagen; erinnert ihn der Beleidiger seines Ehrgefühls daran, so stellet er sich mit wahrer Feinheit, als wiss' er kaum, daß er beleidigt worden. Hingegen rohe Landjunker und Offiziere auf dem Marsch zahlen wirklich aus und schlagen sich – wie in Algier, wo jeder Münzgerechtigkeit hat – die Münzsorten dazu selber. Auf Malta ist eine lederne Münze, von 16 Sous im Wert, gäng und gäbe, deren Randschrift heißet: non aes sed fides 80; diese juchtene Münze, wiewohl nicht rund, sondern lang ausgeprägt wie spartisches Geld – daher sie noch häufiger unter dem Namen der Hund- und Reitpeitschen vorkömmt –, zählen Landsassen und Personen vom Dorfadel ihren Kutschern, Juden, Schreinern und andern Leuten, denen sie schulden, so lange auf, bis Gläubigere befriedigt sind. – Ja ich stand schon am Tische und sah, daß Offiziere, die auf Ehre hielten, den Degen von der Wand oder Hüfte nahmen und damit dem Stiefelwichser, der sein Geld wollte, es in gedachter antiquarischer Rechenmünze – und schon bei den tapfern Spartern waren Waffen zugleich Münzen – wirklich hinzahlten, wobei noch dazu der Mann viel besser gewichset wurde als die meisten [250] Stulpenstiefel, wofür er einfoderte. Und sollt' es, im ganzen und moralisch gesprochen, ein Fehler sein, wenn auch Militärpersonen vom höchsten Range ihre kleinern Schulden abführen und oft dem winzigsten Schneidermeister, der Metall begehrt, die eiserne Elle aus den Händen nehmen und ihm – indem sie ihn noch dazu gerade mit dem Maße messen, womit er sie und ihre Pelze maß – nicht bloße Rechenmünzen oder auch Assignaten, sondern ein Metall, welches das reiche Peru nicht hatte, nämlich besagtes Eisen, als gutes Geld, wenn nicht in die Hand drücken, doch an einen Ort, der Konkursmassen tragen kann? Wenigstens hatten die Briten keine andere Münze als lange Eisenstäbe; kürzer ist die arabische Münze von Draht, Larin genannt, einen Zoll lang, 16 kr. im Wert (s. Eulers Wechselenzyklopädie). – Auf Sumatra sind die Schädel der Feinde unsere Louisdor und die Kopf-Stücke; sogar dieses Schatzgeld, den feindlichen Schädel des Professionisten, der etwas geliefert hat, greift oft der edlere Schuldner an, nur um diesem genugzutun. In der Kautelarjurisprudenz und im allerneuesten preuß. Gesetzbuch fehlet gleichwohl die Kautel: daß ein Gläubiger sich im Schuldschein sogleich ausbedingen solle, in welcher von den zwei gangbaren und alternierenden Geldsorten er von seinem hohen Gemeinschuldner wolle befriedigt werden, ob in Metall oder in Prügeln......

Siebenkäs hatte diesen Donnerstags-Morgen eine kitzelnde Disputierübung über das halbe Herz oder halbe Schwein des Kardinalprotektors, das ihm der Unterkönig, der Friseur, aufdringen wollte, um gewisser den halben Königschuß zu bekommen. Als der Sachse den Schuß hatte, die 25 fl., stritt er kälter und ließ sich endlich gefallen, daß künftigen Sonntag das gehälftete Tier oben in Firmians Stube von ihm, von den übrigen Hausleuten und von den zwei Schützen-Landesvätern und – müttern in Gesellschaft des Schulrates rein wie ein jüdisches Osterlamm sollte – aufgezehret werden. –

Die Blumengöttin unserer Tage nahm jetzo einige Finger spitzen voll Gesäme jener Blumen, die schnell aufgehen und die, wie die Christwurzel oder Nießwurz, im jetzigen Dezember [251] blühen, und säete sie neben den Steig, den Firmian am häufigsten ging. – – Aber wie lange, Freudiger! wird die erzwungne Blüte an deinen Tagen hängen bleiben? Und wird es deinem philosophischern Dianens- und Brotbaum, der an der Stelle der Klageiche gesetzet ist, nicht wie anderen abgehauenen Bäumen ergehen, die man auch am Andreastage in die Stube und in Kalkwasser pflanzt und die nach einem flüchtigen Ertrag von gelbem Laub und dumpfer Blüte auf immer verschmachten? –

Den Schlaf, den Reichtum und die Gesundheit genießet man nur, wenn sie unterbrochen worden; bloß in den ersten Tagen, nachdem die Bürde der Armut oder Krankheit abgeladen ist, tut dem Menschen das Aufrechtstehen und das freie Atmen am sanftesten. Diese Tage währten bei unserem Firmian bis zum Sonntag. Er mauerte einen ganzen Kubikfuß von der Teufelsmauer in seiner Auswahl aus des Teufels Papieren auf – er rezensierte – er prozessierte – er wachte listig über den Hausfrieden, den die Einlösung der Pfänder hätte stören können. Das will ich zuerst erzählen, und dann erst das Platos-Gastmahl am Sonntag. Er handelte nämlich schon am Königtage eine Dutzenduhr für 21 fl. an sich, um sein Geld nicht – nach und nach auszugeben; er wollte überhaupt einen Hoffnunganker in die Uhrtasche auswerfen. Als nun die Frau darauf antrug, die Salatiere, die Heringschüssel und andere Pfänder auszulösen, und da das nicht mit Küssen, sondern mit seinem halben Kapitale geschehen mußte, so sagt' er: »Ich bin zwar nicht dafür – in kurzem trägt sie die alte Sabel wieder fort – aber wenn du willt, so tu es immer, ich stelle dirs frei.« Hätt' er sie bekriegt, er hätte gemußt; so aber, da er ihr das meiste Geld in ihren Beutelhulfter goß – und da sie die wachsende Ebbe täglich anzeichnete – und da sie sich alle Tage an die Auslösung machen konnte: so machte sie sich eben nicht daran. Die Weiber schieben gern auf, und die Männer fahren gern zu; bei jenen gewinnt man durch Geduld, bei diesen, z.B. bei Ministern, durch Ungeduld. Ich erinnere hier alle deutsche Ehemänner, die etwas nicht auslösen wollen, noch einmal daran, daß ichs ihnen klar gesagt habe, wie sie mit ihren schönen Widerbellerinnen umzuspringen haben.

[252] Jeden Morgen sagte sie: »Ei wahrlich, wir sollten doch einmal nach unsern Tellern schicken.« Und er antiphonierte: »Meinetwegen nicht, ich lobe dich eher deswegen.« So gestaltete er seinen Wunsch in ein fremdes Verdienst um. Firmian hatte Kenntnis des Menschen, nicht der Menschen – er war bei jedem neuen Weibe verlegen, aber nicht bei einem alten – wußte genau, wie man unter gebildeten Leuten sprechen, gehen, stehen müsse, bracht' es aber nicht nach – nahm jede fremde äußere und innere Unbehülflichkeit wahr und behielt seine – wurde, wenn er seine Bekannten Jahre lang mit Welt und Überlegenheit behandelt hatte, erst auf Reisen innen, daß er, unähnlich dem Weltmann, über Unbekannte nichts vermöge. – – Was soll ich viel Worte machen? Er war ein Gelehrter. –

Inzwischen wär' er doch vor dem Sonntage, mit allen seinen Friedenpredigten und Friedenverträgen in der Brust, wieder in einen häuslichen Frosch- und Mäusekrieg unversehens hineingetappt. Es ist nämlich Tatsache, aus seinem eignen Munde entnommen, daß er, als Lenette unaufhörlich ihre Hände und Arme und damit zugleich hundert andere Sachen wusch, obgleich mehr mit kaltem Wasser, weil unmöglich in einem fort warmes dazu dastehen konnte, daß er, sag' ich, weiter nichts mit der allersanftesten Stimme in der Welt tat als die wahrhaft freudige Frage: »Das kalte Wasser erkältet dich also gar nicht?« – »Nein«, sagte sie in einem gedehnten Tone. »Warm macht dichs vielmehr?« fuhr er fort. »Ja«:, sagte sie in einem abgeschnappten. Sitten- und Seelenlehrer sind wider mein Erwarten sehr zurück, sowohl in der allgemeinen Seelengeschichte als in der besondern dieses Buchs, welche sich über die halbgrollende Antwort auf eine so milde Frage besonders verwundern. Lenette wußte nämlich längst recht gut, daß der Advokat, gleich Sokrates, gewöhnlich mit den sanftesten Lauten, wie Sparter mit Flöten, seinen Krieg anfing, ja sogar fortführte, um gleich jenem, bei sich zu bleiben; sie besorgte daher auch diesesmal, daß der Flötentext eine Kriegerklärung gegen die weibliche Regierform enthalte, die ihre Arbeitbezirke nach Waschwassern, wie das jetzige Bayern seine Landkreise nach Flüssen, einteilt. »Aus welcher Tonart«, [253] fluchte daher der Advokat öfters, »soll nun ein Ehemann sein Stück spielen, wenn zuletzt die weiche wie die harte klingt, frag' ich jeden?«

Aber diesesmal war er gerade mit der größten Milde auf nichts Hartes ausgewesen, sondern auf eine Vorrede zu einem richtigen Erziehsystem kindlicher Leiber. Denn er fuhr nach ihrer Antwort fort: »Damit erfreuest du mich wahrhaft. Hätten wir Kinder, so seh' ich, du würdest sie nach deiner Methode immer waschen, und zwar kalt und über den ganzen Leib; das aber stärkte, da es so wärmte.« Sie hielt ohne alle Antwort bloß die Hände zum Siegen gefaltet in die Höhe, wie jener biblische Prophet; denn ein kaltes Baden der Kinder war ihr nichts als ein Blutbad durch einen Herodes. Viel heller setzte jetzt Firmian seine Abhärt- und Abgleichmethode der Erziehung ins Licht; – viel heißer sträubte sich die Frau mit allem ihrem Gefieder dagegen auf, bis beide endlich durch gegenseitige, geschickte Entwicklung des männlichen und des weiblichen Erziehwesens weit genug gekommen wären, um als ein Paar Zephyrstürme gegeneinander aufzustehen, hätte nicht der Ehemann die Frage wie einen herrlichen Freischuß getan: »Wetter! haben wir denn Kinder? Warum machen wir uns denn voreinander selber lächerlich?« –

Lenette versetzte: »Ich sprach nur von fremden Kindern.«

Also, wie gesagt, brach kein Krieg aus, sondern vielmehr der friedliche Sonntag herein samt den Gästen, die das halbierte warme Herz oder Schwein der babylonischen Hure oder des Kardinalprotektors gewinnen und verspeisen wollen. Es war überhaupt, als wenn jetzo ein günstiger Stern der drei Weisen auf diesem Haus voll Hausarme stehen wollte; denn schon Freitags zuvor hatte ein Sturmwind den halben Rats-Forst glücklicherweise eingerissen und für alle Arme den Advent-Weg so glänzend mit Zweigen und den daran hangenden Bäumen überstreuet, daß die ganze Forstdienerschaft der Ährenlese einer solchen Weinernte nicht zu wehren vermochte; seit Jahren lag im Merbitzerschen Hause nicht so viel Holz als am Sonntage, teils gekauftes, teils kühn geholtes.

Ist nun schon an sich ein Sonntag der Sonnen-, Mond- und [254] Sternentag in einer Armenkaserne, wo der Mensch seine paar Bissen, seine paar Glanzkleider, seine zwölf Sitz- und zwölf Liegstunden hat und die nötigen Nachbarn zum Gespräch: so läßt sich wohl denken, wie vollends in Merbitzers Hause der Sonntag aufgetreten, wo jedermann ein halbes Schwein schon so ausgemacht und umsonst im Maule hatte als vorher die Predigt im Ohr, weil der vornehmste Mietmann im Hause die Kronfeierlichkeiten als Schützen-Souverän nirgends begehen wollte als am Tische unter lauter Handwerkern.

Schon vor dem ersten Kirchengeläute war die alte Sabel da. Der Kronschatz des Schießkönigs vertrug es ganz wohl, sie als Erbküchenmeisterin neben der Königin Lenette für einige Kreuzer und einige Nebenteller anzustellen. Der Königin selber kam jene überflüssig und wie eine Neben- oder zweite Königin vor – und im Schachbrett bekommt wirklich ein König zwei Königinnen, wenn man eine Bauerfigur in die Dame bringt und er die erste Königin noch hat, was dasselbe ist, wenn es unter einem wahren Thronhimmel geschieht –; denn Lenette hätte als wahre homerische und großkarolinische Fürstin am liebsten ganz allein gewaschen, gekocht und aufgesetzt. Der Schützen-Souverän selber verließ das laute staubende Thron- und Baugerüste des Tags und durchstrich in einem Schanzlooper selig und frei die weite grüne Ebene des stillen blauen Spätherbstes, aufgehalten von keinen dürren Verbietreisern und Wache stehenden Strohwischen und keine dickern Sperrstricke durchreißend als die Fäden der Spinne. Nie spazieren Gatten gemütlicher und gemächlicher im Freien, ja sogar in fremden Stuben auf und ab, als wenn in ihren die Stampf- und Zuckermühlen und die Fegemühlen arbeiten und toben und sie sich für ihre Heimkunft den reinsten Mahlschatz aller Mühlgänge versprechen. Mit einem dichterischen Idyllenauge schauete der Advokat aus seinen stillen Wiesen in die ferne Lärmstube voll Pfannen und Hackmesser und Besen hinein und ergötzte sich wahrhaft an dem ruhigen Anschauen der fernen umherfahrenden Betriebsamkeit und an dem Hineinträumen in die freudigen Zungenträume der heißhungerigen Tischgesellschaft – – bis er auf einmal rot und heiß wurde: »Da [255] tust du was Rechtes«, redete er sich selber an; »das kann ich auch; aber die arme Frau fegt und kocht sich zu Hause ab, und niemand erkennt ihr Verdienst.« Nun konnt' er wohl nicht weniger leisten als einen recht starken Eid, daß er, was er auch daheim gerückt und gebügelt finde, alles im höchsten Grade genehmigen und erheben wolle ohne weiteres.

Die Geschichte bestätigte es auch zu seinem Ruhme, daß, als er bei seiner Heimkunft sein Büchergestelle abgebürstet und sein Dintenfaß außen weiß gewaschen und alle seine Sachen in Ordnung, jedoch in einer neuen gefunden, er ohne das geringste Auffahren Lenetten freundlich lobte und sagte: sie habe wie aus seiner Seele gewirtschaftet und gefegt; denn gerade vor gemeinen Frauen, von denen heute ein Dreizack von Höllenrichterinnen 81 erscheine, könne man nicht gebürstet und gleißend genug auftreten – daher er ihr absichtlich heute die General-Intendantur des Theaters überlassen –, indes sie bei gelehrten Männern, wie Stiefel oder er selber, sich vergeblich in die beste englische Kratz- und Krempel- und Streichmaschine der Stube umsetze, weil solche Männer bei ihren hohen Gedanken auf dergleichen nötige Kleinigkeiten gar nicht herunter sähen.

Aber wie leitete durch diese schöne Stimmung der Präsident des Eßkongresses alles lieblich und lustig ein, noch ehe der Kongreß nur ankam. Nun vollends noch nachher! – Wenn die dreizehn Vereinigten Staaten, nämlich ihre dreizehn Deputierten miteinander an einem runden Tisch auf etwas, das sie ausgemacht, noch ein Abendmahl nehmen – und durch diese Deputierte wird wenigstens so viel ausgemacht, daß, wenn dreizehn Leute an einem Tische speisen, der dreizehnte darum nicht sterbe –: so halten es die vereinigten Freistaaten, weil sie aus dreizehn Kassen spielen, leicht aus, daß ihre Abgeordnete so traktieret werden wie – Firmians Leute in seiner Stube. Es ist angenehm, das Weidvieh grasen zu sehen, aber nicht den Nebukadnezar, sobald er als eines herumgeht; und so ist es nur widrig, den feinern [256] Mann, nicht aber das arme Volk mit zu vieler Lust auf der Wiese des Magens, am Eßtisch, weiden zu sehen. Sie waren alle einig, sogar alle Eheleute; denn es ist der Hauptzug des gemeinen Volks, einander in 24 Stunden 12 Friedeninstrumente und ebensoviele Kriegerklärungen zu schicken und besonders jedes Essen zu einem Liebe-und Versöhnmahle zu veredeln. Firmian sah in gemeinen Leuten gleichsam eine stehende Truppe, die Shakespeares Lustspiele gab, und er glaubte hundert mal, dieser Theaterdichter sei der unsichtbare Souffleur derselben. Firmian hatte schon lange nach dem Vergnügen geschmachtet, eine Freude zu haben, von der er an arme Personen etwas weggeben konnte; er beneidete den reichen Briten, der für eine Schenke voll Taglöhner die Zeche bezahlt oder der wie Cäsar eine Hauptstadt freihält. Der Hausarme gibt dem Straßenarmen, der eine Lazzarone dem andern, wie Schaltiere der Wohnplatz anderer Schaltiere und Regenwürmer die Wohnerde kleinerer Würmer sind.

Abends kam der Pelzstiefel, der zu gelehrt war, um zwischen ungelehrten Plebejern Schweinfleisch oder einen Scheffel Salz zu essen. Nun konnte doch Siebenkäs wieder einen Einfall haben, den niemand verstand als Stiefel. Er konnte doch den Staaten-Perpendikel, den Zepter, und die bunte Glaskugel des Reichsapfels auf den Tisch legen und als Eß- und Vogelkönig 82 sagen, sein langes Flughaar diene ihm, wie den fränkischen Königen, statt der Krone, die sein Hausherr geschossen – er konnte behaupten, die Einrichtung, daß bloß der, unter dessen Händen der Adler stirbt, König werde, das sei offenbar eine Nachahmung des Ordens der fratricellorum Beghardorum, die nur den, in dessen Händen ein Kind umkam, zum Papst ernannten 83 – er könne zwar über den Reichsmarktflecken Kuhschnappel nicht so lange, sondern 14 Tage kürzer regieren, wie der König in Preußen[257] über das Reichsstift Elten, der darüber jährlich 15 Tage herrsche – er habe zwar eine Krone mit Einkünften, die sehr herabgesetzt und in Wahrheit um die Hälfte beschnitten wären, und gleiche zu sehr dem großen Mogul, der sonst jährlich 226 Millionen einnahm und jetzo nur das Einhundertunddreizehntel davon – aber bei seiner Krönung sei doch statt aller schlimmen Gefangnen ein einziger guter losgelassen worden, er selber – und er sei wie Peter II. von Aragonien mit nichts Schlechterem gekrönt worden als mit Brot 84 – unter seiner ephemerischen Regierung sei niemand geköpft, bestohlen oder totgeschlagen worden, und was ihn am meisten freue, er stelle einen Fürsten der alten Deutschen vor, der freie Leute beherrschte, verteidigte und vermehrte und selber darunter gehörte etc.

Die Kehlen in diesem königlichen Appartement wurden gegen Abend hin immer lauter und trockner – die Rauchfänge am Munde, die Pfeifen, machten die Stube zu einem Wolkenhimmel und die Köpfe zu Freudenhimmeln – draußen lag die Herbstsonne mit geflammten warmen Flügeln auf der nackten kalten Erde, um den Frühling eher auszubrüten – die Gäste hatten die Quinterne, nämlich die 5 Treffer der 5 Sinne, aus den 90 Nummern oder 90 Jahren des Lebenslotto gezogen – jedes darbende Auge funkelte, und in Firmians Seele trieben die Knospen der Freude alle ihre Häute auseinander und schwollen blühend heraus – – Die tiefe Freude führt allezeit die Liebe an ihrer Hand, und Firmian sehnte sich heute unaussprechlich mit seinem freudetrunkenen schweren Herzen an Lenetten ihres, um an ihrer Brust alles zu vergessen, was ihm mangelte, oder auch ihr.

Alle diese Umstände wehten ihm einen sonderbaren Einfall in den Kopf. Er wollte nämlich das verpfändete seidene Blumenwerk heute auslösen und es draußen in irgendeine schwarze Stätte pflanzen, an die er Lenetten noch abends – und wär' es in der Nacht – scherzend führen wollte, um sie in ein schönes frohes Erstaunen über solche Blüten zu setzen. Er schlich sich [258] auf den Weg zum Leihhaus; aber – da jeder Entschluß anfangs mit einem winzigen Funken in uns anfängt und mit breiten Blitzen beschließet – so besserte er unterwegs den Vorsatz der Auslösung in den ganz andern um, sich wabre natürliche Blumen zu erhandeln und diese als ein Ziel in den nächtlichen Spazierweg einzustecken. Weiße und rote Rosen konnt' er aus dem Treibhause eines Hofgärtners des Fürsten von Öttingen-Spielberg, der erst in den Ort gezogen war, leicht bekommen. Er ging um die mit Blüten verhangnen steilrechten Glasdächer herum und zum Gärtner und – erhielt, was er wollte, bloß keine Vergißmeinnicht, die der Mann natürlich den Wiesen überlassen hatte. Und Vergißmeinnicht waren zur Ründe der liebevollen Illusion unentbehrlich. Er ging daher mit dem authentischen Herbstflor zur Taxatrizin, in deren Händen seine Seidenpflanzen waren, um die toten tauben Kokons-Vergißmeinnicht in lebende Rosen einzubinden. Als er hinkam und die Frau darum anging: vernahm er staunend, in seinem Namen habe das Pfand schon der Hr. v. Meyern eingelöset und mitgenommen und ein so großes Pfandgeld dagelassen, daß sie sich bei dem Advokaten noch heute bedankte. Es gehörte der ganze Widerstand eines mit Liebe gestärkten Herzens dazu, daß er dem Venner nicht noch heute mit einem Sturm über den krieglistigen Pfandraub ins Haus lief, weil er kaum den – freilich irrigen und nur durch Lenettens Verschweigen der Übergabe erzeugten – Gedanken aushalten konnte, daß zwischen Rosas diebischen Ringfingern das schöne Pfand seiner reinen Liebe blühe. Auch die schuldlose Betrogne, die Taxatrizin, wäre anzufahren gewesen an einem andern, nicht so lieb-und freudevollen Tage; aber Firmian fluchte bloß im allgemeinen, um so mehr, da die höfliche Frau ihm auf sein Bitten fremde Seidenvergißmeinnicht zuzuführen hatte. – Auf der Gasse war er mit sich über die Pflanzstatt der Blumen streitig; er wünschte, er hätte in der Nähe ein frisch aufgeackertes Beet mit Modererde vor sich, deren dunkler Grund das Blumenrot und Blumenblau erhöhe. Endlich sah er ein Feld, das im Winter und Sommer und in der größten Kälte zu Beeten aufgerissen wird – den Gottesacker, der nebst seiner [259] Kirche außerhalb des Orts von einem Hügel wie ein Weinberg herabhing. Er schlich oben durch ein Hintertor hinein und sah einen frisch aufgeworfnen Grenzhügel des beschlossenen Lebens; er war gleichsam vor die Triumphpforte gewälzt, durch die eine Mutter mit ihrem neugebornen Kinde auf dem Arm in die hellere Welt gegangen war. Auf diese Bahre aus Erde steckt' er die Blumen wie einen Totenkranz und ging nach Haus.

Man hatt' ihn kaum in der glücklichen Gesellschaft vermisset, die in ihrem mit fremden Bestandteilen gefüllten Elemente wie betäubte Fische schwamm, gleichsam gelähmt vom Gifte der Lust; Stiefel blieb vernünftig und sprach mit der Frau. Es ist der Welt schon aus dem ersten Teile bekannt – und den Leuten im Hause sonst –, daß Firmian gern aus seiner Gesellschaft weglief, um sich mit größerer Lust wieder in sie zu werfen, und daß er sein Vergnügen unterbrach, um es zu schmecken, wie Montaigne sich aus dem Schlafe wecken ließ, um ihn zu empfinden; er sagte also bloß, er sei nur draußen gewesen.

Endlich verliefen die lautesten Wellen, und es blieb nichts in der Ebbe zurück als drei Perlenmuscheln, unsere drei Freunde. Firmian blickte die glänzenden Augen Lenettens mit zärtlichen an, denn er liebte sie darum mehr, weil er ihr – eine Freude aufhob. Stiefel wurde von einer so reinen und tugendhaften Liebe ausgewärmt, daß er sie ohne groben logischen Verstoß für wahre Mitfreude erklären konnte, besonders da seine Liebe für die Frau der Liebe für den Mann nicht Fesseln, sondern Flügel anlegte. Der Schulrat war bloß auf der umgekehrten Seite in Angst, ob er seine Freude und Liebe auch feurig genug ausbrechen lasse; er drückte daher die Hände der Eheleute mehrmal und zwischen seine beiden gelegt – er sagte, er merke sonst wenig auf Schönheit, aber heute hab' ers mit Absicht getan, weil der Armenadvokatin die ihrige so gut gestanden unter den Arbeiten und besonders unter so vielen gemeinen Weibern, die er deshalb auch gar nicht einmal angeblickt – er versicherte dem Advokaten, er seh' es ordentlich für eine vermehrte Freundschaft gegen ihn selber an, was er Liebes für die brave Frau tue, und dieser versprach er, seine Zuneigung, die er ihr schon in der [260] Kutsche auf dem Wege von Augsburg durch seine Reden bewiesen, desto mehr zu verstärken, je mehr sie seinen Freund und dadurch ihn selber liebhabe.

In diesen Freudenbecher Lenettens warf Firmian natürlicherweise keine Kelchvergiftung durch die in seinen Augen neue Nachricht, daß der Venner die seidnen Blumen erobert habe: er war heute so froh, die kleine Spielkrone hatte alle blutige Öffnungen sei nes Kopfes, von dem er die Dornenkrone ein wenig abgehoben, so weich zugedeckt und gestillt, wie Alexanders Diadem den blutenden Kopf des Lysimachus, daß er nichts wünschte, als die Nacht wäre so lange wie eine Polarnacht, weil sie ebenso heiter war. In solchen Augenblicken sind allen unsern Schmerzen die Giftzähne ausgebrochen, und allen Schlangen der Seele hat ein Paulus, wie denen auf Malta, die Zungen versteinert.

Als Stiefel fortwollte, hielt er ihn nicht, drang aber darauf, daß er sich von beiden begleiten ließe, nicht bis an ihre Türe, sondern an seine. Sie gingen. Der aufgedeckte Himmel mit der Gassenbeleuchtung der Stadt Gottes durch Lampen aus Sonnen zog sie aus den engen Kreuzgängen des Marktfleckens in den ausgedehnten Schauplatz der Nacht hinaus, wo man gleichsam das Himmelblau atmet und die Ostwinde trinkt. Jedes Stubenfest sollte man schließen und heiligen mit dem Kirchgang in den kühlen weiten Tempel, auf dessen Kirchengewölbe die Sternen-Musaik das ausgebreitete Heiligenbild des Allerheiligsten zusammensetzt. Sie schweiften umher, von vorauseilenden Frühlingwinden, die den Schnee von den Bergen spülen, erfrischet und gehoben; die ganze Natur gab das Versprechen eines milden Winters, der die Hausarmen ohne Holz sanft über das finsterste Viertel des Jahrs hinüberführt und den nur der Begüterte verwünscht, weil er bloß den Schlitten und keinen Schnee bestellen kann.

Die zwei Männer führten Gespräche, die der erhabnen Gestalt der Nacht gehörten; Lenette sagte nichts. Firmian bemerkte: »Wie nahe und wie klein liegen jetzt die jämmerlichen Austerbänke, die Dörfer, nebeneinander; wenn wir von einem Dorf [261] zum andern reisen, so kömmt uns der Steig so lang wie einer Milbe der ihrige vor, wenn sie sich auf der Landkarte vom Namen des einen Dorfs zu dem des andern wälzt. Und höhern Geistern mag wohl unsere Erdkugel ein Erdball für ihre Kinder sein, den der Hofmeister dreht und erklärt.« »Aber es kann«, sagte Stiefel, »ja noch kleinere Erden als unsere geben, und überhaupt muß etwas an unserer sein, da der Herr Christus für sie gestorben ist.« – Das drang wie warmes Blut in Lenettens Herz. Firmian sagte bloß: »Für die Erde und die Menschen sind schon mehre Erlöser als einer gestorben – und ich bin überzeugt, Christus nimmt einmal mehre fromme Menschen bei der Hand und sagt: ›ihr habt auch unter Pilatussen gelitten‹. Ja mancher Schein-Pilatus ist wohl gar ein Messias.« Lenette besorgte heimlich, ihr Mann sei ein Atheist, wenigstens ein Philosoph. Er führte beide in Schlangen- und Schraubengängen dem Kirchhof zu. Aber auf einmal wurden seine Augen feucht, als wenn er durch einen tiefen Nebel ginge, da er an das überblümte Grab der Mutter und mithin an seine Lenette dachte, die keine Hoffnung gab, eine zu werden. Er suchte die Wehmut sich mit philosophischen Bemerkungen aus der Brust zu schaffen; daher sagt' er: Die Menschen und die Uhren stocken, solange sie aufgezogen werden für einen neuen langen Tag, und er glaube, der dunkle Zwischenraum, womit der Schlaf und der Tod unsere Zustände abteile und absondere, wende das zu große wachsende Leuchten einer Idee, das Brennen nie gekühlter Wünsche und sogar das Zusammenfließen von Ideen ab, so wie die Planetensysteme durch düstere Wüsten, und die Sonnensysteme durch noch größere auseinander gehalten werden. Der menschliche Geist könne den unendlichen Strom von Kenntnissen, der durch die ewige Dauer rinnt, nicht fassen, wenn er ihn nicht in Absätzen und Zwischenräumen trinke – den ewigen Tag, der unsern Geist blenden würde, zerlegen Johannisnächte, die wir bald Schlaf, bald Tod nennen, in Tagzeiten und fassen seinen Mittag in Morgen und Abend ein.

Lenette wäre aus Furchtsamkeit lieber hinter der Gottesackermauer weggelaufen; sie wurd' aber hineingeführt. Firmian [262] nahm mit der in sich geschmiegten Frau einen Umweg zum Strauß. Er warf die schmalen klaffenden knarrenden Messing-Türchen zu, die den frommen Vers und den kurzen Lebenslauf bedeckten. Sie kamen zu den der Kirche nähern vornehmen Gräbern, die wie ein Wassergraben um diese Festung liefen. Hier traten lauter steilrechte Grabmäler auf die stillen Mumien, und weiter hinauf oben ruhten nur liegende Falltüren auf liegenden Menschen. Er brachte einen knöchernen, im Freien schlafenden Kopf ins Rollen und hob mit beiden Händen – Lenette mocht' ihn immerhin bitten, sich nicht zu verunreinigen – diese letzte Kapsel eines vielgehäusigen Geistes auf und sah in die leeren Fensteröffnungen des zerstörten Lustschlosses und sagte: »Um Mitternacht sollte man sich auf die Kanzel drinnen stellen und diese skalpierte Maske des Ich auf das Kanzelpult statt der Sanduhr und Bibel legen und darüber predigen vor den andern noch in ihre Häute eingepackten Köpfen. Wenns die Leute nur tun wollten, so sollten sie meinen Kopf nach meinem Ableben schinden und in die Kirche, wie einen Heringkopf, an einem Seil, wie den Taufengel, aufhenken, damit die törichten Seelen einmal zuhinauf– und einmal hinabsähen, weil wir hängen und schweben zwischen dem Himmel und dem Grabe. In unsern Köpfen, Herr Rat, sitzt noch der Haselnußwurm; aber aus diesem Kopfe ist er schon verwandelt ausgeflogen, denn er hat Löcher und einen gepulverten Kern 85

Lenette erschrak über diese gottlose Lustigkeit so nahe neben Gespenstern; aber sie war nur eine verkleidete Erhebung. Auf einmal lispelte sie: »Dort schauet etwas über das Dach des Beinhauses herunter und richtet sich auf.« Der Abendwind trug bloß eine Wolke höher, und sie ruhte in Gestalt einer Bahre auf dem Dach, und eine Hand streckte sich aus ihr heraus, und ein zunächst an der Wolke blinkender Stern schien gleichsam auf die in die Nebelbahre gelegte Gestalt über der Stelle des Herzens als eine schmückende weiße Blüte gesteckt.

»Es ist nichts«, sagte Firmian, »wie eine Wolke. Wir wollen [263] aufs Haus losgehen: so wird sie sich verstecken.« So hatt' er den schönsten Vorwand, ihr das blühende Miniatur-Eden auf dem Grabe einzuhändigen. Sie war kaum zwanzig Schritte hinaufwärts geschleppet, so wurde die Bahre vom Hause verbauet. »Was blüht denn da?« sagte der Rat. »Ei!« rief Firmian, »wahrhaftig, weiß- und rote Rosen und Vergißmeinnicht, Frau!« Sie blickte zitternd, zweifelnd, forschend auf diese mit einem Strauße bestreuete Ruhebank des Herzens, auf den Altar, unter dem das Opfer liegt. »Es ist schon gut, Firmian,« sagte sie, »ich kann nichts dafür, aber du hättest es nicht tun sollen – willst du mich denn immerfort quälen?« Sie fing an zu weinen und drückte die strömenden Augen auf Stiefels Arm. –

Denn sie, die in nichts so fein war als im Argwohn, hatte geglaubt, es sei der seidne Strauß aus ihrer Kommode, und der Mann wisse um die Schenkung von Rosa und habe mit der Pflanzung der Blumen auf das Grab einer Kindbetterin entweder ihre Kinderlosigkeit oder sonst sie selber zum Gespött. Er mußte ebenso verwirrt als verwirrend werden bei den gegenseitigen Irrtümern; er mußte fremde bestreiten und eigne ablegen; denn nun vernahm er erst von Lenetten, daß Rosa ihr die ausgelösten Seidenblumen längst eingehändigt. An der grünen Distel des Mißtrauens in ihre Liebe schlugen jetzt einige Blüten aus; denn nichts tut weher, als wenn eine geliebte Person uns zum ersten Male etwas verbirgt, und wär' es eine Kleinigkeit. Der Advokat war sehr mißmutig über das Verbittern der Rührung, worein er sich und andere zu bringen gedacht. Seine an sich schon zu künstliche welsche Blumensaat hatte der böse Feind des Zufalls durch Einstreuen welschen Unkrauts aus Bosheit und zur Strafe noch krauser verkünstelt und verkröpft; und man hüte sich daher, den Zufall zum Dienste des Herzens zu mieten.

Der verlegne Rat tat die Verlegenheit seines Urteils durch einige warme Flüche über den Venner kund; er wollte letzlich einen Friedenkongreß zwischen den sinnenden Eheleuten eröffnen und riet Lenetten an, dem Mann die Hand zu geben und sich auszusöhnen. – Aber dazu brachte sie nichts; nach langem Zaudern bekannte sie: sie wolle schon; aber nur, wenn er die Hände [264] gewaschen hätte. Die ihrigen fuhren aus Ekel krampfhaft zurück vor zweien Handhaben eines Totenkopfs. –

Der Schulrat nahm beiden Menschen die Sturmfahne ab und hielt eine Friedenpredigt, die warm aus dem Herzen kam – er stellt' ihnen den Ort vor, wo sie wären, unter lauter Menschen, die schon gerichtet wären, und neben den Engeln, die an den Gräbern der Frommen Wache ständen – er führte an, die zu ihren Füßen verwesende Mutter mit dem Säugling im Arm, deren ältestem Sohn er nach Schellers Prinzipien das Lateinische beibringe, mahne sie gleichsam an, bei ihrem friedlichen Hügel nicht über Blumen zu hadern, sondern sie davon als Ölzweige des Friedens zu nehmen.... Sein theologisches Weihwasser sog Lenettes Herz durstiger ein als das reine philosophische Alpenwasser Firmians, und des letzten erhebende Gedanken über den Tod schossen über ihre Seele ohne Eingang hinweg. – Die Versöhnopfer wurden gebracht und die gegenseitigen Ablaßbriefe ausgewechselt; indessen nimmt ein solcher Friede, den ein Dritter zwischen zweien schließet, immer ein wenig die Natur eines Waffenstillstandes an. – Seltsam genug erwachten beide am Morgen mit Tränen in den Augen, konnten aber durchaus nicht angehen, von welchen Träumen die Tropfen zurückgeblieben, ob von freudigen oder von trüben

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[265]
Erstes Blumenstück

Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab,

daß kein Gott sei 86


Vorbericht


Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit. Die Menschen leugnen mit ebensowenig Gefühl das göttliche Dasein, als die meisten es annehmen. Sogar in unsere wahren Systeme sammeln wir immer nur Wörter, Spielmarken und Medaillen ein, wie Geizige Münzkabinetter; – und erst spät setzen wir die Worte in Gefühle um, die Münzen in Genüsse. Man kann zwanzig Jahre lang die Unsterblichkeit der Seele glauben – – erst im einundzwanzigsten, in einer großen Minute, erstaunt man über den reichen Inhalt dieses Glaubens, über die Wärme dieser Naphthaquelle.

Ebenso erschrak ich über den giftigen Dampf, der dem Herzen dessen, der zum erstenmal in das atheistische Lehrgebäude tritt, erstickend entgegenzieht. Ich will mit geringern Schmerzen die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen: dort verlier' ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, hier verlier' ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne derselben; das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die[266] große, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.

Auch hab' ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.

Für andere, die nicht so weit sind wie ein lesender Magistrand, merk' ich noch an, daß mit dem Glauben an den Atheismus sich ohne Widerspruch der Glaube an Unsterblichkeit verknüpfen lasse; denn dieselbe Notwendigkeit, die in diesem Leben meinen lichten Tautropfen von Ich in einen Blumenkelch und unter eine Sonne warf, kann es ja im zweiten wiederholen; – ja noch leichter kann sie mich zum zweiten Male verkörpern als zum ersten Male.


*


Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß die Toten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert, sich aus ihrem aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Toten wegen vor dem Tode; und wendet in der nächtlichen Einsamkeit den Blick von den langen Fenstern der stillen Kirche weg und fürchtet sich, ihrem Schillern nachzuforschen, ob es wohl vom Monde niederfalle.

Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! – Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog? –

[267] Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört' ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt derEwigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.

[268] Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«

Er antwortete: »Es ist keiner.«

Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichenAuge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«

Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.

Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den [269] Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?.....

Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«

Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel [270] hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹ ... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde logt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«

Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern.... als ich erwachte.

Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.

[271]
Zweites Blumenstück

Der Traum im Traum 87


Erhaben stand der Himmel über der Erde; ein Regenbogen hob sich, wie der Ring der Ewigkeit, über den Morgen – ein gebrochenes Gewitter zog über Wetterstangen mit einem müden Donnern unter die farbige Edenpforte in Osten – und die Abendsonne schauete, wie hinter Tränen, mit einem milden Lichte dem Gewitter nach, und ihre Blicke ruhten am Triumphbogen der Natur.... Ich spielte mit meinem Entzücken und schloß überfüllt die Augen zu und sah nichts mehr als die Sonne, die warm und lodernd durch die Augenlider drang, und hörte nichts mehr als das weichende Donnern. – – Da fiel endlich der Nebel des Schlafs auf meine Seele und überdeckte mit seinem grauen Gewölke den Frühling; aber bald zogen sich Lichtstreife durch den Nebel, dann bunte Schönheitlinien, und zuletzt war der ganze Schlaf um mich mit den hellen Bildern des Traums übermalt.

Mir träumte, ich stehe in der zweiten Welt: um mich war eine dunkelgrüne Aue, die in der Ferne in hellere Blumen überging und in hochrote Wälder und in durchsichtige Berge voll Goldadern – hinter den kristallenen Gebirgen loderte Morgenrot, von perlen den Regenbogen umhangen – auf den glimmenden Waldungen lagen statt der Tautropfen niedergefallene Sonnen, und um die Blumen hingen, wie fliegender Sommer, Nebelsterne.... Zuweilen schwankten die Auen, aber nicht von Zephyrn, sondern von Seelen, die sie mit unsichtbaren Flügeln bestreiften. – – Ich war der zweiten Welt unsichtbar; unsere Hülle ist dort nur ein kleiner Leichenschleier, nur eine nicht ganz gefallene Nebelflocke.

[272] Am Ufer der zweiten Welt ruhte die Heilige Jungfrau neben ihrem Sohne und schauete auf unsere Erde herab, die unten auf dem Totenmeere schwamm mit ihrem engen Frühling, klein und hinabgesenkt und nur vom Widerschein eines Widerscheins düster beschienen und jeder Welle nachirrend. Da machte die Sehnsucht nach der alten geliebten Erde Mariens zarte Seele weicher, und sie sagte mit schimmernden Augen:»O Sohn, mein Herz schmachtet weinend nach meinen teuern Menschen – ziehe die Erde herauf, damit ich den geliebten Geschwistern wieder nah in das Auge blicken kann; ach, ich werde weinen, wenn ich lebendige sehe.«

Christus sagte: »Die Erde ist ein Traum voll Träume; du mußt entschlafen, damit dir die Träume erscheinen können.«

Maria antwortete: »Ich will gern entschlafen, damit ich die Menschen träume.« – Christus sagte: »Was soll dir der Traum zeigen?«

»O, die Liebe der Menschen zeig' er mir, Geliebter, wenn sie sich wieder finden nach einer schmerzlichen Trennung« – – und indem sie es sagte, stand der Todesengel hinter ihr, und sie sank mit zufallenden Augen an seine kalte Brust zurück – und die kleine Erde stieg erschüttert herauf, aber sie wurde kleiner und bleicher, je näher sie kam.

Der Wolkenhimmel der Erde spaltete sich, und der zerrissene Nebel entblößte die kleine Nacht auf ihr; denn aus einem stummen Bache schimmerten einige Sterne der zweiten Welt zurück; die Kinder schliefen sanft auf der zitternden Erde und lächelten alle, weil ihnen im Schlummer Maria in mütterlicher Gestalt erschien. – – Aber in dieser Nacht stand eine Unglückliche – in ihrer Brust waren keine Klagen mehr, nur noch Seufzer – und ihr Auge hatte alles verloren, sogar die Tränen. Du Arme! blicke nicht nach Abend an das überflorte Trauerhaus – blicke nie mehr nach Morgen auf den Gottesacker, an das Totenhaus! Wende nur heute dein geschwollenes Auge ab vom Totenhause, wo dich eine schöne Leiche zerrüttet, die unverschlossen im Nachtwind steht, damit sie früher erwache als im Grabe! – Aber nein, Beraubte, blicke nur hin auf deinen Geliebten, eh' er zerfällt, und [273] fülle dich mit dem ewigen Schmerz.... Da jetzt ein Echo im Gottesacker zu reden anfing, das die sanften Klaggesänge des Trauerhauses nachstammelte: o, da riß dieses gedämpfte Nachsingen, wie von Toten, das ganze Herz der Gebeugten auseinander, und alle unzähligen Tränen flossen wieder durch das wunde Auge, und sie rief außer sich: »Rufst du mich, du Stummer, mit deinem kalten Munde? O Geliebter, redest du noch einmal deine Verlassene an? – Ach sprich, nur zum letzten Male, nur heute!.. Nein, drüben ists ganz stumm – nur die Gräber tönen nach – aber die armen Überdeckten liegen taub darunter, und die zerbrochne Brust gibt keinen Ton.«

Aber wie schauderte sie, als das Trauerlied aufhörte und der Nachhall der Gräber allein fortsprach! – Und ihr Leben wankte, als das Echo näher ging, als ein Toter aus der Nacht trat und die bleiche Hand ausstreckte und ihre nahm und sagte: »Warum weinest du, Geliebte! wo waren wir so lange? – Mir träumte, ich hätte dich verloren.« – Und sie hatten sich nicht verloren. – Aus Mariens geschlossenem Auge drang eine Freudenträne, und eh' ihr Sohn den Tropfen weggenommen, war die Erde wieder zurückgesunken mit den beiden neuen Beglückten.

Auf einmal stieg ein Funke aus der Erde herauf, und eine fliegende Seele zitterte vor der zweiten Welt, als ob sie zögere hinaufzugehen. Christus hob die entfallene Erdkugel wieder auf, und das Körpergewebe, aus dem die Seele geflogen war, lag noch mit allen Wundenmalen eines zu langen Lebens auf der Erde. Neben dem gefallnen Laube des Geistes stand ein Greis, der die Leiche anredete: »Ich bin so alt wie du; warum soll ich denn erst nach dir sterben, du treues, gutes Weib? Jeden Morgen, jeden Abend werd' ich nachrechnen, wie tief dein Grab, wie tief deine Gestalt eingefallen ist, ehe meine neben dich sinkt... Oh! wie bin ich allein! Jetzo hört mich nichts mehr; und sie nicht; – aber morgen will ich ihr und ihren treuen Händen und ihren grauen Haaren mit einem solchen Schmerz nachsehen, daß er mein schwaches Leben schließt. – – O du Allgütiger, schließ es lieber heute, ohne den großen Schmerz!« – – Warum legt sich noch im Alter, wo der Mensch schon so gebückt und müde ist, noch auf [274] den untersten Stufen der Gruft das Gespenst des Kummers so schwer auf ihn und drückt das Haupt, in welchem schon alle Jahre ihre Dornen gelassen haben, mit einem neuen Schauder hinunter?

Aber Christus schickte den Todesengel mit der kalten Hand nicht: sondern blickte selber dem verlassenen Greis, der so nahe an ihm war, mit einer solchen lächelnden Sonnenwärme in das Herz, daß sich die reife Frucht ablösete – und wie eine Flamme brach sein Geist aus dem geöffneten Herzen – und begegnete über der zweiten Welt seiner geliebten Seele – und in stillen, alten Umfassungen zitterten beide verknüpft ins Elysium nieder, wo sich keine endigt. – – Maria reichte ihnen liebend die beiden Hände und sagte traum- und freudetrunken: »Selige! nun bleibt ihr beisammen.«

Über die arme Erde bäumte sich jetzt eine rote Dampfsäule und umklammerte sie und verhüllte ein lautes Schlachtfeld. Endlich quoll der Rauch auseinander über zwei blutigen Menschen, die einander in den verwundeten Armen lagen. Es waren zwei erhabne Freunde, die einander alles aufgeopfert hatten und sich zuerst, aber ihr Vaterland nicht. »Lege deine Wunde an meine, Geliebter! – Nun können wir uns wieder versöhnen; du hast ja mich dem Vaterlande geopfert und ich dich. – Gib mir dein Herz wieder, eh' es sich verblutet. – Ach, wir können nur miteinander sterben!« – Und jeder gab sein wundes Herz dem andern hin – aber der Tod wich vor ihrem Glanze zurück, und der Eisberg, womit er den Menschen erdrückt, zerfloß auf ihren warmen Herzen; die Erde behielt zwei Menschen, die über sie als Berge aufsteigen und ihr Ströme und Arzneien und hohe Aussichten geben, und denen die niedrige Erde nichts zuschickt als – Wolken.

Maria winkte träumend ihrem Sohne, weil nur er solche Herzen fassen, tragen und beschirmen könne.

– Aber warum lächelst du auf einmal so selig, wie eine freudige Mutter, Maria? – Etwan, weil deine liebe Erde, immer höher aufgezogen, mit ihren Frühlingblumen über das Ufer der zweiten Welt hereinwanket? – weil liegende Nachtigallen sich mit heißbrütenden Herzen auf kühle Auen drücken? – weil die Sturmwolken [275] zu Regenbogen aufblühen? – weil deine unvergeßliche Erde so glücklich ist im Putze des Frühlings, im Glanze seiner Blumen, im Freudengeschrei seiner Sänger? – Nein, darum allein nicht; du lächelst so selig, weil du eine Mutter siehst und ihr Kind. Ist es nicht eine Mutter, die jetzo sich bückt und die Arme weit aufschließet und mit entzückter Stimme ruft: »Mein Kind, komm wieder an mein Herz!« – Ist es nicht ihr Kind, das unschuldig im brausenden Tempel des Frühlings neben seinem lehrenden Genius steht, und das der lächelnden Gestalt zuläuft, und das, so früh beglückt und an das warme Herz voll Mutterliebe gezogen, ihre Laute nicht versteht: »Du gutes Kind, wie freust du mich! Bist du denn glücklich? liebst du mich denn? O sieh mich an, du Teurer, und lächle immerfort!«...

Maria wurde von der schönen Entzückung aufgeweckt, und sie fiel sanft erbebend um ihren eignen Sohn und sagte weinend: »Ach, nur eine Mutter kann lieben, nur eine Mutter« – und die Erde sank mit der Mutter, die am Herzen des Kindes blieb, wieder in den irdischen Äther hinab...

Und auch mich erweckte die Entzückung; aber nichts war verschwunden als das Gewitter: denn die Mutter, die im Traum das kindliche Herz an ihres gedrückt, lag noch auf der Erde in der schönen Umarmung – und sie lieset diesen Traum und verzeiht vielleicht dem Träumer die Wahrheit.

[276]

Drittes Bändchen

Neuntes Kapitel

Kartoffelkriege mit Weibern – und mit Männern – der Dezemberspaziergang – Zunder der Eifersucht – Erbfolgekrieg um den grillierten Kattun – Zerfallen mit Stiefel – die schmerzhafte Abendmusik


Ich wünschte, ich schweifte gelegentlich ein wenig aus; aber es fehlt mir an Mut.

Denn es gibt heutzutage wenige Leser, die nicht alles verstehen – wenigstens unter den jungen und geadelten –, und diese fodern (ich verarg' es ihnen nicht) von ihren Schoßautoren, sie sollen noch mehr wissen, was eine Unmöglichkeit ist. Durch das englische Maschinenwesen der Enzyklopädien – der enzyklopädischen Wörterbücher – der Konversationslexika – der Auszüge aus dem größern Konversationslexikon – der allgemeinen Wörterbücher aller Wissenschaften von Ersch und Gruber setzt sich ein junger Mann in wenigen Monaten bloß am Tage – die Nächte braucht er nicht einmal – in einen ganzen akademischen Senat voll Fakultäten um, den er allein vorstellt und unter welchem er als die akademische Jugend gewissermaßen selber steht.

Ein ähnliches Wunder als ein solcher junger Mann und Hauptstädter ist mir nie vorgekommen, es müßte denn der Mann sein, den ich in der Baireuther Harmonie gehört, welcher seinerseits wieder eine ganze Académie royale de musique, ein ganzes Orchester darstellte, indem er mit seinem einzigen Körper alle Instrumente trug und spielte. Es blies dieser Panharmonist vor uns Teilharmonisten ein Waldhorn, das er unter dem rechten Arme fest hielt, dieser strich wieder eine Geige, die er unter dem linken hielt, und dieser klopfte wieder zur schicklichsten Zeit eine Trommel, die er auf dem Rücken trug – und oben hatt' er eine Mütze mit Schellen aufgesetzt, die er leicht mit dem Kopfe janitscharenmäßig schüttelte – und an die beiden Fußknorren hatt' er Janitscharen-Bleche angeschnallt, die er damit kräftig widereinander schlug; – und so war der ganze Mann ein langer [279] Klang, vom Wirbel bis zur Sohle, so daß man diesen Gleichnis-Mann gern wieder mit etwas verglichen hätte, mit einem Fürsten, der alle Staats-Instrumente, Staats-Glieder und Repräsentanten selber repräsentiert. – – – Wo soll nun aber vor Hauptstädtern und Lesern, welche einem solchen Allspieler als Allwisser gleichen, ein Mann wie ich, der, wenn es hoch kommt, nur von sieben Künsten Heidelberger Magister und einiger Philosophie Doktor ist, rechten Mut hernehmen, in ihrer Gegenwart künstlich und glücklich auszuschweifen? – Fortgang in meiner Erzählung ist hier weit sicherer.

Den Advokat Siebenkäs treffen wir denn unter lauter Hoffnungen, aber mit tauben Blüten wieder an. Er hatte gehofft, er werde nach dem Königsschusse wenigstens so lang gute Tage erleben, bis das Schußgeld aufgezehret sei, wenigstens 14; aber das Trauerschwarz, das jetzo die Reiseuniform ist, sollte auch die seinige auf seiner irdischen Nachtreise bleiben, auf dieser voyage pittoresque für Poeten. Die Menschen nicht, aber die Hamster und Eichhörnchen wissen gerade das Loch ihrer Wohnung zu füllen, das gegen die künftige Wetterseite aufsteht; Firmian dachte, sei das Loch in seinem Beutel geflickt, so fehl' ihm weiter nichts – ach es ging ihm jetzt etwas Bessers ab als Geld, – Liebe. Seine gute Lenette trat immer weiter von seinem Herzen weg und er von ihrem.

Ihr Verhehlen des von Rosa zurückgelieferten Straußes setzte in seiner Brust, wie jeder fremde Körper in jedem Gefäße des Leibes, Stein um sich an. Das war aber noch wenig.

Sondern sie fegte und wischte am Morgen, er mochte pfeifen, wie er wollte –

Sie fertigte alle Landtagabschiede und andere Dekrete ans Laufmädchen noch immer in einigen Duplikaten und »vidimierten Kopien« aus, er mochte protestieren, wie er wollte –

Sie befragte ihn um jede Sache noch einigemal, er mochte immerhin vorher schreien wie ein Marktschreier oder hinterher fluchen wie ein Kundmann des letzten –

Sie sagte noch immerfort: es hat vier Viertel auf 4 Uhr geschlagen – Sie gab ihm noch immer, wenn er den mühsamsten [280] Beweis geführt, daß Augsburg nicht in Zypern liege, die gründliche Antwort: es liegt aber doch auch nicht in Romanien, nicht in der Bulgarei, nicht im Fürstentum Jauer, noch bei Vaduz, noch bei Husten, zwei sehr unbedeutenden Flecken – Er konnte sie nie dahinbringen, ihm offen beizufallen, wenn er ganz unbedingt verfocht und aufschrie: es liegt beim Teufel in Schwaben. Sie räumte bloß ein, es liege gewissermaßen zwischen Franken, Bayern, Schweiz etc.; und nur bei der Buchbinderin gestand sie die schwäbische Lage.

Solche Lasten und Überfrachten indessen konnten noch ziemlich von einer Seele getragen werden, die sich mit den Mustern großer Dulder stärkte, mit dem Muster eines Lykurgs, der sich geduldig von Alkander das Auge, oder eines Epiktets, der sich von seinem Herrn das Bein verhunzen ließ – und ich habe auch aller dieser Rostflecken Lenettens schon in vorigen Kapiteln gedacht. Aber ich habe ganz neue Fehler zu berichten und stell' es parteilosen Ehemännern zum Spruche anheim, ob solche auch unter die Mängel gehören, die ein Ehegenoß ertragen kann und soll.

Zuallererst: Lenette wusch sich die Hände des Tags wohl vierzigmal – sie mochte anfassen, was sie wollte, so mußte sie sich mit dieser hl. Wiedertaufe versehen; wie ein Jude wurde sie durch jede Nachbarschaft verunreinigt, und den eingekerkerten Rabbi Akiba, der einmal im größten Wassermangel und Durst das Wasser lieber verwusch als vertrank, hätte sie mehr nachgeahmt als bewundert.

»Sie soll reinlich sein (sagte Siebenkäs) und reinlicher als ich selber – aber Maße muß gehalten werden. – Warum trocknet sie sich denn nicht mit dem Handtuch ab, wenn ein fremder Atem darüber geflogen? Warum säubert sie ihre Lippen mit keiner Seifenkugel, wenn eine Mücke sich – und mehr dazu – auf solche gesetzt? – Hat sie nicht unsere Stube zu einem englischen Kriegschiffe gemacht, das täglich innen und außen überwaschen wird, und hab' ich nicht dem Fegen so friedlich zugesehen als irgendeiner auf dem Verdeck?« Zog eine breite irländische Wolke oder eine donnernde Wasserhose über ihre und seine Tage: so wußte sie den Mann und [281] seinen Mut wie eine holländische Festung ganz unter Wasser zu setzen und gab allen Tränen ein weites Bett. Warf hingegen einmal die Glücksonne einen Dezembersonnenschein, nicht breiter als ein Fenster, in ihre Stube: so wußte Lenette hundert Dinge zu tun und zu sehen, um nur schönere nicht zu bemerken. Firmian hatte sich besonders vorgenommen, vorzüglich diese paar Tage, wo er einen Gulden hatte, recht auszuspelzen oder abzurahmen und das zweite Janusgesicht, das über Vergangenheit und Zukunft blicken oder weinen wollte, dicht zu verhängen; – aber Lenette zerschlitzte den Schleier und wies auf alles. Ihr Mann versicherte mehr als einmal: »Traute, passe nur, bis wir wieder blutarm und hundsübel dran sind: mit Freuden will ich dann mit dir ächzen und lechzen!« Wenig verfing. – Nur einmal gab sie ihm anständig zur Antwort: »Wie lange währts, so ist doch wieder kein Pfennig im Haus.« Aber darauf wußt' er noch verständiger zu versetzen: »Sonach nicht eher willst du einen heitern stillen Tag recht genießen, als bis man dir Stein und Bein schwören kann, daß kein elender, düsterer, wolkiger nachkommt? Dann koste ja keinen! Welcher Kaiser und König, und hätt' er Thronen auf dem Kopf und Kronen unter dem Steiß, kann nur auf einen Post- oder Landtag lang versichert sein, daß beide nichts Nebliges bringen? Und doch genießt er rein seinen hellen Tag in Sanssouci oder Bellevue oder sonst, ohne weiter zu fragen, und freuet sich des Lebens.« (Sie schüttelte den Kopf.) – »Ich kann dir das nämliche auch gedruckt und griechisch beweisen«, sagt' er und trug in das aufgeschlagne Neue Testament auf Geratewohl vorlesend die Stelle ein: »Verschiebst du die innige Feier einer glücklichen Zeit so lange, bis eine andere kommt, wo lauter Hoffnungen in ungetrübter Reihe durch Jahre vor dir hinliegen: so ist auf unserer ewig wankenden glatten Kugel keine einzige innige Freude gedenkbar; denn nach zehn Tagen oder Jahren erscheint gewiß ein Schmerz; und so kannst du dich an keinem Maientage erlaben, und flatterten alle Blüten und Nachtigallen auf dich nieder, weil ganz gewiß der Winter dich mit seinen Flocken und Nächten bedeckt. Genießest du aber doch deine warme Jugend ungescheuet vor der im Hintergrund wartenden [282] Eisgrube des Alters, in welcher du durch immer wachsende Kälte noch einige Zeit aufbewahret wirst: so halte das frohe Heute für eine lange Jugend und das trübe Übermorgen für ein kurzes Alter.« – »Das Griechische oder Lateinische«, versetzte sie, »nimmt sich schon geistlicher aus, und auf der Kanzel wird die Sache oft gepredigt, ich geh' auch jedesmal recht getröstet nach Haus, bis das Geld uns wieder ausgeht.«

Noch schwerer hatt' ers, sie auf die rechten Freudensprünge zu bringen, mittags am Eßtische. Rauchte nämlich statt ihres täglichen Häcksels ein besonderer ägyptischer Fleischtopf, ein seltner Braten, den die Grafen von Wratislaw ohne Schande hätten liefern und die von Waldstein 88 mit Ehren hätten vorschneiden können, rauchte ein solcher Schmaus über das Tischtuch: so konnte Siebenkäs gewiß hoffen, daß seine Frau einige hundert Dinge mehr vor dem Essen wegzuarbeiten habe als sonst. – Der Mann sitzt dort und ist willens anzuspießen – blickt umher, gedämpft anfangs, dann grimmig – wird doch seiner Meister auf einige Minuten lang – denket inzwischen neben dem Braten bei so guter Muße seinem Elende nach – tut endlich den ersten Donnerschlag aus seinem Gewitter und schreiet: »Das Donner und Wetter! ich sitze schon ein Säkulum da, und es friert alles ein – Frau, Frau!«

Es war bei Lenetten (und so bei andern Weibern) nicht Bosheit – noch Unverstand – noch störrische Gleichgültigkeit gegen die Sache oder gegen den Mann – sondern das Gegenteil stand durchaus nicht in ihrer Gewalt; und dies erklärt es sattsam.

Inzwischen wird mein Freund Siebenkäs, der diese Darstellung noch früher in die Hand bekommt als selber der Setzer, mirs nicht verargen, daß ich auch seinen Frühstückfehler – hab' ich ihn ja doch aus seinem eignen Munde – der Welt entdecke. Lag er nämlich am Morgen im Gitterbette mit zugeschloßnen Augen ausgestreckt, so fiel er darin auf Einfälle und Einkleidungen für sein Buch, auf die er stehend und sitzend den ganzen Tag nie gekommen wäre; und in der Tat sind mir mehre Gelehrte aus [283] der Geschichte bekannt – z.B. Cartesius – Abt Galiani – Basedow – sogar ich, den ich nicht rechne –, welche, zu der Wanzenart der Rückenschwimmer (Notonectae) gehörig, nur liegend am weitesten kamen, und für welche die Bettlade die beste Braupfanne der geistreichsten unerhörtesten Gedanken war. Ich selber könnte mich desfalls auf manches berufen, was ich geschrieben, wenn ich aufgestanden war. Wer die Sache gut erklären will, der führe hauptsächlich die Morgenkraft des Gehirns an, das nach den äußern und innern Ferien um so leichter und stärker dem Lenken des Geistes sich bequemt, und füge noch die Freiheit sowohl der Gedanken als der Gehirnbewegungen hinzu, welchen der Tag noch nicht seine vielerlei Richtungen aufgedrungen, und endlich noch die Macht der Erstgeburt, welche der erste Gedanke am Morgen, ähnlich den ersten Jugendeindrücken, ausübt. – Solchen Erklärungen zufolge konnte nun dem Advokaten, wenn er so im warmen Treibbeete der Kissen wuchs und die besten Blüten und Früchte trug, nichts Verdrüßlicheres zu Ohren kommen als Lenettens Ruf in der Stube: »komm herein, der Kaffee ist fertig«; gewöhnlich gebar er in der Eile, obgleich in steter Horchangst vor einem zweiten Marschbefehl, noch einen oder ein paar glückliche lebhafte Gedanken in seinem Kindbette nach. Da Lenette aber seine Respekt- oder Respitminuten, die er sich zum Aufstehen nahm, vorauswußte, so rief sie schon, wenn der Kaffee erst kochte, in die Kammer hinein: »Steh auf, er wird kalt.« Der satirische Rückenschwimmer wurde wieder seines Orts dieses Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen gewahr und blieb ganz ruhig und vergnügt voll Anstrengung zwischen den Federn und brütete fort, wenn sie erst das erstemal gerufen hatte, und antwortete bloß: »den Augenblick!« sich seines gesetzmäßigen Doppel-Usos von Frist bedienend.

Dies nötigte wieder die Frau von ihrer Seite noch weiter zurückzugehen und schon, wenn der Kaffee kalt am Feuer stand, zu rufen: »Komm, er wird kalt.« Auf diese Weise aber war bei einem solchen wechselseitigen Verfrühen und Verspäten, das täglich bedenklicher wuchs, nirgends Einhalt und Rettung abzusehen, sondern vielmehr eine solche Steigerung zu befahren, daß [284] Lenette ihn um einen ganzen Tag voraus zu früh zum Kaffee rief, wiewohl beide am Ende wieder auf die rechten Sprünge zurückgekommen wären; so wie die jetzigen Abendessen versprechen, sich allmählich in zu frühe Frühstücke zu verkehren, und die Frühstücke in zu bürgerliche und frühe Mittagessen. – Leider konnte Siebenkäs sich nicht an den Notanker anhalten, daß er etwa den Kaffee hätte mahlen hören und dann nach einer leichten Berechnung zum Siedepunkte aufgestanden wäre; denn aus Mangel an Kaffeetrommel und – mühle wurde – so wie vom ganzen Hause nur gemahlner gekauft. Freilich Trommel und Mühle hätten sich durch Lenette ersetzen lassen, wäre sie zu bewegen gewesen, keine Minute früher zum Kaffee zu rufen, als bis er auf dem Tische kochte und dampfte; aber sie war nicht zu bewegen. –

Kleinere Zänkereien vor der Ehe sind große in ihr, so wie die Nordwinde, die im Sommer warm sind, im Winter kalt wehen; der Zephyrwind aus ehelichen Lungen gleicht dem Zephyr im Homer, von dessen schneidender Kälte der Dichter so viel singt. Von nun an legte sich Firmian darauf, neue Risse, Federn, Asche, Wolken im hellen Diamant ihres Herzens wahrzunehmen – – Du Armer, auf diese Weise muß bald ein Stein vom brüchigen Altar deiner Liebe nach dem andern abfallen, und deine Opferflamme muß wanken und schwinden.

Er entdeckte jetzo, daß seine Lenette bei weitem nicht so gelehrt sei wie die Dlles. Burmann und Reiske – kein Buch machte ihr Langweile, aber auch keines Freude, und sie konnte das Predigtbuch so oft lesen als Gelehrte den Homer und Kant – alle ihre Profanskribenten zogen sich auf ein Ehepaar ein, auf die unsterbliche Verfasserin ihres Kochbuchs und auf ihren Mann, den sie aber nie las. Sie zollete seinen Aufsätzen die größte Bewunderung, tat aber keinen Blick hinein. Drei vernünftige Worte mit der Buchbinderin waren ihr köstlicher als alle gedruckte des Buchbinders und des Buchmachers. Ein Gelehrter, der das ganze Jahr neue Schlüsse und neue Dinte macht, begreift es nicht, wie ein Mensch leben könne, der kein Buch oder keine Feder im Hause hat und keine Dinte, sondern bloß die gelbe geborgte des Dorfschulmeisters. – Er nahm oft eine außerordentliche Professur [285] an und bestieg den Lehrstuhl und wollte sie in einige astronomische Vorkenntnisse einweihen; aber entweder hatte sie keine Zirbeldrüse als Rittersitz für die Seele und deren Gedanken, oder ihre Gehirnkammern waren schon bis an die Häute mit Spitzen, Hauben, Hemden und Kochtöpfen und Bratpfannen vollgestellet, vollgekeilet und gesättigt – kurz, er war nicht imstande, ihr einen Stern in den Kopf zu bringen, der größer war als ein Zwirn-Stern. Bei der Pneumatologie (Geisterlehre) hingegen hatt' er gerade die entgegengesetzte Not; in dieser Wissenschaft, wo ihm die Rechnung des unendlich Kleinen so gut zupasse gekommen wäre als in der Sternkunde die des unendlich Großen, dehnte und renkte Lenette Engel und Seelen und alles aus und warf die feinsten Geister in den Streckteich ihrer Phantasie – Engel, von denen die Scholastiker ganze Gesellschaften zu einem Haushall auf eine neue Nadelspitze invitieren, ja die sie paarweise gerade in einen Ort 89 einfädeln können, diese wuchsen ihr unter den Händen so, daß sie jeden in eine besondere Wiege legen mußte, und der Teufel schwoll und lief ihr auf, bis er so groß war wie ihr Mann.

Er kundschaftete auch in ihrem Herzen einen fatalen Eisenflecken oder eine Pockenschramme und Warze aus: er konnte sie nie in einen lyrischen Enthusiasmus der Liebe versetzen, worin sie Himmel und Erde und alles vergessen hätte – sie konnte die Stadtuhr zählen unter seinen Küssen und nach dem überkochenden Fleischtopf hinhorchen und hinlaufen mit allen großen Tränen in den Augen, die er durch eine schöne Geschichte oder Predigt aus dem zerfließenden Herzen gedrückt – sie sang betend die in den andern Stuben schmetternden Sonntaglieder nach, und mitten in die Verse flocht sie die prosaische Frage ein: »Was wärm' ich abends auf?« – und er konnte es nicht aus dem Kopfe bringen, daß sie einmal, im gerührtesten Zuhören auf seine Kabinettpredigt über Tod und Ewigkeit, ihn denkend, aber unten anblickte und endlich sagte: »Zieh morgen den linken Strumpf nicht an, ich muß ihn erst stopfen.«

[286] Der Verfasser dieser Historie beteuert, daß er oft halb von Sinnen kam über solche weibliche Zwischenakte, vor denen keiner Brief und Siegel hat, der mit diesen geschmückten Paradiesvögeln in den Äther steigt und sich neben ihnen auf und nieder wiegt, und der droben in der Luft die Eier seiner Phantasien auf dem Rücken dieser Vögel 90 auszusitzen gedenkt. – Wie durch Zauberei grünet oft plötzlich das geflügelte Weibchen tief unten in einer Erdscholle. – Ich gebe zu, daß dies nichts weiter ist als ein Vorzug mehr, weil sie dadurch den Hühnern gleichen, deren Augen so gut vom Universitätoptikus geschliffen sind, daß sie den fernsten Hühnergeier im Himmel und das nächste Malzkorn auf dem Miste bemerken. Es ist zwar zu wünschen, daß der Verfasser dieser Geschichte, falls er sich in die Ehe begibt, eine Frau bekomme, vor der er über die nötigsten Grundsätze und dictata der Geisterlehre und Sternkunde lesen kann, und die ihm in seinem höchsten Feuer nicht seine Strümpfe vorwirft; er wird aber auch zufrieden sein, wenn ihm nur eine zufället, die kleinere Vorzüge hat, sonst aber doch imstande ist, mitzufliegen, so weit es geht – in deren aufgeschlossenes Auge und Herz die blühende Erde und der glänzende Himmel nicht infinitesimalteilchenweise, sondern in erhabnen Massen dringen – für die das All etwas Höheres ist als eine Kinderstube und ein Tanzsaal – und die mit einem Gefühle, das weich und fein zugleich, und mit einem Herzen, das fromm und groß auf einmal ist, sogar den immer mehr bessert und heiligt, der sie geheiratet. – – Das ists und nicht mehr, worauf der Verfasser dieser Geschichte seine Wünsche beschränkt. So wie der Liebe Firmians die Blüte, wenn auch nicht das Laub, abfiel: so stand Lenettens ihre als eine ausgebreitete überständige Rose da, deren Schmuck ein Stoß auseinanderstreuet. Die ewigen Disputiersätze des Mannes ermüdeten endlich ihr Herz. Sie gehörte ferner unter die Weiber, deren schönste Blüten taub und unfruchtbar bleiben, wenn keine Kinder genießend um sie schwärmen, wie die Blüte des Weins keine Trauben ansetzt, wenn nicht Bienen sie durchstreifen. Sie glich diesen Weibern [287] auch darin, daß sie zur Spiralfeder einer Wirtschaft-Maschine, zur Schauspiel-Directrice eines großen Haushaltdrama geboren war. Wie aber die Haupt- und Staatsaktionen und die Theaterkasse seiner Wirtschaft aussahen, das wissen wir leider alle von Hamburg bis Ofen. Kinder hatten beide, gleich Phönixen und Riesen, auch nicht, und beide Säulen standen abgesondert da, durch keine Fruchtschnüre aneinander gewunden. Firmian hatte schon in seiner Phantasie die scherzhaften Proberollen eines ernsthaften Kindvaters und Gevatterbitters durchgemacht – aber er kam nicht zum Auftreten.

Den meisten Abbruch tat ihm in Lenettens Herzen jede Unähnlichkeit mit dem Pelzstiefel. Der Rat hatte etwas so Langweiliges, so Bedächtliches, Ernsthaftes, Zurückhaltendes, Aufgesteiftes, so Bauschendes, so Schwerfälliges wie diese – drei Zeilen; das gefiel unserer gebornen Haushälterin. Siebenkäs hingegen war den ganzen Tag ein Springhase – sie sagte ihm oft: »Die Leute müssen denken, du bist nicht recht gescheut«, und er versetzte: »Bin ichs denn?« – Er verhing sein schönes Herz mit der grotesken komischen Larve und verbarg seine Höhe auf dem niedergetretenen Sokkus – und machte das kurze Spiel seines Lebens zu einem Mokierspiel und komischen Heldengedicht. Grotesken Handlungen lief er aus höhern Gründen als aus eiteln nach. Es kitzelte ihn erstlich das Gefühl einer von allen Verhältnissen entfesselten freien Seele – und zweitens das satirische, daß er die menschliche Torheit mehr travestiere als nachahme; er hatte unter dem Handeln das doppelte Bewußtsein des komischen Schauspielers und des Zuschauers. Ein handelnder Humorist ist bloß ein satirischer Improvisatore. Dies begreift jeder Leser – und keine Leserin. Ich wollte oft einer Frau, die den weißen Sonnenstrahl der Weisheit hinter dem Prisma des Humors zersplittert, gefleckt und gefärbt erblickte, ein bunt geschliffenes Glas in die Hände geben, das diese scheckige bunte Reihe wieder weiß brennt – es war aber nichts. Das feine weibliche Gefühl des Schicklichen ritzet und schindet sich gleichsam an allem Eckigen und Ungeglätteten; diese an bürgerliche Verhältnisse angestängelte Seelen fassen keine, die sich den Verhältnissen entgegenstellen. [288] Daher gibts in den Erblanden der Weiber – an den Höfen und in ihrem Reiche der Schatten, in Frankreich, selten Humoristen, weder von Leder, noch von der Feder.

Lenette mußte sich über ihren pfeifenden, singenden, tanzenden Gemahl ereifern, der nicht einmal vor Klienten eine Amtmiene zog, der leider – man erzählt' es ihr für gewiß – oft auf dem Rabenstein im Kreise herumging, von dessen Verstand recht gescheute Leute bedenklich sprachen, dem man, klagte sie, nichts anmerkte, daß er in einer Reichsstadt sei, und der sich nur vor einer einzigen Person in der Welt schämte und scheuete – vor sich. Kamen nicht oft Kammerjungfern mit Hemden, die zu nähen waren, aus den vornehmsten Häusern in seines und sahen ihn mir nichts dir nichts an seinem ein- und ausgespielten Klaviere stehen, das noch alle Tasten und fast ebenso viele Saiten als Tasten hatte? Und hatt' er nicht eine Elle im Maule, auf deren herabgelassener Fallbrücke die Töne vom Sangboden zu ihm hinauf, zwischen das Fallgatter der Zähne hindurch und endlich durch die Eustachische Röhre über das Trommelfell hinweg bis zur Seele einstiegen? Die Elle zwischen seinen Zähnen hatt' er darum als einen Storchschnabel an seinem, um mit dem Schnabel das unaufhörliche Pianissimo seines Klaviers oben in einem Fortissimo hinaufzubringen. – Indes ist wahr, daß der Humor im Widerschein der Erzählung weichere Farben annimmt als in der grellen Wirklichkeit.

Der Boden, worauf die zwei guten Menschen standen, ging unter so vielen Erschütterungen in zwei immer entferntere Inseln auseinander; die Zeit führte wieder einen Erdstoß herbei.

Der Heimlicher erschien nämlich mit seiner Exzeptionhandlung, worin er weiter nichts verlangte als Recht und Billigkeit, nämlich die Erbschaft; es müßte und könnte denn Siebenkäs erweisen, daß er – er sei, nämlich der Mündel, dessen Väterliches der Heimlicher bisher in seinen väterlichen Händen und Beuteln gehalten. Dieser juristische Höllenfluß versetzte unserem Firmian – der über die vorigen drei Fristgesuche so leicht weggesprungen war wie der gekrönte Löwe im gotischen Wappen über drei Flüsse – den Atem und trat ihm eiskalt bis ans Herz. Die Wunden, [289] die die Maschinen des Schicksals in uns schneiden, fallen bald zu; aber eine, die uns das rostige stumpfe Marterinstrument eines ungerechten Menschen reißet, fängt zu eitern an und schließet sich spät. Dieser Schnitt in entblößte, von so vielen rauhen Griffen und scharfen Zungen abgeschälte Nerven brannte unsern Liebling sehr; und doch hatt' er den Schnitt gewiß vorher gesehen und seiner Seele »gare – Kopf weg!« zugerufen. Aber ach! in jedem Schmerz ist etwas Neues. Er hatte sogar schon juristische Vorkehrungen voraus getroffen. Er hatte sich nämlich schon vor einigen Wochen aus Leipzig, wo er studiert hatte, den Beweis kommen lassen, daß er sonst Leibgeber geheißen und mithin Blaisens Mündel sei. Ein dasiger, noch nicht immatrikulierter Notarius, Namens Giegold, sein alter Stubenbursch und literarischer Waffenbruder, hatte ihm den Gefallen erwiesen, alle die Personen, die um seine Leibgeberschaft wußten – besonders einen rostigen, madigen Magister legens, der oft bei der Einfahrt der vormundschaftlichen Registerschiffe war, ferner den Briefträger oder Lotsen, der sie in den Hafen wies, und den Hauswirt und einige andere recht gut unterrichtete Leute, die alle das Juramentum credulitatis (den Eid der Selberüberzeugung) schwören wollten – diese hatte der junge Giegold sämtlich verhört und dann dem Armenadvokat das Ganggebirge ihres Zeugenrotuls zugefertigt. Das Postporto dafür zu entrichten, war Siebenkäsen leicht, als er König wurde in der Vogelbeize.

Mit dem dicken Zeugenstock beantwortete und bestritt er seinen Vormund und Dieb.

Als die Blaisische Weigerung ankam: glaubte die furchtsame Lenette sich und den Prozeß verloren; die dürre Dürftigkeit umfaßte nun, in ihren Augen, sie beide mit einem Gestrick von Schmarotzerefeu, und sie hatte keine Aussicht, als zu verdorren und umzufallen. Ihr erstes war, über Meyern zu zanken; denn da er ihr selber neulich berichtet hatte, er habe seinem künftigen Schwiegervater die drei Fristgesuche abgenötigt, um sie zu schonen: so konnte sie die Blaisische Exzeptionhandlung für den ersten Dornenableger von Rosas rachsüchtiger Seele halten, weil er in Siebenkäsens Wohnung erstlich Festungstrafe und Säcken, [290] welches er alles halb Lenetten beimaß, erduldet, und zweitens so viel verloren hatte. Er hatte bisher nur den Unwillen des Mannes, nicht der Frau vorausgesetzt; aber das Vogelschießen hatte seine süße Eitelkeit widerlegt und erbittert. Da indessen der Venner ihrem Zorne nicht zuhören konnte: so mußte sie ihn gegen ihren Gatten kehren, dem sie alles schuldgab, weil er seinen Namen Leibgeber so sündlich verschenkt hatte. Wer geheiratet hat, der wird mir gern den Beweis – denn er schläft bei ihm – erlassen, daß es gar nichts half, womit sich der Gatte verantwortete und was er vorbrachte von Blaisens Bosheit, der als der größte Ischariot und Kornjude im irdischen Jerusalem der Erde ihn gleichwohl, auch wenn er noch Leibgeber hieße, ausgeraubt und tausend Holzwege des Rechtens zur Plünderung des Mündels würde ausgefunden haben. Es griff nicht ein. Endlich entfuhr es ihm: »Du bist so ungerecht, als ich sein würde, wenn ich deinem Betragen gegen den Venner im geringsten die Folge daraus, die Blaisische Schrift, aufbürden wollte.« Nichts erbittert Weiber mehr als eine heruntersetzende Vergleichung: denn sie nehmen keine Unterscheidung an. Lenettens Ohren verlängerten sich, wie bei der Fama, zu lauter Zungen; der Mann wurde zugleich überschrieen und überhört.

Er mußte heimlich zum Pelzstiefel abschicken und ihn befragen lassen, wo er so lange sitze, und warum er ihr Haus so vergesse. Aber Stiefel war nicht einmal in seinem eignen, sondern auf Spaziergängen an einem so prächtigen Tage.

»Lenette«, sagte Siebenkäs plötzlich, der häufig lieber mit dem Springstabe eines Einfalls über ein Sumpfmeer setzte, als aus ihm mühsam watende lange Stelzen von Schlüssen zog, und der wohl auch die über Rosa herausgefahrene unschuldige, aber von Lenetten mißverstandene Äußerung ganz aufheben wollte, »Lenette, höre du aber, was wir diesen Nachmittag machen! Einen starken Kaffee und Spaziergang; heute ist zwar kein Sonntag in der Stadt, aber doch in jedem Falle Mariä Empfängnis, die jeder Katholik in Kuhschnappel feiert; und das Wetter ist doch beim Himmel gar zu hold. Wir sitzen dann oben in der ungeheizten Honoratiorenstube im Schießhaus, weils draußen zu warm [291] ist, und schauen hinunter und sehen die sämtlichen Irrgläubigen der Stadt im größten Putze auf- und abspazieren, und vielleicht unsern Lutheraner Stiefel auch dazu.«

Besonders müßt' ich mich täuschen, oder Lenette war sehr selig überrascht; denn Kaffee – das Taufwasser und der Altarwein der Weiber schon am Morgen – wird vollends nachmittags Liebetrank und Haderwasser zugleich, obwohl letztes nur gegen Abwesende; aber welches schöne treibende Wasser auf alle Mühlräder der Ideen mußte ein wirklicher Nachmittagkaffee an einem bloßen Werkeltage für eine Frau wie die arme Lenette sein, welche ihn selten anders getrunken als nach einer Nachmittagpredigt, weil er schon vor der Kontinentalsperre zu teuer war.

Weiber in wahrhafter Freude brauchen wenig Zeit, ihren schwarzen Seidenhut aufzusetzen und ihren breiten Kirchenfächer zu nehmen und gegen alle ihre Gewohnheit sogleich reisefertig für den Schießhausgang angezogen dazustehen, indes sie sogar unter dem Ankleiden noch den Kaffee gekocht, um ihn fertig samt der Milch in die Honoratiorenstube mitzunehmen.

Beide Eheleute rückten um zwei Uhr ausgeheitert aus und hatten alles Warme in der Tasche, was später aufzuwärmen war.

Wie mit einem Abendglanze waren schon so früh am Tage alle westlichen und südlichen Berge von der gesenkten Dezembersonne übergossen und die im Himmel umhergelagerten Wolkengletscher warfen auf die ganze Gegend freudige Lichter und überall war ein schönes Glänzen der Welt, und manches dunkle enge Leben wurde gelichtet.

Schon von weitem zeigte Siebenkäs Lenetten die Vogelstange als den Alpenstock oder die Ruderstange, womit er neulich über die nächste Not hinweggekommen. Im Schützengebäude führte er sie in den Schießstand – sein Konklave oder Frankfurter Römer der Krönung –, wo er sich zu einem Vogelkaiser hin auf geschossen und aus der Frankfurter Judengasse der Gläubiger heraus, indem er bei seiner Thronbesteigung wenigstens einen Schuldner losgelassen, sich selber. Oben in der weiten Honoratiorenstube [292] konnten beide sich recht ausbreiten, er sich an einen Tisch zum Schreiben vor das rechte Fenster setzen, und sie sich an ein anderes zum Nähen ans linke.

Wie der Kaffee das Dezemberfest in beiden erwärmte, läßt sich nicht beschreiben, aber nachfühlen.

Lenette zog einen Strumpf des Advokaten nach dem andern an, nämlich an den linken Arm, weil der rechte die Stopfnadel führte, und saß mit dem unten oft offnen Strumpfe wenigstens einarmig einer jetzigen Dame ähnlich da, welche der lange dänische Handschuh mit Fingerklappen aufschmückt. Doch zog sie den Armstrumpf nicht so hoch empor, daß ihn Spaziergängerinnen auf der höher liegenden Kunststraße sehn konnten. Aber unaufhörlich nickte sie ihre »untertänigsten Mägde und gehorsamsten Dienerinnen« zum offnen Fenster hinaus. Mehre der vornehmsten Ketzerinnen sah sie unten ihre eignen künstlichen Haubenbauten durch die Spaziergänge tragen, um Mariä Empfängnis feierlich zu begehen; und mehr als eine grüßte selber zuerst verbindlich zu ihrer Dachdeckerin herauf.

Nach der reichsmäßigen Parität des Reichsmarktfleckens gingen an dem katholischen Feste auch Protestanten von Stand spazieren, und ich steige hier von dem Landschreiber Börstel über den Frühprediger Reuel bis zum Obersanitätrat Oelhafen hinauf.

Und doch war der Armenadvokat vielleicht so selig als selber seine Frau. Zugleich beschrieb er seine Teufels Papiere und besah nicht die Hohen, sondern die Höhen des Orts.

Schon bei dem Eintritte in das Honoratiorenzimmer empfing ihn eine dagebliebene vergeßne lackierte, noch nicht abgeleckte Kindertrompete erfreuend, nicht so sehr durch ihren Quäk-Klang als durch ihren Farbengeruch, der ihn in diesem Christmonattage ordentlich in die dunklen Entzückungen des Christfestes zurück hauchte. Und so kam denn eine Freude zur andern. Er konnte von seinen Satiren aufstehen und Lenetten mit dem Schreibfinger die großen Krähennester in den nackten Bäumen und die unbelaubten Bänkchen und Tischchen in den Gartenlauben und die unsichtbaren Gäste zeigen, die allda an Sommerabenden ihre Sitze der Seligen gehabt, und die sich der Sache[293] noch heute erinnern und schon dem Wiederhinsetzen entgegensehen. Auch war es ihm ein Leichtes, Lenetten auf die Felder hinzuweisen, wo überall heute in so später Jahrzeit Salat von freiwilligen Gärtnerinnen für ihn geholt werde, nämlich Ackersalat oder Rapunzeln, die er abends essen konnte.

Nun saß er vollends an seinem Fenster noch den rötlichen Abendbergen gegenüber, auf welche die Sonne immer größer zusank und hinter denen die Länder lagen, wo sein Leibgeber wandelte und das Leben abspielte. »Wie schön ist es, Frau«, sagte er, »daß mich von Leibgeber keine breite platte Ebene mit bloßen Hügel-Verkröpfungen scheidet, sondern eine tüchtige hohe Bergmauer, hinter der er mir wie hinter einem Sprachgitter steht.« Ihr kam es freilich halb so vor, als freue ihr Mann sich der Scheidewand, da sie selber an Leibgeber wenig Behagen und an ihm nur den Kipper und Wipper ihres Mannes gefunden, der diesen noch eckiger zuschnitt, als er schon war; indes in solchen Dunkelfällen schwieg sie gern, um nicht zu fragen. Aber er hatte freilich umgekehrt gemeint, von geliebten Herzen sehe man sich am liebsten durch die heiligen Berge geschieden, weil wir nur hinter ihnen wie hinter höhern Gartenmauern das Blütendickicht unseres Edens suchen und schauen, hingegen am Rande der längsten Tenne von Plattland nichts Höheres erwarten als eine umgekrümmte längere. Dies gilt sogar für Völker; die Lüneburger Heide oder die preußischen Marken werden sogar dem Italiener nicht den Blick nach Welschland richten; aber der Märker wird in Italien die Apenninen anschauen und sich nach den deutschen Geliebten hinter ihnen sehnen.

Von der sonnigen Gebirgscheide zweier getrennten Geister floß freilich mitten unter dem satirischen Arbeiten dem Armenadvokaten manches in die Augen, was aussah wie eine Träne; aber er rückte bloß ein wenig seitwärts, damit ihn Lenette nicht darüber befragte; denn er wußte und mied sein altes Auffahren über eine Frage, was ihm fehle, daß er weine. War er heute denn nicht die leibhafte Zärte lebendig und drückte vor der Frau das Komische nur durch die ernsthaftesten Mitteltinten aus, weil er sich selber über den frischen Wachstum ihrer von ihm gesäeten[294] Freude ergötzte? – Sie erriet zwar dieses weiche Schonen nicht; aber so wie er zufrieden war, wenn niemand als er wußte – sie aber nicht –, daß er die feinsten Ausfälle auf sie gemacht, so war ers auch bei den feinsten Verbindlichkeiten.

Endlich verließen sie warm ausgefüllt die weite Stube, als die Sonne sie ganz mit Purpurfarben überkleidet hatte; im Heraustreten aus dem Schießhause zeigte er Lenetten noch den flüssigen Goldblick auf den langen Glasdächern zweier Gewächshäuser, und der schon vom Gebirge entzwei geteilten Sonne hing er sich selber an, um mit ihr zu dem Freunde in der Ferne niederzugehen. Ach wie liebt sichs in die Ferne, sei es die des Raums oder der Zukunft oder Vergangenheit, und sei es vollends in die Doppel-Ferne über der Erde! – Und so hätte an sich der Abend sehr trefflich schließen können; aber etwas kam dazwischen.


Es hatte nämlich ein oder der andere böse Geist von Verstand den Heimlicher Blaise genommen und ihn so unter den freien Himmel als Spaziergänger hinausgestellt, daß ihm der Advokat in der Schuß- und Grußweite gerade an einem Feste der Empfängnis nur schöner Seelen aufstoßen mußte. Als der Vormund ihn vollständig gegrüßt – obwohl mit einem Lächeln, das zum Glück nie auf einem Kinderangesichte erscheinen kann –, so antwortete Siebenkäs höflich, obwohl mit bloßem Zerren und Rücken des Hutes, ohne ihn jedoch abzuheben. Lenette suchte sogleich das Erniedrigen des Hutes einzubringen durch ihr eigenes verdoppeltes, hielt aber, sobald als sie sich umgesehen, dem Gatten eine kleine Gardinen- d.h. Gartenbretterwandpredigt, daß er den Vormund vorsätzlich immer heimtückischer mache. »Wahrlich, ich konnte nicht anders, Liebe«, sagte er, »ich meint' es nicht böse, am wenigsten heute.«

Der Umstand ist freilich der, daß Siebenkäs schon vor einiger Zeit seiner Frau geklagt, sein Hut leide als ein feiner Filz schon lange durch das unablässige Abziehen in dem kleinstädtischen Marktfleckchen, und daß er keinen anderen Hut-Schirm und Panzer sehe als einen grünen steifen wachstaftnen Hutüberzug, in welchen er ihn zu stecken denke, um ihn, in diesem Stechhelm und [295] Fallhut eingepackt, ohne das geringste Abgreifen täglich zu derjenigen Höflichkeit zu verwenden, welche die Menschen einander im Freien schuldig sind. Der erste Gang darnach, den er mit seinem aufgesetzten Doppelhute oder Huthut tat, war zu einem Gewürzkrämer, bei welchem er den feinen Unterziehhut herausweidete und für sechs Pfund Kaffee versetzte, welcher seine vier Gehirnkammern besser durchheizte als der Hasenfilz. Mit dem Koadjutorhute auf dem Kopfe allein kehrte er ruhig und unentziffert nach Hause; – und trug nun das leere Futteral durch die krümmsten Gassen, mit heimlicher Freude, gewissermaßen vor niemand den wahren Hut abzuziehen – oder chapeau bas zu gehen – oder sich künftig noch mehre Einfälle über den Genuß seines Hutzuckers auszusinnen.

Freilich wann er grade vergessen hatte – wie es wohl heute am meisten zu entschuldigen war –, das Hutfutter mit dem nötigen künstlichen Sparrwerke auszusteifen: dann brachte er das Futter zum Grüßen zu schwer und quer herunter und konnt' es bloß äußerst höflich berühren, wie einer der vornehmsten Offiziere, mußte aber so wider Willen den Charakter eines Grobians behaupten.

– Und grade heute mußt' er denselben behaupten und konnte auf keine Weise sein Kuvert des Kopfes abnehmen, dieses Liebebriefes an alles, was spazieren ging.

Aber dabei sollte der Spaziergang nicht verbleiben, sondern einer der obgedachten bösen Geister von Verstand verschob die Bühnenwände so hastig von neuem, daß wir wirklich etwas Geändertes erblicken müssen. Vor beiden Gatten spazierte nämlich ein Schneidermeister katholischer Konfession voraus, nett angezogen, um wie jeder seiner Kon- und Profession die Empfängnis zu feiern. Zum Unglück hatte der Schneider im engen Steige die Rockschöße – es sei aus Scheu des Kotes oder aus Lust der Feier – dermaßen in die Höhe gehoben, daß das Anfang- oder Steißbein oder eingeflickte Rückenmark seiner Weste von unten auf deutlich zu sehen war, nämlich der Hintergrund der Weste, den man bekanntlich, wie den der Gemälde, mit weniger Leinwandfarben ausführt als den nähern glanzvollen Vordergrund [296] des Vorderleibs. »Ei Meister«, rief heftig Lenette, »wie kommt Er denn hinten zu meinem Zitz?«

In der Tat hatte der Schneider von einem augsburgischen grünen Zitze, aus welchem sie sich bei ihm sogleich nach ihrem Königin werden ein artiges Leibchen oder Mieder machen lassen, so viel als Probe für sich beiseite gelegt und behalten, als er nach Maßgabe unentgeltlicher Weinproben als nötig und christlich erachten konnte. Dieses wenige von Probe hatte notdürftig zu einem sehr matten Hintergrunde seiner glanzgrünen Weste zugelangt, für welche er eine so dunkle Kehrseite nur in der Hoffnung gewählt und genommen, daß sie als das Untere der Karte nicht gesehen werde. – Da aber jetzt der Meister ruhig, als ging' es ihn gar nicht an, mit Lenettens nachgerufenem Rückendekret weiter spazierte: wurde in ihr das Flämmchen zur Flamme, und sie schrie nach – Siebenkäs mochte winken und lispeln, wie er wollte –: »Es ist mein eigner Zitz aus Augsburg, hört Er, Meister Mauser? und Er hat mir ihn gestohlen, Er!« – Hier erst wandte der zünftige Zitzräuber sich kaltblütig um und sagte: »Das beweise Sie mir doch – aber bei der Lade will ich Sie schon zitzen, wenn noch hohe Obrigkeit in Kuhschnappel regiert.«

Da entbrannte sie zur Lohe – Bitten und Befehle des Advokaten waren ihr nur Luft. – »Er Rips-Raps, meine Sache will ich haben, du Spitzbube!« rief sie. Auf diese Nachrede hob der Meister bloß die Rockschöße mit beiden Händen ungemein hoch über die indossierte Weste empor und versetzte, ein wenig sich bückend: »Da!« und schritt langsam, immer in der nämlichen Brennweite, vor ihr her, um ihre Wärme länger zu genießen.

Am meisten war nur der arme Siebenkäs an einem so reichen Feste, wo er mit allen juristischen und theologischen Exorzismen den Zankteufel nicht ausjagen konnte, zu bejammern, als zum Glücke sein Schutzengel plötzlich aus einem Seitenhohlwege auf stieg, der Pelzstiefel auf seinem Spaziergange. Weg war für Lenette der Schneider – der Zitz von einer Viertelelle lang – der Zankapfel und der Zankteufel – und wie das Abendblau und Abendrot stand ihr Augenblau und Wangenrot ruhig und kühl vor ihm. Zehn Ellen Zitz und halb so viel Schneider dazu, die sie [297] behalten und eingeflickt, waren ihr in dieser Minute leichte Federn und keines Wortes und Kreuzers wert. So daß Siebenkäs auf der Stelle sah, daß Stiefel sich als der wahre tragbare Ölberg zu ihr bewegte, besteckt mit lauter Ölzweigen des Friedens – wiewohl für Zankteufel von anderer Seite her aus deren Oliven leicht ein Öl zu keltern war, das in kein eheliches Kriegfeuer, zu welchem eben Stiefel mit dem Löscheimer bestellt worden, gegossen werden durfte. War nun Lenette schon im Freien ein weicher weißer Schmetterling und Buttervogel, der still über den blühenden Steigen des Pelzstiefels schwebte und flatterte: so wurde sie gar in der eignen Stube, in welche der Rat sie begleitete, eine griechische Psyche, und ich muß es, so parteiisch ich auch für Lenette bin, allerdings in dieses Protokoll aufnehmen – sonst wird mir alles andere nicht geglaubt –, daß sie leider an jenem Abende nichts zu sein schien als eine geflügelte, mit den durchsichtigen Schwingen vom klebrigen Körper losgemachte Seele, die mit dem Schulrate – als sie den Körper noch umhatte – vorher in Liebebriefwechsel gestanden, die aber jetzo mit waagrechten Flügeln um ihn schwebe, die ihn mit dem flatternden Gefieder anwehe, die endlich, des Schwebens müde, einer beleibten Sitzstange von Körper zusinke, und die – es ist weiter kein anderer weiblicher bei der Hand – in Lenettens ihren mit angeschmiegten Schwingen niederfalle. So schien Lenette zu sein. Warum war sie aber heute so? – Groß war hierüber Stiefels Unwissenheit und Freude, klein beides in Firmian. Eh' ichs sage, will ich dich bedauern, armer Mann, und dich, arme Frau! Denn warum sollen denn immer den glatten Strom eueres (und unsers) Lebens entweder Schmerzen oder Sünden brechen, und warum soll er erst wie der Dnjepr-Strom nach dreizehn Wasserfällen im schwarzen Meer der Gruft einsinken? – Weswegen aber gerade heute Lenette ihr volles Herz für den Rat beinahe ohne das Klostergitter der Brust vorzeigte, das war, weil sie heute ihr – Elend fühlte, ihre Armut: Stiefel war voll gediegner Schätze, Firmian nur voll vererzter (d.h. Talente). Ich weiß es gewiß, sie hätte ihren Siebenkäs, den sie vor der Ehe so kalt liebte wie eine Gattin, in ihr so lieb gewonnen wie eine Braut, hätt' er etwas – zu brocken und zu [298] beißen gehabt. Hundertmal bildet eine Braut sich ein, sie habe ihren Verlobten lieb, da doch erst in der Ehe aus diesem Scherze – aus guten metallischen und physiologischen Gründen – Ernst wird. Lenette wäre dem Advokaten in einer vollen Stube und Küche – voll Einkünfte und zwölf Herkulischer Hausarbeiten treu genug geblieben, und hätte sich ein ganzes gelehrtes Kränzchen von Pelzstiefeln – denn sie hätte stündlich kalt gedacht und gesagt: »ich habe schon« – um sie herumgesetzt; aber so, in einer solchen leeren Stube und Küche, wurden die Herzkammern einer Frau voll, mit einem Worte, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Denn eine weibliche Seele ist natürlicherweise ein schönes, auf Zimmer, Tischplatten, Kleider, Präsentierteller und auf die ganze Wirtschaft aufgetragnes Freskogemälde, und mithin werden alle Risse und Sprünge der Wirtschaft zu ihren. Eine Frau hat vielTugend, aber nicht viele Tugenden, sie bedarf einen engen Umkreis und eine bürgerliche Form, ohne deren Blumenstab diese reinen weißen Blumen in den Schmutz des Beetes kriechen. Ein Mann kann ein Weltbürger sein und, wenn er nichts mehr in seine Arme zu nehmen hat, seine Brust an den ganzen Erdball drücken, ob er gleich nicht viel mehr davon umarmen kann, als ein Grabhügel beträgt; aber eine Weltbürgerin ist eine Riesin, die durch die Erde zieht, ohne etwas zu haben als Zuschauer, und ohne etwas zu sein als eine Rolle.

Ich hätte den ganzen Abend viel weitläufiger vormalen sollen, als ich tat; denn an diesem fingen die Räder des vis-à vis-Wagen der Ehe nach so vielen Reibungen an zu rauchen, und das Feuer der Eifersucht drohte sie zu ergreifen. Mit der Eifersucht ists wie mit den Kinderpocken der Maria Theresia, welche die Fürstin unversehrt durch zwanzig Siechkobel voll Blatternpatienten durchließen, bis sie ihr unter der ungarischen und deutschen Krone anflogen. Siebenkäs hatte die kuhschnappelische (vom Vogel) schon einige Wochen auf dem Kopf.

Seit diesem Abend kam Stiefel, der sich immer lieber in die immer höher steigende Sonne Lenettens setzte, immer öfter und sah sich für den Friedenrichter an, nicht für den Friedenstörer.

Es liegt mir nun ob, den letzten und wichtigsten Tag dieses [299] Jahrs, den 31. Dezember, mit seinem ganzen Hinter- und Vorgrund und allem Beiwerk den Deutschen auf mein Papier recht ausführlich hinzumalen.

Schon vor dem 31. Dezember waren die hl. Weihnachttage da, die vergoldet werden mußten und die sein silbernes Zeitalter nach dem Königschusse vererzten und verholzten. Das Geld ging auf. Aber noch mehr: der arme Firmian hatte sich sowohl krank gekümmert als krank gelacht. Ein Mensch, der immer mit den Oberflügeln der Phantasie und mit den Unterflügeln der Laune über alle Prellgarne und Fanggruben des Lebens weggezogen ist, dieser schlägt, wenn er einmal an die reifen Spitzen der abgeblühten Disteln angespießet wird, über deren Himmelblau und Honiggefäße er sonst geschwebet, blutig und hungrig und epileptisch um sich; ein Froher verfalbet unter dem ersten Sonnenstiche des Grams. Zum wachsenden Herzpolypen der Angst setze man noch seinen schriftstellerischen Taumel, weil er die Auswahl aus den Papieren des Teufels recht bald zu Ende haben wollte, um sein Leben und seinen Prozeß vom Honorar zu führen. Er saß fast ganze Nächte und Sessel durch und ritt auf seiner satirischen Schnitzbank. Dadurch schrieb er sich ein Übel an den Hals, das der gegenwärtige Verfasser wahrscheinlich auf keine andre Art geholt als eben durch unmäßige Freigebigkeit gegen die gelehrte Welt. Es befiel nämlich ihn, wie mich noch, eine schnelle Pause des Atemzugs und Herzschlags, darauf ein ödes Entfliegen alles Lebengeistes und dann ein stoßender Aufschuß des Blutes in das Gehirn; und zwar am meisten vor seinem literarischen Spinn- und Spulrad 91.

– Gleichwohl bietet uns beiden Autoren dafür kein Mensch einen Heller Schmerzengeld an. Es scheint, daß Schriftsteller [300] nicht lebendig, sondern abgeformt zu ihrer Nachwelt kommen sollen, wie man die zarten Forellen nur gesotten verschickt; man steckt uns nicht eher den Lorbeerreis, wie den wilden Sauen die Zitrone, in den Mund, als bis man uns gepürscht aufträgt. – Es würde mir und jedem Kollegen wohltun, wenn ein Leser, wenn wir dessen Herz und Herzohren bewegen, nur so viel sagte: »Diese süße Bewegung des meinigen ging nicht ohne hypochondrisches Herzklopfen der ihrigen ab.« Mancher Kopf wird von uns ausgelichtet und erleuchtet, der niemals bedenkt: »Das leisten beide wohl, aber Schmerzen der ihrigen, Cephalalgie, Cephaläa, halbseitige und der Nagel sind der Lohn dafür.« Ja er sollte mich in solchen Satiren wie dieser unterbrechen und rühmen: »So viele Schmerzen mir seine Satire jetzo macht, so gibt sie ihm doch noch größere; denn meine sind glücklicherweise nur geistig.« – Gesundheit des Körpers läuft nur gleichgerichtet mit Gesundheit der Seele; aber sie beugt ab von Gelehrsamkeit, von großer Phantasie' großem Tiefsinn, welches alles so wenig zur geistigen Gesundheit gehöret als Beleibtheit, Läuferfüße, Fechterarme zur leiblichen. Ich wünschte oft, alle Seelen würden so auf ihre Leiber oder Flaschen verfüllet wie der Pyrmonter auf seine. Man lässet erst seinen besten Geist verrauchen, weil er sonst die Flaschen zertreibt; aber es scheint, daß nur bei den Seelen des Kardinalkollegiums (wenn dem Gorani zu glauben), vieler Domkapitularen u.a. diese Vorsicht gebraucht worden, daß man den außerordentlichen Geist derselben, der ihre Leiber zersprengt hätte, vorher verdampfen lassen, eh' man sie, auf Körper gezogen, nach der Erde verschickte: jetzo halten sich die Flaschen 70, 80 Jahre ganz gut. – –

Mit kranker Seele also, mit siechem Herzen, ohne Geld trat Siebenkäs den letzten Tag des Jahres an. Der Tag selber hatte sein schönstes Sommerkleid, nämlich ein berlinerblaues, angezogen und sah so himmelblau wie der Krischna oder wie Grahams neue Sekte oder wie die Juden in Persien aus – er hatte den Ballonofen der Sonne heizen lassen, und auf der feinkandierten Erde war der Schnee, wie auf gewissen künstlich bereiften Schaugerichten, sogleich ins Wintergrün verlaufen, sobald die Kugel [301] nur vor den Ofen getragen wurde. Das Jahr schien gleichsam mit Wärme und mit einer Heiterkeit voll freudiger Tropfen sich von der Zeit zu trennen. Firmian wäre gern hinausgelaufen und hätte sich auf dem feuchten Grün gesonnet; aber er mußte erst den Professor Lang in Baireuth beurteilen.

Er machte Rezensionen, wie andre Gebete, nur in der Not; es war das Wassertragen jenes Atheners, um nachher der Lieblingwissenschaft ohne Hunger obzuliegen. Aber seinen satirischen Bienenstachel steckt' er bei Rezensionen in die Scheide; bloß aus seinem weichen Wachs- und aus dem Honigmagen nahm er die milden Überzüge seiner Urteile. »Kleine Schriftsteller«, sagt' er, »sind immer besser, und große schlechter als ihre Werke. Warum soll ich moralische Fehler, z.B. Eitelkeit, dem Genie vergeben und dem Dunse nicht? Höchstens jenem nicht. – Unverschuldete Armut und Häßlichkeit verdienen keinen Spott; aber verschuldete ebensowenig, obgleich Cicero wider mich ist. Denn ein moralischer Fehler (und also seine Strafe) kann doch nicht durch dieselbe zufällige physische Folge, die bald kommt, bald außenbleibt, größer werden! Ist ein Verschwender, der zufällig arm wird, einer größern Strafe wert als der, ders nicht wird? Höchstens umgekehrt.« Wendet man dieses auf die schlechten Schriftsteller an, denen eine undurchdringliche Eigenliebe ihren Unwert verdeckt und an deren unschuldigen Herzen der Kritiker den Zorn über den schuldigen Kopf auslässet: so darf man zwar noch bitter über die – Gattung spotten, aber das Einzelwesen werde nur sanft belehrt. Ich glaube, es wäre die Gold- und Tiegelprobe eines moralisch in sich abgeründeten Gelehrten, wenn man ihm ein schlechtes, berühmtes Buch zu rezensieren auftrüge.

– Ich will mich vom Dr. Merkel ewig rezensieren lassen, wenn ich in diesem Kapitel noch einmal ausschweife. – Firmian arbeitete ein wenig eilig an der Rezension des Langischen Programms: Praemissa historiae Superintendentium generalium Baruthi non specialium, continuatione XX: er mußte heute noch einige Ortstaler haben, und er wollte auch ein wenig an dem brütenden, mütterlichen Tage spazieren gehen. Lenette hatte schon gestern am Donnerstage – das neue Jahr fiel auf den Sonnabend[302] – vorläufige Feste der Reinigung gefeiert (denn sie wusch jetzt täglich weiter voraus); heute aber hielt sie vollends die Ährenlese der Möbeln – sie gab der Stube Abführmittel gegen alle Unreinigkeiten ein – sie sah den index expurgandorum nach – sie trieb, was nur hölzerne Beine hatte, in die Schwemme und kam mit Fleckkugeln nach – kurz sie paddelte und brudelte bei dieser levitischen Reinigung der Stube so recht einmal in ihrem naßwarmen Element, und Siebenkäs saß aufrecht im Feg-Feuer und gab schon seinen Brandgeruch von sich.

Er war heute schon an sich toller als sonst: erstlich weil er sich vorgesetzt hatte, nachmittags den grillierten Kattunrock durchaus – und schrieen ganze Nonnenklöster darwider – in Versatz zu schaffen, und weil er mithin voraussah, daß er sich noch außerordentlich würde ereifern müssen; und diesen Vorsatz des Versatzes fassete er heute gerade, weil er – und dies ist zugleich die zweite Ursache, warum er toller war – sich ärgerte, daß die guten Tage wieder verlebt und daß ihre Sphärenmusik durch Lenettens Trauer-Miserere verdorben worden. »Frau«, sagt' er, »ich rezensiere eben fürs Geld.« – Sie schabte fort. »Den Professor Lang hab' ich vor mir, und zwar das 7te Kapitel, worin er vom 6ten Baireuther Generalsuperintendent Stockfleth handelt.« – Sie wollte in einigen Minuten nachlassen, aber nur in dieser nicht; Weiber tun alles gern später, daher kommen sie sogar später auf die Welt als Knaben 92. »Das Programm«, fuhr er noch einmal mit künstlicher Kälte fort, »hätte der Götterbote schon vor einem halben Jahre beurteilen sollen: der Bote muß nicht wie die Allg. deutsche Bibliothek und der Papst erst nach 100 Jahren heilig sprechen.« – Wär' er nur imstande gewesen, sich noch eine Minute in der künstlichen Kälte zu erhalten: so hätte er Lenettens Aussummen erlebt. Aber er konnte nicht. »So soll doch«, fuhr er auf und sprang mit Hinwerfen der Feder in die Höhe, »lieber der Teufel dich und mich holen und den Götterboten! – Ich weiß nicht«, fuhr er gefasset und gelähmt fort und setzte sich entnervt, als wäre er mit lauter Schröpfköpfen umsetzt, nieder, »was ich übersetze, und schreib' ich hin Stockfleth oder Lang. Es ist [303] dumm, daß ein Advokat nicht so taub 93 sein soll wie ein Richter; als Tauber wär' ich torturfrei – weißt du, wieviel nach den Rechten zu einem Tumulte Leute gehören? – Entweder zehn oder du allein in deiner musikalischen Wasch-Akademie.« Ihm war weniger darum zu tun, billig zu sein, als den spanischen Gastwirten zu gleichen, die den Gästen allezeit das Geschrei, das sie gemacht, mit in Rechnung setzen. Sie hatte ihren Willen gehabt, also war sie still in Worten und Werken.

Er vollendete vormittags das kritische Urteil und schickte es dem Vorsteher Stiefel; dieser schrieb zurück, abends händige er ihm selber die Sportuln dafür ein; denn er haschte jetzt jeden Anlaß zu einem Besuche auf. Unter dem Essen sagte Firmian, in dessen Kopf der schwüle stinkende Nebel einer übeln Laune nicht fallen wollte: »Ich fass' es nicht, wie du so wenig Reinigkeit und Ordnung liebst. Es wäre doch besser, du übertriebest es in der Reinlichkeit als im Gegenteil. Die Leute sagen: es ist nur schade, daß ein so ordentlicher Mann, wie der Armenadvokat ist, eine so unordentliche Frau hat.« Dieser Ironie setzte sie allemal, ob sie gleich wußte, sie sei eine, gute förmliche Wiederlegungen entgegen. Er brachte sie nie dahin, seinen Spaß, anstatt zu widerlegen, ordentlich zu schmecken oder gar die menschliche Gesellschaft an seiner Seite auszulachen. So lässet eine Frau ihre Meinung, sobald sie auch der Mann annimmt, fahren; sogar in der Kirche singen die Weiber, um mit den Männern in nichts eintönig zu sein, das Lied um eine Oktave höher als diese.

Nachmittags rückte die große Stunde heran, worin der Ostrazismus oder die Land- und Hausverweisung des grillierten Kattuns endlich vorfallen sollte als die letzte, aber größte Tat des Jahres 1785. Er hatte dieser Losung zum Zank, dieser feindlichen roten Timurs- und Muhammeds-Fahne, dieser Ziskas-Haut, die sie immer zusammenhetzte, jetzo recht von Herzen satt; er wollte lieber, der Kattun wär' ihm gestohlen, um nur von dem langweiligen, abgeschabten Gedanken an den Lumpen loszukommen. Er übereilte sich nicht, sondern unterstützte seine Petition mit aller Beredsamkeit, die ein Parlamentredner zu Hause [304] hat; er ließ raten, welches der größte Gefallen gegen ihn sei, womit sie das alte Jahr beschließen könne – er sagte, es wohne neben ihm unter einem Dache ein Erbfeind und Widerchrist, ein Lindwurm, ein vom bösen Feind in seinen Weizen geworfnes Unkraut, das sie ausreuten könne, wenn sie wolle. Er zog endlich mit helldunklem Jammer den grillierten Kattun aus der Schublade: »Das ist«, sagt' er, »der Stoßvogel, der mir nachsetzt, das Steckgarn, das mir der Teufel aufstellt, sein Schafkleid, mein Marterkittel, mein Casems-Pantoffel – Teuerste, tue mir nur das zu Gefallen und verpfänd es! – Antworte mir noch nicht«, sagt' er, sanft die Hand auf ihre Lippen deckend, » – überlege vorher, was doch eine dumme Gemeinde tat, deren einziger Hufschmied im Dorfe gehangen werden sollte. Sie schlug lieber einige unschuldige Schneidermeister für den Galgen vor, die eher zu entraten waren. Und du, als eine klügere Person, solltest ja die bloße Näharbeit der Meister, da wir den Trauerkattun bei unsern Lebzeiten nicht brauchen, lieber hergeben als metallene Möbeln, aus denen wir täglich speisen! – Jetzt sage aber, was du denkst, Gute?« –

»Ich habe es schon lange gemerkt«, versetzte sie, »daß du mich um meinen Trauerrock zu bringen suchst. Ich geb' ihn aber nicht her. Wenn ich nun zu dir sagte: versetz deine Uhr, Firmian! Es wär' ebenso.« – Vielleicht gewöhnen sich die Männer darum an, gebieterisch ohne Gründe zu befehlen, weil diese wenig verfangen und sie gerade die Widerspenstigkeit, statt zu brechen, nur waffnen. – »Beim Henker!« sagt' er, »nun hab' ichs genug. Ich bin kein Truthahn und Auerochs, der sich ewig über den farbigen Lappen erbosen will. Es wird heute versetzt, so wahr ich Siebenkäs heiße.« –

»Du heißest ja auch Leibgeber«, sagte sie. »Es soll mich der Teufel holen, wenn der Kattun da bleibt«, sagt' er. Jetzo fing sie an zu weinen und über das bittere Geschick zu wimmern, das ihr nichts mehr lasse, auch ihren Anzug nicht einmal. Gedankenlose Tränen fallen oft so ins siedende männliche Herz wie andere Wassertropfen in geschmolzenes wallendes Kupfer: die flüssige Masse springt krachend auseinander. »Himmlischer, guter, sanfter [305] Teufel«, sagt' er, »fahr herein und brich mir den Hals! Gott erbarme sich über eine solche Frau! – Nun so behalt deinen Kattun und dein Hungertuch. Aber des Henkers bin ich – ich gebe mein Ehrenwort –, wenn ich nicht das alte Hirschgeweih aus meines Vaters Nachlaß noch heute wie ein gestrafter Wilddieb auf den Kopf stülpe und zum Verkaufe am lichten hellen Tag durch den ganzen Flecken trage, so lächerlich es allen Kuhschnapplern erscheinen mag, und ich will bloß sagen, du hast mirs aufgesetzt. Das tu' ich, zum Teufel!«

Knirschend ging er ans Fenster und sah ohne Augen auf die Gasse. Ein Dorfleichenbegängnis marschierte mit Stöcken unten vorbei. Die Leichenbahre war eine Achsel, und auf ihr wankte ein schiefer Kindersarg.

Dieser Anblick ist überhaupt schon rührend, wenn man über einen kleinen verborgnen Menschen nachsinnt, der aus dem Fötusschlummer in den Todesschlaf, aus dem Amnioshäutchen dieser Welt in das Bahrtuch, das Amnioshäutchen der andern, übergeht – dessen Augen vor der glänzenden Erde zufallen, ohne die Eltern gesehen zu haben, die ihm mit feuchten nachblicken der geliebt wurde, ohne zu lieben – dessen kleine Zunge verweset ohne gesprochen, wie sein Angesicht, ohne je gelächelt zu haben auf unserem widersinnigen Rund. Diese abgeschnittnen Laubknospen der Erde werden schon irgendeinen Stamm finden, auf welchen sie das große Schicksal impft; diese Blumen, die wie einige sich schon in den Morgenstunden zum Schlafe zuschließen, werden schon eine Morgensonne antreffen, die sie wieder öffnet. – Als Firmian dies kalte überhüllte Kind vorüber gehen sah – in dieser Stunde, wo er über das Trauerkleid, das ihn betrauern sollte, stritt – jetzo neben dem letzten Tropfen des abrinnenden Jahrs, wo ihm sein mit flüchtigen Ohnmachten vertrautes Herz die Vollendung eines neuen absprach – jetzo unter so vielen Schmerzen: so hörte er gleichsam den Todesfluß überdeckt unter seinen Füßen murmeln, wie die Sineser den Boden ihrer Gärten mit brausenden Strömen unterhöhlen, und die dünne Eisrinde, die ihn hielt, schien bald mit ihm in die winterlichen Wellen hinabzubrechen. Er sagte unaussprechlich gerührt zu Lenetten: [306] »Vielleicht hast du am Ende recht, daß du den Trauerrock behältst, und es ahnet dich mein Untergehen. Tu, was du magst – ich will mir den letzten Dezember nicht weiter verbittern, da ich nicht weiß, ob er nicht in einem andern Sinne für mich der letzte ist, und ob ich in einem Jahre dem armen Säugling nicht näher bin als dir. Ich geh' jetzo spazieren.« –

Sie schwieg betroffen. Er entzog sich eilig einer endlichen Antwort. Seine Abwesenheit mußte seine beste Oratorie sein. Alle Menschen sind besser als ihre Aufwallungen – als ihre schlimmen nämlich, denn alle sind auch schlechter als ihre edeln –, und räumt man jenen eine Stunde zum Auseinanderfallen ein: so hat man etwas Bessers als seine Sache gewonnen, seinen Gegner. Übrigens hinterließ er Lenetten noch ein starkes Nachdenken über sein Ehrenwort und über das Hirschgeweih.

Ich hab' es schon einmal geschrieben: daß der Winter nackt ohne den Lailach und das Westerhemd von Schnee auf der Erde lag, neben der trocknen dürren Mumie des vorigen Sommers. Firmian sah mit einem unbefriedigten Gefühl über die ausgekleideten Gefilde hinweg, über welche noch die Wiegendecke des Schnees und der Milchflor des Reifs geworfen werden mußte, und an die Bäche hinunter, die noch gelähmt und sprachlos werden sollten. Helle, warme letzte Dezembertage weichen uns zu einer Schwermut auf, in der vier oder fünf bittere Tropfen mehr sind als in der Schwermut des Nachsommers; bis um 12 Uhr in der Nacht und bis zum 31ten des 12ten Monats macht uns das winterliche und nächtliche Bild des Vergehens enge, aber schon um I Uhr nach Mitternacht und am 1. Januar wehen lebendige Morgenwinde das Gewölke über die Seele hinüber, und wir schauen nach dem dunkeln, reinen Morgenblau, dem Aufsteigen des Morgen- und Frühlingsternes entgegen. An einem solchen Dezembertage beklemmt uns die falbe stockende Welt von starren blutlosen Gewächsen um uns und die unter sie niedergefallnen, mit Erde bedeckten Insektenkabinette und das Sparrwerk bloßer, runzliger, verdorrter Bäume – die Dezembersonne, die am Mittag so tief hereinhängt als die Juniussonne abends, breitet, wie angezündeter Spiritus, einen gelben Totenschein über die welken, [307] bleichen Auen aus, und überall schlafen und ziehen, wie an einem Abende der Natur und des Jahrs, lange riesenhafte Schatten, gleichsam als nachgebliebene Trümmer und Aschenhaufen der ebenso langen Nächte. Hingegen der leuchtende Schnee überzieht nur, wie ein um einige Schuh hoher weißer Nebel, den blühenden Boden unter uns, der blaue Vorgrund des Frühlings, der reine dunkle Himmel, liegt über uns weit hinein, und die weiße Erde scheint uns ein weißer Mond zu sein, dessen blanke Eisfelder, sobald wir näher antreten, in dunkle wallende Blumenfelder zerfließen.

Weh wurde dem traurigen Firmian auf der gelben Brandstätte der Natur ums Herz. Die täglich wiederkommende Stockung seines Herz- und Pulsschlages schien ihm jenes Stillestehen und Verstummen des Gewitterstürmers in der Brust zu sein, das ein nahes Ausdonnern und Zerrinnen der Gewitterwolke des Lebens ansagt. Er schrieb das Stottern seines Uhrwerks einem zwischen die Räder gefallenen Pflock, einem Herzpolypen zu; und seinen Schwindel dem Anzuge des Schlagflusses. Heute war der 365te Akt des Jahrs, und sein Vorhang war im Niederfallen; was konnt' ihm dies anders zuführen als düstere Vergleichungen mit seinem eignen Epiloge, mit dem Wintersolstitium seines abgekürzten verschatteten Lebens? – Das weinende Bild seiner Lenette stellte sich jetzo vor seine vergebende, wegziehende Seele; und er dachte: »Sie hat wohl nicht recht; ich will ihr aber nachgeben, weil wir doch nicht lange mehr beisammenwohnen. Ich gönn' ihrs gern, daß meine Arme vermodernd von ihr fallen, und daß ihr Freund sie in seine nimmt.«

Er stieg auf das Blut- und Trauergerüste, auf dem sein Freund Heinrich seine Umarmungen geendigt hatte. Von dieser Höhe eilten seine Blicke, sooft sein Herz zu schwer wurde, dem Wege Leibgebers bis an die Berge nach; aber heute wurden sie feuchter so als sonst, weil er nicht den Frühling wiederzusehen hoffte. Diese Höhe war der Hügel, auf den der Kaiser Hadrian den Juden jährlich zweimal zu steigen erlaubte, damit sie hinüber nach den Trümmern der heiligen Stadt blicken und das beweinen könnten, was sie nicht betreten durften 94. Die Sonne schloß das alte Jahr [308] mit Schatten ab, und als nun abends die Sterne auftraten, die im Frühling sonst den Morgen schmücken: so brach das Schicksal die schönsten Lianen-Zweige voll Blüte von seinem Geiste weg, und helles Wasser quoll aus ihnen: »Ich erlebe und sehe nichts mehr vom künftigen Frühling«, dacht' er, »als sein Blau, das an ihm, wie in der Schmelzmalerei, unter allen Farben zuerst fertig wird.« Sein zur Liebe erzognes Herz ruhte ohnehin immer von Satiren, von trocknen Geschäften und zuweilen von der Kälte Lenettens an der ewigen, warmen und umfangenden Göttin aus, an der Natur. Hier in das freie, enthüllte, blühende All, unter den großen Himmel, trug er gern seine Seufzer und seinen Kummer, und er machte in diesen Garten, wie sonst die Juden in kleine, alle seine Gräber. – Und wenn uns die Menschen verlassen und verwunden: so breitet ja auch immer der Himmel, die Erde und der kleine blühende Baum seine Arme aus und nimmt den Verletzten darein auf, und die Blumen drücken sich an unsern wunden Busen an, und die Quellen mischen sich in unsere Tränen, und die Lüfte fließen kühlend in unsere Seufzer – das Weltmeer von Bethesda erschüttert und beseelet ein hoher Engel, und wir tauchen uns mit allen tausend Stichen in seine heißen Quellen ein und steigen zugeheilet und mit abgespannten Krämpfen aus dem Lebenwasser wieder heraus.

Firmian ging mit einem Herzen voll Versöhnung und mit Augen, die er im Dunkeln nicht mehr trocknete, langsam nach Hause; er sagte sich jetzt alles, womit er seine Lenette entschuldigen konnte – er suchte sich auf ihre Seite zu ziehen durch den Gedanken, daß sie nicht, wie er, den Minervens-Helm, den Fallschirm und Fallhut des Denkens, Philosophierens und der Autorschaft gegen die Stöße und Steine des Lebens nehmen könne – er setzte sich noch einmal vor (er hatt' es sich schon 30 Male vorgesetzt), so verbindlich gegen sie zu sein, wie man es gegen eine Fremde ist 95– ja er legte über sein Ich schon das Fliegennetz oder [309] das Panzerhemd der Geduld, im Falle der grillierte Kattun wirklich unversetzt zu Hause läge. – So machts der Mensch, so drücket er, um nur in den Mittagschlaf der Seelenruhe zu kommen, mit zwei Händen die Ohren zu – so wirft unsere Seele in der Leidenschaft allezeit, wie Spiegel- oder Wasserflächen, den Sonnenschein der Wahrheit nur miteinem blitzenden Punkte zurück, indes die Fläche um die widerscheinenden Stellen sich nur desto tiefer einschattet.

Wie ging alles anders! Gravitätisch und mit einem Kirchenvisitation-Gesicht voll Inspektionpredigten trat ihm der Pelzstiefel entgegen; Lenette richtete ihre geschwollnen Augäpfel kaum gegen die Windseite seines Eintritts. Stiefel hielt das Mienen-Gestrick seines Gesichtes fest, damit es nicht vor Firmians freundlich aufgelöstem zerführe, und hob an: »Herr Armenadvokat, ich wollt' eigentlich das Geld für die Langische Rezension abtragen. Aber die Freundschaft heischet von mir etwas Wichtigeres: Sie zu ermahnen, daß Sie sich gegen Ihre arme Frau hier betragen wie ein wahrer Christ gegen eine Christin.« »Oder noch besser«, sagt' er; »aber wovon ist denn die Rede, Frau?« Sie schwieg verlegen. Sie hatte von dem Rat in dem Kattun-Prozeß Rat und Hülfe begehrt, weniger, um beides zu bekommen, als um den Prozeß zu erzählen. Sie hatte nämlich, als sie der Rat im bittersten Gusse ihrer Augen überfallen, eben vorher den grillierten stachlichten Raupenbalg wirklich in Versatz gesandt, weil sie nach dem Ehrenschwure ihres Mannes vorauswußte – da sie sein Worthalten sowie seine Kälte gegen das Scheinen kannte, die gerade in der Not am grimmigsten wurde –, daß er ohne Bedenken das lächerliche Gehörn auf seinem Kopfe feiltragen werde durch den ganzen Ort. Sie hätte vielleicht vor dem Seelsorger geweint und geschwiegen, hätte sie ihren Willen und ihren Rock gehabt; da sie aber beides aufgeopfert hatte, so [310] begehrte sie einen Ersatz, eine Rache. Sie hatt' ihm anfangs nur Beschwerden in unbenannten Zahlen vorgerechnet; als er aber weiter andrang, sprang ihr überfülltes Herz auf, und alle Leiden strömten heraus. Stiefel gab, zuwider den Rechtsregeln und manchen Universitäten, immer dem Kläger Recht, weil dieser eher – sprach: die meisten Menschen halten die Unparteilichkeit ihres Herzens für die Unparteilichkeit ihres Kopfes. Stiefel schwur, er wolle ihrem Manne sagen, was zu sagen wäre, und der Kattun kehre noch heute zurück.

Dieser Beichtiger klingelte vor dem Armenadvokaten mit seinem Bind- und Löseschlüsselbund und erzählte dem Gatten die allgemeine Beichte der Frau und dann den Versatz des Rocks. Wenn man von einer Person zwei verschiedene Handlungen zu berichten hat, eine ärgerliche und eine willkommene: so kommt die Hauptwirkung darauf an, welche man zuerst stellt; die zuerst erzählte grundiert das Gemüt, und die zuletzt nachgemalte wird nur Nebenfigur und zum Schattenwurf. Firmian hätte schon auf der Gasse hinter Lenettens Versatz gelangen sollen, und erst oben hinter die Plauderei. So aber saß der Henker darin. »Wie – (das waren, wenn nicht seine Gedanken, doch seine Gefühle) wie, meinen Nebenbuhler macht sie zu ihrem Vertrauten und zu meinem Richter – ich bring' ihr eine versöhnte Seele wieder, und in diese macht sie einen neuen Riß – und so ärgert sie mich noch den letzten Tag mit dem verhenkerten Geplauder?« Mit letztem meinten nämlich seine Gefühle etwas, was der Leser nicht versteht; denn ich hab' ihm noch nicht erzählt, daß Lenette die Unart hatte, übel erzogen zu sein, und daß sie daher gemeine Leuteihres Geschlechtes, z.B. die Buchbinderin, zu Einnehmern ihrer geheimen Gedanken und zu elektrischen Ausladern ihrer kleinen Gewitter machte; indes sie zugleich ihrem Mann verdachte, daß er Bediente, Mägde, Plebejer, zwar nicht in seine Mysterien einließ, aber doch in ihre eignen begleitete.

Stiefel las jetzo – nach der Sitte aller Leute ohne Welt, die alles lehren und nichts voraussetzen – von seinem Kanzelpult eine lange theologische Traurede über die Liebe christlicher Ehegatten ab und bestand zuletzt auf der Zurückberufung des Kattuns, [311] gleichsam seines Neckers. Firmian wurde durch die Rede erbittert; und das bloß, weil seine Frau ohnehin dachte, er habe keine Religion oder nicht so viel davon wie Stiefel. »Es ist mir (sagt' er) aus der französischen Geschichte erinnerlich, daß der erste Prinz vom Geblüt, Gaston, seinem Bruder einige unbedeutende Kriegunruhen gemacht, und daß er im Friedeninstrumente darauf in einem besondern Artikel sich erboten, den Kardinal Richelieu zu lieben. Allerdings sollte dieser Artikel, daß Eheleute einander lieben wollen, einen ganzen geheimen Separatartikel in den Ehepakten ausmachen, da die Liebe zwar, wie Adam, anfangs ewig und unsterblich ist, aber nachher doch sterblich wird nach dem Schlangenbetrug. Was aber den Kattun anlangt, so wollen wir alle Gott danken, daß der Zankapfel aus dem Hause geworfen ist.« Stiefel, um der geliebten Lenette zu opfern und zu räuchern, drang auf den Rückmarsch des Rocks um so leichter, weil ihm Firmians bisherige sanfte Willfährigkeit zu kleinen Opfern und Diensten den Wahn seiner übermannenden Oberherrschaft in den Kopf gesetzet hatte. Der bewegte Ehemann sagte: »Wir wollen abbrechen.« – »Nein«, sagte Stiefel, »nachher! Jetzo vor allen Dingen foder' ich, daß die Frau wieder zu ihrem Kleide komme.« – »Hr. Rat, daraus wird nichts.« – »Ich schieße Ihnen (sagte Stiefel in heißester Erbosung über einen solchen frappierenden Ungehorsam) so viel Geld vor, als Sie, brauchen.« Nun war es dem Advokaten noch weniger möglich, zurückzutreten: er schüttelte 80 mal. »Sie oder ich sind ganz bestürzt (sagte Stiefel); ich will Ihnen die Gründe noch einmal vorhalten.« – »Sonst waren«, versetzte Firmian, »die Advokaten so glücklich, Hauskapläne 96 zu haben; es war aber keiner zu bekehren – und darum werden sie nicht mehr angepredigt.«

Lenette weinte stärker – Stiefel schrie deshalb stärker – er mußte, in der ersten Verlegenheit über eine mißlungene Erwartung, seine Foderung schroffer aufstellen, und der andre gegen sie stärker andringen. – Stiefel war ein Pedant, und niemand als so einer hat eine offnere, blindere Eitelkeit, gleichsam einen [312] unaufhörlichen Wind, der aus allen 32 Ecken fortweht (denn ein Pedant kramt sogar den Körper aus). Stiefel mußte, wie ein guter Schauspieldichter, seinen Charakter durchführen und sagen: »Entweder – oder, Hr. Armenadvokat! Entweder das Trauerkleid kömmt zurück – oder ich bleibe weg – aut, aut. Meine Besuche können zwar von keinem Belange sein; aber ich setz' auch einen geringen Preis darauf, bloß Ihrer Frau Gemahlin wegen.« Firmian, doppelt erzürnt – erstlich über die herrschsüchtige Unhöflichkeit eines solchen eiteln Wechselfalles, und zweitens über den kleinen Marktpreis, wofür der Rat ihre Zusammenkünfte losschlug – mußte sagen: »Nunmehr kann niemand mehr Ihren Entschluß bestimmen als Sie, aber nicht ich – Es wird Ihnen sehr leicht, Hr. Rat, sich von uns zu trennen, und Sie könnten anders – aber mir wird es schwer, und ich kann nicht anders.« – Stiefel, dem so unvermutet und so nahe vor seiner Geliebten der wächserne Lorbeerkranz vom Kopf herabgeschmolzen wurde, konnte weiter nichts tun als scheiden; aber mit drei fressenden, scharfen Gefühlen – daß sein Ehrgeiz litt – seine Freundin weinte – sein Freund rebellierte und trotzte....

Und als der Schulrat seinen ewigen Abschied nahm; stand in seiner Freundin Augen ein entsetzlicher Schmerz, den ich, ob ihn gleich die Hand der Vergangenheit bedeckt hat, noch starren sehe; und sie konnte den fliehenden Freund nicht die Treppe mit hinabbegleiten wie sonst, sondern ging mit dem überfüllten, brechenden Herzen allein in die unerleuchtete Stube zurück.

Firmians Herz legte die Härte, obwohl nicht die Kälte ab, da er seine verfolgte Frau in starrem, trocknem Gram über den Einsturz aller ihrer kleinen Plane und Freuden erblickte, und er tat ihr mit keinem einzigen Vorwurfe mehr weh: »Du siehst«, sagt' er bloß, »ich bin nicht schuld, daß der Rat nicht mehr wiederkommt – er hätte freilich nichts erfahren sollen – nun ists vorbei.« Sie antwortete nicht. Der Hornissenstachel, der eine dreifache Wunde sticht, oder der wie von einem rachsüchtigen Italiener in sie geworfne Dolch steckte noch in der Wunde fest, die daher nicht bluten konnte. Du Arme! du hast dich um recht viel gebracht! – Aber Firmian bereute doch nichts; er, der mildeste, [313] nachgiebigste Mann unter der Sonne, spreizte gegen jeden Zwang, zumal gegen einen auf Kosten seiner Ehre, das ganze weiche Gefieder brausend auf. Geschenke nahm er an, aber nur von seinem Leibgeber oder von andern in der wärmsten Stunde des Seelenvereins, und er und sein Freund waren darüber einstimmig, in der Freundschaft gelte nicht nur ein roter Heller einem Goldstücke gleich, sondern auch ein Goldstück einem Heller, und das größte Geschenk müßte man so willig empfangen, als sei es das kleinste; daher rechnete ers unter die unerkannten Seligkeiten der Kinder, daß sie unbeschämt sich können beschenken lassen.

In geistiger Erstarrung setzte er sich in den Großvaterstuhl und deckte die Hand auf die Augen und – von der Zukunft flog jetzo der Nebel auf und entblößte darin ein langes dürres Land voll Brandstätten, voll verdorrter Gebüsche und voll Tiergerippe im Sand. Er sah, die Kluft oder der Erdfall, der sein Herz von ihrem abreiße, werde immer weiter klaffen; er sah es so deutlich und so trostlos, seine alte schöne Liebe komme nie wieder, Lenette lege ihren Eigensinn, ihre Launen, ihre Gewohnheiten nie ab – die engen Schranken ihres Herzens und Kopfes blieben immer fest – sie lern' ihn so wenig verstehen als liebgewinnen – auf der andern Seite nehme nun ihre Abneigung gegen ihn mit dem Außenbleiben seines Freundes zu – und mit beiden die Liebe gegen diesen, dessen Reichtum, dessen Ernst und Religiosität und Zuneigung das schneidende Band der Ehe mit einem vielfachern und weichern Bindwerk entzweirissen – er sah trübe in lange schweigende Tage voll versteckter Seufzer, voll stummer feindlicher Anklagen hinaus.

Lenette arbeitete still in der Kammer, denn das wundgerissene Herz floh Worte und Blicke als kalte grimmige Winde. Es war schon sehr finster – sie brachte kein Licht. Auf einmal fing unten im Hause eine wandernde Sängerin mit einer Harfe und ihr kleines Kind mit einer Flöte an zu spielen. Da war unserem Freunde, als wenn das von Blut geschwollene, gespannte Herz tausend Schnitte bekäme, um sanft zusammenzufallen. Wie Nachtigallen am liebsten vor einem Echo schlagen, so spricht unser Herz am lautesten vor Tönen. O als der gleichsam dreifach besaitete Ton [314] ihm seine alten fast unkenntlichen Hoffnungen vorüberführte – als er tief zu dem schon hoch vom Strom der Jahre überdeckten Arkadien hinuntersah und sich drunten mit seinen jungen frischen Wünschen erblickte, unter seinen lang verlornen Freunden, mit seinen freudigen Augen, die sich voll Zuversicht im Kreise umschaueten, und mit seinem wachsenden Herzen, das gleichsam seine Liebe und seine Treue für ein künftiges warmes sparte und nährte – und als er jetzo in einen Mißton hineinrief: »und ein solches hab' ich nicht gefunden, und alles ist hin« – und als die grausamen Töne wie eine dunkle Kammer dieregen beweglichen Bilder blühender Lenze, blumiger Länder und liebender Zirkel vorüberführten vor diesem Einsamen, der nichts hatte, heute nicht eine Seele in diesem Lande, die ihn liebte: so fiel sein fest stehender Geist darnieder und legte sich auf die Erde, wie zergangen, zur Ruhe, und jetzt tat ihm nichts mehr wohl, als was ihn schmerzte. Plötzlich verschwand die Nachtwandlung des Getöns, und die Pause griff, wie eine stille Nachtleiche, härter ins Herz. In dieser melodischen Stille ging er in die Kammer und sagte zu Lenetten: »Trag ihnen das wenige hinunter!« Aber die zwei letzten Worte konnt' er nur stotternd sagen, weil er im Widerschein, den das Zunderbrennen aus einem Hause gegenüber gab, ihr ganzes glühendes Angesicht voll laufender, ungetrockneter Tränen sah; denn bei seinem Eintritte hatte sie sich im Abwischen der Fensterscheiben, die von ihrem warmen Atem angelaufen waren, begriffen gestellt. Sie ließ das Geld auf dem Fenster. Er sagte noch sanfter: »Lenette, du mußt es wohl gleich bringen; eh' sie gehen.« Sie nahm es – – ihre verweinten Augen glitten im Umwenden vor seinen verweinten vorüber – sie ging, aber beide wurden darüber fast trocken, so geschieden waren ihre Seelen schon. Sie litten in jener schrecklichen Lage, wo nicht einmal die Stunde einer gegenseitigen Rührung mehr versöhnt und wärmt. Seine ganze Brust schwoll von quellender Liebe, aber ihrer gehörte seine nicht mehr an – ihn drückte in derselben Minute der Wunsch und das Unvermögen, sie zu lieben, die Einsicht ihrer Mängel und die Gewißheit ihrer Kälte. – Er setzte sich in den eingemauerten Fenstersitz und lehnte den Kopf auf und rührte[315] zufällig ihr nachgebliebenes Schnupftuch an, das feucht und kalt von Tränen war. Die Gekränkte hatte sich nach dem langen Drucke eines ganzen Tages recht mit dieser milden Ergießung erquickt, wie man nach starken Quetschwunden die Ader öffnen lässet. Bei dem Antasten des Tuchs lief es eiskalt über seinen Rücken, wie ein Gewissenbiß; aber sogleich darauf brühendheiß, da er dachte, sie habe nur über den Verlust einer ganz andern Person geweint als der seinen. Nun fing, aber ohne die Harfe, der Gesang und die Flöte wieder an, und beide walleten in einem langsamen Liede ineinander, dessen Strophen immer schlossen: »Hin ist hin, tot ist tot.« Ihn umfaßte der Schmerz, wie der Mantelfisch, mit seiner dunkeln erstickenden Hülle. Er drückte Lenettens nasses Schnupftuch hart an seine Augäpfel und vernahm nur dunkel: »Hin ist hin, tot ist tot.« Da floß plötzlich sein ganzes Innere aufgelöset bei dem Gedanken auseinander, daß sein stockendes Herz ihm vielleicht kein neues Jahr mehr außer dem morgendlichen zu erleben gönne – und er dachte sich scheidend, und das kalte Tuch lag mit doppelten Tränen kühlend am heißen Angesicht – und die Töne zählten wie Glocken alle Punkte der Zeit, und man vernahm das Vergehen der Zeit – und er sah sich in der stillen Höhle schlafend, wie in der Schlangengrotte, und statt der Schlangen leckten nur die Würmer die heißen, scharfen Gifte des Lebens ab 97.

Die Musik war vorüber. Er hörte Lenetten in der Stube gehen und Licht anzünden. Er ging hinaus und reichte ihr das Schnupftuch hin. Aber sein innerer Mensch war so verblutet und zerdrückt, daß er irgendeinen äußern, wer es nur sei, umarmen wollte; er mußte, wenn auch nicht seine jetzige, doch seine vorige, wenn auch nicht seine liebende, doch seine leidende Lenette an diese darbende Brust andrücken. Gleichwohl vermochte und verlangte er nicht ein Wort der Liebe zu sagen. Er legte langsam und ungebückt die Arme um sie und schloß sie an sein Herz; aber sie warf den Kopf kalt und voreilig vor einem unangebotene [316] Kusse zurück. – Das schmerzte ihn sehr, und er sagte: »bin ich denn glücklicher wie du?« – und legte sein gebücktes Angesicht auf ihr weggebogenes Haupt und preßte sie wieder an sich und entließ sie dann – – Und als die vergebliche Umarmung vorüber war, rief sein ganzes Herz: »Hin ist hin, tot ist tot.«

Die stumme Stube, in der die Musik und die Worte aufgehöret hatten, glich einem unglücklichen Dorfe, aus dem der harte Feind alle Glocken mitgenommen, und worin es still ist den ganzen Tag und die ganze Nacht und stumm im Turm, als wäre die Zeit vorbei.

Als sich Firmian niederlegte, dacht' er: ein Schlaf beschließet das alte Jahr wie ein letztes, und beginnt das neue wie ein Leben, und ich schlummere einer bangen, ungestalten, tiefbehangnen Zukunft entgegen. So schläft der Mensch an der Pforte der versperrten Träume ein, aber er weiß nicht voraus, obgleich seine Träume nur einige Minuten und Schritte von der Pforte abliegen, welche, wenn sie aufgeht, hinter ihr warten, ob ihn auflauernde, funkelnde Raubtiere oder sitzende, lächelnde, spielende Kinder in der kleinen sinnlosen Nacht umringen, und ob ihn der fest geformte Dunst erwürge oder umarme.

Zehntes Kapitel

Der einsame Neujahrtag – der gelehrte Schalaster – hölzernes Bein der Appellation – Briefpost in der Stube – der elfte Februar und Geburttag 1786


Ich kann wahrhaftig meinem Helden zu keinem Neuen Jahres-Morgen Glück wünschen, worin er die verquollenen Augen in den heißen Augenhöhlen schwer nach der Morgenröte dreht und sich mit dem ausgepreßten, betäubten Gehirne wieder an das Kissen schmiegt. Einen Menschen, der selten weinet, fallen neben den moralischen Schmerzen allezeit solche körperliche an. Er blieb über die alte Stunde im Bette, um nachzudenken, was er getan habe, und was er tun müsse. Er erwachte viel kälter gegen Lenetten, als er eingeschlafen war. Wenn die gegenseitige Rührung[317] zwei Menschen nicht verknüpft, wenn die Glut des Enthusiasmus kein Bindmittel zwischen zwei Herzen wird: so mischen sie sich erkaltet und spröder noch minder zusammen. Es gibt einen mißlichen Zustand der unvollendeten, halben Versöhnung, worin die steilrechte Zunge der Juwelierwaage im Glaskästchen vor dem leichtesten Lüftchen einer andern Zunge überschlägt: ach heute senkte sich schon bei Firmian die Waage ein wenig, und bei Lenetten ganz. Er bereitete sich aber doch und fürchtete sich zugleich, einen Neujahrwunsch zu geben und zu beantworten. Er ermannte sich und trat mit dem alten herzhaften Schritt, als wäre gar nichts geschehen, ins Zimmer. Sie hatte, um ihn nicht zu rufen, lieber die Kaffeekanne zu einem Kühlfaß werden lassen und stand, mit dem Rücken gegen ihn, an der herausgezognen Kommodeschublade und zerrete – Herzen auseinander, um zu sehen, was hinter ihnen sei. Es waren nämlich gedruckte, in Verse gebrachte Neujahrwünsche, die sie aus der schönern Zeit in Augsburg von Freunden und Freundinnen herübergebracht hatte; der freundliche Wunsch wurde von einer Gruppe ausgeschnittener, in einer Spirallinie ineinander zurücklaufender Herzen bedeckt. Wie die Hl. Jungfrau mit wächsernen, so werden die andern Jungfrauen mit papiernen Assignatenherzen umhangen; denn bei diesen holden führt alle Glut und Freundschaft den Namen Herz, wie die Landkartenmacher den Umriß des heißen Afrika auch einem Herzen ähnlich finden. –

Firmian erriet leicht alle sehnsüchtige Seufzer, die in der Verarmten über so viele zertrümmerte Wünsche aufstiegen, und alle trübe Vergleichungen der jetzigen Zeit mit der lachenden, und was der Schmerz und die Vergangenheit einem weichen Herzen miteinander sagen: ach, wenn am Neujahrtag schon der Glückliche seufzet, so muß ja wohl der Unglückliche weinen dürfen? Er sagte seinen guten Morgen sanft und wollte nach einer sanften Antwort seine Wünsche an die gedruckten schließen. Aber Lenette, viel tiefer und öfter gestern verwundet als er, murrete ihm eine kalte, schnelle zurück. – – Nun konnt' er nichts wünschen; sie tat es auch nicht; und so unglücklich und so [318] hart drängten sie sich miteinander durch die Pforte eines neuen Jahrs.

Ich muß sagen, er hatte sich schon vor acht Wochen auf diesen Morgen gefreuet, auf die süße Zerfließung ihrer zwei Herzen, auf tausend heiße Wünsche, die er ihr vorstammeln wollte, auf ihr Aneinanderschließen und auf das trunkne Verstummen der Lippen an Lippen..... O wie war alles so anders, so kalt, so tödlich kalt! – Ich muß es irgendwo anders – wo ich mehr Papier dazu vor mir habe – ausführen, warum und wienach – denn dem Anschein nach ist gerade das Widerspiel zu vermuten – seine satirische Ader ein Gärmittel oder eine Wässerung für sein empfindsames Herz abgab, dessen er sich zugleich freuete und schämte. Am meisten half dazu der – Reichsflecken Kuhschnappel, auf den, wie auf noch einige deutsche Ortschaften, der empfindsame Tau, wie auf Metalle, nicht gefallen war, und worin die Leute sich mit verknöcherten Herzen versehen hatten, denen, wie erfrornen Gliedmaßen, oder wie Hexen voll Stigmen des Teufels, keine Wunde von Belang zu machen war. Unter solchen Kalten nun vergibt und sucht man übertriebene Wärme am ersten. Einer hingegen, der 1785 in Leipzig etc. wohnhaft war, wo die meisten Herzen und Schlagadern mit dem Tränen-Spiritus ausgesprützet waren, trieb leichter den witzigen Unwillen darüber zu weit; so wie die Köche in den nassen Jahrgängen mehr scharfe Gewürze an die wässerigen Gemüse reiben als in trocknen. – –

Lenette ging heute dreimal in die Kirche; es war aber ganz natürlich.... Beim Worte »dreimal« erschreck' ich nicht über die Kirchengänger, die dabei selig werden können, sondern über die armen Geistlichen, die an einem Tage so oft predigen müssen, daß es noch ein Glück ist, wenn sie dabei nichts werden als, statt heiser, verdammt. Ein Mensch, der das erstemal predigt, rührt gewiß niemand so sehr als sich selber und wird sein eigner Proselyt; aber wenn er die Moral zum millionenstenmal vorpredigt, so muß es ihm ergehen wie den egerischen Bauern, die den egerischen Brunnen alle Tage trinken, und die er daher nicht mehr purgiert, so viele sedes er auch Kurgästen macht.

Über dem Essen schwieg das traurige Ehepaar. Der Mann tat, [319] da er ihre Vorkehrungen zu einem Besuche in der Nachmittagkirche gesehen, in welcher sie seit einiger Zeit nicht gewesen, bloß die Frage, wer predige. »Wohl der Hr. Schulrat Stiefel«, sagte sie, »ob er gleich sonst nur vormittags die Kanzel besteigt, aber der Vesperprediger Schalaster kann nicht, Gott hat ihn gestraft, er hat sich das Schlüsselbein ausgerenkt.« Zu einer andern Zeit hätte Siebenkäs manches über das letzte gesprochen; aber hier schlug er bloß mit dem einen Zacken der Gabel an den Teller und fuhr mit dieser Spielwelle schnell an das eine Ohr, indes er das andere verschloß: der Trommelbaß des summenden Euphons zog seine gequälte Seele in die Wogen des Tons, und dieses brausende Schallbrett, dieser zitternde Klöppel tönte ihm am neuen Jahre gleichsam zu: »Vernimmst du nicht von weitem das Ausläuten der Messe deines kalten Lebens? Es ist die Frage, ob du am zweiten Neujahr noch hörest, ob du nicht schon liegest und auseinandergehst.« –

Er sah nach dem Essen zum Fenster hinaus, weniger nach der Gasse als nach dem Himmel. Da fand er eben zwei Nebensonnen und fast im Zenith einen halben Regenbogen, den wieder ein entfärbter durchschnitt 98. Wunderlich fingen die Farbengestirne über sein Herz zu regieren an und machten es so wehmütig, als säh' er droben sein halbfarbiges, bleiches, zerstücktes Leben nachgespielt oder nachgespiegelt. Denn dem bewegten Menschen ist die Natur stets ein großer Spiegel voll Bewegungen; nur dem satten und ausruhenden ist sie bloß ein kaltes totes Fenster für das Äußere.

Als er nachmittags einsam in der Stube war, als der frohe Kirchengesang und der benachbarte frohe Kanarienvogelschlag gleichsam wie das Getöse und Poltern lebendig begrabener Jahre der Freude seine matte Seele überfiel – und als ein heller magischer Sonnenschein seine Stube durchschnitt, und als dünne Wolkenschatten über den lichten Ausschnitt der Diele wegglitten und das kranke, stöhnende Herz mit tausend traurigen Ähnlichkeiten fragten: ist nicht alles so? entfliehen nicht deine Tage, wie Dünste [320] durch einen kalten Himmel, über eine tote Erde und schwimmen hin in die Nacht: – – so mußt' er sein schwellendes Herz mit der sanften Schneide der Tonkunst öffnen, damit die nächsten und größten Tropfen des Schmerzens daraus flössen – er griff einen einzigen Dreiklang auf dem Klavier und griff ihn wieder und ließ ihn verwogen – wie die Wölkchen flogen, starben die Töne aus, der Wohllaut schwang sich träger, zitterte nach und wurde starr, und die Stille stand da wie ein Grab – Im Horchen stockte sein Atmen und sein Herz, eine Ohnmacht griff nach seiner Seele – und nun, und nun warf in dieser schwärmerischen kranken Stunde der Strom des Herzens – so wie Überschwemmungen Begrabne aus Kirchen und Gräbern spülen – einen jungen Toten aus der Zukunft, aus der irdenen Decke unverschleiert heraus: sein Leib war es; er war gestorben. Er schauete zum Fenster hinaus ins tröstende Licht und Getümmel des Lebens; aber es rief doch in ihm fort: »Täusche dich nicht, ehe die Neujahrwünsche wiederkommen, bist du schon von dannen gezogen.«

Wenn das schauernde Herz so entblättert ist und nackt da steht: so ist jedes Lüftchen ein kaltes. Wie warm und milde hätte Lenette seines berühren müssen, um es nicht zu erschrecken, wie Hellseherinnen Todesfrost in jeder Hand empfinden, die sie außerhalb des magnetischen Kreises anrührt! –

Er setzte sich heute vor, in der sogenannten Leichenlotterie einzutreten, damit er bei seinem Zug in die andere Welt doch das Abzuggeld entrichten könnte. Er sagte es ihr; aber sie nahm den Vorsatz für eine Anspielung auf das Trauerkleid. So neblig ging der erste Tag vorüber, und noch regnerischer die erste Woche. Es war das Einfaßgewächs und der Zaun um Lenettens Liebe gegen Stiefel ausgerissen, und diese Liebe stand frei da. An jedem Abend, wo sonst der Rat gekommen war, grub sich der Ärger und Kummer tiefer in ihr junges Angesicht, das allmählich zur durchbrochnen Arbeit des Schmerzens einfiel. Sie fragte nach den Tagen, wo er zu predigen hatte, um ihn zu hören, und trat bei jedem Leichenzuge ans Fenster, um ihn zu sehen. Die Buchbinderin war ihr korrespondierendes Mitglied, und aus ihr holte sie neue Entdeckungen über den Schulrat heraus [321] und repetierte mit ihr die ältesten. Wieviel Wärme mußte nicht der Rat durch seinen Fokalabstand gewinnen, und der Mann durch seine Erdnähe verlieren. So wie die Erde gerade die kleinste Wärme von der Sonne bekömmt, wenn sie ihr am nächsten ist, im Winter! – – Zu diesem allen kam noch ein ganz neuer Grund zu Lenettens Abneigung. Es hatte nämlich der Heimlicher v. Blaise unter der Hand von ihrem Manne bekannt gemacht, er sei ein Atheist, und kein Christ. Redliche alte Jungfern und Geistliche sind auf eine schöne Weise von rachsüchtigen Römern unter den Kaisern verschieden, die oft den unschuldigsten Menschen für einen Christen ausgaben, um ihm eine Märtererkrone zu flechten; besagte Jungfern und Geistliche nehmen vielmehr die Partei eines Menschen, der in solchem Verdachte ist, und leugnen es, daß er ein Christ ist. So unterscheiden sie sich sogar von den neuen Römern und Italienern, welche stets sagen: es sind vier Christen da, statt vier Menschen. Das tugendhafteste Mädchen bekam in St. Ferieux bei Besançon zum Preis einen Schleier zu 5 Livr.; und diesen schönen Preis der Tugend, nämlich einen moralischen Schleier von 6 Livr., werfen Menschen wie Blaise gern über gute Leute. Sie nennen daher gern Denker Ungläubige, und Heterodoxe Wölfe, deren Zähne glätten undzahnen helfen; so wird auch auf die besten Klingen ein Wolf eingezeichnet.

Als Siebenkäs seiner Frau zuerst die Blaisische Nachricht hinterbrachte, daß er kein Christ, wo nicht gar ein Unchrist sei: machte sie noch nichts Besonderes daraus, da sie sich dergleichen von einem Manne, mit welchem sie ehelich kopuliert worden, gar nicht denken konnte. Nur später fiel ihr wieder ein, daß er in dem Monate, als das Wetter zu lange trocken war, nicht bloß die katholischen Umgänge, auf welche sie selber nichts hielt, sondern auch die protestantischen Wettergebete dagegen ohne Hehl verworfen habe, indem er gefragt: ob die meilenlangen Prozessionen, sogenannte Karawanen, in der arabischen Wüste mit allen ihren Wettergebeten je eine einzige Wolke zustande gebracht; oder warum die Geistlichen nur gegen Nässe und Trockenheit und nicht auch gegen einen grimmigen Winter Umgänge, [322] die wenigstens für die Umgänger ihn mildern würden, veranstalteten, oder in Holland gegen Nebel, in Grönland gegen Nordscheine; auch wundere er sich am meisten, warum die Heidenbekehrer, die sich so oft mit solchem Erfolg die Sonne erbitten, wenn bloß die Wolken sie verdecken, nicht auch um den Sonnenkörper (was viel wichtiger wäre) anhalten, wenn er in Polarländern gar ganze Monate nicht einmal zum Vorschein komme bei hellem Himmel; oder warum wir, fragt' er endlich, gegen große für uns selten erfreuliche Sonnenfinsternisse nicht vorkehren, sondern hierin uns eigentlich von den Wilden übertreffen lassen, welche sie am Ende wegheulen und wegflehen. – Wie nehmen manche Worte, an sich anfangs unschuldig, ja süß, erst auf dem Lager der Zeit giftige Kräfte an, wie Zucker, der 30 Jahre in Magazinen gelegen 99! Jene freien Worte griffen jetzo stark in Lenetten ein, wenn sie unter der aus lauter Aposteln gezimmerten Kanzel Stiefels saß und ihn ein Gebet nach dem andern verrichten hörte, bald für, bald wider Krankheit, Obrigkeit, Niederkunft, Saat u.s.w. Wie süß wurd' ihr nun auf der andern Seite der Pelzstiefel, und wie schön wurden dessen Predigten wahre Liebebriefe für ihr Herz! Und ohnehin steht ja Geistlichkeit in einem nahen Verhältnis mit dem weiblichen Herzen; daher bedeutet ursprünglich auf der deutschen Spielkarte das Herz die Geistlichkeit. –

Was tat und dachte nun Stanislaus Siebenkäs bei allem? Zweierlei, was sich widersprach. Hatt' er gerade ein hartes Wort gesagt: so bejammerte er die verlassene, ohnmächtige Seele, deren ganzes Rosenparterre der Freuden ausgehauen war, deren erste Liebe gegen den Schulrat im Jammer und Darben verschmachtete, und die tausend schöne Reize ihres verschlossenen Innern würde vor einem geliebten Herzen – denn seines war es nicht – entfaltet haben; »und seh' ich denn nicht«, sagte er sich weiter, »wie ihr die Nadel oder der Nadelkopf auf keine Weise ein solcher spitzer Wetterableiter ihrer schwülen Blitzwolken sein kann als mir die spitze Feder? Wegschreiben kann man sich viel, aber nicht wegnähen. Und wenn ich vollends bedenke, was [323] ich – die Sternkunde und die Seelenkunde nicht einmal zu rechnen – noch besonders an Kaiser Antoninus' ›Selbbetrachtungen‹ und an Arrianus' Epiktet, die beide sie nicht einmal dem Namen und Einbande nach kennt, für Schwimmkleider und Korkwesten in den höchsten Fluten habe, und was für Spritzenleute an ihnen, wenn ich in Zornfeuer gerate, wie vorhin, sie aber ihren Zorn allein abbrennt: wahrlich ich sollte noch zehnmal milder als wilder sein.« – Traf es sich freilich aber zweitens, daß er gerade harte Worte nicht ausgestoßen hatte, sondern erduldet: so malte er sich auf der einen Seite das starke Sehnen nach dem Schulrat vor, das sie leicht unter der kopflosen Näharbeit heimlich so sehr vergrößern konnte als sie nur wollte, und auf der andern die unablässige Nachgiebigkeit seines zu weichen Herzens, für welche sein Kraftfreund Leibgeber ohne weiteres ihn schelten würde, aber noch mehr die Frau wegen des Gegenteils; und welche sie schwerlich bei ihrem starren Stiefel anträfe, wenn aus dessen neulicher greller Aufkündigung des Kapitals der Liebe etwas zu schließen sei.

In dieser Laune tat er an einem Sonntage, wo sie wieder in die Vesperpredigt des Schulrats ging, mit zornschwerem Gemüt die leichte Frage, warum sie sonst so selten in die Abendpredigt gegangen, und nun so häufig. Sie versetzte: sie hab' es getan, weil der Vesperprediger Schalaster sonst gepredigt, für welchen seit der Ausrenkung des Schlüsselbeins der Schulrat die Kanzel besteige; werde aber das Bein wiederhergestellt, so solle sie Gott bewahren, in seine Andacht zu gehen. Nach und nach bracht' er heraus, daß sie den jungen Schalaster für einen falschen gefährlichen Irrlehrer halte, der von der heiligen Schrift Lutheri abweiche, weil er an Mascheh, an Jäsos Christos, Petros, Paulos glaube und alle Apostel bei ihm sich »ossen«, so daß sich alle christlichen Seelen ärgern, und das himmlische Jerusalem hab' er gar auf eine Art genannt, die sie nicht einmal nachsprechen könne; er habe nun seitdem sich am Schlüsselbeine einen Schaden getan, aber sie wolle nicht richten. – »Dies tu auch nicht, liebe Lenette«, sagte Siebenkäs; »der junge Mann hat eben entweder ein schwaches Gesicht, oder ist im griechischen Testament [324] schlecht bewandert, denn da sieht das u wie ein o aus. O, wie manche Schalaster sagen nicht in so verschiedenen Wissenschaften und Glaubenlehren Petros statt Petrus und bringen ohne Not und ohne Eckstein durch blutverwandte Selblauter die Menschen auseinander.«

Nur aber diesesmal brachte Schalaster sie ein wenig zusammen. Dem Armenadvokaten tat es wohl, daß er sich bisher geirrt, und daß Lenetten nicht bloß Liebe zu Stiefel, sondern auch Liebe für reine Religion in die Abendkirche hinein gesetzt. Schwach war freilich der Unterschied; aber in der Not nimmt man jeden Trost mit; Siebenkäs freute sich demnach heimlich, daß seine Frau den Schulrat nicht in dem hohen Grade liebe, als er gemeint. Sprecht hier nichts gegen das dünne Spinnengewebe, das uns und unser Glück trägt; haben wir es aus unserem Innern gesponnen und herausgezogen wie die Spinne ihres, so hält es uns auch ziemlich, und gleich dieser hangen wir sicher mitten darin, und der Sturmwind weht uns und das Gewebe unbeschädigt hin und her.

Von diesem Tage an ging Siebenkäs geradezu wieder zum einzigen Freund im Orte, zum Schulrat, dem er den kleinen Fehltritt schon längst – ich glaube eine halbe Stunde darnach von Herzen vergeben hatte. Er wußte, seine Erscheinung war ein Trost für den verwiesenen Evangelisten im Stuben-Patmos; und für die Frau war es auch einer. Ja er trug Grüße, die nie anbefohlen waren, zwischen beiden hin und her.

Abends waren bei Lenetten kleine hingeworfne Berichte vom Rat die grüne Saat, die das scharrende Rebhuhn unter dem tiefen Schnee aufkratzt. Ich versteck' es inzwischen nicht, mich dauert er und sie; und ich kann kein elender Parteigänger sein, der nicht zwei Personen, die einander mißverstehen und befehden, zugleich Anteil und Liebe geben kann. – –

Aus diesem grauen schwülen Himmel, dessen Elektrisiermaschinen alle Stunden luden und häuften, fiel endlich der erste grelle Donnerschlag herab: Firmian verlor seinen Prozeß. Der Heimlicher war das reibende Katzenfell und der stäupende Fuchsschwanz gewesen, der die Erbschaftkammer oder den [325] Pechkuchen der Justiz mit kleinen Taschenblitzen gefüllet hatte. Es wurde dem Advokaten aber von Rechts wegen der Verlust des Prozesses zuerkannt, weil der junge Notarius Giegold, mit dessen Notariatinstrumenten er sich bewaffnen wollen, noch nicht immatrikulieret war. Es kann wenig Menschen geben, die nicht wissen, daß in Sachsen nur ein Instrument gilt, das ein immatrikulierter Notar gemacht, und daß mithin die Beweiskraft eines Dokumentes in einem fremden Lande nicht stärker sein kann, als sie in dem war, worin man es fertigte. Firmian verlor zwar den Prozeß und für jetzt die Erbschaft; aber sie blieb ihm doch unter jedem Rechtstreite unversehrt dastehen. Nichts sichert wohl ein Vermögen besser vor Dieben und Klienten und Advokaten, als wenn es ein Depositum oder ein Streitgegenstand (objectum litis) geworden; niemand darf es mehr angreifen, weil die Summe in den Akten deutlich spezifizieret ist (es müßten denn die Akten selber noch eher als ihr Gegenstand abhanden kommen); so freuet sich der Hausvater, wenn der Kornwurm den Kornschober gänzlich übersponnen und weiß papillotieret hat, weil dann die übrigen Körner, die der Spinner nicht ausgekernet hat, vor allen andern Kornwürmern ganz gedecket sind. –

Niemals ist ein Prozeß leichter zu gewinnen, als wenn man ihn verloren hat; denn man appellieret. – Nach der Abtragung der in- und außergerichtlichen Kosten und nach der Ablösung der Akten bieten die Gesetze das beneficium appellationis (Wohltat der Berufung an einen höhern Richter) jedem an, wie wohl bei dieser Benefizkomödie und Rechtswohltat noch andere, außergerichtliche Wohltaten nötig sind, um von der gerichtlichen Gebrauch zu machen.

Siebenkäs durfte berufen – er konnte den Beweis seines Namens und seiner Mündelschaft recht gut mit einem andern, aber immatrikulierten Leipziger Notarius führen – es fehlte ihm nichts als das Werkzeug oder die Waffe des Streites, die zugleich der Gegenstand desselben war, kurz das Geld. – In den zehn Tagen, innerhalb welcher die Appellation wie ein Fötus reifen muß, ging er kränklich und sinnend umher: jeder dieser Dezimaltage [326] übte an ihm eine von den zehn Verfolgungen der ersten Christen aus und dezimierte seine frohen Stunden. Von seinem Leibgeber in Baireuth Geld zu begehren, war die Zeit zu kurz, und der Weg zu lang, da Leibgeber, nach seinem Schweigen zu schließen, vielleicht mit dem Springstab und Stegeisen seiner Silhouettenschere über mehrere Berge weggesprungen war. – Firmian tat auf alles Verzicht und ging zum alten Freund Stiefel, um sich zu trösten und alles zu erzählen: dieser ergrimmte über den sumpfigen, bodenlosen Weg Rechtens und drang dem Advokaten eine Stelze darin auf, nämlich die Gelder zum Appellieren. Ach, es war dem unbefriedigten, schmachtenden Rate so viel, als fassete er Lenettens geliebte, ziehende Hand, und sein redliches, an lauter eiskalten Tagen angerinnendes Blut fing wieder aufgetauet zu laufen an. Es war keine Täuschung des Ehrgefühls, daß Firmian, der lieber hungerte als borgte, gleichwohl von ihm jeden Taler als ein Steinchen annahm, um es in den morastigen Weg Rechtens zu pflastern und so unbesudelt darüber zu kommen. Aber die Hauptsache war sein Gedanke, er sterbe bald, und dann bleibe doch seiner hülflosen Witwe der Genuß der kleinen Erbschaft nach.

Er appellierte an die erste Appellationkammer und bestellte sich in Leipzig bei einer andern Notariats-Schmiedeesse ein neues Instrument, beim Zeugen-Beichtiger Lobstein.

Diese neuen, vom Glück erhaltenen Realterritionen und Nägelmale auf der einen, und diese Güte und diese Renten des Rates auf der andern Seite häuften neuen Sauerstoff in Lenetten an; aber der Essig ihres Unwillens wurde, wie anderer, durch ein Frostwetter verdichtet, davon ich sogleich die Wetterbeobachtungen mitteilen kann.

Lenette war nämlich seit dem Zanke mit Stiefeln den ganzen Tag stumm; bloß bei Fremden genas sie von ihrer Zungenlähmung. Es muß geschickt physisch erkläret werden, warum eine Frau oft nicht sprechen kann, außer mit Fremden; und man muß die entgegengesetzte Ursache von der entgegengesetzten Erscheinung aufspüren, daß eine Somnambüle nur mit dem Magnetiseur und seinen Bundgenossen redet. Auf St. Hilda husten alle [327] Menschen, wenn ein fremder aussteigt; Husten ist aber, wenn nicht Sprechen selber, doch das vorhergehende Schnarren des Räderwerks in der Sprachmaschine. Diese periodische Stummheit, die vielleicht, wie oft die immerwährende, von der Zurücktreibung der Hautausschläge herkommt, ist den Ärzten etwas Altes: Wepfer 100 erzählt von einer schlagflüssigen Frau, daß sie nichts mehr sagen konnte als das Vaterunser und den Glauben; und in den Ehen sind Stummheiten häufig, worin die Frau nichts zum Manne sagen kann als das Allernötigste. Ein Wittenberger Fieberkranker 101 konnte den ganzen Tag nicht sprechen, außer von 12 bis 1 Uhr, und so findet man genug arme weibliche Stumme, die des Tags nur eine Viertelstunde oder nur abends ein Wort hervorzubringen imstande sind und sich übrigens mit dem Stummenglöckchen behelfen, wozu sie Schlüssel, Teller und Türen nehmen. –

Diese Stummheit verhärtete endlich den armen Advokaten so sehr, daß er sie auch bekam. Er ahmte die Frau, wie ein Vater die Kinder, nach, um sie zu bessern. Sein satirischer Humor sah oft der satirischen Bosheit ähnlich; aber er hatte ihn nur, um sich gelassen und kalt zu erhalten. Wenn Kammerzofen ihn unter seiner schriftstellerischen Siederei und Brauerei gänzlich dadurch störten, daß sie mit Beihülfe Lenettens seine Stube zu einer Heroldkanzlei und Rednerbühne erhoben: so zog er wenigstens seine Frau vom Rednerstuhl herab, indem er – das hatt' er vorher mit ihr ausgemacht- dreimal mit dem vergoldeten Vogelzepter auf sein Schreibpult schlug – so nimmt ein Zepter leicht der Schwester Rednerin die Preßfreiheit. – Ja er war imstande, wenn er oft vor diesen aufgezognen redenden Cicerosköpfen saß, ohne einen Gedanken oder eine Zeile herauszubringen, und wenn er weniger seinen eignen Schaden als den andern so unzählig vieler Menschen vom höchsten Verstand und Stand beherzigte, die durch diese Sprechkundigen um tausend Ideen kamen, er war dann imstande, sag' ich, einen entsetzlichen Schlag mit dem Zepter, mit dem Lineal auf den Tisch zu tun, wie man auf einen Teich appliziert [328] um das Quaken der Frösche zu stillen. Besonders kränkte ihn der Raub am meisten, der an der Nachwelt begangen wurde, wenn durch solches verfliegendes Geschwätz sein Buch geringhaltiger auf sie gelangte. Es ist schön, daß alle Schriftsteller, sogar die, welche die Unsterblichkeit ihrer Seele leugnen, doch die ihres Namens selten anzufechten wagen; und wie Cicero versicherte, er würde ein zweites Leben glauben, sogar wenn es keines gäbe: so wollen sie im Glauben an das zweite ewige Leben ihres Namens bleiben, täten auch die Rezensenten das Gegenteil entschieden dar.

Siebenkäs macht' es jetzo seiner Frau bekannt, daß er nichts mehr sprechen werde, nicht einmal vom Notwendigsten: und das bloß deshalb, um nicht durch lange zornige Reden über Reden, Waschen etc. sich im Schreiben zu stören und zu erkalten oder gegen sie sich zu erhitzen. Dieselbe gleichgültige Sache kann in zehn verschiedenen Tönen und Mißtönen gesagt werden; um also der Frau die Unwissenheit und Neugierde des Tons, womit etwas gesagt werden konnte, zu lassen, sagt' er ihr, er werde nun nicht anders mit ihr sprechen als schriftlich.

Ich bin schon hier mit der besten Erörterung bei der Hand.

Der ernstschwere, bedachtsame Buchbinder ärgerte sich nämlich das ganze Kirchenjahr über niemand so sehr als über seinen Schliffel, wie er sich ausdrückte, über seinen luftigen Sohn, der die besten Bücher besser las als band, der sie schief und schmal beschnitt, und der dadurch, daß er die Buchbinderpresse zu einer Buchdruckerpresse einschraubte, das nasse Werk zugleich verdoppelte und verdünnte. Dies konnte nun der Vater nicht ansehen: er erboste sich so, daß er zu dem Teufels-Reichs-Kinde kein Wort mehr sagen wollte. Seine Prachtgesetze und güldnen Regeln, die er dem Sohne über Einbände zuzufertigen hatte, diese gab er seiner Frau als Reichspostreiterin mit, die (mit der Nadel als Botenspieß) aus der fernsten Ecke aufstand und die Befehle dem Sohne, der nicht weit vom Vater planierte, überbrachte. Dem Sohn, der seine Antworten und Fragen wieder der Eilbotenfrau miteinhändigte, war ganz wohl bei der Sache zu Mute: der Vater konnte weniger keifen. Dieser bekam es weg [329] und wollte nichts mehr mündlich verhandeln. Er suchte zwar seine Empfindung gegen den Sohn durch Mienenspiele auszudrücken und beschoß, wie ein Verliebter, diesen, der ihm gegenüber saß, mit warmen Blicken; aber ein Auge voll Blicke ist, ob wir gleich nicht bloß Gaumen-, Zahn- und Zungen-, sondern auch Augenbuchstaben haben, immer ein verwirrter Schriftkasten voll Perlschrift. Allein da zum Glücke die Schrift- und Posterfindung einem Menschen, der auf einer nördlichen Eisscholle den Nordpol umfährt, Mittel an die Hand gibt, mit einem, der auf einem Palmbaum unter Papageien in der heißen Zone sitzt, zu kommunizieren: so fanden hier Vater und Sohn, wenn sie, voneinander getrennt, sich am Arbeittisch gegenüber saßen, in der Erfindung des Schreib- und Postwesens Mittel, sich ihre Entfernung durch einen Briefwechsel, worein sie sich miteinander über den Tisch weg einließen, zu versüßen und zu erleichtern; die wichtigsten Geschäftbriefe wurden unversiegelt, aber sicher – da zwei Finger bei dieser Pennypost das Felleisen und Postschiff waren – hin- und hergeschoben: der Brief- und Kurierwechsel ging auf so glatten Wegen und bei so guter poste aux ânes zwischen beiden stummen Mächten häufig und ungehindert, und der Vater konnte bei so freier Mitteilung leicht in einer Minute auf die wichtigsten Berichte schon Antwort haben von seinem Korrespondenten; ja sie waren so wenig getrennt, als wohnten sie Haus bei Haus aneinander. Sollte ein Reisender etwan noch vor mir nach Kuhschnappel kommen: so bitt' ich ihn, die zwei Tisch-Ecken, wovon das eine das Intelligenzkontor des andern war, sich abzusägen und die beiden Büros einzustecken und in irgendeiner großen Stadt und Gesellschaft den Neugierigen vorzuzeigen, oder mir in Hof. – –

Siebenkäs tats halb nach. Er schnitt kleine Dekretalbriefe zurecht und voraus für die nötigsten Fälle. Tat Lenette eine unvorhergesehene Frage an ihn, worauf seine Brieftasche noch keine Antwort enthielt, so schrieb er drei Zeilen und langte das Reskript über den Tisch hin. Allerhöchste Handbillets oder Ratsverordnungen, die täglich wiederholt werden mußten, ließ er sich abends durch ein stehendes Requisitorialschreiben zur Ersparung [330] des Briefpapiers wiedergeben, um den andern Tag den schriftlichen Bescheid nicht von neuem zu schreiben: er langte das Abschnitzel bloß hin. Was sagte aber Lenette dazu? –

Ich werde besser antworten, wenn ich vorher nachfolgendes erzähle: ein einzigesmal sprach er in dieser Stummenanstalt, als er aus einer irdenen Schüssel, in der außer eingebranntem Blumenwerk auch poetisches war, Krautsalat speisete. Er hob mit der Gabel den Salat weg, der das kleine Rand-Karmen überdeckte, das hieß: Fried' ernährt, Unfried' verzehrt. Sooft er eine Gabel voll weghob, so konnt' er einen oder etliche Füße dieses didaktischen Gedichtes weiter lesen, und er tats laut. – »Was sagte nun Lenette dazu?« – fragten wir oben; kein Wort, sag' ich, sie ließ durch sein Schweigen und Zürnen sich ihres nicht nehmen, denn er schien ihr zuletzt zur Bosheit sich zu verstocken und da wollte sie auch nicht weit zurückbleiben. – In der Tat ging er täglich weiter und schob ganz neue zerbrochne Gesetztäfelchen über seinen Tisch bis zur Ecke oder trug sie auf ihren. Ich nenne nicht alle, sondern nur einige, z.B. das Kartaunenpapierchen des Inhalts (denn er erfand sich zu Liebe immer neue Überschriften): »Stopfe der langen Näh- Bestie den überlaufenden Mund, die da sieht, daß ich schreibe, oder ich fasse sie bei der Kehle, womit sie mir so zusetzt« – das Amtblättchen: »Wasche mir ein wenig unreines Wasser ab, ich will meine Waschbärpfoten von Dinte rein machen«. – Das Hirtenbriefchen: »Ich wünsche jetzo wohl in einer oder der andern Ruhe den Epiktet über das Ertragen aller Menschen flüchtig durchzugehen; stör mich folglich nicht« – Der Nadelbrief: »Ich sitze eben über einer der schwersten und bittersten Satiren gegen die Weiber 102; führe die schreiende Buchbinderin hinunter zur Friseurin und sprecht da zusammen aufgeweckt« – Marter-Bank-Zettel, auch Marter-Bank-Folium: »Ich habe heute vormittags vieles mögliche ausgehalten und habe mich durchgerungen durch Besen und Flederwische und durch Haubenköpfe [331] und durch Zungenköpfe: könnt' ich nicht so etwa gegen Abend die hier vorliegenden peinlichen Akten ein Stündchen lang ungepeinigt und friedlich zur Einsicht durchlaufen?« – – Es wird mich niemand bereden, daß er diesen Besuchkarten, die er bei ihr abgab, ihr Stechendes und Nadelbriefliches sehr dadurch benahm, daß er zuweilen Schrift in Sprache umsetzte, und wenn andere da waren, mit diesen über Ähnliches mündlich scherzte. So sagte er einmal zum Haarkräusler Merbitzer in Lenettens Gegenwart: »Monsieur Merbitzer, es ist unglaublich, was mein Haushalten jährlich frißt; meine Frau, wie sie da steht allein verzehrt jedes Jahr zehn Zentner Nahrung und – (als sie und der Friseur die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen) ich desfalls.« Freilich wies er Merbitzern in Schlözern gedruckt auf, daß jeder Mensch jährlich so viel Nahrung verbrauche; aber wer hielt es in der Stube für möglich?

Grollen oder Schmollen ist eine geistige Starrsucht, worin, wie in der körperlichen, jedes Glied in der steifen Haltung verharrt, wo es der Anfall ergriff, und die geistige hat auch dies mit der leiblichen gemein, daß sie öfter Weiber als Männer befällt 103. Nach allem diesem konnte Siebenkäs gerade durch den scheinbar-boshaften Scherz, womit er sich selber bloß gelaßner erhalten wollte, nur das Erstarren der Gattin verdoppeln; und doch wäre manches hingegangen, hätte sie nur in jeder Woche einmal den Pelzstiefel gesehen, und hätten nicht die Nahrungsorgen, die alles Zinngeschirr der Vogelstange aufzehrten und einschmelzten, in ihrem unglücklichen Herzen gleichsam den letzten frohen warmen Bluttropfen zersetzt und aufgetrocknet! – Die Leidtragende! Aber so gabs keine Hülfe für sie – und für den, den sie verkannte! –


Armut ist die einzige Last, die schwerer wird, je mehre Geliebte daran tragen. Firmian, wenn er allein gewesen wäre, hätte auf diese Lücken und Löcher unserer Lebenstraße kaum hingesehen, da das Schicksal schon alle 30 Schritte ein Häufchen Steine zum Ausfüllen der Löcher hingestellt. Und in dem größten[332] Sturm stand ihm immer außer der herrlichsten Philosophie noch ein Seehafen oder eine Täucherglocke offen, seine – Dutzenduhr, nämlich deren Kaufschilling. Aber die Frau – und ihre Trauermusiken und Kyrie Eleison – und 1000 andere Dinge und Leibgebers unbegreifliches Verstummen – und sein wachsendes Erkranken, alles das machte aus seiner Lebenluft durch so viele Verunreinigungen einen schwülen entnervenden Schirokkowind, der im Menschen einen trocknen, heißen, kranken Durst entzündet, gegen den er oft das, was der Soldat gegen den physischen zum Löschen und Kühlen in den Mund legt, in die Brust nimmt, kaltes Blei und Schießpulver. – –

Am 11ten Februar suchte sich Firmian zu helfen.

Am 11ten Februar, am Euphrosynenstag, 1767 war Lenette geboren.

Sie hatt' es ihm oft, und ihren Nähkunden noch öfter gesagt; aber es wär' ihm doch entfallen ohne den Generalsuperintendenten Ziehen, der ein Buch drucken ließ und ihn darin an den eilften erinnerte. Der Superintendent hatte nämlich vorausgesagt, daß an diesem 11ten Hornung 1786 ein Stück vom südlichen Deutschland sich durch das Erdbeben wie Lagerkorn in die Unterwelt senken werde. Mithin würden am herabgelassenen Sargseil oder an der herabgelassenen Fallbrücke des sinkenden Bodens die Kuhschnappler in ganzen Körperschaften in die Hölle gefahren sein, in der sie vorher als einzelne Abgesandte ankamen; es wurde aber aus allem nichts.

Am Tage vor dem Erdbeben und vor Lenettens Geburt ging Firmian nachmittags auf die Hebemaschine und das Schwungbrett seiner Seele, auf die alte Anhöhe, wo sein Heinrich ihn verlassen hatte. Sein Freund und seine Frau standen in bewölkten Bildern um seine Seele, er dachte daran, daß von Heinrichs Abschied bis jetzt ebenso viele Hauptspaltungen in seiner Ehe vorgefallen waren, als deren Moreri in der Kirche von den Aposteln bis zu Luthern aufzählt, nämlich 124. Harmlose, stille, frohe Arbeiter bahnten dem Frühling den Weg. Er war vor Gärten vorbeigegangen, deren Bäume man vom Moos und Herbstlaube entledigte, vor Bienen- und Weinstöcken, die man versetzte und[333] ausreinigte, und vor den Abschnitzeln der Weiden. Die Sonne glänzte warm über die knospenvolle Gegend. Plötzlich war ihm und Menschen von Phantasie begegnet es oft, und sie werden daher leichter schwärmerisch – als wohne sein Leben, statt in einem festen Herzen, in einer warmen, weichen Zähre, und sein beschwerter Geist dränge sich schwellend durch eine Kerker-Fuge hinaus und zerlaufe zu einem Tone, zu einer blauen Ätherwelle: »Ich will ihr an ihrem Geburttage vergeben (rief sein ganzes zergangenes Ich) – ich habe ihr wohl bisher zuviel getan.« Er beschloß, den Schulrat wieder ins Haus zu führen und den grillierten Kattun vorher und ihr mit beiden und mit einem neuen Nähkissen ein Geburttagangebinde zu machen. Er fassete seine Uhrkette an, und an ihr zog er das Mittel, den Elias- und Fausts-Mantel heraus, der ihn über alle Übel tragen konnte, nämlich wenn er den Mantel verkaufte. Er ging voll lauter Sonnenlicht in allen Ecken des Herzens nach Hause und gab der Uhr einen künstlichen Stillestand und sagte zu Lenetten, sie müsse zum Uhrmacher zur Reparatur. Sie war in der Tat bisher wie die obern Planeten am Anfange ihres Uhr-Tages rechtläufig, dann stehend, dann rückläufig gewesen. Er verdeckte ihr damit seine Projekte. Er trug sie selber auf einen Handelplatz, schlug sie los – so gewiß er wußte, er könne ohne ihr Pickern auf seinem Schreibtische nicht recht schreiben; wie nach Locke ein Edelmann nur in einem Zimmer tanzen konnte, worin ein alter Kasten stand –; und abends wurde das ausgelösete grillierte Bluthemd und Säetuch des Unkrauts ungesehen ins Haus geschafft. Firmian ging noch abends zum Schulrat und verkündigte ihm mit der neuen Wärme seines beredten Herzens alles, seinen Entschluß – den Geburttag – die Wiederkehr des Kattuns – die Bitte um einen Besuch – ein nahes Sterben und seine Ergebung in alles. Dem kranken Rat, den Abwesenheit oder Liebe, wie der Kalk die Schattenpartien der Freskobilder, bleicher genaget hatte, diesem wurde warmer Lebens-Odem eingehaucht, daß morgen wieder die lang entbehrte Stimme (Lenette hörte doch seine in der Kirche) den ganzen Saitenbezug seines Ich bewegen sollte.

Ich muß hier eine Verteidigung und eine Anklage einschichten. [334] Jene geht meinen Helden an, der seinen Adelbrief der Ehre fast durch die Bitte an Stiefeln zu zerknüllen scheint; aber er will damit seiner gekränkten Gattin einen großen Gefallen tun, und sich einen kleinen. Es hälts nämlich der stärkste, wildeste Mann gegen das ewige weibliche Zürnen und Untergraben in die Länge nicht aus; um nur Ruhe und Frieden zu haben, lässet ein solcher, der vor der Ehe tausend Schwüre tat, er wollte darin seinen Willen durchsetzen, am Ende gern der Herrin ihren. Das übrige in Firmians Betragen brauch' ich nicht zu verteidigen, weils nicht möglich ist, sondern nur nötig. – Die Anklage, die ich verhieß, betrifft meine Mitarbeiter: darum nämlich, daß sie in ihren Romanen so weit von dieser Lebensbeschreibung oder von der Natur abweichen und die Trennungen und Vereinigungen der Menschen in so kurzen Zeiten möglich und wirklich machen, daß man mit einer Tertienuhr dabeistehen und es nachzählen kann. Aber ein Mensch reißet nicht auf einmal von einem teuern Menschen ab, sondern die Risse wechseln mit kleinen Bast- und Blumenankettungen, bis sich der lange Tausch zwischen Suchen und Fliehen mit gänzlicher Entfernung schließet, und erst so werden wir arme Menschen – am ärmsten. Mit dem Vereinen der Seelen ists im ganzen ebenso. Wo auch zuweilen gleichsam ein unsichtbarer, unendlicher Arm uns plötzlich einem neuen Herzen entgegendrückt: da hatten wir doch dieses Herz schon lange unter den Heiligenbildern unserer Sehnsucht vertraulich gekannt und das Bild oft verhangen, und oft aufgedeckt und angebetet. Unserem Firmian wurd' es später abends wieder im einsamen Sorgestuhl unmöglich, mit aller seiner Liebe bis auf morgen zu warten: die Einsperrung selber machte sie immer wärmer, und als ihn seine alte Besorgnis, er sterbe noch vor der Tag- und Nachtgleiche am Schlage, befiel, erschrak er ungewöhnlich – nicht über den Tod, sondern über Lenettens Verlegenheit, wie sie für diese letzte Probe des Menschen, für die Ankerprobe 104, die Stolgebühren erschwinge. Er hatte gerade Geld im Überfluß unter den Fingern; er sprang auf und lief noch nachts zum Vorstehen [335] der Leichenlotterie, damit doch seine Frau bei seinem Tod 50 fl. erbte als Eingebrachtes, um damit seinen körperlichen Senkreiser hübsch mit Erde zu überlegen. Es ist mir nicht bewußt, wieviel er zahlte; ich bin aber dieser Verlegenheit schon ge wohnt, die ein Romanschreiber, der jede beliebige Summe erdichten kann, gar nicht kennt, die aber einen wahrhaften Lebenbeschreiber ungemein belastet und aufhält, weil ein solcher Mann nichts hinschreiben darf, als was er mit Instrumenten und Briefgewölben befestigen kann.

Morgens am 11. Febr. oder am Sonnabend trat Firmian weich in die Stube, weil uns jede Erkrankung und Entkräftung, z.B. durch Blutverlust und Schmerzen, erweicht, und noch weicher, weil er einem sanften Tag' entgegenging. Man liebt viel stärker, wenn man eine Freude zu machen vorhat, als eine Stunde darauf, wenn man sie gemacht hat. Es war an diesem Morgen so windig, als hielten die Stürme ein Ringrennen und Ritterturnier, oder als verschickte der Äolus seine Winde aus Windbüchsen: viele dachten daher, entweder das Erdbeben hebe schon an, oder einer und der andere habe sich aus Furcht davor erhenkt. – Firmian traf in Lenettens Angesicht zwei Augen an, aus denen schon in dieser Frühe der warme Blutregen der Tränen auf den ersten Tag gefallen war. Sie hatte seine Liebe und seine Entschlüsse nicht im geringsten erraten, sie hatte gar nicht daran gedacht, sondern nur an folgendes: »Ach! seit meine Eltern verwesen, fraget niemand mehr nach dem Tage meiner Geburt.« Ihm schien es, als habe sie etwas im Sinne. Sie blickte ihm einigemal ausforschend ins Auge und schien etwas vorzuhaben; er verschob also die Ergießung seiner vollen Brust und die Entschleierung der kleinen Doppelgabe. Endlich trat sie langsam und errötend zu ihm und suchte verwirrt seine Hand in ihre zu bringen und sagte mit niedergeschlagnen Augen, in denen noch keine ganze Träne war: »Wir wollen uns heute versöhnen. Wenn du mir etwas zu Leide getan hast, so will ich dir von Herzen vergeben, und tu mir auch dergleichen.« Diese Anrede zerriß sein warmes Herz, und er konnte anfangs nur stocken und sie an den beklommenen Busen reißen und spät endlich sagen: »Vergib du nur – ach ich liebe dich doch [336] mehr als du mich!« Und hier quollen, von tausend Erinnerungen der vorigen Tage gepresset, schwere heiße Tropfen aus dem vollen tiefen Herzen, wie tiefe Ströme träger ziehen. Verwundert blickte sie ihn an und sagte: »Wir söhnen uns also heute aus und mein Geburttag ist heute auch, aber ich habe einen sehr betrübten Geburttag.« Jetzo erst hörte seine Vergessenheit des Angebindes auf, das er bringen wollte – er lief weg und brachte es, nämlich das Nähkissen, den Kattun und die Nachricht, daß Stiefel abends komme. Nun erst fing sie an zu weinen und fragte: »Ach, das hast du schon gestern getan? und meinen Geburttag gewußt? – Recht von ganzem Herzen dank' ich dir, besonders für das schöne – Nähkissen. Ich dachte nicht, daß du an meinen schlechten Geburttag denken würdest.« – Seine männlich-schöne Seele, die nicht, wie eine weibliche, ihren Enthusiasmus bewacht, sagt' ihr alles heraus und seinen Eintritt in die Leichenlotterie, den er gestern getan, damit sie ihn wohlfeiler unter die Erde brächte. Ihre Rührung wurde so groß und sichtbar wie seine. »Nein, nein«, sagte sie endlich, »Gott wird dich behüten – aber den heutigen Tag, wenn wir den nur überleben. Was sagt denn der Hr. Rat zum Erdbeben?« – »Das lasse gut sein – daß keines kommt, sagt' er«, sagte Firmian.

Er ließ sie ungern los vom erwärmten Herzen. Solang er nicht im Freien ging – denn Schreiben war ihm unmöglich –, schauete er ihr unaufhörlich ins helle Angesicht, aus dem sich alle Wolken verzogen. Er brauchte einen alten Kunstgriff gegen sich – den ich ihm abgelernt –, daß er, um einem guten Menschen recht sehr gut zu sein und alles zu vergeben, ihm lange ins Angesicht schauete. Denn auf einem Menschenangesicht finden wir, ich und er, wenn es alt ist, das Griffund Zählbrett harter Schmerzen, die so rauh darüber gingen; und wenn es jung ist, so kommt es uns als ein blühendes Beet am Abhange eines Vulkanes vor, dessen nächste Erschütterungen das Beet zerreißen. – Ach, entweder die Zukunft oder die Vergangenheit stehen in jedem Gesicht und machen uns, wenn nicht wehmütig, doch sanftmütig.

Firmian hätte gern den ganzen Tag – zumal eh' der Abend kam – seine wiedergefundne Lenette am Herzen, und seine frohen [337] Tränen im Auge behalten; aber bei ihr waren Geschäfte Pausen, und die Tränendrüsen samt dem Herzen Hungerquellen. Übrigens hatte sie nicht einmal den Mut, ihn über die metallische Quelle dieses goldführenden Baches zu fragen, auf dessen sanfter Wiege sie heute schwankte. Aber der Mann entdeckte ihr gern das Geheimnis der verkauften Uhr. – – Heute war die Ehe, was die Vor-Ehe ist, ein Cembal d'Amour, das zwei Sangböden umgeben, die statt der Saiten deren Wohllaut verdoppeln. Der ganze Tag war als ein Ausschnitt aus dem klaren Mond gehoben, den kein Dunstkreis überschleiert; oder aus der zweiten Welt, worein sogar aus jenem die Mondeinwohner ziehen. Lenette wurde durch ihre Morgenwärme einem sogenannten bemoosten Veilchensteinchen gleich, das die Düfte eines verkleinerten Blumenbeets austeilt, wenn man es nur wärmer reibt.

Abends erschien endlich der Rat, verlegen-zitternd, ein wenig stolz-aussehend, aber unvermögend, als er Lenetten gratulieren wollte, es zu tun vor Tränen, die ebensosehr in seiner Kehle als in seinen Augen standen. Seine Verwirrung verbarg die fremde. Endlich verging der undurchsichtige Nebel zwischen ihnen, und sie konnten sich sehen. Dann wurde man recht froh: Firmian nötigte sich die Zufriedenheit ab, und den beiden andern flog sie frei in die Brust.

Über drei besänftigte, getröstete Herzen zogen die gefüllten Gewitterwolken nicht mehr so tief wie sonst – der weichende drohende Komet der Zukunft hatte sein Schwert verloren und floh schon heller und weißer ins Blaue hinaus, vor lichtern Sternbildern vorbei. – Abends schickte noch Leibgeber einen kurzen Brief, dessen beglückende Zeilen den Abend unsers Lieblings und das nächste Kapitel schmücken. –

Und so wurden an den Gehirnkammern des dreifachen Bundes – wie noch eben jetzt an des Lesern seinen – die eiligen, laufenden, zitternden Blumenstücke der Phantasie zu wachsenden, regen Freudenblumen, wie der Fieberkranke die wankenden Bett-Blumen seines Vorhangs für beseelte Gestalten nimmt. Wahrlich, die Winternacht wollte, gleich einer Sommernacht, kaum erlöschen und erkalten an ihrem Horizont, und als sie um 12 Uhr [338] voneinander schieden, sagten sie: »Wir waren doch alle recht herzlich vergnügt.«

Elftes Kapitel

Leibgebers Schreiben über den Ruhm – Firmians Abendblatt


Ich habe den Leser im vorigen Kapitel aus wahrer Liebe betrogen: gleichwohl muß man ihn noch so lange im Betruge sitzen lassen, bis er folgendes Briefchen von Leibgeber durchgelesen:


Vaduz, d. 2. Febr. 1786


Mein Firmian Stanislaus!


Im Mai bin ich in Baireuth; und Du mußt auch dahin. Weiter hab' ich Dir jetzo nichts Wichtiges zu schreiben; aber das ist ja wichtig genug, daß ich Dir am 1ten Tag des Wonnemonats in Baireuth anzulangen anbefehle, weil ich etwas ungemein Tolles und Erhebliches und Unerhörtes mit dir vorhabe, so wahr Gott lebt. Meine Freude und Dein Glück hängt an Deiner Reise; ich würde Dir das Geheimnis schon in diesem Briefe offenbaren, wenn er aus meiner Hand in keine ginge als sogleich in Deine. Komm! – Du könntest ja mit einem gewissen Kuhschnappler Rosa reisen, der aus Baireuth seine Braut holen will. Sollte aber der Kuhschnappler, was Gott verhüte, jener Meyern sein, wovon Du mir geschrieben, und käme dieser Goldfisch angeschwommen, um seiner schönen Braut mit seinen dürren, dünnen Armen mehr Kälte zu geben als Wärme, wie man in Spanien ähnliche ordentliche Schlangen um die Bouteillen zum Kühlen legt, so will ich ihr, wenn ich nach Baireuth komme, die besten Begriffe von ihm beibringen und darauf beharren, daß er zehntausendmal besser sei als der Häresiarch Bellarmin, der in seinem Leben viel öfter, nämlich 2236mal die Ehe gebrochen. Du weißt, daß dieser Vorfechter der Katholiken mit 1624 Weibern einen verbotnen Umgang gepflogen; er wollte als Kardinal zugleich die Möglichkeit des katholischen Zölibats und die Möglichkeit der päpstlichen Beschreibung einer Hure zeigen, welche die Glossa zu einer Regimentinhaberin [339] von 23000 Mann erhebt. – Ich wünsche herzlich, den Heimlicher von Blaise zu sehen; ich würde ihm, wenn er mir näher stände, von Zeit zu Zeit, weil ihm immer etwas im Schlunde steckt, das er schwer hinunterbringen kann – und wär's eine Erbschaft oder fremdes Haus und Hof-, ich würd' ihm, wie man zur Heilung pflegt, starke Schläge in den hohlen Rücken geben und den Ausgang erwarten, den des Bissens nämlich. – Ich bin seither überall herumgehinkt mit meiner Silhouettenschere und ruhe nun in Vaduz bei einem studierenden bibliothekarischen Grafen aus, der wirklich verdiente, daß ich ihn zehn mal mehr lieb hätte; ich habe aber an Dir schon mehr als zuviel fürs Herz, und ich finde überhaupt die Menschen und den Kräuterkäs der Erde, in den sie sich einbeißen, täglich mürber und fauler. Ich muß Dir sagen: hole der Teufel den Ruhm; ich werde nächstens verschwinden und unter die Menge rennen und jede Woche mit einem neuen Namen aufsteigen, damit mich nur die Narren nicht kennen. – – Oh! Es waren einmal einige Jahre, wo ich wünschte etwas zu werden, wenn nicht ein großer Autor, doch wenigstens ein neunter Kurfürst, und wenn nicht belorbeert, doch infuliert, wenn nicht zuweilen Prorektor, doch häufig Dekan. Damals würd' es mich geletzet haben, wenn ich die größten Steinschmerzen und also verhältnismäßige Blasensteine hätte überkommen können, damit ich aus der Blase Steine zu einem Altar oder Tempel meines Ruhms hätte edieren mögen, der noch höher als die Pyramide gewesen wäre, die Ruysch in den Naturalienkabinettern aus den 42 Blasensteinen einer ehrlichen Frau zusammenbrachte 105. Siebenkäs, ich hätte mir aus Wespen, wie Wildau aus Bienen, einen stachlichten Philosophenbart geknüpft, um nur dadurch bekannt zu werden. »Ich lasse zu (sagt' ich damals), es ist nicht jedem Erdensohn beschert, und er soll es nicht fodern, daß ihn eine Stadt tot schlagen will, wie den hl. Romuald (wie Bembo in dessen Leben berichtet), um nur seinen hl. Leib als Reliquie wegzuschnappen; aber er kann doch, dünkt[340] mich, ohne Unbescheidenheit sich wünschen, daß, wenn nicht seinem Pelzrocke, wie Voltairens seinem in Paris geschah, doch seinem Scheitel einige Haare zum Andenken von Leuten ausgezogen werden, die ihn zu schätzen wissen, ich meine vorzüglich die Rezensenten.«

Anders dacht' ich damals nicht; aber jetzo denk' ich gescheuter. Der Ruhm verdient keinen Ruhm. Ich saß einmal in einem naßkalten Abend draußen auf einem Grenzstein und sah mich an und sagte: was kann denn im Grunde aus dir werden? – Stehen dir Wege offen, gleich dem sel. Cornelius Agrippa 106, Kriegsekretär des Kaisers Maximilian und Historiograph des Kaiser Karls V. zu werden? Kannst du dich zu einem Syndikus und Advokaten der Stadt Metz, zu einem Leibmedikus der Herzogin von Anjou und zu einem theologischen Professor zu Pavia aufschwingen? Bemerkst du, daß der Kardinal von Lothringen so gern bei deinem Sohne Gevatter stehen will, als ers beim Sohne des Agrippa wollte? – Und wär' es nicht lächerlich, wenn du aussprengtest und prahltest, daß ein Markgraf in Italien, der König von England, der Kanzler Merkurius Gatinaria und Margarita (eine Prinzessin aus Oesterreich) dich sämtlich in dem nämlichen Jahre haben in ihre Dienste ziehen wollen? wär's nicht lächerlich und erlogen, nicht einmal der Schwierigkeit der ganzen Sache zu gedenken, da diese Leute alle schon viele Jahre vorher zu Niklasruh und Schlafpulver des Todes zersprangen, ehe du als Zünd- und Knallpulver des Lebens auffuhrst? – In welchem bekannten Werke, ich bitte dich, nennt Paul Jovius dich ein portentosum ingenium, oder welcher andere Autor zählt dich unter clarissima sui seculi lumina? – Würden es nicht Schröckh und Schmidt in ihren Reformationgeschichten im Vorbeigehen angezeigt haben, wenns wahr wäre, daß du bei vier Kardinälen und fünf Bischöfen und beim Erasmus, Melanchthon und Capellanus in außerordentlichem Kredit ständest? – – Gesetzt aber auch, ich läge wirklich mit dem Cornelius Agrippa unter derselben großen [341] Laube und Staude von Lorbeerkränzen: so ging' es bloß einem wie dem andern, wir faulten dunkel unter dem Buschwerke fort, ohne daß in Jahrhunderten einer käme und das Gestrippe aufzöge und nach uns beiden sähe.

Es hülfe mir noch weniger, wenn ichs gescheuter machen und mich in einem Anhange der Allgem. deutschen Bibliothek wollte preisen lassen; denn ich stände jahrelang mit meinem Lorbeerreis auf dem Hut drinnen, in diesem kühlen Taschen-Pantheon, in meiner Nische, mitten unter den größten Gelehrten, die um mich auf ihren Paradebetten herumlägen oder – säßen, jahrelang, sag' ich, ständen wir Bekränzte allein in unserem Tempel des Ruhms beisammen, eh' ein Mensch die Kirchtüre aufmachte und nach uns sähe oder hineinginge und vor mir kniete – und unser Triumphwagen wäre bloß von Zeit zu Zeit ein Karren, worauf der besetzte Tempel mit seiner Fülle in eine Versteigerung geschoben wird.

Dennoch würd' ich mich vielleicht darüber wegsetzen und mich unsterblich machen, könnt' ich nur halb und halb hoffen, daß meine Unsterblichkeit andern Leuten zu Ohren käme als solchen, die noch in der Sterblichkeit halten. Aber kann das aufmuntern, wenn ich sehen muß, daß ich gerade den berühmtesten Leuten, denen jährlich der Lorbeerkranz, wie andern Toten der Rosmarin, im Sarge weiter über das Gesicht hereinwächst, ein inneres unbekanntes Afrika bleibe; vorzüglich einem Ham, Sem, Japhet – dem Absalon und seinem Vater – den beiden Katonen den beiden Antoninen – dem Nebukadnezar – den 70 Dolmetschern und ihren Weibern – den sieben griechischen Weisen sogar bloßen Narren wie Taubmann und Eulenspiegel? – Wenn ein Heinrich IV. und die vier Evangelisten und Bayle, der doch sonst alle Gelehrte kennt, und die hübsche Ninon, die sie noch näher kennt, und der Lastträger Hiob oder doch der Verfasser des Hiobs nicht wissen' daß nur ein Leibgeber je auf der Welt gewesen; wenn ich einer ganzen Vorwelt, d.h. sechs Jahrtausenden voll großer Völker, ein mathematischer Punkt, eine unsichtbare Finsternis, ein miserables Je ne sais quoi bin und bleibe: so seh' ich nicht, wie mir dies die Nachwelt, an der vielleicht nicht viel [342] ist, oder die nächsten sechs Jahrtausende erstatten wollen und können.

Noch dazu kann ich nicht wissen, was es für herrliche himmlische Heerscharen und Erzengel auf andern Weltkugeln und Kügelchen der Milchstraße, dieser Paternosterschnur voll Weltkugeln gibt; Seraphe, gegen die ich in keine Betrachtung komme, ausgenommen als ein Schaf. Wir Seelen schreiten freilich ansehnlich auf der Erde fort und empor – die Austerseele erhebt sich schon zu einer Froschseele – diese steigt in einen Stockfisch – der Stockfischgeist schwingt sich in eine Gans – dann in ein Schaf – dann in einen Esel – ja in einen Affen – endlich (etwas Höhers lässet sich nicht mehr gedenken) in einen Buschhottentotten. Aber ein solcher langer peripatetischer Klimax blähet den Menschen nur so lange auf, als er nicht die folgende Betrachtung macht: wir kundschaften unter den Tieren einer Klasse, worunter es so gut als unter uns Genies, gute offne Köpfe und wahre Einfaltpinsel geben muß, nichts aus als letzte, höchstens Extreme. Keine Tierklasse liegt nahe genug an unserer Sehhaut, daß nicht die feinen Mitteltinten und Abstufungen ihres Werts zusammenfließen müßten. – Und so wird es uns ergehen, wenn ein Geist im Himmel sitzt und uns alle ansieht: wegen seines Abstandes wird er Mühe haben (vergebliche), einen wahren Unterschied zwischen Kant und seinen Rasierspiegeln der Kantianer, zwischen Goethe und seinen Nachahmern zu erkennen, und besagter Geist wird Fakultisten von Dunsen, Profeßhäuser von Irrenhäusern wenig oder gar nicht zu unterscheiden wissen. – Denn kleine Stufen laufen vor einem, der auf den höhern steht, völlig ein.

Das benimmt aber einem Denker Lust und Mut; und ich will verdammt sein, Siebenkäs, wenn ich bei solcher Lage der Sachen mich jemals hinsetze und außerordentlich berühmt werde, oder mir die Mühe gebe und das scharfsinnigste Lehrgebäude aufmauere oder einreiße, oder etwas Längers schreibe als einen Brief.

Dein, nicht mein

Ich L.


N. S. Ich wollte, Gott fristete mir nach diesem Leben das zweite, [343] und ich könnte in der andern Welt mich an Realien machen; denn diese ist wahrlich zu hohl und zu matt, ein miserabler Nürnberger Tand – nur der fallende Schaum eines Lebens – ein Sprung durch den Reif der Ewigkeit – ein mürber stäubender Sodomsapfel, den ich gar nicht aus dem Maule bringen kann, ich mag sprudeln, wie ich will. O! –


*


Solchen Lesern, denen dieser Scherz nicht ernsthaft genug ist, will ich irgendwo dartun, daß er es zu sehr ist, und daß nur eine beklommene Brust so lachen, daß nur ein zu fieberhaftes Auge, um welches dieFeuerwerke des Lebens wie fliegende Spiel-Funken schweifen, die dem schwarzen Star vorflattern, solche Fieberbilder sehen und zeichnen könne. –

Firmian verstand alles, zumal jetzt... Ich muß aber zum elften Hornung zurück, um dem Leser die sympathetische Freude, die er über des vereinten Kleeblatts seine verspürte, halb zu – nehmen. Lenettens erschütternde Bitte, daß der Gatte ihr vergeben möge, war die Lohbeet-Frucht der Ziehenschen erderschütternden Weissagung; sie glaubte, der Boden und sie gingen unter, und vor dem nahen Tode, der schon mit dem Tigerschweife wedelte, bot sie ihrem Mann die Friedenhand einer Christin. Vor seiner entkörperten schönen Seele vergoß freilich die ihrige Tränen der Liebe und des – Entzückens. Aber sie vermengte vielleicht selber ihre frohen Bewegungen mit ihren liebenden, die Lust mit der Treue, und die Hoffnung, den Schulrat abends wieder in die warmen – Augen zu fassen, drückte sich ohne ihr Wissen durch eine wärmere Liebe zum Manne aus. Es ist sehr notwendig, daß ich hier einen meiner besten Ratschläge keinem Menschen vorenthalte: nämlich den, bei der besten Frau in der Welt immer wohl zu unterscheiden,was sie in der jetzigen Minute haben wolle oder garwen, worunter nicht immer der gehört, der wohl unterscheidet. Es ist im weiblichen Herzen eine solche Flucht aller Gefühle, ein solches Werfen von farbigen Blasen, die alles, zumal das Nächste, abmalen, daß eine gerührte Frau, indes sie für dich eine Träne aus dem linken Auge vergießet, weiter nachdenken [344] und mit dem rechten eine über deinen Vor- oder Nachfahrer verspritzen kann – oder daß eine Zärtlichkeit, die ein Nebenbuhler erregt, über die Hälfte dem Ehevogt zustirbt, und daß eine Frau überhaupt bei der aufrichtigsten Treue mehr über das weinet, was sie überdenket, als was sie vernimmt. –

Nur dumm ists, daß so viele Mannspersonen unter uns es gerade darin sind; denn eine Frau ist, da sie mehr fremde Gefühle beobachtet als eigne, dabei weder die Betrügerin noch die Betrogene, sondern nur der Betrug, der optische und akustische.

Solche durchdachte Betrachtungen machen Firmiane über den elften Hornung – welcher tolle Name nach einigen von den Trink-Hörnern der Alten abstammt, aber nach mehren von Hor oder Kot – nicht eher als am zwölften. Wendeline liebte den Rat: das wars. Sie hatte mit allen verständigen Kuhschnapplerinnen an den Generalsuperintendenten und seinen Erd-Fußstoß geglaubt, bis abends der Pelzstiefel sich frei erklärte, die Meinung sei gottlos; dann fiel sie vom prophetischen Superintendenten ab und dem ungläubigen Weltkind Firmian bei. Wir wissen alle, er hatte so gut männliche Launen, die immer die Konsequenz übertreiben, wie sie weibliche, die in der Inkonsequenz zuviel tun. Es war also töricht, daß er eine durch so viele kleine Gall-Ergießungen erbitterte Freundin durch eine große Herz-Ergießung wiederzugewinnen hoffte. Die größte Wohltat, die höchste männliche Begeisterung reißen keinen mit tausend kleinen Wurzelfasern im Herzen herumkriechenden Groll auf einmal heraus. Die Liebe, um die wir uns durch ein anhaltendes Erkälten brachten, können wir nur durch ein so anhaltendes Erwärmen wieder sammeln.

Kurz nach einigen Tagen zeigt' es sich, daß alles blieb, wie es vor drei Wochen war. Die Liebe Lenettens hatte durch Stiefels Entfernung so zugenommen, daß sie nicht mehr mit ihren Blättern unter der Glasglocke Platz hatte, sondern schon ins Freie wuchs. Die Aqua toffana der Eifersucht lief endlich in alle Adern Firmians herum und quoll ins Herz und fraß es langsam auseinander. Er war nur der Baum, in den Lenette ihren Namen und ihre Liebe gegen einen andern eingezeichnet hatte, und der an den Schnitten verwelkt. Er hatte an Lenettens Wiegenfeste so schön[345] gehofft, der zurückgerufne Schulrat werde die größte Wunde schließen oder bedecken: und gerade er zog sie wider Wissen immer weiter auseinander; aber wie wehe tat dies dem armen Gatten! So wurd' er nun innen und außen ärmer und kränker zugleich und gab die Hoffnung verloren, den 1ten Mai und Baireuth zu sehen. Der Februar, der März und der April zogen mit einem großen tropfenden Gewölke, an dem keine lichte oder blaue Fuge und kein Abendrot war, über sein Haupt.

Am 12ten April verlor er seinen Prozeß zum zweitenmal; und am 13ten, am Grünen Donnerstag, schloß er auf immer sein Abendblatt (wie er sein Tagebuch nannte, weil er abends daran schrieb), um dasselbe und seine Teufels-Papiere – soweit sie fertig waren – statt seines bald verfliegenden Körpers nach Baireuth in Leibgebers treueste Hände zu bringen, welche ja doch lieber, dacht' er, nach seiner Seele – die eben in den Papieren wohnte – greifen würden als nach seinem dürren Leibe, den ja Leibgeber selber in zweiter unabänderlicher Auflage, gleichsam Männchen auf Männchen, an sich trug und mithin jede Minute haben könnte. Die ganze Stelle des Abendblattes, diesen nachher auf die Post geschickten Schwanengesang, nehm' ich ohne Bedenken unverändert hier herein.


»Gestern scheiterte mein Prozeß an der zweiten Instanz oder Untiefe. Der gegnerische Sachwalter und die erste Appellationkammer haben gegen mich ein altes Gesetz, das nicht nur im Baireuthischen, sondern auch in Kuhschnappel gültig ist, vorgekehrt: daß mit einem Notariatzeugenrotul nicht das geringste zu erhärten ist; es muß ein Rotul von Gerichten sein. Die zwei Instanzen machen mir den bergaufgehenden Weg zur dritten leichter: meiner armen Lenette wegen appellier' ich an den Kleinen Rat, und mein guter Stiefel tut die Vorschüsse. Freilich muß man bei den Fragen, die man an die juristischen Orakel tut, die Zeremonie beobachten, womit man sonst andere den heidnischen vorlegte: man muß fasten und sich kasteien. Ich hoffe den Staat-Schalken 107 oder vielmehr den Pürschmeistern mit dem Weidmesser [346] oder Knebelspieß des Themisschwertes schon durch das Jagdzeug der Prozeßordnung und durch die Jagdtücher und Prell- und Spiegelgarne der Akten durchzuwischen, nicht sowohl durch meinen wie ein Fühlfaden dünngezogenen Geldbeutel, den ich etwan wie einen ledernen Zopf durch alle enge Maschen der Justiz-Garnwand zöge; nicht damit sowohl, hoff' ich, als mit meinem Leibe, der sich nahe an den hohen Netzen in Totenstaub verwandeln und dann frei durch und über alle Maschen fliegen wird.

Ich will heute die letzte Hand von diesem Abendblatte, eh' es ein vollständiges Martyrologium wird, abziehen. Ich würde, wenn man das Leben wegschenken könnte, meines jedem Sterbenden geben, der es wollte. Indessen denke man nicht, daß ich darum, weil über mir eine totale Sonnenfinsternis ist, etwan sage, in Amerika ist auch eine – oder daß ich, weil gerade neben meiner Nase Schneeflocken fallen, schon glaube, auf der Goldküste hab' es zugewintert. – Das Leben ist schön und warm; sogar meines wars einmal. Sollt' ich noch eher als die Schneeflocken eintrocknen: so ersuch' ich meine Erbnehmer und jeden Christen, von meiner Auswahl aus des Teufels Papieren nichts drucken zu lassen, als was ich ins reine geschrieben, welches (inclus.) bis zur Satire über die Weiber geht. Auch darf er aus diesem Tagebuche, in dem zuweilen ein satirischer Einfall auffliegen mag, keinen einzigen zum Druck befördern; das verbiet' ich ernstlich.

Will ein Geschichtforscher dieses Tag- oder Nachtbuchs gern wissen, was für schwere Lasten und Nester und Wäsche denn an meine Äste und an meinen Gipfel gehangen worden, daß sie ihn so niederziehen konnten – und ist er noch darum desto neugieriger, weil ich lustige Satiren schrieb – wiewohl ich mit den satirischen Stacheln, wie die Fackeldistel mit ihren, mich nur wie mit einsaugenden Gefäßen nähren wollte –: so sag' ich diesem Geschichtforscher, daß seine Neugierde mehr sucht, als ich weiß, und mehr, als ich sage. Denn der Mensch und der Meerrettig sind zerrieben am beißendsten, und der Satiriker ist aus demselben Grunde trauriger als der Spaßmacher, weswegen der Urang-Utang schwermütiger ist als der Affe, weil er nämlich edler ist. – [347] Gelangt freilich dieses Blatt in deine Hand, mein Heinrich, mein Geliebter, und du willst vom Hagel, der immer höher und größer auf meine Aussaat fiel, etwas hören: so zähle nicht die zerflossenen Hagelkörner, sondern die zerschlagnen Halmen. Ich habe nichts mehr, was mich freuet – als deine Liebe, – und nichts mehr, was aufrecht steht, als eben diese. Da ich dich aus mehr als einer Ursache 108 schwerlich in Baireuth besuchen werde: so wollen wir auf diesem Blatte scheiden wie Geister und uns die Hände aus Luft geben. Ich hasse die Empfindelei, aber das Schicksal hat sie mir fast endlich eingepfropft, und das satirische Glaubersalz, das man sonst mit Nutzen dagegen nimmt – wie Schafe, die von nassen Wiesen Lungenfäule haben, durch Salzlecken aufleben –, nehm' ich aus Vorleglöffeln, so groß wie meiner aus dem Vogelschießen, aber ohne merklichen Vorteil ein. Im ganzen tuts auch wenig; das Schicksal wartet nicht, wie die peinlichen Schöppenstühle, mit der Hinrichtung von uns Inkulpaten auf unsere Genesung. Mein Schwindel und andere Schlagfluß-Vorboten sagen mir zu, daß man mir gegen das Nasenbluten dieses Lebens bald die gutegalenische Aderlaß 109 verordnen werde. Ich will es deswegen nicht gerade haben; mich kann im Gegenteil einer ärgern, der verlangt, das Schicksal soll ihn, wie eine Mutter das Kind da wir in Leiber eingewindelt und die Nerven und Adern die Wickelbänder sind – sofort aufbinden, weil es schreiet und einiges Leibreißen hat. Ich würde noch gern einige Zeit ein Wickelkind unter Strickkindern 110 bleiben, zumal da ich besorgen muß, daß ich in der zweiten Welt von meinem satirischen Humor geringen oder keinen Gebrauch werde machen können; aber ich werde fort müssen. Wenn aber dies geschehen ist: so möcht' ich dich wohl bitten, Heinrich, daß du einmal hieher in den Reichsflecken reisetest und dir das stille Gesicht deines Freundes, der kaum das hippokratische 111 mehr wird machen können, aufdecken ließest. Dann, mein Heinrich, wenn du das fleckige graue Neumondgesicht lange ansiehst und dabei erwägst, daß nicht viel Sonnenschein [348] darauf fiel, nicht der Sonnenschein der Liebe, nicht des Glücks, nicht des Ruhms: so wirst du nicht gen Himmel blicken und zu Gott sagen können: 'und ganz zuletzt, nach allen seinen Bekümmernissen hast du ihn, lieber Gott, gar vernichtet – und hast ihn, als er im Tode die Arme nach dir und deiner Welt ausstreckte, so breit entzwei gedrückt, als er noch hier liegt; der Arme.' Nein, Heinrich, wenn ich sterbe, so mußt du eine Unsterblichkeit glauben.

Ich will jetzo, wenn ich dieses Abendblatt ausgeschrieben, das Licht auslöschen, weil der Vollmond breite, weiße Imperialbogen voll Licht in der Stube aufbreitet. Ich will alsdann – weil kein Mensch mehr im Hause auf ist – mich in der dämmernden Stille hersetzen, und indes ich die weiße Magie des Mondes in der schwarzen der Nacht anschaue, und während ich draußen ganze Flüge von Zugvögeln in der hellen blauen Mondnacht aus wärmern Ländern kommen höre, in deren verwandtes Land ich abreise, da will ich ungestört gleichsam meine Fühlhörner aus dem Schneckengehäuse, eh' es der letzte Frost zuspündet, noch einmal hervorstrecken – Heinrich, ich will mir heute alles deutlich malen, was vergangen ist – den Mai unserer Freundschaft – jeden Abend, wo wir zu sehr gerührt wurden und uns umarmen mußten – meine grauen alten Hoffnungen, die ich kaum mehr weiß fünf alte, aber helle, warme Frühlinge, die mir noch im Kopfe sind – meine verstorbene Mutter, die mir eine Zitrone, von der sie im Sterben dachte, sie werde sie in den Sarg bekommen, in die Hände legte und sagte: ich sollte die Zitrone lieber in meinen Blumenstrauß stecken – und jene künftige Minute meines Sterbens will ich mir denken, in welcher mir dein Bild zum letztenmal auf der Erde vor die gebrochnen Seelen-Augen tritt, und worin ich von dir scheide und mit einem dunkeln innern Schmerz, der keine Tränen mehr in die erkalteten, zerstörten Augen treiben kann, vor deiner beschatteten Gestalt schwindend und verfinstert niederfalle und aus dem dicken Nebel des Todes nur noch dumpf zu dir aufrufe: 'Heinrich, gute Nacht! gute Nacht.' –

Ach, lebe wohl. Ich kann nichts mehr sagen.«


Ende des Abendblattes [349]

Zwölftes Kapitel

Auszug aus Ägypten – der Glanz des Reisens – die Unbekannte – Baireuth – Taufhandlung im Sturm – Natalie und Eremitage – das wichtigste Gespräch in diesem Werk – der Abend der Freundschaft


Als Firmian in der Osterwoche einmal von einer halbstündigen Lustreise voll Gewaltmärsche heimkam, fragte Lenette: warum er nicht eher gekommen – der Briefträger wäre mit einem breiten Buche dagewesen; aber er hätte gesagt, der Mann müsse selber den Empfang des Päckels einschreiben. – In einem kleinen Haushalten gehöret so etwas unter die großen Weltbegebenheiten und Hauptrevolutionen in der Geschichte. Die Minuten des Wartens lagen nun als Ziehgläser und Zugpflaster auf der Seele. Endlich machte der gelbe Postbote dem bittersüßen Hanfklopfen aller Schlagadern ein Ende. Firmian bescheinigte den Empfang von 50 Tlr., während Lenette die Frage an den Boten tat: wer es schicke, und aus welcher Stadt. Der Brief fing so an:


»Mein Siebenkäs! Deine Abendblätter und Teufels-Papiere habe richtig erhalten. Das übrige mündlich!


Nachschrift:


Höre indes! Wenn Du Dir aus dem Walzer meines Lebens und aus meiner Lust und aus meinen Sorgen und Absichten nur das geringste machst – wenn es Dir nicht im höchsten Grade gleichgültig ist, daß ich Dich mit Stations- und Diätengeldern bis nach Baireuth frankiere, eines Planes wegen, dessen Spinnrocken die Spinnmaschinen der Zukunft entweder zuFall– und Galgenstricken meines Lebens oder zuTreppenstricken und Ankerseilen desselben verspinnen müssen – wenn für Dich solche und noch wichtigere Dinge noch einen Reiz besitzen, Firmian: so zieh um des Himmels willen Stiefel an und komm!« –


*


»Bei deiner hl. Freundschaft!« sagte Siebenkäs, »ich ziehe ein Paar an, und sollte schon in Schwaben der Blitz des Schlagflusses [350] aus dem blauen Himmel herabschlagen und mich unter einem Amarellenbaum voll Blüten treffen. Mich hält nichts mehr.« –

Er hielt Wort: denn in sechs Tagen darauf sehen wir ihn nachts um 11 Uhr reisefertig – mit frischer Wäsche am Leibe und in den Taschen – mit einem Hutüberzug auf dem Kopfe, der sich heimlich wieder mit einem alten feinen Hute geladen und gesättigt in neuesten Stiefeln (das vorsündflutige Paar lag, von seinem Posten unterdessen abgelöset, in Garnison) – mit einer vom Pelzstiefel entlehnten Turmuhr in der Tasche – frischgewaschen, rasiert und aufgekämmt – neben seiner Frau und seinem Freunde stehen, die beide heute mit froher, höflicher Aufmerksamkeit niemand anschauen als den Reisefertigen; aber sich nicht. Er nimmt noch in der Nacht von beiden Wachenden Abschied, weil er nur im großen Sorgenstuhl übernachten und, wenn Lenette schnarcht, um 3 Uhr sich hinausmachen will. Dem Schulrat übertrug er das Witwenkassenamt bei der hinterlassenen Strohwitwe und das Theaterdirektorat oder doch die Gastrollen in seinem kleinen Coventgarden voll Gays Bettleropern, wovon ich das Theaterjournal hier für die halbe Erde schreibe. »Lenette«, sagt' er, »wenn du einen Rat brauchst, so wende dich an den Hrn. Rat; er tut mir die Gefälligkeit und kommt öfters.« Der Pelzstiefel gab die heiligsten Versicherungen, er komme täglich. Lenette half nicht, wie sonst, den Pelzstiefel die Treppe hinab begleiten: sondern blieb oben; zog die Hand aus der genährten Geldtasche, deren ausgehungerte Magenwände sich bisher gerieben hatten, und schnappte sie ab. Es ist nicht wichtig genug, wenn ichs anführe, daß Siebenkäs sie bat, das Licht ihn ausschneuzen zu lassen und sich nur niederzulegen, und daß er der reizenden Gestalt mit jener verdoppelten Liebe, womit die Menschen verreisen und ankommen, den langen Abschiedkuß und das gerührte Lebewohl und die gute Nacht beinahe unter der Edentüre der Träume gab.

Die Abdankung des Nachtwächters trieb ihn endlich aus dem Schlafsessel in den gestirnten, wehenden Morgen hinaus. Er schlich aber vorher noch einmal in die Kammer an das heißträumende Rosenmädchen, drückte ein Fenster zu, dessen kalte [351] Zugluft heimlich ihr wehrloses Herz anfiel, und hielt seine nahen Lippen vom weckenden Kusse ab und sah sie bloß so gut an, als es das Sternenlicht und das blasse Morgenrot erlaubten, bis er das zu dunkel werdende Auge beim Gedanken wegwandte: ich sehe sie vielleicht zum letztenmal.

Bei dem Durchgange durch die Stube sah ihn ordentlich ihr Flachsrocken mit seinen breiten farbigen Papierbändern, womit sie ihn aus Mangel an Seidenband zierlich umwickelt hatte, und ihr stilles Spinnrad an, das sie gewöhnlich in dunkler Morgen- und Abendzeit, wo nicht gut zu nähen war, zu treten gepflegt und als er sich vorstellte, wie sie während seiner Abwesenheit ganz einsam das Rädchen und die Flöckchen so eifrig handhaben werde: so riefen alle Wünsche in ihm: es gehe der Armen doch gut, und immer, wenn ich sie auch wieder sehe.

Dieser Gedanke des letzten Mals wurde draußen noch lebhafter durch den kleinen Schwindel, den die Wallungen und der Abbruch des Schlummers ihm in den physischen Kopf setzten; und durch das wehmütige Zurückblicken auf sein weichendes Haus, auf die verdunkelte Stadt und auf die Verwandlung des Vorgrunds in einen Hintergrund und auf das Entfliehen der Spaziergänge und aller Höhen, auf denen er oft sein erstarrtes, in den vorigen Winter eingefrornes Herz warm getragen hatte. Hinter ihm fiel das Blatt, worauf er sich als Blattwickler und Minierraupe herumgekäuet hatte, als Blätterskelett herab.

Aber die erste fremde Erde, die er noch mit keinen Stationen seines Leidens bezeichnet hatte, sog schon, wie Schlangenstein, aus seinem Herzen einige scharfe Gifttropfen des Grams.

Nun schoß die Sonnenflamme immer näher herauf an die entzündeten Morgenwolken – endlich gingen am Himmel und in den Bächen und in den Teichen und in den blühenden Taukelchen hundert Sonnen miteinander auf, und über die Erde schwammen tausend Farben, und aus dem Himmel brach ein einziges lichtes Weiß.

Das Schicksal pflückte aus Firmians Seele, wie Gärtner im Frühling aus Blumen, die meisten alten, gelben, welken Blättchen aus. – Durch das Gehen nahm das Schwindeln mehr ab als zu. [352] In der Seele stieg eine überirdische Sonne mit der zweiten am Himmel. In jedem Tal, in jedem Wäldchen, auf jeder Höhe warf er einige pressende Ringe von der engen Puppe des winterlichen Lebens und Kummers ab und faltete die nassen Ober- und Unterflügel auf und ließ sich von den Mailüften mit vier ausgedehnten Schwingen in den Himmel unter tiefere Tagschmetterlinge und über höhere Blumen wehen.

Aber wie kräftig fing das bewegte Leben an, in ihm zu gären und zu brausen, da er aus der Diamantgrube eines Tales voll Schatten und Tropfen herausstieg, einige Stufen unter dem Himmeltore des Frühlings. – Wie aus dem Meere, und noch naß, hatte ein allmächtiges Erdbeben eine unübersehliche, neugeschaffne, in Blüte stehende Ebene mit jungen Trieben und Kräften heraufgedrängt – das Feuer der Erde loderte unter den Wurzeln des weiten hangenden Gartens, und das Feuer des Himmels flammte herab und brannte den Gipfeln und Blumen die Farben ein – zwischen den Porzellantürmen weißer Berge standen die gefärbten blühenden Höhen als Throngerüste der Fruchtgöttinnen – über das weite Lustlager zogen sich Blütenkelche und schwüle Tropfen als bevölkerte Zelte hinauf und hinab, der Boden war mit wimmelnden Bruttafeln von Gräsern und kleinen Herzen belegt, und ein Herz ums andere riß sich geflügelt oder mit Floßfedern oder mit Fühlfäden aus den heißen Brutzellen der Natur empor und sumste und sog und schnalzte und sang, und für jeden Honigrüssel war schon lange der Freudenkelch aufgetan. – Nur das Schoßkind der unendlichen Mutter, der Mensch, stand allein mit hellen frohen Augen auf dem Marktplatz der lebendigen Sonnenstadt voll Glanz und Lärm und schauete trunken rund herum in alle unzählige Gassen. – Aber seine ewige Mutter ruhte verhüllt in der Unermeßlichkeit, und nur an der Wärme, die an sein Herz ging, fühlte er, daß er an ihrem liege....

Firmian ruhte in einer Bauerhütte von diesem zweistündigen Rausch des Herzens aus. Der brausende Geist dieses Freudenkelchs stieg einem Kranken wie ihm leichter in das Herz, wie andern Kranken in den Kopf.

Als er wieder ins Freie trat, lösete sich der Glanz in Helle auf, [353] die Begeisterung in Heiterkeit. Jeder rote hängende Maikäfer und jedes rote Kirchendach und jeder schillernde Strom, der Funken und Sterne sprühte, warf fröhliche Lichter und hohe Farben in seine Seele. Wenn er in den laut atmenden und schnaubenden Waldungen das Schreien der Köhler und das Widerhallen der Peitschen und das Krachen fallender Bäume vernahm – wenn er dann hinaustrat und die weißen Schlösser anschauete und die weißen Straßen, die wie Sternbilder und Milchstraßen den tiefen Grund aus Grün durchschnitten, und die glänzenden Wolkenflocken im tiefen Blau – und wenn die Funkenblitze bald von Bäumen tropften, bald aus Bächen stäubten, bald über ferne Sägen glitten; – so konnte ja wohl kein dunstiger Winkel seiner Seele, keine umstellte Ecke mehr ohne Sonnenschein und Frühling bleiben, das nur im feuchten Schatten wachsende Moos der nagenden zehrenden Sorge fiel im Freien von seinen Brot- und Freiheitbäumen ab, und seine Seele mußte ja in die tausend um ihn fliegenden und sumsenden Singstimmen einfallen und mitsingen: das Leben ist schön, und die Jugend ist noch schöner, und der Frühling ist am allerschönsten.

Der vorige Winter lag hinter ihm wie der düstere zugefrorne Südpol, und der Reichsmarktflecken lag unter ihm wie ein dumpfiges tiefes Schulkarzer mit triefendem Gemäuer. Bloß über seine Stube kreuzten heitere breite Sonnenstreife; und noch dazu dachte er sich seine Lenette darin als Alleinherrscherin, die heute kochen, waschen und reden durfte, was sie wollte, und die überdies den ganzen Tag den Kopf (und die Hände) davon voll hatte, was abends Liebes komme. Er gönnt' ihr heute in ihrer engen Eierschale, Schwefelhütte und Kartause recht von Herzen den herumfließenden Glanz, den in ihr Petrus-Gefängnis der eintretende Engel mitbrachte, der Pelzstiefel. »Ach, in Gottes Namen«, dacht' er, »soll sie so freudig sein wie ich, und noch mehr, wenns möglich ist.«

Je mehre Dörfer vor ihm mit ihren wandernden Theatertruppen vorüberliefen: desto theatralischer kam ihm das Leben vor 112 – seine Bürden wurden Gastrollen und aristotelische Knoten[354] – seine Kleider Opernkleider – seine neuen Stiefeln Kothurne – sein Geldbeutel eine Theaterkasse – und eine der schönsten Erkennungen auf dem Theater bereitete sich ihm an dem Busen seines Lieblinges zu...

Nachmittags um 3 1/2 Uhr wurde auf einmal in einem noch schwäbischen Dorfe, nach dessen Namen er nicht gefragt, in seiner Seele alles zu Wasser, zu Tränen, so daß er sich selber über die Erweichung verwunderte. Die Nachbarschaft um ihn ließ eher das Widerspiel vermuten: er stand an einem alten, ein wenig gesenkten Maienbaum mit dürrem Gipfel – die Bauerweiber begossen die im Sonnenlicht glänzende Leinwand auf dem Gemeindeanger – und warfen den gelbwollichten Gänsen die zerhackten Eier und Nesseln als Futter vor – Hecken wurden von einem adeligen Gärtner beschoren, und die Schafe, die es schon waren, wurden vom Schweizerhorn des Hirten um den Maienbaum versammelt. – Alles war so jugendlich, so hold, so italienisch – der schöne Mai hatte alles halb oder ganz entkleidet, die Schafe, die Gänse, die Weiber, den Hornisten, den Heckenscherer und seine Hecken...

Warum wurd' er in einer so lachenden Umgebung zu weich? Im Grunde weniger darum, weil er heute den ganzen Tag zu froh gewesen war, als hauptsächlich, weil der Schaf-Fagottist durch seine Komödienpfeife seine Truppe unter den Maienbaum rief. Firmian hatte in seiner Kindheit hundertmal den Schafstall seines Vaters dem blasenden Prager und Schäfer unter den Hirtenstab getrieben – und dieser Alpen-Kuhreigen weckte auf einmal seine rosenrote Kindheit, und sie richtete sich aus ihrem Morgentau und aus ihrer Laube von Blütenknospen und eingeschlafnen Blumen auf und trat himmlisch vor ihn und lächelte ihn unschuldig und mit ihren tausend Hoffnungen an und sagte: »Schau mich an, wie schön ich bin – wir haben zusammen gespielt – ich habe dir sonst viel geschenkt, große Reiche und Wiesen und Gold und ein schönes, langes Paradies hinter dem Berg – aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch dazu so bleich! Spiele wieder mit mir!« – O wem unter uns wird nicht die Kindheit tausendmal durch Musik geweckt, und sie redet ihn an und [355] fragt ihn: »Sind die Rosenknospen, die ich dir gab, denn noch nicht aufgebrochen?« O wohl sind sie's, aber weiße Rosen waren's.

Seine Freudenblumen schloß der Abend mit ihren Blättern über ihren Honiggefäßen zu, und auf sein Herz fiel der Abendtau der Wehmut kälter und größer, je länger er ging. Gerade vor Sonnenuntergang kam er vor ein Dorf – leider ists mir aus dem Gedächtnis wie ausgestrichen, obs Honhart oder Honstein oder Jaxheim war: so viel darf ich für gewiß ausgeben, daß es eines von dreien war, weil es neben dem Fluß Jaxt und an der Ellwangschen Grenze im Ansbachschen lag. Sein Nachtquartier rauchte vor ihm im Tal. Er legte sich, eh' ers bezog, auf einem Hügel unter einen Baum, dessen Blätter und Zweige ein Chorpult singender Wesen waren. Nicht weit von ihm glänzte in der Abendsonne das Rauschgold eines zitternden Wassers, und über ihm flatterte das vergoldete Laubwerk um die weißen Blüten, wie Gräser um Blumen. Der Kuckuck, der sein eigner Resonanzboden und sein eignes vielfaches Echo ist, redete ihn aus finstern Gipfeln mit einer trüben Klagstimme an – die Sonne floß dahin über den Glanz des Tages warfen die Schatten dichtere Trauerflöre – unser Freund war ganz allein – und er fragte sich: »Was wird jetzt meine Lenette tun, und an wen wird sie denken, und wer wird bei ihr sein?« – Und hier durchstieß der Gedanke: »aber ich habe keine Geliebte an meiner Hand!« mit einer Eishand sein Herz. Und als er sich die schöne, zarte weibliche Seele recht klar gemalet hatte, die er oft gerufen, aber nie gesehen, der er gern so viel, nicht bloß sein Herz, nicht bloß sein Leben, sondern alle seine Wünsche, alle seine Launen hingeopfert hätte: so ging er freilich den Hügel mit schwimmenden Augen, die er vergeblich trocknete, hinunter; aber wenigstens jede gute weibliche Seele, die mich liest und die vergeblich oder verarmend geliebt, wird ihm seine heißen Tropfen vergeben, weil sie selber erfahren, wie der innre Mensch gleichsam durch eine vom giftigen Samielwinde durchzogne Wüste reiset, in welcher entseelte, vom Winde getroffne Gestalten liegen, deren Arme sich abreißen von der eingeäscherten Brust, wenn der Lebendige sie ergreift und anziehen [356] will an seine warme. Aber ihr, in deren Händen so manche erkalteten durch Wankelmut oder durch Todesfrost, ihr dürft doch nicht so klagen wie der Einsame, der nie etwas verloren, weil er nie etwas gewonnen, und der nach einer ewigen Liebe schmachtet, von der ihm nicht einmal eine zeitliche ein Trugbild jemals zum Troste zugesandt.

Firmian brachte eine stille, weiche, sich träumend-heilende Seele in sein Nachtlager und auf sein Bette mit. Wenn er darin den Blick aufschlug aus dem Schlummer, schimmerten die Sternbilder, die sein Fenster ausschnitt, freundlich in seine frohen hellen Augen und warfen ihm die astrologische Weissagung eines heitern Tages herab.

Er flatterte mit der ersten Lerche und mit ebensoviel Trillern und Kräften aus der Furche seines Bettes auf. Er konnte diesen Tag, wo die Ermüdung seinen Phantasien die Paradiesvogel-Schwingen berupfte, nicht ganz aus dem Ansbachischen gelangen.

Den Tag darauf erreichte er das Bambergische (denn Nürnberg und dessen pays coutumiers und pays du droit écrit ließ er rechts liegen). Sein Weg lief von einem Paradies durch das andere – Die Ebene schien aus musivisch aneinander gerückten Gärten zu bestehen – Die Berge schienen sich gleichsam tiefer auf die Erde niederzulegen, damit der Mensch leichter ihre Rücken und Höcker besteige – Die Laubholz-Waldungen waren wie Kränze bei einem Jubelfest der Natur umhergeworfen, und die einsinkende Sonne glimmte oft hinter der durchbrochnen Arbeit eines Laubgeländers auf einem verlängerten Hügel wie ein Purpurapfel in einer durchbrochnen Fruchtschale. – In der einen Vertiefung wünschte man den Mittagschlaf zu genießen, in einer andern das Frühstück, an jenem Bache den Mond, wenn er im Zenith stand, hinter diesen Bäumen ihn, wenn er erst aufging, unten an jener Anhöhe vor Streitberg die Sonne, wenn sie in ein grünes Gitterbette von Bäumen steigt.

Da er den Tag darauf schon mittags nach Streitberg kam, wo man alle jene genannte Dinge auf einmal erleben wollte: so hätt' er recht gut – er mußte denn kein so flinker Fußgänger sein als sein Lebenbeschreiber – noch gegen Abend die Baireuther [357] Turmknöpfe das Rot der Abend-Aurora auflegen sehn können; aber er wollte nicht, er sagte zu sich: »Ich wäre dumm, wenn ich so hundmüde und ausgetrocknet die erste Stunde der schönsten Wiedererkennung anfinge und so mich und ihn (Leibgebern) um allen Schlaf und am Ende um das halbe Vergnügen (denn wie viel könnten wir heute noch reden?) brächte. Nein, lieber morgen früh um 6 Uhr, damit wir doch einen ganzen langen Tag zu unserem Tausendjährigen Reiche vor uns haben.«

Er übernachtete daher in Fantaisie, einem artistischen Lust- und Rosen- und Blütental, eine halbe Meile von Baireuth. Es wird mir schwer, das papierne Modell, das ich von diesem Seifersdorfer Miniatur-Tal hier aufzustellen vermöchte, so lange zurückzutun, bis ich einen geräumigern Platz vorfinde; aber es muß sein, und bekomm' ich keinen, so steht mir allemal noch hinten vor dem Buchbinderblatte dazu ein breiter offen.

Firmian ging neben Fledermäusen und Maikäfern – dem Vortrab und den Vorposten eines blauen Tages – und hinter den Baireuthern, die ihren Sonntag und ihre Himmelfahrt beschlossen – es war der 7te Mai – und zwar so spät, daß das erste Mondviertel recht deutlich alle Blüten und Zweige auf der grünen Grundierung silhouettieren konnte, – – also so spät ging er noch auf eine Anhöhe, von der er auf das von der Brautnacht des Frühlings sanft überdeckte und mit Lunens Funken gestickte Baireuth, in welchem der geliebte Bruder seines Ichs verweilte und an ihn dachte, tränen- und freudentrunkne Blicke werfen konnte..... Ich kann in seinem Namen es mit »Wahrlich« beteuern, daß er beinahe mir nachgeschlagen wäre: ich hätte nämlich mit einem solchen warmquellenden Herzen, in einer solchen von Gold und Silber und Azur zugleich geschmückten Nacht vor allen Dingen einen Sprung getan in den Gasthof zur Sonne, an meines unvergeßlichen Freundes Leibgebers Herz.... Aber er kehrte wieder in das duftende Kapua zurück und begegnete noch dazu – so kurz vor dem Abendessen und Abendgebet und ganz nahe an einem gut ausgetrockneten, von einer versteinerten Götterwelt bewohnten Wasserbecken oder Streckteich – nichts Geringerem als einem hübschen Abenteuer. Ich bericht' es.

[358] An der ausgemauerten Bucht stand nämlich eine ganz schwarz gekleidete, mit einem weißen Flore bezogne weibliche Gestalt, mit einem am Tage verwelkten Blumenstrauß in der Hand, worin ihre Finger blätterten. Sie war von ihm abgekehrt gegen Abend und schien halb die steinerne, ineinander gewickelte Schweizerei und Korallenbank von Wasserpferden, Tritonen u.s.w., halb einen zunächst stehenden, in einem Vexier-Einsturz begriffenen Tempel anzuschauen. Indes er langsam vor ihr vorüberging, sah er von der Seite, daß sie eine Blume nicht sowohl nach als Über ihn warf, gleichsam als sollte dieses Ausrufzeichen einen Zerstreuten aufwecken. Er sah sich leicht um, bloß um zu zeigen, daß er schon wach sei, und ging an die Glaspforte des künstlichbaufälligen Tempels hinan, um sich neben dem Rätsel zu verweilen. Drinnen stand ihm gegenüber ein Pfeilerspiegel, der den ganzen Mittel- und Vorgrund hinter ihm samt der weißen Unbekannten in die grüne Perspektive eines langen Hintergrundes herumdrehte. Firmian ersah im Spiegel, daß sie den ganzen Strauß gegen ihn werfe, und daß sie endlich – als dieser nicht so weit fliegen konnte – die aufgesparte Pomeranze bis beinahe unter seine Füße kegelte. Er wandte sich lächelnd um. Eine sanfte, aber hastige Stimme sagte: »Kennen Sie mich nicht?« Er sagte: »nein!« und eh' er noch langsam dazu gesetzt hatte: »ich bin ein Fremder«, war ihm die unbekannte Oberin näher getreten und hatte ihre Mosis-Flor-Decke schnell vom Gesicht gerückt und in einem höhern Tone gesagt: »Und noch nicht?« – Und ein weiblicher Kopf, der vom Halse des vatikanischen Apollo abgesägt und nur mit acht oder zehn weiblichen Zügen und mit einer schmalern Stirn gemildert war, glänzte vor ihm, wie ein Marmorkopf vor der Lohe einer Fackel. Aber indem er dazu setzte, er sei ein Fremder – und indem die Gestalt ihn näher und unvergittert anblickte – und indem sie das Flor-Fallgatter wieder niederließ (welche Bewegungen insgesamt nicht so viel Zeit wegnahmen als eine einzige des Pendels einer astronomischen Uhr): so kehrte sie sich weg und sagte weniger verlegen als weiblich-entrüstet: »Vergeben Sie!« –

Es hätte wenig gefehlet, so wär' er ihr beinahe mechanisch hinterdrein gezogen; er verzierte jetzt die ganze Fantaisie statt [359] der steinernen Göttinnen mit lauter Gipsabgüssen des entflohenen Kopfes, der bloß drei Pleonasmen im Gesichte hatte: zuviel Wangenrot, zuviel Biegung der Nase und zuviel Augen-Lauffeuer oder Feuerung. Er dachte, ein solcher Kopf könnte sich, wenn er geschmückt wäre, ohne Nachteil neben dem funkelnden einer Fürstenbraut aus einer Hauptloge herauslegen, und er könnte ebensoviel Philosophisches fassen als – rauben.

Ein solches Zauber-Abenteuer nimmt man gern in den Traum hinüber, zumal da es einem gleicht. An Firmians gebogne, zitternde Blumen steckte jetzo der Mai, wie an die andern um ihn, Stäbe und band sie lose an. O wie hell schimmern sogar kleine Freuden auf eine Seele, die auf einem vom Gewölke des Grams verfinsterten Boden steht, wie aus dem leeren Himmel Gestirne vordringen, wenn wir in tiefen Brunnen oder Kellern zu ihnen aufsehen!

Am prächtigen Morgen darauf ging mit der Sonne zugleich die Erde auf. Er hatte mehr seinen ewigen Freund als die gestrige Unbekannte im Kopfe und Herzen – wiewohl er doch vor dem Meere und der Muschel, woraus die gestrige Venus gestiegen war, Wunders halber den Weg vorbei nahm, obgleich ohne Nutzen und watete durch den nassen Glanz und Nebelduft der schimmernden Silbergrube und zerriß die um Blütenzweige gehangenen Perlenschnuren aus Spinnweben, worauf Tau-Samenperlen gezogen waren – und im durchflatterten Gezweige, das die Tastatur einer mit blühendem Bildwerk eingefasseten Harmonika war, streifte er eilig erkaltete Schmetterlinge und Blüten und Tropfen hinweg, um auf den gestrigen Olymp zu kommen. Er bestieg das Freudengerüste – und über Baireuth hing der brennende Theatervorhang aus Nebel – Die Sonne stand als Königin der Bühne auf dem Gebürge und schauete dem Herunterbrennen des bunten Schleiers zu, dessen flatternde, glimmende Zunderflocken die Morgenlüfte über die Blumen und Gärten verwehten und streueten. Endlich glänzte nichts mehr als die Sonne, von nichts als dem Himmel umgeben. Unter diesem Glanze betrat er das Lustlager und die Residenzstadt seines Geliebten, und alle Gebäude kamen ihm wie schimmernde, aus dem Äther gesunkne, festere Luft- und [360] Zauberschlösser vor. Es war sonderbar; aber er konnte sich nicht enthalten, von einigen heraushängenden Fenstervorhängen, mit denen die Straßen-Zugluft tändelte, sich einzubilden, als man sie hineinzog, die Unbekannte tu' es, da doch um diese Zeit weils erst 8 Uhr war – eine Baireutherin so wenig ihren Blumenschlaf beschlossen haben konnte als der rote Hühnerdarm oder der Alpen-Pippau 113.

Jede neue Straße erhitzte sein klopfendes Herz; ein kleiner Irrweg gefiel ihm als Aufschub oder Zuwachs seiner Wonne. Endlich kam er vor den Gasthof zur Sonne, in seine Sonnennähe, an die metallene Sonne, die diesen Irrstern, wie die astronomische, in sich riß. Er fragte unten nach der Zimmer-Nummer des Herrn Leibgebers. »Er logierte hinten hinaus Nr. 8«, sagte man, »aber er ist heute ins Schwäbische verreiset, er müßte denn noch droben sein.« Glücklicherweise kehrte jemand von der Gasse in den Gasthof zurück, der die Sache bejahte und vor dem Advokaten wedelte; Leibgebers Saufinder tats.

Ein Treppensturmlaufen – ein Einbrechen der Jubelpforte ein Fall ans geliebte Herz... alles war eins. – Und nun zogen die öden Minuten des Lebens ungehört und ungesehen vor dem stummen, engen Bunde der zwei Sterblichen vorbei – sie lagen ineinander geklammert auf den Fluten des Lebens, wie zwei gescheiterte Brüder, die in den kalten Wellen umschlingend und umschlungen schwimmen, und die nun nichts mehr halten als das Herz, an dem sie sterben...

Sie hatten sich noch kein Wort gesagt – Firmian, den eine lange trübere Zeit weicher gemacht, weinte unverhohlen auf das wiedergefundne Angesicht – Heinrich verzog seines, wie ein Schmerz – beide hatten reisefertig noch Hüte auf – Leibgeber wußte sich verlegen an nichts zu halten als an die Klingelschnur. Der Kellner lief herzu. »Es ist nichts«, sagt' er, »als daß ich nicht fortgehe.« – »Gott gebe (setzt' er nachher hinzu), Siebenkäs, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln! zieh mich in eines, Bruder!«

Er konnt' es recht schicklich bei der pragmatischen Geschichte, Nouvelle du jour – besser de la nuit – kurz bei der Stadt- oder [361] vielmehr Land-Neuigkeit anfangen, die er gestern neben dem Flore der schönen Je ne sais quoi erlebet hatte.

»Ich kenne sie«, versetzte Leibgeber, »wie meinen Puls; erzähl aber lieber jetzo nichts – ich muß sonst so lange stille sitzen und aufpassen. Heb alles auf, bis wir im warmen Schoß Abrahams sitzen, in der Eremitage«; welches nach Fantaisie der zweite Himmel um Baireuth ist, denn Fantaisie ist der erste, und die ganze Gegend der dritte. – Sie hielten nun eine Himmelfahrt durch alle Materien und Gassen, worein sie kamen. »Du sollst mir – (sagte Leibgeber, da Siebenkäs leider eine ebenso unregelmäßige Lüsternheit nach dessen Geheimnis verriet, als ich am Leser bemerken muß) – eher den Kopf wegschlagen, wie von einem Mohnstengel, als daß ich dir schon heute oder morgen oder übermorgen meine Mysterien aus meinem in deinen setzte; nur so viel darf ich dir entdecken, daß deine Auswahl aus des Teufels Papieren (dein Abendblatt enthält schon mehr von Krankheitmaterie) ganz göttlich ist und sehr himmlisch und recht gut und nicht ohne Schönheiten, sondern vielleicht passabel.« Leibgeber deckte ihm nun seine ganze freudige Überraschung auf, daß er, der Advokat, in einem Kleinstädtchen, das nur Krämer- und Juristenseelen samt einiger darangehängter hoher Obrigkeit beleben, sich in seiner Satire zu solcher Kunstfreiheit und Reinheit habe erhöhen können; und in der Tat hab' ich wohl selber, wenn ich die Auswahl aus des Teufels Papieren las, zuweilen gesagt: ich hätte nicht einmal in Hof im Voigtland, wo ich sonst manches scherzend geschrieben, dergleichen machen können.

Leibgeber setzte dem Lorbeerkranze die Krone auf durch die Versicherung, er könne leichter laut und mit beiden Lippen lachen über sämtliche Welt als leise und mit der Feder und nach erprobten Kunstregeln. – Siebenkäs war über das Lob außer sich vor Lust; aber es verdenke die Freude doch niemand dem Advokaten oder irgendeinem andern Schreiber – welcher einsam ohne Lobredner die redlich gewählte Kunstbahn ohne die Stütze der kleinsten Aufmunterung standhaft durchgeschritten –, wenn ihn nun am Ende des Ziels der Geruch einiger Lorbeerblätter aus Freundes Hand gewürzhaft durchdringt und kräftigt und lohnt. [362] Bedarf ja der Berühmte, sogar der Anmaßende der Nachwärmung durch fremde Meinung, wieviel mehr der Bescheidne und der Ungekannte! – Aber glücklicher Firmian! In welcher Ferne, tief in Süd-Süd-West, zogen jetzt die Strichgewitter deiner Tage! Und man konnte, da die Sonne darauf fiel, nichts als einen sanft niedersteigenden Regen daran sehen. –

Er nahm über der Wirtstafel an seinem Leibgeber mit Vergnügen wahr, wie sehr der ewige Tausch mit Menschen und Städten die Zunge löse und den Kopf öffne – wiewohl dann oft statt der Mundsperre die Herzsperre eintritt –: Leibgeber machte sich nichts daraus (welches der eingesperrte Armenadvokat kaum nach einer großen Flasche hätte wagen wollen), vor den größten Regierräten und Kanzleiverwandten, die in der Sonne mit aßen, von seinem Ich zu reden, und zwar ganz spaßhaft. Ich will die Rede, weil sie dem Armenadvokaten auffiel, hereinmauern und auf sie die Überschrift setzen: Tischrede Leibgebers.


Tischrede Leibgebers


»Unter allen Herren Christen und Namen, die hier sitzen und anspießen, wurde wohl keiner mit solcher Mühe dazu gemacht als ich selber. Meine Mutter, aus Gascogne gebürtig, ging nämlich ohne meinen Vater, der in London blieb als Diözesan der deutschen Gemeinde in London, von da aus zu Schiff nach Holland. Inzwischen tobte und insurgierte das deutsche Meer nie so entsetzlich – solang es einen Reichshofrat gibt – als damals, wo es meine Mutter traf, darüber zu fahren. Schütten Sie die Hölle mit ihrem zischenden Schwefelpfuhl, geschmolzenen Kupfer und ihren plätschernden Teufeln in die kalte See und bemerken das Knastern das Brausen – das Aufschlagen der Höllenflammen und der Meeres-Wellen, bis eines von den zwei feindlichen Elementen das andere verschluckt oder niederschlägt: so haben Sie einen schwachen, aber doch unter dem Essen hinreichenden Begriff von dem verdammten Sturm, in dem ich auf die See und zur – Welt kam. Sie können sich vorstellen, wenn der Bauchgürtel – der Dempgürtel – der Nordgürtel des großen Bramsegels [363] (wiewohl es mit den Schoten des Schönfahrsegels noch schlechter stand) – wenn ferner die große Stengestag, der große Laufer, Takel und Mantel – gar nicht zu gedenken der Brassen der Bovenblindenree – wenn solche des Seewesens gewohnte Dinge, sag' ich, halb ums Leben kamen: so wars ein ordentliches Meer-Wunder, wenn ein so zartes Wesen, wie ich damals war, seines darin anzufangen vermochte. Ich hatte damals nicht so viel Fleisch auf dem Leibe als gegenwärtig Fett und mochte in allem vier Nürnberger Pfund mit Ausschlag wiegen, welches jetzo, wenn wir den besten anatomischen Theatern glauben dürfen, das Gewicht meines bloßen Gehirns allein ist. Ich war noch dazu ein blutjunger Anfänger, der noch nichts von der Welt gesehen als diesen teuflischen Sturm – ein Mensch von wenig Jahren nicht sowohl als von gar keinen, wiewohl alle Leute ihr Leben um neun Monate höher bringen, als das Kirchenbuch besagt – weichlich und gegen alle medizinische Regeln gerade in den ersten neun Monaten meines Lebens zu warm und eingewindelt gehalten, anstatt daß man mich auf die kalte Luft in der Welt hätte vorbereiten sollen – so viertelwüchsig, als ein solcher zarter Blütenknopf, und weichflüssig wie die erste Liebe, erregte ich in einem solchen Wetter keine größeren Erwartungen (ich quäkte mit Mühe ein- oder zweimal in den Sturm), als daß ich auslöschen und ausleben würde, noch eh' es sich aushellete. Man wollte mich nicht gern ohne ehrlichen Namen und ohne alles Christentum aus der Welt lassen, aus der man ohnehin noch weniger mitnimmt, als man mitbringt. Nun war nichts schwerer, als zu Gevatter zu –stehen auf einem schwankenden Schiff, das alles umwarf, was nicht angebunden war. Der Schiffprediger lag zum Glück in einer Hangematte und taufte herab. Mein Dot oder Taufpate war der Hochbootsmann, der mich fünf Minuten lang hielt – ihn hielt, weil er nicht allein so fest stehen konnte, daß der Täufer den Kopf des Täuflings mit dem Wasser treffen konnte, wieder der Unterbarbier – der war an einen Büchsenschisser befestigt – dieser an den Schiemann – der an den Profos – und dieser saß auf einem alten Matrosen, der ihn grimmig umschlang.

Inzwischen ging, wie ich nachher vernahm, weder das Schiff [364] noch das Kind unter. Sie sehen aber sämtlich, daß, so sauer es auch irgendeinem Menschen in den Stürmen des Lebens werden mag, ein Christ zu werden und zu bleiben oder sich einen Namen zu erwerben, es sei nun in einem Adreßkalender oder in einer Literaturzeitung oder in einer Heroldkanzlei oder auf einer Schaumünze – es doch keinem (als eben mir) so hart ging, bis er nur die Anfanggründe eines Namens, die Grundierung und binomische Wurzel eines Taufnamens, worauf nachher der anderegroße Name aufgetragen wurde, und einiges Christentum überkam, soviel ein Konfirmand und Katechumen, der noch saugt und dumm ist, fassen kann. – Es gibt nur eine Sache, die noch schwerer zu machen ist, die der größte Held und Fürst nur einmal in seinem Leben, die aber alle Genies – und selber die drei geistlichen Kurfürsten, der deutsche Kaiser – mit vereinigten Kräften nicht zuwege bringen, und wenn sie jahrelang in der Münzstätte säßen und prägten mit den neuesten Rändel- oder Kräuselwerken.«

Die Wirts-Tafel drang in ihn, das zu nennen, was so schwer zu modellieren wäre. »Ein Kronprinz ists«, versetzte er kalt, »schon apanagierte Prinzen werden einem Regenten nicht leicht zu geben – von einem Kronprinzen aber kann er (er mag es anstellen, wie er will) in seinen besten Jahren nicht mehr liefern (weil ein solcher Seminarist kein Spielwerk, sondern vielmehr das Hauptwerk, die Mühl-, Sprach- und Spielwalze eines ganzen Volkes ist), nicht mehr, sag' ich, als ein einziges Exemplar. Grafen hingegen, meine Herren, Barone, Kammerherren, Regimentstäbe und besonders ganz gemeine Leute und Untertanen, kurz Schorfmoose dieser Art werden von einem Fürsten als eine generatio aequivoca so außerordentlich leicht gezeugt, daß er dergleichen lusus naturae und Vor-Schwärme oder Protoplasmata spielend zu beträchtlichen Quantitäten schon in seiner frühesten Jugend von dem Poussierstuhle springen lässet, indes ers doch in reifern Jahren nicht so weit bringt, daß er einen Thronfolger erbauet. Man hätte nach so vielen Probeschüssen und Waffenübungen aufs Gegenteil geschworen.«

Ende der Tischrede Leibgebers [365] Nachmittags bezogen beide das grünende Lustlager der Eremitage; und die Allee dahin schien ihren frohen Herzen ein durch einen Lustwald gehauener Gang zu sein; auf die Ebene um sie hatte sich der junge Zugvogel, der Frühling, gelagert, und seine abgeladnen Schätze von Blumen lagen über die Wiesen hingeschüttet und schwammen die Bäche hinab, und die Vögel wurden an langen Sonnenstrahlen aufgezogen, und die geflügelte Welt hing taumelnd im ausgegoßnen Wohlgeruch.

Leibgeber nahm sich vor, sein Geheimnis und Herz heute in der Eremitage aufzuschließen – vorher aber einige Flaschen Wein.

Er bat und zwang den Advokaten, vor allen Dingen ihm ein kurzes Zeitungkollegium über seine bisherigen Begebenheiten zu Wasser und zu Lande zu lesen. Firmian tats, aber mit Einsicht: über das Mißjahr seines Magens, über seine teuern Zeiten, über den bildlichen Winter seines Lebens, auf dessen Schnee er wie ein Eisvogel nisten mußte, und über alle die kalte Nordluft, die einen Menschen, wie die Wintersoldaten, zum Eingraben in die Erde treibt, darüber lief er eilends weg. Ich muß es billigen; erstlich weil ein Mann keiner wäre, der über die Wunden der Dürftigkeit einen größern Lärm aufschlüge als ein Mädchen über die des Ohrläppchens, zumal da in beiden Fällen in die Wunden Gehenke für Juwelen kommen; zweitens weil er seinem Freunde keine sympathetische Reue über den Namentausch, diese Quelle aller seiner Hungerquellen, geben wollte. Aber für seinen innigen Freund war schon das entfärbte, welke Angesicht und das zurückgesunkne Auge ein Monatkupfer seines Eismonats und eine Winterlandschaft von der beschneiten Strecke aus seinem Lebenwege.

Aber als er auf die tiefsten verhüllten Seelenwunden kam: konnt' er kaum das in die Augen steigende Blutwasser aufhalten ich meine, als er auf Lenettens Haß und Liebe geriet. Indem er aber von ihrer kleinen gegen ihn, von ihrer großen gegen Stiefeln eine nachsichtige Zeichnung gab: nahm er zum historischen Stücke, das er von ihrer Rechtschaffenheit gegen den Venner und von Rosas Schlechtigkeit überhaupt ausmalte, viel höhere Farben.

[366] »Wenn du fertig bist«, sagte Leibgeber, »so lasse dir sagen, daß die Weiber keine gefallnen Engel sind, sondern fallende. Beim Henker! sie setzen uns bei unserer leidenden Schaf- und Schöpsenschur die Schere mehr in die Haut als in die Wolle. Wenn ich über die Brücke zur Engelsburg in Rom ginge: so würd' ich an die Weiber denken, weil auf ihr zehn Engel, jeder mit einem andern Marter-Werkzeug, der eine mit den Nägeln, der andere mit dem Rohr, der dritte mit dem Würfel, ausgehauen stehn. So hat jede ein anderes Marterinstrument für uns arme Gottes-Lämmer in der Hand. – – Wen glaubst du z.B. wohl, daß das gestrige Palladium, deine Unbekannte, mit dem Ehering wie mit einem Nasenring an den Ehebett-Fuß anschließet? – Ich muß sie dir aber erst schildern: sie ist herrlich – dichterisch – schwärmerisch in Briten und Gelehrte verliebt, folglich auch in mich – lebt daher auch mit einer vornehmen Engländerin, die halb eine Gesellschaftdame der Lady Craven und des Markgrafen ist, draußen in Fantaisie – hat nichts und akzeptiert nichts, ist arm und stolz, leichtsinnig-kühn und tugendhaft – und schreibt sich Natalie Aquiliana.... Weißt du, wen sie ehelicht? Einen so mürben, verloderten Lumpen, einen so matten Geist, dessen Eierschale einige Wochen zu bald zerknickt wurde, und der jetzo mit gelbem Haargefieder auf unsern Fußzehen piepet – ders dem Heliogabal, der täglich einen neuen Ring ansteckte, mit den Eheringen nachtut – den ich mit der Nase über den Nordpol hinausniesen will, und über den Südpol auf eine andere Art, ohne mich umzukehren – und den ich dir am wenigsten zu schildern brauche, da du mir ihn eben selber geschildert hast – und den du auch kennst, wenn ich ihn nenne.... Den Venner Rosa von Meyern heiratet die Holde.«

Firmian fiel nicht aus den Wolken, sondern recht hinein in sie. Kurz die unbekannte Natalie ist die Nichte des Heimlichers, von der Leibgeber schon in einem Briefe des ersten Bändchens einiges geschrieben! »Höre!« fuhr Leibgeber fort, »aber ich will mich zerstücken und zerhacken lassen in kleinere Krumen als Großpolen 114, in Abschnitzel, die keinen hebräischen Selblauter bedecken [367] sollen, wenn nun etwas aus der Sache wird; denn ich hintertreibe sie.« –

Da er, wie bekannt, mit dem Mädchen, das an seiner unbefleckten Seele und an seinem kühnen Geisterstand unauflöslich hing, alle Tage sprach: so hatt' er bei ihr nichts nötig als eine Wiederholung und Beteuerung dessen, was Siebenkäs von ihrem Bräutigam erzählet hatte – um die nahe Ehe zu scheiden. Die Bekanntschaft, die er mit ihr, und die Ähnlichkeit, die er mit Siebenkäs hatte, waren gestern schuld gewesen, daß sie unsern Firmian mit dem verwechselte, dem er entgegenzog.

Die meisten Leser werfen mit dem Advokaten mir und Leibgebern ein, daß Nataliens Liebe sich nicht mit ihrem Charakter, und die Heirat nach Geld sich nicht mit ihrer Kälte gegen Geld vereine. Aber miteinem Wort: sie hatte von dem bunten Fliegenschnapper Rosa noch nichts gesehen als seine Esaus-Hand – nämlich seine Handschrift, d.h. seine Jakobs-Stimme: er hatte ihr bloß untadelige sentimentalische Assekuranz-Briefe (Nadelbriefe voll Amors-Pfeile und Heftnadeln) geschrieben und so den papiernen Adel seines Herzens gut verbrieft. – – Der Heimlicher hatte seiner Nichte noch dazu geschrieben: den Pankratiustag (den 12.. Mai, also in vier Tagen) komme der Hr. Venner und stelle sich ihr vor, und wenn sie ihm den Korb gebe: so solle sie nie sagen, daß sie Blaisens Nichte gewesen, sondern in ihrem Schraplau 115 in Gottesnamen verhungern.

Aber als ehrlicher Mann zu sprechen, ich habe nicht mehr als drei kaum der besten Briefe Rosas eine Minute in Händen gehabt, und eine Stunde in der Tasche; aber sie waren in der Tat nicht schlecht, sondern viel moralischer als ihr Verfasser. –

Gerade als Leibgeber gesagt hatte, er wolle das Vor-Konsistorium bei Natalien machen und sie von Rosa noch vor der Trauung scheiden: kam sie mit einigen Freundinnen gefahren und stieg aus, aber ohne sie zu dem Sammelorte der Gesellschaft zu begleiten, und begab sich allein in einen einsamen Seitenlaubgang hinauf, in den sogenannten Tempel. Sie hatte in ihrer Hastigkeit [368] ihren Freund Leibgeber nicht sitzen sehen den Pferdeställen gegenüber. Die Baireuther Gäste der Eremitage sitzen nämlich in einem kleinen, durch Schatten und Zugluft stets abgekühlten Wäldchen seit langen und markgräflichen Zeiten bloß dem langgestreckten Wirtschaftgebäude gegenüber und dessen Stallungen, haben aber nahe die schönsten Aussichten hinter ihrem Rücken, welche sie leicht gegen die kahle Futtermauer des Auges eintauschen, wenn sie aufstehen und über das Wäldchen auf beiden Seiten hinaus spazieren.

Leibgeber sagte zum Advokaten, er könne ihn sogleich zu ihr bringen, da sie, wie gewöhnlich, oben im Tempel sitzen werde, wo sie die Zauberaussichten über die Kunstwäldchen hinüber nach den Stadttürmen und Abendbergen unter der scheidenden Abendsonne genieße. Er setzte hinzu, sie kümmere sich leider – daher sie allein ins Häuschen hinaufgelaufen – wenig um den schönsten spröden Anschein und ärgere dadurch ihre Engländerin stark, die, wie ihre Landsmänninnen, ungern allein gehe und ohne eine Versicherung-Anstalt oder Bibelgesellschaft von Weibern sich nicht einmal einem männlichen Kleiderschranke zu nahen getraue. Er hab' es von guter Hand, sagte er, daß eine Britin sich nie einen Mann in ihrem Kopf vorstelle, ohne ihn zugleich mit den nötigen Vorstellungen von Frauen zu umringen, die ihn zügeln und festhalten, wenn er in ihren vier Gehirnkammern sich so frei benehmen will, als sei er da zu Hause.

Beide fanden Natalie oben im offenen Tempelchen mit einigen Papieren in der Hand. »Hier bring' ich«, sagte Leibgeber, »unsern Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren – die Sie ja gerade, wie ich sehe, lesen – und stell' ihn hier vor.« – Nach einem flüchtigen Erröten über ihre Verwechslung Firmians mit Leibgeber in Fantaisie sagte sie recht freundlich zu Siebenkäs: »Es fehlt nicht viel, Hr. Advokat, so verwechsle ich Sie wieder, und zwar geistlicherweise mit Ihrem Freunde; Ihre Satiren klingen oft ganz wie seine; nur die ernsthaften Anhänge 116, die ich eben lese und die mir recht gefallen, schien er mir nicht gemacht zu haben.«

[369] Ich habe jetzt nicht Zeit, Leibgebers eigenmächtige Mitteilung fremder Papiere an eine Freundin mit langen Druck-Seiten gegen Leser zu verteidigen, welche in dergleichen außerordentliche Delikatesse begehren und beobachten; es sei genug, wenn ich sage, daß Leibgeber jedem, der ihn lieben wollte, zumutete, er müßte ihm auch seine andern Freunde mit lieben helfen, und daß Siebenkäs, ja sogar Natalie in seinem kühnen Mitteilen nichts fanden als ein freundschaftliches Rundschreiben und seine Voraussetzung dreiseitiger Wahlverwandtschaft.

Natalie sah beide, besonders Leibgebern – dessen großen Hund sie streichelte – freundlich-aufmerksam und vergleichend an, als ob sie Ungleichheiten suche; denn in der Tat stand Siebenkäs nicht ganz ähnlich genug vor ihr, der länger und schlanker und gesichtjünger erschien; was aber davon kam, daß Leibgeber, mit seiner etwas stärkeren Schulter und Brust, das seltsame ernstere Gesicht mehr vorbückte, wenn er sprach, gleichsam als rede er in die Erde hinein. Jung (sagt' er selber) habe er nie recht ausgesehen, sogar als Täufling – seine Taufzeugen seien die Zeugen –, und er werde sich auch schwerlich früher wieder verjüngen als im Spätalter bei dem zweiten Kindischwerden. Richtete sich aber Leibgeber auf und neigte sich Siebenkäs ein wenig: so sahen beide einander ähnlich genug; doch sind dies mehr Winke für ihre Paßschreiber.

Man wünsche dem Kuhschnappler Advokaten Glück zu Sprechminuten mit einem weiblichen Wesen von Stande und von so vielseitiger Ausbildung, sogar für Satiren; und er selber wünschte für sich nur, daß ein solcher Phönix, von welchem er nur einige Asche im Leben oder ein paar Phönixfedern in Büchern fliegen sehen, nicht sogleich davonflattern, sondern daß er ein recht langes Gespräch mit Leibgeber vernehmen und eigenhändig mit fortspinnen könnte: als ihre Baireuther Freundinnen gelaufen kamen und ankündigten, den Augenblick sprängen die Wasser und sie hätten alle nichts zu versäumen. Sämtliche Gesellschaft machte sich auf den Weg zu den Wasserkünsten hinab, und Siebenkäs suchte nichts als der edelsten Zuschauerin so nahe als möglich zu bleiben.

[370] Unten stellten sie sich auf den Steinrand des Wasserbeckens und sahen den schönen Wasserkünsten zu, welche längst vor dem Leser werden gesprungen haben an Ort und Stelle oder auf dem Papiere der verschiedenen Reisebeschreiber, welche darüber sich hinlänglich ausgedrückt und verwundert haben. Alles mythologische halbgöttliche Halbvieh spie, und aus der bevölkerten Wassergötterwelt wuchs eine kristallene Waldung empor, die mit ihren niedersteigenden Strahlen wieder wie Lianenzweige in die Tiefe einwurzelte. Man erfrischte sich lange an der geschwätzigen, durcheinander fliegenden Wasserwelt. Endlich ließ das Umflattern und Wachsen nach, und die durchsichtigen Lilienstengel kürzten sich zusehends vor dem Blicke ab. »Woher kommt es aber?« sagte Natalie zu Siebenkäs, »– ein Wasserfall erhebt jedem das Herz, aber dieses sichtliche Einsinken des Steigens, dieses Sterben der Wasserstrahlen von oben herab beklemmt mich, sooft ich es sehe. – Im Leben kommt uns nie dieses anschauliche, furchtbare Einschwinden von Höhen vor.«

Während der Armenadvokat noch auf eine sehr richtige Erwiderung dieses so wahren Gefühlwortes sann: war Natalie ins Wasser gesprungen, um ein Kind, das, von ihr wenige Schritte fern, vom Beckenrand hineingefallen, eiligst zu retten, da das Wasser über halbe Mannhöhe gestiegen. Ehe die danebenstehenden Männer, die noch leichter retten konnten, daran dachten, hatte sie es schon getan, aber mit Recht; und nur Eile ohne Rechnen war hier das Gute und Schöne. Sie hob das Kind empor und reichte es den Frauen hinauf; Siebenkäs und Leibgeber aber ergriffen ihre Hände und hoben die Feurige und Seelenrotwangige leicht auf die Beckenküste. »Was ists denn? Es schadet ja nichts«, sagte sie lachend zum erschrocknen Siebenkäs und enteilte mit den verblüfften Freundinnen davon, nachdem sie Leibgebern gebeten, morgen abends gewiß mit seinem Freunde in die Fantaisie zu kommen. »Dies versteht sich, aber ich allein komme schon frühmorgens«, hatt' er versetzt.

Beide Freunde hatten jetzt sich und Einsamkeit sehr vonnöten; Leibgeber konnte, von neuem aufgeregt, die Birkenwaldung kaum erwarten, wo er das vorige Gespräch über Firmians Haus- und [371] Ehelage gar hinauszuspinnen vorhatte. Über Natalie bemerkte er gegen den verwunderten Freund nur flüchtig, eben dies sei, was er an ihr so liebe, ihre entschiedene Aufrichtigkeit im Handel und Wandel und ihre männliche Heiterkeit, in welcher Menschen und Armut und Zufälle nur als leichte lichte Sommerwölkchen schwämmen und verflögen, ohne ihr den Tag zu trüben.

»Was nun dich und deine Lenette anbelangt«, fuhr er in der waldigen Einsamkeit so ruhig fort, als hätte er bis hieher gesprochen, »so nähm' ich, wenn ich an deiner Stelle wäre, ein zerteilendes Mittel und schaffte mir den schweren Gallenstein der Ehe heraus. Wenn ihr noch Jahre lang mit eueren Haar- und Beinsägen auf dem ehelichen Bande hin und her kratzet und streicht: so könnt ihrs vor Schmerzen nicht mehr aushalten. Das Ehegericht tut einen derben Schnitt und Riß – entzwei seid ihr.«

Siebenkäs erschrak über die Ehescheidung, nicht als ob er sie nicht wünschte, als die einzige Wetterscheide; nicht als ob er sie und die daraus sich anspinnende Verbindung mit dem Schulrate Lenetten nicht gönnte: sondern weil er bedachte, daß Lenette, ihrer ähnlichen Wünsche ungeachtet, aus Hermesschen Gründen und bürgerlicher Scham sich nie ins gewaltsame Trennen fügen würde; daß ferner er und sie auf dem Wege zur Trennung noch grausame, schneidende Stunden voll Herzgespann und Nervenfieber durchgehen müßten, und daß sie beide kaum eine Trauung, geschweige eine Scheidung bezahlen könnten. Und ein Nebenumstand war noch: es tat ihm wehe, daß er das arme unschuldige Geschöpf, das in so manchen kalten Stürmen des Lebens neben ihm gezittert hatte, auf immer aus seinen Armen und aus seiner Stube, und noch dazu mit dem Schnupftuch in der Hand, sollte gehen sehn.

Alle diese Bedenklichkeiten, manche schwächer, manche stärker, trug er seinem Liebling vor und schloß mit der letzten: »Ich bekenne dir auch, wenn sie mit allem ihren Geräte von mir fortzieht und mich allein, wie in einem Erbbegräbnis, in der weiten Stube lässet und an allen den ausgelichteten, geschleiften Plätzen, wo wir sonst doch in mancher freundlichen Stunde beisammensaßen [372] und Blumen um uns grünen sahen: so darf sie nachher nicht mehr, zumal mit meinem Namen, ohne doch die meine zu sein, vor meinem Fenster vorbeigehen; oder es schreiet etwas in mir: stürz dich hinunter und falle zerbrochen vor ihre Füße.... Wär's nicht zehnmal gescheuter«, fuhr er in einem andern Tone fort und wollte in einen aufgewecktern kommen, »man wartete es ab, bis ich oben in der Stube selber (was nützt mir sonst mein Schwindel) auf eine ähnliche Art hinfiele und auf eine schönere zum Fenster hinauskäme und zur Welt auch... Der Freund Hein nimmt sein langes Radiermesser und schabet meinen Namen außer andern Klecksen aus ihrem Trauschein und Ehering heraus.« – –

Das schien wider alle Erwartung seinen Leibgeber immer munterer und belebter zu machen. »Das tu«, sagt' er, »und stirb! Die Leichenkosten können sich unmöglich so hoch wie andere Scheidekosten belaufen, und du stehst noch dazu in der Leichenkasse.« Siebenkäs sah ihn verwundert an.

Er fuhr im gleichgültigsten Tone fort: »Nur, muß ich dir sagen, wird für uns beide wenig herauskommen, wenn du lange satteln und hocken und erst in einem oder zwei Jahren mit Tod abgehen willst. Für sachdienlicher hielt' ichs für meine Person, wenn du von Baireuth nach Kuhschnappel gingest und dich gleich nach deiner Ankunft aufs Kranken- und Totenbette legtest und da Todes verblichest. Ich will dir aber auch meine Gründe angeben. Einesteils würde dann gerade vor der Adventzeit das Trauerhalbjahr deiner Lenette aus, und sie brauchte dann nicht erst eine Dispensation von der Adventzeit, sondern nur eine von der Trauerzeit einzuholen, wenn sie noch vor Weihnachten sich mit dem Pelzstiefel trauen lässet. Auch meinerseits wär's gut; ich verschwände dann unter die Volkmenge der Welt und sähe dich nicht eher wieder als spät. Und dir selber kann es nicht gleichgültig sein, bald zu verscheiden, weil es dein Nutzen ist, wenn du früher – Inspektor wirst.« – –

»Das ist das erstemal, lieber Heinrich«, versetzte er, »daß ich kein Wort von deinem Scherze verstehe.«

Leibgeber zog mit einem unruhigen Gesicht, auf dem eine [373] ganze künftige Welthistorie war, und das die größte Erwartung sowohl verriet als verursachte, ein Schreiben aus der Tasche und gab es schweigend hin. Es war ein Bestallungschreiben vom Grafen von Vaduz, das Leibgebern zum Inspektor des Vaduzer Ober-Amts erhob. Er reichte ihm dann ein durchsichtiges Handbriefchen vom Grafen. Während es Firmian las, brachte er seinen Taschenkalender heraus und murmelte kalt vor sich: »Vom Quatember – (lauter) nicht wahr, am Quatember nach Pfingsten soll ich einziehen? – Das ist von heute, als am Stanislaustag -höre, ach Stanislaustag! – eins – zwei – drei – vier – vier fünfthalbe Woche.« –

Als ihm es Firmian freudig wieder zulangte: schob ers zurück und sagte: »Ich hab' es eher gelesen als du – steck es wieder ein. Schreib aber dem Grafen heute lieber als morgen!«

Aber darauf kniete Heinrich in einer feierlichen, leidenschaftlichen und humoristischen Begeisterung, die der Wein höher trieb und weiter gab, mitten auf einen langen schmalen Gang, der zwischen den hohen Bäumen des dicksten Lusthains ein unterirdischer schien, und dessen weite Perspektive sich in Osten mit der vertieften Kirchturm-Fahne wie mit einem Drehkreuz schloß; er kniete nieder gegen Westen und sah durch den langen grünen Hohlweg starr bloß nach der auf die Erde wie eine glänzende Sternschnuppe fallenden Abendsonne, deren breites Licht wie vergoldetes Frühling-Waldwasser oben den langen grünen Gang vom Himmel hereinschoß – er sah starr in sie und fing geblendet und umleuchtet an: »Ist jetzo ein guter Geist um mich oder ein Genius von mir oder von diesem da – oder lebt deine Seele über deiner Asche noch, du alter, tief eingeschlossener, guter Vater – so komme näher, alter, dunkler Geist, und tue deinem närrischen Sohne, der noch im Körper-Flatterhemd herumhinkt, heute einen, den ersten und letzten, Gefallen, und zieh in Firmians Herz und halte darin, indem du es recht auf und nieder bewegst, diese Rede: ›Stirb, Firmian, für meinen Sohn, obwohl zum Schein und zum Spaße – lege deinen Namen ab und komm unter seinem, der ja sonst deiner war, nach Vaduz als Inspektor und gib dich für ihn aus. Mein armer Sohn will gern, wie das [374] runde Joujou de Normandie, worauf er sitzt, das an Strahlenfäden um die Sonne fliegt, seines Orts auch noch ein wenig auf dem Joujou herumflattern. Vor euch andern Papageien hangt doch der Ring der Ewigkeit, und ihr springt darauf und könnt euch darin wiegen. Er aber sieht keinen Ring – laß dem armen Sittich die Freude, auf der Käficht-Stange der Erde herumzuhüpfen, bis die Weife, wenn sie seinen Lebenfaden sechzigmal herumgewunden hat zu einem Gebinde, klingelt und schnappt und der Faden abgerissen wird und sein Spaß aus ist.‹ – O guter Geist meines Vaters, hebe heute das Herz meines Freundes und lenke seine Zunge, damit sie nicht nein sagt, wenn ich ihn frage: willst du?« Er griff im Abend-Glanze blind nach Firmians Hand herum und sagte: »Wo ist deine Hand, Lieber? Und sage nicht nein.« Aber Firmian kniete hingerissen – denn in der Begeisterung des langverhaltenen Ernstes erfaßte Leibgeber das Herz unwiderstehlich – und ohne Sprache und voll Tränen wie ein Abendschatten kniete er vor das Herz seines Freundes hin und fiel an seine Brust und drückte sie eng und hart an sich und sagt' es ihm, aus Unvermögen, nur leise: »Ich will für dich ja auf tausend Arten sterben, wie du willst, nenn sie nur – aber nenn es recht, was du wünschest – ich schwöre dir alles im voraus zu, bei der Seele deines toten Vaters, ich gebe dir gern mein Leben – und mehr hab' ich ohnehin nicht.« –

Heinrich sagte mit einer ungewöhnlich-gedämpften Stimme: »Wir wollen nur erst hinauf unter den Lärm und unter die Baireuther – Ich muß heute eine Brustwassersucht haben; oder einen ganzen heißen Gesundbrunnen, und meine Weste ist die Fassung um den Brunnen – in einem solchen Dampfbad sollte ein Herz einen ordentlichen Schwimmgürtel oder Skaphander umhaben.«

Oben unter den gedeckten Tischen, unter den Bäumen, neben den Kirmesgästen der Frühling-Kirchweihe, unter Frohen war der Sieg über die Rührung nicht so schwer. Heinrich rollete oben den langen Bauriß seiner Luftschlösser und die Baubegnadigungen seines babylonischen Turmes eilig auf. Er hatte dem Grafen von Vaduz, dessen Ohren und dessen Herz sich nach ihm auftaten und hungernd öffneten, sein heiliges Ehrenwort zurückgelassen, [375] wiederzukommen als sein Inspektor. Aber seine Absicht war, sich durch seinen teuern Koadjutor und Substituten cum spe succedendi, Firmian, repräsentieren zu lassen, der in Laune und Körper eine solche Tautologie von ihm war, daß der Graf und der Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden beide vergeblich untersucht und gemessen hätten, um einen davon auszuklauben. 1200 Tlr. warf die Inspektion jährlich in schlechten Jahren Einkünfte ab, also geradesoviel, als Siebenkäsens ganze mit dem Prozesse plombierte Erbschaftmasse betrug: Siebenkäs sollte, wenn er seinen abgelegten Namen »Leibgeber« wieder ergriff, eben das gewinnen, was er verlor, da er ihn veräußerte. – »Denn ertragen«, fuhr Heinrich fort, »verwinden, verbeißen kann ichs nun, seitdem ich deine teuflische Auswahl gesehen, auf keine erdenkliche Weise mehr, daß du im vermaledeiten abgegriffnen Kuhschnappel noch länger brach fortsäßest als Einhorn und Eintier und Einsiedler und Ungekannter! Aber könntest du dir wohl so lange Bedenkzeit dazu nehmen, als der Regierungkanzelist dorten braucht, seine Pfeife auszuschütteln, sobald ich dir sage, daß ich in der Welt kein Amt versehen kann (du aber herrlich jedes) als das eines Graciosos, und kein Rat in einem Kollegium werden als bloß ein kurzweiliger, weil ich mehr Kenntnisse besitze als einer, die ich aber nicht zum Praktizieren, sondern nur zum Satirisieren brauchen kann, weil meine Sprache eine farbige lingua franca, mein Kopf ein Proteus und ich eine schöne Kompilation vom Teufel und seiner Großmutter bin? – Und könnt' ich, so möcht' ich nicht. – Wie? in meiner blühenden Jugend soll ich als ein Amtierer, als ein Staats-Gefangner im Burgverließ und Notstall der Amtstube wiehern und stampfen, ohne eine schönere Aussicht als die auf den in meinem Stand und Pferde-Stand hängenden Sattel und Zeug, indes draußen die herrlichsten Parnasse und Tempetäler vergeblich für das Musenpferd offen ständen? Jetzt in den Jahren, wo meine Lebens-Milch einige Sahne aufwerfen will, soll ich, da ohnehin die Jahre bald kommen, wo man sauer wird und in Molkenwasser und Quark zerfährt, da soll ich mir das Kälber-Lab einer Bestallung in meine Morgenmilch werfen lassen?- Du aber mußt anders pfeifen: [376] denn du bist schon ein halber Amtmann und ein ganzer Ehe-Mann dazu. – Ach, es wird alle Bremische Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, alle komische Romane und komische Opern übertreffen, wenn ich mit dir nach Kuhschnappel fahre und du da auslöschest und vorher testierest und nachher, wenn wir dir die letzte Ehre erwiesen haben, dich ein wenig hurtig aufmachst und der noch größern entgegenläufst, nicht sowohl um selig zu werden, als ein Inspektor; damit du nach deinem Tode nicht sowohl vor einem strengen Richterstuhl erscheinst, als dich selber auf einen setzest! – Spaß über Spaß! Ich übersehe die Folgen gar noch nicht oder schlecht – die Leichenkasse muß deiner betrübten Witwe zahlen (du kannsts der Kasse wieder gut tun, wenn du zu Gelde kommst) – deine Ringfinger mit dem verschwollenen Trauring und voll Fingerwürmer schneidet der Tod ab – deine Witwe kann heiraten, wen sie will, sogar dich, du auch –«

Auf einmal schlug Leibgeber vierzigmal auf seine Schenkel und rief: »Ei, ei, ei, ei, ei, etc.! – Ich kanns kaum abwarten, daß du erblassest... Höre, dein Tod kann zwei Witwen geben... Ich berede Natalien, daß sie sich bei der Königl. preußischen allgemeinen Witwenverpfleganstalt auf deinen Tod eine Pension von 200 Tlr. jährlich versichern lässet 117. Du kannst es der Kgl. preuß. allgemeinen Witwenverpfleganstalt wieder heimzahlen, sobald du das Nötige erringst. Du mußt deiner künftigen Witwe, wenn sie dem Venner einen Korb gibt, heimlich ein Brot- und Fruchtkörbchen aufhängen. Könntest du nicht zahlen und stürbest wirklich dir selber nach: so wär' ich da, und keine Kasse verlöre, wenn ich wieder bei meiner wäre.« Leibgeber lebte nämlich in einem geheimnisvollen, von ihm selber nicht erklärten Wechselfieber von Arm- und Reichwerden, oder wie ers nannte, [377] von Aus- und Einatmen der Lebenluft (aura vitalis) des Geldes. Jeder andere – als dieser spiel-keck mit dem Leben umspringende Mensch, dessen Flammenfeuer für Recht und Wahrhaftigkeit und Uneigennützigkeit dem Advokaten schon seit Jahren wie von Pharus-Höhen herabgeleuchtet – hätte unsern Siebenkäs besonders als Juristen stutzig machen, ja erzürnen, anstatt überwältigen müssen; – aber Leibgeber durchtränkte, ja durchbrannte ihn mit seinem ätherischen Spielgeiste und riß ihn unaufhaltsam hin zu einem mimischen Täuschen ohne eigennützige Lug- und Trug-Zwecke.

Doch so viel Gewalt behielt Firmian über sich in seinem Geisterrausche, daß er, wenigstens auf die Gefahr, seinen Freund selber bloßzustellen, Rücksicht nahm. »Wenn man aber – sagte er – meinen wahren Heinrich Leibgeber, dessen Namen ich mir anraube, irgend einmal antrifft neben mir Falschnamenmünzer: was wird?«

»Man trifft mich eben nicht an«, sagte Heinrich; »denn sieh, sobald du deinen alten kanonischen, echten Namen Leibgeber wieder nimmst und meinen über einem bestürmten Taufbecken geschaffnen, Firmian Stanislaus, wieder fahren lässest, welches Gott gebe: so schnell' ich mich mit ganz unerhörten Namen (es kann sein, daß ich, um 365 Namentage zu begehen, von jedem Tage die Kalendernamen borge), schnelle mich, sag' ich, ins Welt-Meer aus dem festen Lande, treibe mich mit meinen Rücken-, Bauch- und andern Floßfedern durch die Fluten und Sümpfe des Lebens und bis ans dicke Toten-Meer – und dann seh' ich dich wohl spät wieder«... Er schauete starr in die hinter Baireuth herrlich sinkende Sonne – seine festgehefteten Augen glänzten feuchter, und er fuhr langsamer fort: »Firmian, heute steht Stanislaus im Kalender – es ist dein, es ist mein Namentag und zugleich der Sterbetag dieses wandernden Namens, weil du ihn nach deinem Scheintode ablassen mußt – Ich armer Teufel will doch einmal nach langen Jahren ernsthaft sein heute. Gehe du allein durch das Dorf Johannis nach Hause; ich will auf der Allee heimgehen; im Gasthofe treffen wir uns wieder – Beim Himmel! hier ist alles so schön und so rot, als wenn die Eremitage[378] ein Stück von der Sonne wäre. – Bleibe freilich nicht lange!« – Aber ein scharfer Schmerz ging über Heinrichs Angesicht mit schwellenden Falten, und er kehrte das erhobne Bildwerk des Grams und die blinden Augen voll Glanz und Wasser ab und eilte schief mit einem wegschauenden Gesichte, das den Schein einer andern Aufmerksamkeit annahm, vor den Zuschauern vorbei und verschwand in den Laubengängen.

Firmian stand allein mit nassen Augen vor der sanften Sonne, die sich über der grünen Welt in Farben auflöste. Die tiefe Goldgrube einer Abendwolke tropfte unter dem nahen Sonnenfeuer aus dem Äther auf die nächsten Hügel, und das umherrinnende Abendgold hing durchsichtig an den gelbgrünen Knospen und an den weißroten Gipfeln, und ein unermeßlicher Rauch wie von einem Altare trug spielend einen unbekannten Zauber-Widerschein und flüssige, durchsichtige, entfernte Farben um die Berge, und die Berge und die glückliche Erde schien die herunterfallende Sonne widerscheinend aufzufassen.... Aber als die Sonne hinter die Erde sank – – so flog in die leuchtende Welt, die hinter den zwei wasservollen Augen Firmians wie eine ausgedehnte, flackernde, feurige Lufterscheinung zitterte, plötzlich der Engel eines höhern Lichts, und er trat blitzend wie ein Tag mitten in den nächtlichen Fackeltanz der hüpfenden Lebendigen, und sie erblichen und standen alle. – – Als er seine Augen abtrocknete, war die Sonne hinunter und die Erde stiller und bleicher, und die Nacht zog tauend und winterlich aus den Wäldern.

Aber das zerflossene Menschenherz schmachtete nun nach seinen Verwandten und nach allen Menschen, die es liebte und kannte, und es schlug unersättlich in diesem einsamen Kerker des Lebens und wollte alle Menschen lieben. O an einem solchen Abend ist die Seele zu unglücklich, die viel entbehret oder viel verloren hat! –

Firmian ging mit süßer Betäubung durch die hängenden Gärten des Blütengeruchs, durch die amerikanischen Blumen, die sich vor unserem Nachthimmel auftun, durch den Schlafsaal zugeschlossener Fluren und unter tropfenden Blüten, und der halbe Mond stand auf der Zinne des himmlischen Tempels im [379] Mittagglanz, den die Sonne aus der Tiefe zu ihm hinaufwarf über die Erde und ihre Abendröte hinüber. – Als Firmian durch das überlaubte Dorf Johannis kam, dessen Häuser in einen Baumgarten verstreuet waren: so wiegten die Abendglocken aus den fernen Dörfern mit Wiegenliedern den schlummernden Frühling ein, und angewehte Äolsharfen schienen aus dem Abendrot zu spielen, und ihre Melodien flossen leise in den weiten Schlaf und wurden darin Träume. Sein überschüttetes Herz drängte sich nach Liebe, und er mußte vor Sehnsucht einem schönen Kinde in Johannis, das mit einem Wasserreiser tändelte, seine Blumen eilend in die zwei weißen Hände drücken, um nur Menschenhände zu berühren.

Guter Firmian! geh zu deinem gerührten Freunde mit deiner gerührten Seele, sein innerer Mensch streckt auch die Arme nach einem Ebenbilde aus, und ihr seid heute nirgends glücklich als aneinander! – Und als Firmian ins gemeinschaftliche, nur von der roten Dämmerung helle Zimmer trat: so wandte sich sein Heinrich um, und sie fielen einander stumm in die Arme und vergossen mit gebückten Häuptern alle Tränen, die in ihnen brannten; aber die der Freude auch, und sie endigten die Umarmung, aber das Verstummen nicht. Heinrich warf sich in Kleidern in sein Bette und hüllte sich ein. Firmian sank in das zweite daneben und weinte beglückt aus verschlossenen Augen. Nach einigen trunknen, von Phantasien, Träumen und Schmerzen erhitzten Stunden fuhr ein leichter Schein über seine heißen Augenlider – er schlug sie auf – der Mond hing weißglühend neben dem Fenster – und er richtete sich auf.... Aber da er seinen Freund still und blaß, wie einen Schatten des Monds an der Wand, am Fenster lehnen sah, und da jetzo aus einem nahen Garten Rusts Melodie des Liedes: »Nicht für diese Unterwelt schlingt sich der Freundschaft Band etc.« wie eine schlagende Nachtigall aufflog: so sank er unter dem Drucke einer schweren Erinnerung und einer zu großen Rührung zurück, und die trüben Augen verschloß ein Krampf, und er sagte nur dumpf: »Heinrich, glaub an die Unsterblichkeit! Wie wollen wir uns denn lieben, wenn wir verwesen?« –

[380] »Still, still!« sagte Heinrich; »heute feier' ich meinen Namentag, und der ist genug; einen Geburttag hat ja der Mensch nicht und mithin einen Sterbetag desfalls nicht.«

Dreizehntes Kapitel

Die Uhr aus Menschen – Korbflechterin – der Venner


Als ich im vorigen Kapitel von Kurzschläferinnen sprach, die um sechs Stunden früher erwachen als ihre Gegenfüßlerinnen: so tat ich, glaub' ich, wohl, daß ich das Modell einer von mir längst erfundenen Uhr aus Menschen, das ich im 12ten Kapitel nicht unter die eng aneinander stehenden Begebenheiten schieben wollte, auf das 13te aufsparte; in das trag' ichs herein und stell' es auf. Ich glaube, Linnés Blumenuhr in Upsal (horologium florae), deren Räder die Sonne und Erde, und deren Zeiger Blumen sind, wovon immer eine später erwacht und aufbricht als die andere, gab die geheime Veranlassung, daß ich auf meine Menschen-Uhr verfiel. Ich wohnte sonst in Scheerau, mitten auf dem Markt, in zwei Zimmern; in mein vorderes schauete der ganze Marktplatz und die fürstlichen Gebäude hinein, in mein hinteres der botanische Garten. Wer jetzo in beiden wohnt, hat eine herrliche vorherbestimmte Harmonie zwischen der Blumenuhr im Garten und der Menschenuhr auf dem Markt.

Es ist 3 Uhr, wenn sich der gelbe Wiesenbocksbart aufschließet, ferner die Bräute, und wenn der Stallknecht unter dem Zimmer-Mietmann zu rasseln und zu füttern anfängt. – Um 4 Uhr erwachen (wenns Sonntag ist) das kleine Habichtkraut und die heiligen Kommunikantinnen, welche Sing-Uhren sind, und die Bäcker. – Um 5 Uhr erwachen die Küchen- und Viehmägde und Butterblumen – Um 6 Uhr die Gansdisteln und Köchinnen – Um 7 Uhr sind schon viele Garderobejungfern im Schlosse und der zahme Salat in meinem botanischen Garten wach, auch viele Kauffrauen – Um 8 Uhr machen alle ihre Töchter, das gelbe Mausöhrlein, die sämtlichen Kollegien die Blumen-, Kuchen- und Aktenblätter auf – Um 9 Uhr regt sich schon der weibliche [381] Adel und die Ringelblume; ja viele Landfräulein, die zum Besuche kamen, sehen schon halb zum Fenster heraus – Um 10, 11 Uhr reißen sich Hofdamen und der ganze Kammerherrenstab und der Rainkohl und der Alpenpippau und der Vorleser der Fürstin aus dem Morgenschlafe, und das ganze Schloß bricht sich, weil die Morgensonne so schön vom hohen Himmel durch die bunte Seide glimmt, heute etwas Schlummer ab – Um 12 Uhr hat der Fürst, um 1 Uhr seine Frau und die Nelke in ihrer Blumen-Urne die Augen offen. – Was noch spät abends um 4 Uhr sich aufmacht, ist bloß das rote Habichtkraut und der Nachtwächter als Kuckuckuhr, die beide nur als Abenduhren und Monduhren zeigen. Von den heißen Augen des armen Teufels, der sie erst um 5 Uhr aufschließet, wie die Jalape, wollen wir unsere Augen traurig wegwenden; es ist ein Kranker, der solche eingenommen, und der die mit glühenden Zangen zwickenden Fieberbilder bloß mit wachen Stichen vertauscht. – –

Wenns 2 Uhr war, konnt' ich nie wissen, weil da ich (samt tausend dicken Männern) und das gelbe Mausöhrlein miteinander einschliefen; aber um 3 nachmittags und um 3 am Morgen erwacht' ich als eine richtige Repetieruhr.

So können wir Menschen für höhere Wesen Blumen-Uhren abgeben, wenn auf unserem letzten Bette unsere Blumenblätter zufallen – oder Sand-Uhren, wenn die unsers Lebens so rein ausgelaufen ist, daß sie in der andern Welt umgekehrt wird – oder Bilder-Uhren, weil in jene zweite, wenn hier unten unsere Totenglocke läutet und schlägt, unser Bild aus dem Gehäuse tritt – sie können in allen solchen Fällen, wo 70 Menschenjahre vorüber sind, sagen: »Schon wieder eine Stunde vorbei! Lieber Gott, wie doch die Zeit verläuft!« –

Das seh' ich an dieser Abschweifung. – Firmian und Heinrich traten heiter in den benachbarten lauten Morgen, aber jener konnte den ganzen Vormittag auf keinem Sessel und Stubenbrette einwurzeln; die opera buffa e seria seines Lug-Todes zog immer vor seiner Seele ihren Vorhang auf und zeigte ihre burlesken Auftritte. Er war nun, wie allemal, humoristischer durch Leibgebers Gegenwart und Vorbild geworden, der über ihn [382] durch seine innere Ähnlichkeit regierte. Leibgeber, der schon vor vielen Wochen alle Kulissen und Bühnenverschiebungen des Vexier-Sterbens mit der Phantasie erschöpfend ausgewandert hatte, dachte jetzo wenig daran; sein Neues war der Vorsatz, aus Rosas Brautfackel, die schon gegossen und angestrichen war, den Dacht herauszuziehen, die Braut. Heinrich war überall ungestüm, frei, kühn, ergrimmend und unversöhnlich gegen Ungerechtigkeiten; und dieser moralische Ingrimm nahm, wie hier in Rosas und Blaisens Sache, zuweilen zuviel vom Schein der Rachsucht an. Firmian war milder und schonte und vergab, oft sogar auf scheinbare Kosten seiner Ehre; er wäre nicht imstande gewesen, der schönen Natalie den brieflichen Geliebten mit Heinrichs englischem Schlüssel oder Pelikan aus der blutenden Seele zu ziehen. Sein Freund mußte, als er heute in Fantaisie zu ihr ging, das Versprechen der weichsten Behandlung und des vorläufigen Schweigens über die Kgl. preuß. Witwenverpfleganstalt zurücklassen. Allerdings hätt' es Nataliens Ehrgefühl blutig versehret, wenn man ihre moralische Trennung vom unmoralischen Venner auch nur von weitem in irgendeine Zusammenstellung mit einem metallischen Ersatze einer geistigen Einbuße hätte bringen wollen; sie verdiente und vermochte zu siegen, bei der Aussicht, zu verarmen.

Spät kam Heinrich wieder, ein wenig mit verworrenem Gesicht, aber doch mit einem erfreueten. Rosa war verworfen – und Natalie verwundet. Die Engländerin war in Ansbach bei der Lady Craven und aß die Butter mit, die die letztere noch außer den Büchern machte. Als er dieser Römerin – so hieß die Britin Natalien gewöhnlich – das ganze schwarze Brett und Sündenregister des Venners vorgelesen hatte, zwar ernsthaft, aber ein wenig laut und treu: so stand sie in dem großen Anstand, den die aufopfernde Begeisterung annimmt, auf und sagte: »Wenn Sie hierin so wenig getäuscht wurden, als Sie täuschen können; und wenn ich Ihrem Freunde so viel glauben darf als Ihnen: so geb' ich Ihnen mein heiliges Wort, daß ich mich zu nichts zwingen oder bereden lasse. Aber in einigen Tagen kommt der Gegenstand ja selber, dem ich so gut wie meiner Ehre schuldig bin, ihn [383] zu hören, da ich meine Briefe in seine Hände gegeben. Aber wie hart ists, daß ich so kalt sprechen muß!« Von Minute zu Minute erlosch auf ihrem glühenden Gesicht das Rosenrot immer mehr in Rosenweiß; sie stützte es auf ihre Hand, und als die Augen voller wurden und endlich tropften, sagte sie fest und stark: »Kehren Sie sich daran nicht; ich halte Wort Dann reiße ich mich, was es mir auch koste, von meiner Freundin ab und kehre nach Schraplau in meine arme Verwandtenwelt zurück. Ich habe ohnehin in der vornehmen Welt lange genug gelebt, doch nicht zu lange.«

Heinrichs seltner Ernst hatte sie überwältigt. Sie setzte in seine Rechtschaffenheit ein unerschütterliches Vertrauen, bloß weil er – ein sonderbarer Grund! – bisher sich nicht in sie verliebet, sondern nur mit ihr befreundet hatte, ohne mithin ihre Foderungen ans Herz durch seine – einzuschränken. Sie würde vielleicht auf den verheirateten Fiskal ihres Bräutigams, auf Firmian, gezürnet haben, wären ihm drei oder vier der besten Entschuldigungen abgegangen – nämlich seine geistige Ähnlichkeit mit Leibgeber überhaupt, dann seine physiognomische, welche sich vollends durch die Blässe so sehr verklärte, ferner sein rührendes Abendblatt und endlich sein ganzes mildes liebevolles Wesen. Die gestrige Bitte, ihn abends mitzubringen, tat sie nun zu Leibgebers größter Freude zum zweiten Male, so weh es ihr auch um das ganze Herz herum war. – Niemand nehme ihr aber die Halbtrauer über den untersinkenden Venner übel oder ihren Irrtum über ihn, da wir alle wissen, daß die lieben Mädchen so oft Empfindsamkeit mit Rechtschaffenheit, Briefe mit Taten und Dinten-Tränen mit einem ehrlichen warmen Blute verwechseln.

Nachmittags brachte Leibgeber den Advokaten zu ihr, gleichsam als seinen Beweis zum ewigen Gedächtnis, als seine syllogistische Figur, als seine rationes decidendi, da der Venner aus rationibus dubitandi bestand. Aquiliana empfing den Advokaten mit einem fliehenden Erröten und dann mit einem kleinen Stolze aus Scham, aber doch mit der Zuneigung, die sie seiner Teilnahme an ihrer Zukunft schuldig war. Sie wohnte in den Zimmern der Engländerin; das blühende Lusttal lag draußen davor, wie eine [384] Welt vor einer Sonne. Ein solcher voller Lustgarten hat den Nutzen, daß ein fremder Advokat den Spinnen-Faden der Rede an seine Äste leichter anzuknüpfen weiß, bis der Faden, zu einem schimmernden Kunstgewebe herumgesponnen, im Freien hangt. Firmian konnte nie jene Weltleute erreichen, die nichts brauchen, um ein Gespräch anzuspinnen, als einen Zuhörer; die wie Laubfrösche an den glättesten Dingen festzukleben wissen, worauf sie hüpfen; ja die sogar, was die Laubfrösche nicht einmal können, im luft- und sachleeren Raume sich anhalten. Aber eine freie Seele wie Siebenkäs könnte sogar an einem Hofe nicht lange von der Unbekanntschaft mit den Verhältnissen verworren bleiben, sondern sie müßte bald ihre Freiheit in ihrer angebornen Erhebung über alle Zufälligkeiten wiederfinden und durch anspruchlose Einfachheit die kunst- und anspruchvolle der Welt leicht ersetzen.

Gestern hatt' er diese Natalie im heitersten Genusse ihrer Kräfte und der Natur und der Freundschaft lächeln und zaubern und sie den schönen Abend noch mit einer Opferkühnheit krönen sehen; doch heute war so wenig von den zarten hellen Freuden übrig! In keiner Stunde ist ein schönes Gesicht schöner als in der, welche auf die bittere folgt, worin die Tränen über den Verlust eines Herzens auf ihm vorübergezogen; denn in der bittern selber würde uns die jammernde Schönheit vielleicht zu sehr betrüben und schmerzen. Firmian wäre mit Freuden für diese holde Gestalt, die das in ihr Herz getriebene Opfermesser bedeckte und gern es darin glühen ließ, um nur das Bluten zu verzögern, er wäre mit Freuden für sie auf eine ernstere Art als er vorhatte, gestorben, wenn er ihr mehr damit hätte helfen können. Kann man es denn da so außerordentlich finden, daß das Bindwerk zwischen beiden zugleich mit dem fallenden Sand im Stundenglas immer höher und dichter wuchs, sobald man nur erwägen will, daß bei einem ungewöhnlichen dreifachen Ernste – denn sogar Leibgeber geriet darein – sich jede Brust vor der Gala-Natur des Frühlings mit sanften Wünschen füllte – daß Firmian heute, mit seiner bleichen, kränklichen, von alten Kümmernissen bezeichneten Gestalt, gefällig und wie Abendsonnenschein in ein halbverweintes [385] wundes Auge fiel – daß ihr das (sonderbare) Verdienst ihn anempfohl, ihrem Treulosen wenigstens einige Untreuen vergället und verbauet zu haben – daß er alle seine Töne aus der Molltonleiter eines sanften Herzens aussuchte, weil er es vergüten und verdecken wollte, daß er dieser Unschuldigen und Unbekannten so viele Hoffnungen und Freuden auf einmal hatte verheeren müssen – und daß sogar der größere Grad von ehrender, scheuer Zurückhaltung ihn durch den Kontrast, den er mit seinem Ebenbilde, dem vertraulichen Heinrich, machte, verschönerte? – Diese Reize des Verhältnisses, die der weiblichen Welt mehr abgewinnen und abnötigen als die verkörperten beleibten, hatte der Advokat sämtlich in Nataliens Augen. Sie hatte in den seinigen noch größere und lauter neue: ihre Kenntnisse – ihre männliche Begeisterung – ihren feinern Ton – und ihre schmeichelhafte Behandlung, mit der ihn vorher noch keine Schöne verherrlicht hatte, ein Reiz, der viele eines weiblichen Umgangs ungewohnte Mannspersonen nicht bloß bis zum Entzücken, sondern bis zur Ehe hinreißet – und noch die zwei letzten und größten Schönheiten, daß die ganze Sache zufällig und ungewöhnlich war, und daß Lenette überall davon die Gegenfüßlerin war. –

Darbender Firmian! An deinem Lebenflüßchen steht, wenn es auch zu einem Perlenbach wird, immer eine Galgen- und eine Warntafel! – In einer solchen warmen Temperatur, wie deine jetzo war, mußte dir der Ehering zu eng anliegen und dich kneipen, wie überhaupt alle Ringe in warmen Bädern pressen, und in kalten schlottern.

Aber irgendeine teuflische Najade oder ein ränksüchtiger Meergott hatte die größte Freude, Firmians Lebens-Meer, wenn es gerade von einigen phosphoreszierenden Seetieren oder von einer unschädlichen elektrischen Materie reizend leuchtete, und wenn sein Schiff darin eine schimmernde Straße hinzog, umzurühren und zu trüben und zu verfinstern; denn eben als das Vergnügen und die äußere Gartenpracht immer höher wurde – und die Verlegenheit kleiner – die schmerzlichen Erinnerungen an den neuen Verlust versteckter – als schon das Fortepiano oder das Fortissimopianissimo und die Singstücke aufgemacht waren[386] – kurz, als die Honiggefäße ihrer Freuden-Orangerie insgesamt und erlaubte ägyptische Fleischtöpfe und ein weiter Abend- und Liebesmahls-Becher offen war: so sprang mit zwei Füßen nichts Geringers hinein als eine große Schmeißfliege, die schon öfters in Firmians Freudenbecher geflogen war.

Der Venner Everard Rosa von Meyern trat ein, anständig in Safran gekleidet, um seiner Braut das Gesandten-Recht des ersten Besuchs zu geben....

Er war in seinem Leben nie anders gekommen als zu spät oder zu bald; so wie er nie ernsthaft, sondern entweder weinerlich oder schäkerhaft war. Das Format von drei Gesichtern war jetzo das Langduodez – bloß Leibgeber machte seines nicht auf der Ziehbank lang, sondern im Färbekessel und Brütofen rot, weil er einen eignen Ingrimm gegen alle Stutzer und Mäd chen-Sperber hatte. Everard hatte aus dem Stolbergischen Homer einen Antritt-Einfall mitgebracht: er wollte die homerischen Helden nachahmen und Aquilianen beim Eintritt fragen, ob sie eine Göttin oder ein Mensch sei, weil er sich nur mit letztem kämpfend messen könne; aber beim Anblicke des männlichen Paars, das der Teufel wie eine Doppelflinte gegen sein Gehirn hinhielt, wurd' in letztem alles käsig und klößig und fest; er konnte den Einfall um Küsse nicht in Fluß bringen. Erst fünf Tage darauf hatt' er den geringen Inhalt seiner Kopfknochen wieder so ausgebessert, daß er den Einfall einer weitläuftigen Verwandten von mir denn wie wüßt' ichs sonst? – noch gut erhalten überreichen konnte. Überhaupt lähmte ihn in weiblicher Gesellschaft nichts ärger als eine männliche, und er stürmte leichter ein ganzes weibliches Stift als – sobald ein einziger elender Mann dabei stand nur zwei Stiftfräulein, geschweige eine Stiftdame.

Eine solche stehende Theatertruppe spielte noch nicht im Schlosse von Fantaisie, als ich hier vor meinem Pinsel sehe. Natalie war in eine unhöfliche Verwunderung und in ein kaltes Vergleichen dieser Originalausgabe mit ihrem brieflichen Ideal verloren. Der Venner, der ein anderes Fazit der Vergleichung voraussetzte, wäre gern ein offenbarer Widerspruch und sein eigner Gegenfüßler gewesen, hätt' ers machen können; ich meine, [387] hätt' er sich auf einmal empfindlich-kalt gegen Natalien über den verhaßten Fund eines solchen Paars, und doch zugleich vertraulich und zärtlich zeigen können, um das dürftige Paar mit seiner Ernte und Weinlese herzlich zu ärgern. Er wählte – zumal da er über ihre Gestalt ebenso, nur angenehmer, betroffen war als sie über seine, und da ihm noch immer Zeit genug zum Rächen und Strafen blieb – lieber das Prahlen, um den zwei Reichsgerichten neben ihm den Besuch durch Neid zu versalzen und zu gesegnen. Auch hatt' er vor beiden den Vorzug eines feuerflüchtigen Körpers, und er machte seine Landmacht von leiblichen Reizen geschwinder als beide die ihrige mobil. Siebenkäs sann nichts Näherem nach als seiner – Frau; vor Rosas Ankunft hatt' er den Gedanken daran wie eine sauere Wiese abgeweidet, weil seine Eigenliebe von der zersprungnen Borke der ehelichen Hand nicht so weich überfahren wurde als von den mit Eider-Dunen gefüllten Schneckenfühlfäden oder Fingern einer jungfräulichen; aber jetzo wurde aus dem Gedanken an Lenette eine süße Wiese, weil seine in zwei Orten eingepfarrte Eifersucht über Rosan sich an Lenettens Betragen weniger stieß als an Nataliens Verhältnissen. Heinrich nahm an Augen-Grimm zu und fuhr an Rosas Sommer-Hasenbalg von gehler Seide mit gehlsüchtigen Blicken auf und ab. Er krabbelte aus zorniger Selbtätigkeit in der Westentasche und erpackte den Schattenriß des Heimlichers von Blaise, den er, wie bekannt, als er die gläserne Perücke zertrat, ihm wie aus den Augen geschnitten hatte, und an dem ihn seit einem Jahr nichts verdroß, als daß er in seiner Tasche anstatt am Galgen war, woran er ihn an jenem Abschied-Abend mit einer Haarnadel hätte schlagen können. Er zog die Silhouette heraus und glitt, unter ihrem Zerzausen, leicht zwischen ihr und Rosa hin und her und murmelte, indem er den Blick an den Venner befestigte, Siebenkäsen zu: »à la Silhouette 118

Everards Eigenliebe erriet diese schmeichelnden, aber unwillkürlichen Opfer der fremden beleidigten und legte, immer übermütiger gegen den Armenadvokaten, Fragmente aus seiner [388] Reisebeschreibung, Empfehlungen seiner Bekannten und Fragen über die Ankunft seiner Briefe dem verlegnen Mädchen zudringlich ans Herz. Die Gebrüder Siebenkäs und Leibgeber bliesen einander zum Abzug, aber als echte – Mannspersonen; denn sie zürnten ein wenig über die schuldlose Natalie, gerade als wenn diese dem eintretenden Sponsus und Briefgatten mit dem Handwerk-Gruße hätte entgegenschreiten können: »Mein Herr! Sie können mein Herr gar nicht werden, gesetzt auch, Sie wären nichts Schlimmers als ein Halunke – Tropf – Fratz – Geck – etc.« Aber müssen wir nicht alle (denn ich glaube nicht, daß ich selber auszunehmen bin) an unsere beinerne, mit Sünden gefüllte Brust schlagen und bekennen, daß wir Feuer speien, sobald scheue Mädchen nicht sogleich eines auf die Leute geben, auf die wir vor ihnen Schatten und Bannstrahle geworfen haben – daß wir sie ferner im Fortjagen schlimmer Schildknappen rasch erfinden wollen, da sie es doch im Annehmen derselben nicht sind daß sie sich aus den Not- und Ehrenzügen ihrer Kossäten und andern Lehnleute so wenig machen sollen als wir andern Mitbelehnten – und daß wir ihnen schon gram werden, nicht über ihre Untreue, sondern über eine unverschuldete Gelegenheit dazu? – Der Himmel bessere das Volk, wovon ich eben gesprochen habe.

Firmian und Heinrich schweiften einige Stunden in dem Zaubertale voll Zauberflöten, Zauberzithern und Zauberspiegel umher, aber ohne Ohren und Augen; das Reden über den Vorfall schürte ihre Köpfe wie Ballonöfen voll, und Leibgeber blies aus Famas-Trompete a posteriori mit lauter satirischen Injurien jede Baireutherin an, die er in den Lustgängen spazieren gehen sah. Er tat dar: Weiber wären die schlimmsten Fahrzeuge, in die ein Mann sich in die offne See des Lebens wagen könnte, und zwar Sklavenschiffe und Bucentauros (wenn nicht Weberschiffe, mit denen der Teufel seine Jagdtücher und Prellgarne abwebt), und das um so mehr, da sie eben wie andere Kriegschiffe häufig gewaschen, überall mit einem giftigen Kupfer-Anstrich gegen außen versehen würden und eben solches überfirnißtes Tauwerk (Bänder) führten. Heinrich war mit der (höchst unwahrscheinlichen) [389] Erwartung gekommen, daß Natalie seinen Freund als Augen- und Ohrenzeugen über Rosas kanonische Impedimente (kirchliche Ehehindernisse) protokollarisch vernehmen werde; – und dieses Mißlingen nagte ihn so sehr.

Aber eben, als sich Firmian über des Venners lispelnde, ineinanderrieselnde, um die Zungenspitze kräuselnde Aussprache ohne Ausdruck aufhielt, so rief Heinrich: »Dort läuft ja die Drecklilie 119!« Es war der Venner, gleichsam ein in seinem Verkaufnetz schnalzender Markthecht. Als der Specht – denn der Naturforscher nennt alles Geflügel mit buntem Gefieder Spechte – näher vor ihnen vorüberflog, sahen sie sein Gesicht von Erbosung glimmen. Wahrscheinlich war der Leim zwischen ihm und Natalien aufgegangen und abgelaufen. –

Die zwei Freunde verweilten noch ein wenig in den Schattengängen, um ihr zu begegnen. Endlich aber nahmen sie ihren Rückweg zur Stadt, auf dem sie einer Dienerin Nataliens nachkamen, die Leibgebern folgendes Schreiben nach Baireuth zu überbringen hatte:

»Sie und Ihr Freund hatten leider recht – und nun ist alles vorbei. – Lassen Sie mich einige Zeit einsam auf den Ruinen meiner kleinen Zukunft ruhen und denken. Leute mit verwundeter zugenähter Lippe dürfen nicht reden; und mir blutet nicht der Mund, sondern das Herz, und dies über Ihr Geschlecht. Ach, ich erröte über alle die Briefe, die ich bisher leider mit Vergnügen und Irren geschrieben; und fast sollt' ich es kaum. Haben Sie doch selber gesagt, man müsse sich schuldloser Freuden so wenig schämen als schwarzer Beeren, wenn sie auch nach dem Genusse einen dunkeln Anstrich auf dem Munde nachließen. Aber ich dank' Ihnen in jedem Falle von Herzen. Da ich einmal entzaubert werden mußte, so war es unendlich sanft, daß es nicht durch den bösen Zauberer selber geschehen, sondern durch Sie und durch Ihren so redlichen Freund, den Sie mir recht grüßen sollen von mir.

Ihre

A. Natalie«


[390] Heinrich hatte gar auf eine Einladkarte aufgesehen, da (sagt' er) ihr ausgeleertes Herz eine kalte Lücke fühlen müsse, wie ein Finger, dem der Nagel zu scharf beschnitten worden. Aber Firmian, den die Ehe geschulet, und dem sie über die Weiber Barometerskalen und Zifferblätter gegeben hatte, war der klugen Meinung: eine Frau müsse in der Stunde, worin sie aus bloßen moralischen Gründen einen Liebhaber verabschiedet habe, gegen den, der sie mit jenen dazu überredet hätte, und wär' es ihr zweiter, ein wenig zu kalt sein. Und aus demselben Grunde (das muß noch von mir dazu) wird sie gegen den zweiten sogleich nach der Kälte die Wärme übertreiben.

»Arme Natalie! Mögen die Blüten und die Blumen der englische Taft-Verband für die Schnitte in deinem Herzen werden und der milde Äther des Frühlings die Milchkur für deine engatmende Brust!« wünschte Firmian unaufhörlich in seiner Seele und fühlte es so schmerzlich, daß eine Unschuldige so geprüft und gestraft werde wie eine Schuldige und daß sie die reinigende Luft ihres Lebens anstatt von gesunden Blumen sich von giftigen holen mußte 120.

Den Tag darauf machte Siebenkäs weiter nichts als einen Brief, worunter er sich Leibgeber unterzeichnete, und worin er dem Grafen von Vaduz berichtete, daß er krank sei und so graugelb aussehe wie ein Schweizerkäse. Heinrich hatt' ihm keine Ruhe gelassen: »Der Graf«, sagt' er, »hat an mir einen blühenden und weißglühenden Inspektor gewohnt. So aber, wenn ers schriftlich hat, findet er sich ins Wirkliche und glaubt, du bist ich. – Zum Glück sind wir beide sonst Männer, die sich in keinem Mautamt aufzuknöpfen brauchen 121, und die nichts unter der Weste führen als ihre Näbel.«

Am Donnerstag stand Siebenkäs unter dem Tore des Gasthofes und sah den Venner in einem Kurhabit mit einem belorbeerten Parade-Kopf und mit einem ganzen Bahrdtischen Weinberg auf dem Gesicht zwischen zwei Frauenzimmern nach der [391] Eremitage fahren. Als ers hinauftrug ins Zimmer, fluchte und schwur Leibgeber: »Der Spitzbube ist keine wert, als die statt des Kopfes eine Schädelstätte und statt des Herzens eine gorge de Paris hat oder (die Richtung ist nur anders) einen cul de Paris.« – Er wollte durchaus heute Natalien besuchen und benachrichtigen; aber Firmian zog ihn gewaltsam zurück.

Freitags schrieb sie selber so an Heinrich:

»Ich widerrufe kühn meinen Widerruf und bitte Sie und Ihren Freund, morgen, wo der Sonnabend die schöne Fantaisie entvölkert, diese eben deswegen lieber zu besuchen als den Sonntag darauf. Ich halte die Natur und die Freundschaft in meinen Armen; und mehr fassen sie nicht. – Mir träumte die vorige Nacht, Sie sähen beide aus einem Sarge heraus, und ein weißer, über Sie flatternder Schmetterling würde immer breiter, bis seine Flügel so groß würden wie weiße Leichenschleier, und dann deckt' er Sie beide dicht zu, und unter der Hülle war alles ohne Regung. – Übermorgen kömmt meine geliebte Freundin. – Und morgen meine Freunde: ich hoffe. Und dann scheid' ich von euch allen.

N.A.«


Dieser Sonnabend nimmt das ganze künftige Kapitel ein, und ich kann mir einen kleinen Begriff von des Lesers Begierde darnach machen aus meiner eignen; um so mehr, da ich das künftige Kapitel (wenn nicht geschrieben, doch) schon gelesen habe; er aber nicht.

Vierzehntes Kapitel

Verabschiedung eines Liebhabers – Fantaisie – das Kind mit dem Strauße – das Eden der Nacht und der Engel am Tor des Paradieses


Weder das tiefere Himmelblau, das am Sonnabend so dunkel und einfärbig war als sonst im Winter oder in der Nacht – noch die Vorstellung, heute der trauernden Seele unter die Augen zu kommen, die er aus ihrem Paradiese von dem Sodoms-Apfel der Schlange (Rosa) weggetrieben hatte – noch Kränklichkeit – noch Bilder seines häuslichen Lebens allein: sondern diese Halbtöne [392] und Molltöne insgesamt setzten in unserem Firmian ein schmelzendes Maestoso zusammen, das zu seinem nachmittägigen Besuch seinen Blicken und Phantasien ebensoviel Weichheit mitgab, als er draußen in den weiblichen anzutreffen erwartete.

Er traf das Gegenteil an: in und um Natalien war jene höhere, kalte, stille Heiterkeit, deren Gleichnis auf den höchsten Bergen ist, unter denen das Gewölke und der Sturm liegt, und um welche eine dünnere, kühlere Luft, aber auch ein dunkleres Blau und eine bleichere Sonne ruhen.

Ich tadl' es nicht, wenn ihr jetzo der Leser aufmerksam unter dem Bericht zuhören will, den sie von ihrem Bruch mit Everard erstatten muß; aber der Bericht könnte um einen preußischen Taler – so klein ist erster – herumgeschrieben werden, wenn ich ihn nicht mit meinem vermehrte und ergänzte, den ich aus Rosas eigner Feder abziehe in meine. Der Venner hat nämlich fünf Jahre darauf einen sehr guten Roman – wenn dem Lobe der Allgem. deutschen Bibliothek zu glauben ist – geschrieben, worein er das ganze Schisma zwischen ihm und ihr, die Trennung von Leib und Seele, künstlich einmauerte: wenigstens will man es aus mehren Winken Nataliens schließen. Das ist also meine Vauclusens Quelle. Ein geistiger Hämling wie Rosa kann nichts erzeugen, als was er erlebt, und seine poetischen Fötus sind nur seine Adoptiv-Kinder der Wirklichkeit.

Es ging kürzlich so: kaum waren Firmian und Heinrich das vorigemal unter die Bäume hinaus: so holte der Venner seine Rache nach und fragte Natalien empfindlich, wie sie solche bürgerliche oder verarmte Besuche erdulden könne. Natalie, schon durch die Eiligkeit und Kälte des entflohenen Paars ins Feuer gesetzt, ließ dieses gegen den gelbseidenen Katecheten in Flammen schlagen. Sie versetzte: »eine solche Frage beleidigt fast« – und tat noch ihre hinzu (denn zum Verstellen oder Auskundschaften war sie zu warm und zu stolz): »Sie haben ja selber oft Herrn Siebenkäs besucht.« – »Eigentlich (sagte der Eitle) nur seine Frau; er war bloß Vorwand.« – »So?« sagte sie, und dehnte die Silbe so lang aus wie ihren zornigen Blick. Meyern, erstaunt über diese allem vorigen Briefwechsel widersprechende Behandlung, die er [393] den Zwillingduzbrüdern aufrechnete, und dem jetzo seine körperliche Schönheit, sein Reichtum und ihre Dürftigkeit und Abhängigkeit von Blaise und sein Ehemanns-Näherrecht den größten Mut einflößte, dieser kühne Leue machte sich aus dem nichts, was sich kein anderer erdreistet hätte, aus der erzürnten Aphrodite nämlich, um sie mit seinen Ernennungen zu Cicisbeaten und überhaupt mit seiner Perspektive in hundert für ihn offne Gynäzeen und Witwensitze zu demütigen – er sagte ihr, sag' ich, geradezu: »Es ist so leicht, falsche Göttinnen anzubeten und ihre Kirchentüren zu öffnen, daß ich froh bin, durch Ihre babylonische Gefangenschaft zur wahren weiblichen Gottheit auf immer zurückgeführet worden zu sein.«

Ihr ganzes zerquetschtes Herz stöhnte: »Alles, ach alles ist wahr – er ist nicht rechtschaffen – und ich bin nun so unglücklich!« Aber sie schwieg äußerlich und ging erzürnt an den Fenstern herum. Ihr Geist, der auf der weiblichen Ritterbank saß, den es immer nach ungemeinen, heroischen, opfernden Taten gelüstete, und an dem eine Vorliebe zum gesuchten Großen das einzige Kleinliche war, schlug jetzo, da der Venner auf einmal seine Prahlerei durch einen plötzlichen Übersprung in einen leichten scherzenden Ton vergüten wollte und ihr einen Spaziergang in den schönen Park als einen bessern Ort zum Versöhnen vorschlug 122 ein Ton, der auch bei dem kleinen Kriege mit Mädchen mehr richtet und schlichtet als ein feierlicher – ihr edler Geist schlug nun seine reinen weißen Flügel auf und entfloh auf immer aus dem schmutzigen Herzen dieses gebognen, silberschuppigen Hechtes, und sie trat nahe an ihn und sagte ihm glühend, aber ohne einen nassen Blick: »Hr. v. Meyern! nun ists entschieden. Wir sind auf ewig getrennt. Wir haben uns nie gekannt, und ich kenne Sie nicht mehr. Morgen wechseln wir unsere Briefe aus.« Er hätte sich im Besitze dieser starken Seele durch einen feierlichern Ton um mehre Tage, vielleicht Wochen behauptet.

Sie sperrte, ohne ihn weiter anzusehen, ein Kästchen auf und [394] schlichtete Briefe zusammen. Er sagte 100 Dinge, um ihr zu schmeicheln und zu gefallen: sie antwortete nicht einmal. Sein Inneres geiferte, weil er alles den beiden Advokaten schuld gab. Endlich wollt' er die Taubstumme in seiner zornigsten Ungeduld zugleich demütigen und bekehren, indem er sagte: »Ich weiß nur nicht recht, was Ihr Herr Onkel in Kuhschnappel dazu sagen wird; er scheint mir auf meine Gesinnungen gegen Sie einen viel größern Wert zu legen als Sie hier; ja er hält unser Verhältnis für Ihr Glück so notwendig als ich für meines.«

Diese Bürde fiel zu hart auf einen vom Schicksal ohnehin tief zerritzten Rücken. Natalie schloß eilig das Kästchen zu und setzte sich und stützte ihr taumelndes Haupt auf den bebenden Arm und vergoß glühende Tränen, die die Hand umsonst bedeckte. Denn der Vorwurf der Armut fähret aus einem sonst geliebten Munde wie glühendes Eisen ins Herz und trocknet es mit Flammen aus. Rosa, dessen gelöschte Rachsucht der durstigen Liebe wich, und der in selbsüchtiger Rührung hoffte, sie sei auch in einer über ein zertrenntes Band, dieser warf sich vor sie auf die Knie und sagte: »Es sei alles vergessen! Worüber entzweien wir uns denn? Ihre köstlichen Tränen löschen alles aus, und ich mische die meinigen reichlich darein.«

»Oh!« sagte sie sehr stolz und stand auf und ließ ihn knien, »ich weine über gar nichts, was Sie angeht. Ich bin arm, aber ich bleibe arm. Mein Herr, nach dem niedrigen Vorwurfe, den Sie mir gemacht haben, können Sie unmöglich dableiben und mich weinen sehen, sondern Sie müssen fortgehen.« –

Er zog demnach ab, und zwar – wenn man als billiger Mann seine Rückfracht von Körben aller Art und von Maulkörben dazu nachwiegt – wirklich aufgerichtet und aufgeweckt genug. Besonders sticht seine Heiterkeit (wenn ich ihn loben soll) dadurch hervor, daß er sie an einem Nachmittage behalten und mit heimgenommen, wo er mit zwei seiner feinsten und längsten Hebel nicht das Kleinste in Nataliens Herz und Herzohren zu bewegen vermocht. Der eine Hebel war der alte, bei Lenetten angesetzte, in den Spiral-und Schneckenlinien kleiner Annäherungen und Gefälligkeiten und Anspielungen sich wie ein Korkzieher [395] einzuschrauben; aber Natalie war nicht weich und locker genug für ein solches Eindringen. Von dem andern Hebel hätte man etwas erwarten sollen – der aber noch weniger angegriffen und hatte solcher darin bestanden, daß er wie ein alter Krieger seine Narben aufdeckte, um sie zu Wunden zu verjüngen; er entblößte nämlich sein leidendes, von so mancher Fehlliebe verwundetes und durchbohrtes Herz, das wie ein durchlöcherter Taler als Votivgeld an mancher Heiligen gehangen; seine Seele warf sich in allerlei Hoftrauer der Schmerzen, in ganze und halbe, hoffend, im Trauerschwarz wie eine Witib zauberischer zu glänzen. Aber die Freundin eines Leibgebers konnten nur männliche Schmerzen erweichen, weibische hingegen nur verhärten.

Indes ließ er, wie schon angedeutet, die Braut Natalie zwar ohne alle Rührung über ihr Selberopfern, doch auch ohne sonderlichen Ingrimm über ihr Weigern sitzen – zum Henker fahre sie, dacht' er bloß, und er könne sich kaum selig genug preisen, daß er so leicht der unabsehlich-langen Verdrüßlichkeit entgangen, ein dergleichen Wesen jahraus jahrein ausstehen und verehren zu müssen in einer verdammt langen Ehe; – hingegen über alle Maßen entzündete sich seine Leber gegen Leibgeber und vollends gegen Siebenkäs – den er für den eigentlichen Ehescheider hielt –, und er setzte in der Gallenblase einige Steine an und in den Augen einiges Gallen-Gelb, alles in bezug auf den Advokaten, der ihm nicht genug zu hassen war.

Wir kehren zum Samstag zurück. Natalie verdankte ihre Heiterkeit und Kälte zwar ihrer Herzens-Stärke, doch auch etwas den beiden Pferden und beiden Kränzeljungfern oder Rosen-Mädchen, womit Rosa auf die Eremitage gefahren war. Die weibliche Eifersucht wird immer einige Tage älter als die weibliche Liebe; auch weiß ich keinen Vorzug, keine Schwäche, keine Sünde, keine Tugend, keine Weiblichkeit, keineMännlichkeit in einem Mädchen, die nicht dessen Eifersucht mehr entflammen als entkräften hälfe.

Nicht nur Siebenkäs, sogar Leibgeber war diesen Nachmittag, um gleichsam ihre nackte, von ihrem warmen Gefieder entblößte, frierende Seele mit seinem Atem zu erwärmen, ernsthaft [396] und warm, anstatt daß er sonst seine Prämien und Rügen in Ironien umkleidete. Vielleicht macht' ihn auch ihr schmeichelhafter Gehorsam zahmer. Firmian hatte außer diesen Gründen noch die wärmern, daß morgen die Britin kam und diese Gartenlust verdarb oder verbot – daß er, mit den Stichwunden einer verlornen Liebe vertrauter, ein unendliches Mitleiden mit ihren hatte und gern den Verlust ihres Herzblutes mit dem seinigen erleichtert oder ersetzet hätte – und daß er, in nackten, unscheinbaren Zimmern aufgewachsen, für die glänzenden, vollen um ihn eine Empfindung hatte, die er natürlicherweise auf die Mietbewohnerin und Klausnerin derselben übertrug.

Gerade die Dienerin, die uns in dieser Woche schon einmal in die Hände gelaufen ist, kam herein mit Augen voll Tränen und stammelte: sie gehe zum hl. Beichtstuhle, und wenn sie ihr etwas zuleide getan hätte etc. – »Mir?« sagte Natalie mit liebenden Augen. »Aber im Namen Ihrer Herrschaft (der Britin) kann ich Ihr vergeben«, und ging mit ihr hinaus und küßte sie, wie ein Genius, ungesehen. – Wie schön steht einer Seele, die sich vorher kraftvoll gegen den Unterdrücker aufrichtete, das Vergeben an und das Herabneigen und Niederbücken zu einem Bedrängten! –

Leibgeber nahm einen Band von »Tristram« aus der Bibliothek der Engländerin und legte sich damit hinaus unter den nächsten Baum; er wollte seinem Freunde das Anismarzipan und Honiggewirke eines solchen verplauderten Nachmittags, das für ihn schon Hausmannkost war, ungeteilt zuwenden. Auch hatt' ihn, wenn er heute eine Miene zum Scherzen machte, Nataliens Auge bittend angeblickt: »Tu es nur heute nicht – zähl ihm die Blatternarben meines innern Menschen nicht vor – schone mich dasmal!« – Und endlich – und darauf wars hauptsächlich abgesehen sollte es sein Firmian leichter haben, der empfindlichen, nunmehr auf Achtel-Sold gesetzten Natalie den Vorschlag, seine lachende Erbin, seine apanagierte Witwe zu werden, hinter dreifachen Leichenschleiern mit verzognen Buchstaben zu zeigen.

Das war für Siebenkäs eine Schanzarbeit – eine Reise über die Alpen – eine um die Welt – eine in die Höhle zu Antiparos – und eine Erfindung der Meerlänge – – er dachte gar nicht daran, nur [397] Anstalten dazu zu machen; ja er hatte auch schon früher Leibgebern gesagt: wäre sein Sterben bloß ein wahres, so spräche niemand lieber als er mit ihr davon; nur mit dem Aussprechen eines scheinbaren könn' er sie unmöglich betrüben, sie müsse sich auf Geratewohl und unbedingt zur Witwenschaft verstehen; »und ist denn mein Sterben so etwas ganz und gar Unmögliches?« fragte er. »Ja!« hatte Leibgeber gesagt, »wo bliebe unser spaßhaftes? und die Donna muß alles aushalten.« Er sprang, wie es scheint, etwas härter und kälter mit Weiberherzen um als Siebenkäs, für welchen, als einsiedlerischen Kenner seltener weiblicher Kraftseelen, freilich eine solche wunde und warme kaum genug zu schonen war; indes will ich zwischen beiden Freunden nicht richten.

Er stellte sich, als Heinrich mit Yorick hinaus war, vor ein Freskobild, das diesen Yorick neben der armen flötenden Maria und ihrer Ziege malte – denn die Gemächer der Großen sind Bilderbibeln und ein Orbis pictus, sie sitzen, speisen und gehen auf Gemälde-Ausstellungen, und es ist ihnen desto unangenehmer, daß sie zwei der größten schon grundierten Räume nicht können ausmalen lassen, den Himmel und das Meer. – Natalie war kaum neben ihn nachgetreten, so rief sie: »Was ist heute daran zu sehen? Weg davon!« Sie war ebenso freimütig und unbefangen gegen ihn, als er es nicht zu sein vermochte. Sie zeigte ihre schöne, warme Seele bloß in etwas, worin sich die Menschen unwissend am meisten entwederentschleiern oder entlarven – in ihrer Art zu loben: der erleuchtete Triumphbogen, den sie über den Kopf der wiederkehrenden Britin führte, hob ihre Seele selber empor, und sie stand als Siegerin im Lorbeerkranz und in der schimmernden Orden-Kette der Tugend auf der Ehrenpforte. Ihr Lob war das Echo und Doppelchor des fremden Werts; sie war so ernst und so warm! – O es steht tausendmal schöner, Mädchen, wenn ihr für euere Gespielinnen Braut- und Lorbeerkränze schlingt und legt, als wenn ihr ihnen Strohkränze und Halseisen dreht und krümmt! –

Sie machte ihm ihre Vorliebe für gedruckte und ungedruckte Britinnen und Briten bekannt, ob sie gleich erst vorigen Winter [398] den ersten Engländer in ihrem Leben gesehen, »wenn nicht«, sagte sie lächelnd, »unser Freund draußen der erste war«. Leibgeber schaute sich draußen auf seiner grünen Gras-Matratze um und sah durch geöffnete Fenster beide freundlich zu ihm herunterblicken; und in sechs Augen floß der Schimmer der Liebe. Wie sanft drückte eine einzige Sekunde drei verschwisterte Seelen aneinander! –

Da die Kammerjungfer aus der Beichte in ihren weißglänzenden Kleidern wiederkam, welche statt leichter Schmetterlingflügel dicke Flügeldecken waren und woran noch einiges mattbunte Bändergeflügel flatterte: sah Firmian diese geputzte Bußfertige ein wenig an und nahm das schwarzgoldene Gesangbuch, das sie in der Eile hingelegt; er schnallte es auf und fand eine ganze seidene Musterkarte darin – ferner Pfauengefieder. Natalie, die ihm eine satirische Reflexion über ihr Geschlecht ansah, trieb sie sogleich ab: »Ihr Geschlecht hält so viel auf Ornate als unseres; das beweisen die Kurhabite, die Krönungkleider in Frankfurt und alle Amtkleidungen und Monturen. – Und der Pfau ist ja der Vogel der alten Ritter und Dichter; und wenn sie auf seine Federn schwören oder sich damit bekränzen durften: so können wir doch einige aufstecken, oder Lieder damit bezeichnen, wenn auch nicht belohnen.« – Dem Armenadvokaten entwischte zuweilen eine unhöfliche Verwunderung über ihr Wissen. Er blätterte unter den Festliedern und stieß auf umgoldete Marienbilder und auf ein ausgestochnes Bild, das zwei bunte Kleckse, die zwei Verliebte vorstellen sollten, samt einem dritten phosphoreszierenden Herzen vorzeigte, das der männliche Klecks dem weiblichen mit den Worten anbot: »Hast du meine Liebe noch nicht 'kennt? Schau nur, wie hier mein Herze brennt.« Firmian liebte Familien- und Gesellschafts-Miniaturstücke, wenn sie elend waren wie hier. Natalie sah und las es und nahm eilig das Buch und schnappte das Gesperre zu und fragte ihn erst dann: »Sie haben doch nichts darwider?«

Der Mut gegen Weiber wird nicht angeboren, sondern erworben: Firmian war mit wenigen in Verkehr gestanden, daher hielt seine Furcht einen weiblichen, besonders einen vornehmen [399] Körper – denn bei Herren, nicht bei Damen, ist es leicht und recht, sich über den Stand hinweg zu setzen – für eine hl. Bundeslade, an die kein Finger stoßen darf, und jeden Weiberfuß für einen, auf welchem eine spanische Königin steht, und jeden Weiber-Finger für eine Franklinische Spitze, aus der elektrisches Feuer spritzt. Wäre sie in ihn verliebt gewesen, so könnt' ich sie mit einer elektrisierten Person vergleichen, die alle Vexier-Schmerzen und Funken, die sie gibt, selber verspürt. Indessen war nichts natürlicher, als daß seine Scheu mit der Zeit abnahm, und daß er sich zuletzt, wenn sie gerade sich nicht umsah, kein Bedenken machte, die Bandschleife ihres Kopfes dreist zwischen die Finger zu nehmen, ohne daß sie es merkte. Kleine Vorschulen zu diesem Wagstück mochten es sein, daß er vorher die besten Dinge, die oft durch ihre Hände gegangen waren, in seine zu fassen versuchte; sogar die englische Schere, ein abgeschraubtes Nähkissen und einen Bleistift-Halter.

Auf dasselbe wollt' er sich auch bei einer wächsernen Weintraube einlassen, von der er glaubte, sie bestehe, wie eine auf Butterbüchsen, aus Stein. Er faßte sie daher in seine Faust wie in eine Kelter auf und pletschte zwei oder drei Beeren entzwei. Er reichte Bittschriften und Gnadenmittel und Indulgenzen ein, als ob er den Porzellan-Turm in Nanking hätte fallen und zerspringen lassen. Sie sagte lächelnd: »Es ist nichts verloren. Unter den Freuden gibts solcher Beeren noch genug, die eine schöne reife Hülle haben und ohne allen berauschenden Most sind und ebenso leicht entzwei gehen.«

Er fürchtete sich, daß dieser erhabne vielfarbige Regenbogen seiner Freude zusammenbreche in einen Abendtau und heruntersinke mit der Sonne draußen; und er erschrak, da er Leibgebern auf dem blühenden Rasen nicht mehr lesen sah. Die Erde draußen verklärte sich zu einem Sonnenlande – jeder Baum war eine festere, reichere Freudenblume – das Tal schien wie ein zusammengerücktes Weltgebäude zu klingen von der tiefen brausenden Sphärenmusik. Gleichwohl hatt' er nicht den Mut, dieser Venus zu einem Durchgang durch die Sonne, d.h. durch die übersonnte Fantaisie den Arm zu reichen; das Schicksal des [400] Venners und die Nachlese umherirrender Garten-Gäste machte ihn blöde und stumm.

Plötzlich klopfte Heinrich mit seinem achatenen Stockknopf ans Fenster und schrie: »'nüber zum Essen! Der Stockknopf ist die Wiener Laterne 123. Wir kommen doch heute vor Mitternacht nicht heim.« (Er hatte nämlich in dem Gasthöfchen daneben für sich und ihn ein Abendessen sieden lassen.) – Auf einmal rief er nach: »Da fragt eben ein schönes Kind nach dir!« – Siebenkäs eilte heraus, und dasselbe liebliche kleine Mädchen, dem er nach dem großen Festabende in der Eremitage auf dem begeisterten Flügellaufe durch das Dorf Johannis seine Blumen in die Hände gedrückt, stand mit einem Kränzchen da und fragte: »Wo ist denn Seine Frau, die mich vorgestern aus dem Wasser herausgezogen? ich soll ihr ein paar schöne Blumen verehren von meinem Herrn Paten; und nächstens kommt meine Mutter bald und bedankt sich recht schön; sie liegt aber noch im Bette, denn sie ist gar zu krank.« –

Natalie, die es oben gehört, kam herunter und sagte errötend: »Liebe Kleine, war ichs denn nicht? – Gib mir nur dein Sträußchen her.« – Die Kleine küßte, sie erkennend, ihr die Hand, dann ihren Rocksaum und endlich den Mund; und wollte die Kußrunde wieder anfangen, als Natalie den Strauß aufblätterte und unter seinen lebendigen Vergißmeinnicht und weißen und roten Rosen auch drei seidne Nachbilder derselben antraf. Auf Nataliens Frage der Befremdung, woher sie die teuere Blumen habe, antwortete die Kleine: »wenn Sie mir aber vorher ein paar Kreuzer schenkt«; und setzte, da sie solche bekommen, hinzu: »von meinem Hrn. Paten, der ist gar sehr vornehm«, und lief die Gesträuche hinunter.

Allen war der Strauß ein wahres türkisches Selam-oder Blumenrätsel. Des Kindes schnelle Trauung Nataliens mit Siebenkäs erklärte Leibgeber an sich leicht aus dem Umstande, daß der Advokat auf dem Wasserbecken-Ufer neben ihr gestanden und ihr die helfende Hand gereicht, und daß die Leute aus Irrtum über die körperliche Ähnlichkeit dafür gehalten, anstatt Leibgeber [401] sei niemand mit ihr so oft bisher spazieren gegangen als der Advokat.

Allein Siebenkäs dachte mehr an den Maschinenmeister Rosa, der die Flickszene seines Lebens gern in jedes weibliche Spiel einflickte, und die Ähnlichkeit der welschen Blumen mit denen, die der Venner einmal in Kuhschnappel für Lenetten ausgelöset, war ihm auffallend; aber wie hätt' er die frohe Zeit und selber die Freude über die Votiv-Blumen des geretteten Kindes mit seinem Erraten trüben können? – Natalie bestand freundlich auf Teilung der Blumen-Erbschaft, da jedes etwas getan und sie beide wenigstens die Retterin gerettet. Sich behielt sie die weiße Seiden-Rose vor; Leibgebern trug sie die rote an – der sie aber ausschlug und dafür eine vernünftige natürliche verlangte und solche sofort in den Mund steckte – und dem Advokaten reichte sie das seidne Vergißmeinnicht und noch ein paar lebendige duftende dazu, gleichsam als Seelen der Kunstblumen. Er empfing sie mit Seligkeit und sagte, die weichen lebendigen würden nie für ihn verwelken. Darauf nahm Natalie nur einen kurzen Zwischen-Abschied von beiden; aber Firmian konnte seinem Freunde nicht genug danken für alle seine Anstalten zum Verlängern einer Gnadenzeit, die mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde sein altes abgelebtes Leben einfaßte.

Kein König in Spanien kann, obgleich die Reichsgesetze für ihn Schüsseln füllen und auftragen, so wenig aus nicht mehr als sechsen nehmen, als Firmian aus einer genoß. Trinken aber mocht' er – wie uns glaubwürdige Geschichtschreiber melden etwas, und Wein ohnehin, und in der Eile dazu; denn für Leibgeber konnt' er überhaupt heute nicht selig genug sein, weil eben letzter, an und für sich sonst nicht leicht von Herzen und Gefühlen ergriffen, eine desto unaussprechlichere Freude darüber empfand, daß sein lieber Firmian endlich einmal einen höchsten Glück- und Pol- und Ruhstern am Himmel über sich bekommen, welcher ihm nun die Blütezeit seiner so dünngesäeten Blumen lind erwärme und bestrahle.

Durch seinen eiligen Doppel-Genuß gewann er der Sonne den Vorsprung ab und kam wieder vor das sonnenrote Schloß, dessen [402] Fenster der prächtige Abend in Feuer vergoldete. Natalie stand außen auf dem Balkon wie eine überglänzte Seele, die der Sonne nachfliegen will, und hing mit ihren großen Augen an der leuchtenden, erschütterten Welt-Rotunda voll Kirchengesang und an der Sonne, die wie ein Engel aus diesem Tempel niederflog, und am erleuchteten heiligen Grabe der Nacht, in das die Erde sinken wollte. –

Noch unter dem Gitter des Balkons, auf den ihn Natalie winkte, gab ihm Heinrich seinen Stock: »Heb ihn auf – ich habe andere Sachen zu tragen – willst du mich haben, so pfeif!« – Der gute Heinrich trug physisch und moralisch hinter einer zottigen Bären-Brust das schönste Menschen-Herz.


Glücklicher Firmian, ungeachtet deiner Bedrängnisse! Wenn du jetzo durch die Glastüre auf den eisernen Fußboden hinaustrittst: so sieht dich die Sonne an und sinkt noch einmal, und die Erde deckt ihr großes Auge, wie das einer sterbenden Göttin, zu! – Dann rauchen die Berge um dich wie Altäre – aus den Wäldern rufen die Chöre – die Schleier des Tages, die Schatten, flattern um die entzündeten, durchsichtigen Gipfel auf und liegen über den bunten Schmucknadeln aus Blumen, und das Glanzgold der Abendröte wirft ein Mattgold nach Osten und fället mit Rosenfarben an die schwebende Brust der erschütterten Lerche, der erhöhten Abendglocke der Natur! – Glücklicher Mensch! wenn ein herrlicher Geist von weitem über die Erde und ihren Frühling fliegt, und wenn unter ihm sich tausend schöne Abende in einen brennenden zusammenziehen: so ist er nur elysisch wie der, der um dich verglimmt.

Als die Flammen der Fenster verfalbten, und der Mond noch schwer hinter der Erde emporstieg: gingen beide stumm und voll ins helldunkle Zimmer hinab. Firmian öffnete das Fortepiano und wiederholte auf den Tönen seinen Abend, die zitternden Saiten wurden die feurigen Zungen seiner gedrängten Brust; die Blumenasche seiner Jugend wurde aufgeweht, und unter ihr grünten wieder einige junge Minuten nach. Aber da die Töne Nataliens gehaltenes geschwollenes Herz, dessen Stiche nur verquollen, nicht genesen waren, mit warmem Lebenbalsam überflossen: [403] so ging es sanft und wie zerteilet auseinander, und alle seine schweren Tränen, die darin geglühet hatten, flossen daraus ohne Maß, und es wurde schwach, aber leicht. Firmian, der es sah, daß sie noch einmal durch das Opfertor ins Opfermesser gehe, endigte die Opfermusik und suchte sie von diesem Altar wegzuführen. – Da lag der Mond plötzlich mit seinem ersten Streif, wie mit einem Schwanenflügel, auf der wächsernen Traube. Er bat sie, in den stillen, nebligen Nachsommer des Tages, in den Mondabend, hinauszugehen: sie gab ihm den Arm, ohne ja zu sagen.

Welche flimmernde Welt! Durch Zweige und durch Quellen und über Berge und über Wälder flossen blitzend die zerschmolzenen Silberadern, die der Mond aus den Nachtschlacken ausgeschieden hatte, sein Silberblick flog über die zersprungene Woge und über das rege, glatte Apfelblatt und legte sich fest um weiße Marmorsäulen an und um gleißende Birkenstämme! Sie standen still, eh' sie in das magische Tal wie in eine mit Nacht und Licht spielende Zauberhöhle stiegen, worin alle Lebenquellen, die am Tage Düfte und Stimmen und Lieder und durchsichtige Flügel und gefiederte emporgeworfen hatten, zusammengefallen einen tiefen, stillen Golf anfüllten; sie schaueten nach dem Sophienberg, dessen Gipfel die Last der Zeit breit drückte, und auf dem, statt der Alpenspitze, der Koloß eines Nebels aufstand; sie blickten über die blaßgrüne, unter den fernern, stillern Sonnen schlummernde Welt und an den Silberstaub der Sterne, der vor dem heraufrollenden Mond weit weg in ferne Tiefen versprang – und dann sahen sie sich voll frommer Freundschaft an, wie nur zwei unschuldige, frohe, erstgeschaffene Engel es vor Freude können, und Firmian sagte: »Sind Sie so glücklich wie ich?« – Sie antwortete, indem sie unwillkürlich nicht seine Hand, sondern seinen Arm drückte: »Nein, das bin ich nicht – denn auf eine solche Nacht müßte kein Tag kommen, sondern etwas viel Schöneres, etwas viel Reicheres, was das durstige Herz befriedigt und das blutende verschließt.« – »Und was ist das?« fragt' er. »Der Tod!« sagte sie leise. Sie hob ihre strömenden Augen auf zu ihm und wiederholte: »Edler Freund, nicht wahr, für mich der Tod?« – »Nein«, sagte Firmian, »höchstens für mich.« Sie setzte[404] schnell dazu, um den zerstörenden Augenblick zu unterbrechen: »Wollen wir hinunter an die Stelle, wo wir uns zum erstenmale sahen, und wo ich zwei Tage zu früh schon Ihre Freundin war und es war doch nicht zu früh – wollen wir?«

Er gehorchte ihr; aber seine Seele schwamm noch im vorigen Gedanken, und indem sie einem langen, gesenkten Kiesweg nachsanken, den die Schatten des Laubenganges betropften, und über dessen weißes, nur von Schatten wie Steinen geflecktes Bette das Licht des Mondes hinüberrieselte, so sagt' er: »Ja, in dieser Stunde, wo der Tod und der Himmel ihre Brüder schicken 124, da darf schon eine Seele wie Ihre an das Sterben denken. Ich aber noch mehr; denn ich bin noch froher. O! die Freude sieht am liebsten bei ihrem Gastmahl den Tod; denn er selber ist eine und das letzte Entzücken der Erde. Nur das Volk kann den himmelhohen Zug der Menschen in das ferne Land der Frühlinge mit den Larven- und Leichenerscheinungen unten auf der Erde verwechseln, ganz so wie es das Rufen der Eulen, wenn sie in wärmere Länder ziehen, für Gespenster-Toben hält. – Und doch, gute, gute Natalie! kann ich bei Ihnen nicht denken und ertragen, was Sie genannt. – Nein, eine so reiche Seele muß schon in einem frühern Frühling ganz aufblühen als in dem hinter dem Leben; o Gott, sie muß!« – Beide kamen eben an einer vom breiten Wasserfalle des Mondlichts überkleideten Felsenwand herunter, an die sich ein Rosen-Gegitter andrückte. – Natalie brach einen grün- und weichdornigen Zweig mit zwei anfangenden Rosenknöspchen und sagte: »ihr brecht niemals auf«, steckte sie an ihr Herz, sah ihn sonderbar an und sagte: »Ganz jung stechen sie noch wenig.«

Unten an der hl. Stätte ihrer ersten Erscheinung, am steinernen Wasserbecken, suchten beide noch Worte für ihr Herz: da stieg jemand aus dem trocknen Becken heraus. Niemand konnte anders lächeln als gerührt, da es ihr Leibgeber war, der hier versteckt mit einer Weinflasche neben abgebildeten Wassergöttern gelauert hatte, bis sie kamen. Es war in seinem verstörten Auge etwas gewesen, das für diese Frühlingnacht aus solchem, wie eine Libation unseres Freudenkelches, gefallen war. »Dieser Platz [405] und Hafen euerer ersten Landung hier«, sagt' er, »muß sehr verständig eingeweihet werden. Auch Sie müssen anstoßen. – Beim Himmel! von seinem blauen Gewölbe hanget heute mehr Kostbares herunter, daß mans ergreifen kann, als von irgendeinem Grünen.« Sie nahmen drei Gläser und stießen an und sagten (mehre unter ihnen, glaub' ich, mit erstickter Stimme): »Es lebe die Freundschaft! – – es grüne der Ort, wo sie anfing! es blühe jede Stelle, wo sie wuchs – und wenn alles abblüht und alles abfällt, so dauere sie doch noch fort!« Natalie mußte die Augen abwenden. Heinrich legte die Hand auf seinen achatenen Stockknopf; aber bloß (weil die seines Freundes, der ihn noch hatte, schon vorher darauf lag), bloß um diese recht herzlich und ungestüm zu drücken, und sagte: »Gib her; du sollst heute gar keine Wolken in der Hand haben.« Auf dem Achat hatte nämlich die unterirdische Natur Wolkenstreifen eingeätzt. Diese verschämte Hülle über den heißen Zeichen der Freundschaft würde jedes Herz, nicht bloß Nataliens weiches, mit gerührter Wonne umgekehret haben. »Sie bleiben nicht bei uns?« sagte sie schwach, als er fort wollte. »Ich gehe hinauf zum Wirte«, sagt' er, »und wenn ich droben eine Querpfeife oder ein Waldhorn ausfinde: so stell' ich mich heraus und musiziere über das Tal herein und blase den Frühling an.« –

Als er verschwand, war seinem Freund, als verschwände seine Jugendzeit. Auf einmal sah er hoch über den taumelnden Maikäfern und verwehten Nachtschmetterlingen und ihren pfeilschnellen Jägern, den Fledermäusen, im Himmel ein breites, einem zerstückten Wölkchen ähnliches Gefolge von Zugvögeln durch das Blaue schweben, die zu unserem Frühling wiederkamen. Hier stürzten sich alle Erinnerungen an seine Stube im Marktflecken, an sein Abendblatt und an die Stunde, wo ers unter einer ähnlichen Wiederkunft früherer Zugvögel mit dem Glauben geschlossen hatte, sein Leben bald zu schließen, diese Erinnerungen stürzten mit allen ihren Tränen an sein geöffnetes Herz – und brachten ihm den Glauben seines Todes wieder – und diesen wollt' er seiner Freundin geben. Die breite Nacht lag vor ihm, wie eine große Leiche auf der Welt; aber vor dem Wehen aus Morgen zuckten ihre Schattenglieder unter den beschienenen [406] Zweigen – und vor der Sonne richtet sie sich auf als ein verschlingender Nebel, als ein umgreifendes Gewölke, und die Menschen sagen: es ist der Tag. In Firmians Seele standen zwei überflorte Gedanken, wie Schreck-Larven, und stritten miteinander; der eine sagte: er stirbt am Schlage, und er sieht sie ohnehin nicht mehr – und der andere sagte: er stellet sich gestorben, und dann darf er sie nicht mehr sehen. – Er ergriff, von Vergangenheit und Gegenwart erdrückt, Nataliens Hand und sagte: »Sie dürfen mir heute die höchste Rührung vergeben – ich sehe Sie nie mehr wieder, Sie waren die edelste Ihres Geschlechts, die ich gefunden, aber wir begegnen uns nie mehr – Bald müssen Sie hören, daß ich gestorben bin oder mein Name verschwunden ist, auf welche Art es auch sei; aber mein Herz bleibt noch für Sie, für dich.... O daß ich doch die Gegenwart mit ihrer Gebirgkette von Totenhügeln hinter mir hätte und – die Zukunft jetzo vor mir mit allen ihren offnen Grabhöhlen, und daß ich heute so an der letzten Höhle stände und dich noch ansähe und dann selig hinunterstürzte.«

Natalie antwortete nichts. Auf einmal stockte ihr Gang, ihr Arm zuckte, ihr Atem quälte sich, sie hielt an und sagte mit zitternder Stimme und mit einem ganz bleichen Angesicht: »Bleiben Sie auf dieser Stelle – lassen Sie mich nur eine Minute lang auf die Rasenbank dort allein sitzen – ach! ich bin so hastig!« – Er sah sie wegzittern. Sie sank, wie unter Lasten, auf eine lichte Rasenbank, sie heftete ihre Augen geblendet an den Mond, um welchen der blaue Himmel eine Nacht wurde, und die Erde ein Rauch; ihre Arme lagen erstarrt in ihrem Schoß, bloß ein Schmerz, einem Lächeln ähnlich, zuckte um den Mund, und in dem Auge war keine Träne. Aber vor ihrem Freund lag jetzo das Leben wie ein aus- und ineinanderrinnendes Schattenreich, voll dumpfer, hereingesenkter Bergwerkgänge, voll Nebel wie Berggeister, und mit einer einzigen, aber so engen, so fernen, oben hereinleuchtenden Öffnung hinaus in den Himmel, in die freie Luft, in den Frühling, in den hellen Tag. Seine Freundin ruhte dort in dem weißen kristallenen Schimmer, wie ein Engel auf dem Grabe eines Säuglings Plötzlich ergriffen die hereinfallenden Töne Heinrichs, gleichsam das Glockenspiel eines Gewitterstürmers, die zwei betäubten [407] Seelen wie vor einem Gewitter, und in den heißen Quellen der Melodie ging das hingerissene Herz auseinander.... Nun nickte Natalie mit dem Haupte, als wenn sie eine Entschließung bejahte; sie stand auf und trat wie eine Verklärte aus der grünen überblühten Gruft – und öffnete die Arme und ging ihm entgegen. Eine Träne nach der andern floß über ihr errötendes Angesicht; aber ihr Herz war noch sprachlos – sie konnte, erliegend unter der großen Welt in ihrer Seele, nicht weiter wanken, und er flog ihr entgegen – sie hielt, heißer weinend, ihn von sich, um erst zu sprechen – aber nach den Worten: »erster und letzter Freund, zum ersten und letzten Male« mußte sie atemlos verstummen, und sie sank, von Schmerzen schwer, in seine Arme, an seinen Mund, an seine Brust. »Nein, nein«, stammelte sie, »o Gott, gib mir nur die Sprache – Firmian, mein Firmian, nimm hin, nimm hin meine Freude, alle meine Erdenfreuden, was ich nur habe. Aber niemals, bei Gott, nie sieh mich mehr wieder auf der Erde; aber (sagte sie leise) das beschwöre mir jetzt!« – Sie riß ihr Haupt zurück, und die Töne gingen wie redende Schmerzen zwischen ihnen hin und her, und sie starrete ihn an, und das bleiche, zerknirschte Angesicht ihres Freundes zerrüttete ihr wundes Herz, und sie wiederholte die Bitte mit brechendem Auge: »Schwöre nur!« – Er stammelte: »Du edle herrliche Seele, ja ich schwöre dirs, ich will dich nicht mehr sehen.« – Sie sank stumm und starr, wie vom Tode berührt, auf sein Herz mit gebücktem Haupte nieder, und er sagte noch einmal wie sterbend: »Ich will dich nicht mehr sehen.« Dann hob sie leuchtend wie ein Engel das erschöpfte Angesicht auf zu ihm und sagte: »Nun ists vorbei! – nimm dir noch den Todes-Kuß und sage nichts mehr zu mir.« Er nahm ihn, und sie entwand sich sanft; aber im Umwenden reichte sie ihm rückwärts noch die grüne Rosenknospe mit weichen Dornen und sagte: »Denk an heute.« – Sie ging entschlossen, obwohl zitternd, fort und verlor sich bald in den dunkelgrünen, von wenigen Strahlen durchschnittenen Gängen, ohne sich mehr umzuwenden.

– Und das Ende dieser Nacht wird sich jede Seele, die geliebt, ohne meine Worte malen.

[408]
Erstes Fruchtstück

Brief des Doktor Viktor an Kato den Ältern über die Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie – oder das Fest der Sanftmut am 20ten März


Flachsenfingen, den 1ten April 1795


Mein lieber Kato der Ältere!


Einen Wortbrüchigen wie Sie, der so heilig zu meinem Feste zu reisen versprach und doch nicht kam, muß man nicht wie die Wilden andere Fälscher ihres eignen Wortes damit strafen, daß man ihm die Lippen vernäht – dabei verlöre nur der Zuhörer –, sondern daß man sie ihm wässerig macht. Wenn ich Ihnen unser Friedenfest der Seele recht treu und reich werde geschildert haben: so will ich mir vor dem Fluche die Ohren zuhalten, den Sie über Ihren schlimmen Genius ausstoßen. Wir philosophierten alle am Feste, und alle bekehrten sich, mich ausgenommen, der ich zu keinem Neubekehrten taugte, weil ich der Heidenbekehrer selber war.

Unsere Flotille von drei Kähnen – der Furchtsamkeit der Damen wegen mußten wir den dritten nehmen – lief den 20ten März nachmittags um 1 Uhr aus, stach in den Fluß, gewann die hohe See, und nach 1 Uhr konnten wir schon die Staubfäden und Spinnengewebe der Insel deutlich erkennen. Um 1/4 auf 2 Uhr stiegen wirklich ans Land der Professor – dessen Eheliebste nebst einer Kleinen und einem Kleinen – Melchior Jean Paul – der Regierungrat Flamin – die schöne Luna (hier tun Sie Ihren ersten Fluch) – der Endes-Unterschriebene und die Frau desselben.

Es wurde einiger Burgunder ausgeschifft; in den Frühlinganfang, der heute um 3 Uhr 38 Minuten bevorstand, wollten wir auf einem Strome der Zeit hineinfahren, den wir ansehnlich gefärbt und versüßet hatten. Über die Insel, Kato, waren viele außer sich und wünschten meistens, sie hätten dieses holde bowlinggreen des Rheins, dieses Lustlager in den Wogen nur eher [409] betreten. Luna, älterer Kato (irr' ich nicht, so haben Sie diese weiche Seele, die statt eines Körpers eine weiße Rose bewohnen und röten sollte, schon einmal gesehen), Luna weinte halb vor Entzücken (denn halb wirds Trauer über jeden Abwesenden gewesen sein), halb vor Entzücken nicht sowohl über die Erlen-Familien am runden Ufer oder über die italienischen Pappeln, die trunken und zitternd in den umfangenden wiegenden Lüften lagen, noch über die grün-sonnigen Gänge, sondern zwar erstlich über alles dieses und über den Frühling-Himmel und über den Rhein, der ihm seinen zweiten Himmel über Amerika vormalte, und über die Ruhe und Wonne ihrer Seele, aber doch hauptsächlich über die Alpe mitten im Eilande.

Die Alpe wird bei Gelegenheit in diesem Schreiben abgeschattet. Ich fragte Lunen sogleich, wo Sie wären; »auf der Frankfurter Messe«, repartierte sie. Wars denn wahr?

Eine ankommende Gesellschaft wird nicht wie die Bruchschlange von jeder Berührung des Zufalls in zehn zappelnde Stücke zerlegt; sogar die Weiber blieben bei uns, denen ich durch mein Anordnen des Abendessens alle Gelegenheit zu häuslichen Verdiensten abschnitt. Die Barataria-Insel sollte heute zu einem gelehrten Waffenplatz und Kriegtheater werden. Ich liebe das Disputieren; gelehrte Zänkereien sind einer Gesellschaft so ersprießlich als verliebte der Liebe oder als Schlägereien der Marionetten-Oper. – Gewisse Menschen sind gleich den Herrnhutern, die sonst den Beichtstuhl und das Beichtkind wechselnd machten und sich einander ihre Seelen malten, ihre eigne Steckbriefe und heften Anschlagzettel von ihrem Innern in dreier Herren Landen an – – und so bin ich: einen Fehler, den ich an mir finde oder ändere, nämlich einen deutschen Anzeiger davon, trag' ich sogleich durch die halbe Stadt, wie Damen den Zeugenrotul von einem fremden. Seit drei Wochen, mein lieber Kato, ist nun meine ganze Seele mit einem unverrückten Sonnenschein von Ruhe und Liebe überdeckt, den mir der sel. Oberpikeur, der ihn selber nicht hatte, ohne sein Wissen vermachte; und jetzo rast' ich nicht, bis ich diesen köstlichen Nachlaß auf euch alle weiter vererbe.

[410] Als Polizeileutenant der Insel konnt' ich also auch Polizeianstalten über die Gespräche auf ihr treffen; und ich lenkte unsers auf den Pikeur. Die Wespen sumsten nun aus ihrem Neste; die erste Wespe war Ihr Hr. Bruder Melchior selber, der in den Geiz des Pikeurs seinen Stachel schoß und sagte: diese Leute, die ihre Beute im Sarge erst der Armut vererbten, glichen den Hechten, die im Fischkasten den verschluckten Raub sogleich von sich geben; sie sollten es aber lieber wie Judas Ischariot machen und noch vor ihrem Hängetag ihre Silberlinge in die Kirchen werfen. Der zweite Bruder war die zweite Wespe, Hr. Jean Paul, der sagte: »Bloß Geizhälse sterben nie lebensatt, noch unter den Händen des Todes suchen sie mit ihren etwas zu verdienen und kütten sich, wie die zerschnittene Napfmuschel, noch fürchterlich mit der blutigen Hälfte an die Erdscholle fest.« – »Ach«, sagt' ich, »jeder Mensch ist in irgend etwas ein ausgemachter Filz. Ich kann einen Menschen, der sich nur auf eigne Kasteiungen und Mortifikationen einschränkt, nicht mehr so bitter verfolgen, als ich sonst tat: was für ein außerordentlicher Unterschied ist denn zwischen einem gelehrten antiken Wardein, der alle Freuden seines Lebens destilliert, abdampfet und anschießen läßt in den Rost eines Münzkabinetts, und was für einer zwischen dem Filze, der die Exemplare seines Münzkabinetts wie Stimmen zugleich wiegt und zählt? Wahrlich ein geringerer als der unserer Urtel über beide.« Nun wollt' ich geschickt auf den Pikeur überlenken; aber man bat mich allgemein, nach der Uhr zu sehen. Den Insulanern hatt' ich als Vice-Re beim Hafen alle Uhren wie Degen abgenommen, damit sie heute ohne Zeit, bloß in einer seligen Ewigkeit lebten; nur Paul behielt seine, weil es eine von den neuen Genfern war, deren Zeiger, immer auf 12 Uhr hinweisend, erst nach dem Druck einer Springfeder die rechte Stunde angibt. –

Es war schon 3 Uhr vorbei: in 38 Minuten hielt der Frühling, dieser Vor-Himmel der Erde, dieses zweite Paradies, seinen großen Einzug über die mürben Ruinen des ersten; aus dem Himmel waren schon alle Wolken geräumt, Frühlinglüfte hingen kühlend um die im Blauen brennende Sonne; und drüben auf einem Weinhügel des Rheins schlug schon in einem zusammengeschlichteten [411] Gebüsche von abgeschnittenen Kirschenzweigen ein vom Frühling vorausgeschickter Vorsänger, eine Nachtigall, und wir konnten in ihrem durchsichtigen Gitterwerk die Töne in ihrem Kehlengefieder zittern sehen.

Wir stiegen auf den künstlichen Gotthardsberg, der sich mit Rasenbänken und ausgelaubten Nischen umgürtet und auf dessen Gipfel eine Eiche statt einer Krone steht. Oben sind statt eines zwingenden Rundes aus Rasen, das jedem seine Richtung vorschreibt, bloß einzelne Rasensitze. – Der Mensch, die Eintagfliege über einer Welle Zeit, braucht überall Uhren und Datumzeiger zu Abmarkungen am Ufer des Zeitenstroms; er muß, obgleich jeder Tag ein Geburt-und Neujahrtag ist, doch einen eignen dazu münzen: es schlug in uns 38 Minuten – aus dem wellenschlagenden Blau herab schwamm ein weites Wehen nieder und wiegte, im Auseinanderwallen, die quellenden Reben und die matten Pfropfreiser und die weichen Holunderfühlfäden und die kräftige spitzige Wintersaat und warf die ziehenden Tauben höher. Die Sonne beschauete sich trunken über der Schweiz im glänzenden erhabnen Eisspiegel des Montblanc, indes sie unbewußt wie mit zwei Armen des Schicksals Tag und Nacht in Hälften zerstückte und jedem Lande und Auge so viel herunterwarf wie dem andern. – Wir sangen Goethes Lied auf den Frühling. – Die Sonne zog uns von dem Berge in die Höhe wie Tau, und die losfallende Erde rührte taumelnd an unsere Füße, und die Lethe des Lebens, der Wein, hüllte das dunkle Ufer zu, worin er zog, und spiegelte bloß Himmel und Blüten ab. – Klotilde sagte jetzo, als ich weghörte, nicht zu uns, sondern zu Ihrer Luna – ich bin jetzt, lieber Kato, erinnerungtrunken, und ich lade Sie hiemit sogleich ein auf den loten April-: »Ach wie schön ist die Erde zuweilen, Teuerste ich glaube, wir sollten sie weniger herabsetzen – sind wir nicht wie Orest in der Iphigenie und glauben in der Verbannung zu sein, indes wir schon im Vaterlande sind?«

Jeder Tritt vom Berge herab senkte uns wieder in die gewöhnliche Sumpfwiese des Lebens ein. »Was hilft uns«, sagte Melchior ordentlich unmutig, »alle diese Pracht in und außer uns, wenn morgen eine einzige leidenschaftliche Erschütterung eine Lauwine[412] von Schneeklumpen auf alles Warme und Blühende in uns wirft. – Der April im Universum verdrießt mich nicht, aber der in der Menschen Brust – man ist am härtsten nach der Erweichung und bis zum Weinen zerschmolzen nach einer mörderischen Erschütterung, wie das Erdbeben warme Quellen gibt. – Morgen, das weiß ich, feind' ich und fahr' ich in der Sitzung wieder alles an. – Jämmerlich, jämmerlich! Und du, Flamin, bist gar nicht besser!« Dieser sagte rührend-aufrichtig: »jawohl!« – Luna und meine Frau nahmen die Professorin zwischen sich und jede eines ihrer Kinder auf den Schoß und setzten sich auf den untersten grünenden Wall des Berges, auf die Sonnenseite der Nachtigall: wir waren zu lebhaft zum Sitzen.

»Ach«, sagte Jean Paul und lief mit hinabhängenden gefalteten Händen auf und ab und schüttelte den Kopf und warf den Hut weg, um wenigstens dieAugen höher und freier zu haben, »ach, wer ist denn anders? Den Schwur einer ewigen Menschenliebe tun wir in allen Stunden, wo wir weich sind oder jemand begraben haben oder recht glücklich waren oder einen großen Fehler begangen oder die Natur lange betrachtet haben oder im Rausche der Liebe oder in einem irdischern sind; aber anstatt menschenfreundlich werden wir bloß meineidig. Wir schmachten und dürsten nach fremder Liebe, aber sie gleicht dem Quecksilber, das sich zwar so anfühlt wie Quellwasser und so fließt und so schimmert und das doch nichts ist als kalt, trocken und schwer. Gerade die Menschen, denen die Natur die meisten Geschenke gemacht hat und die also andern keine abzufordern, sondern bloß zu erteilen hätten, begehren, gleich Fürsten, desto mehr vom Nebenmenschen, je mehr sie ihm zu geben haben und je weniger sie es tun. Gerade zwischen den ähnlichsten Seelen sind die Mißhelligkeiten am peinlichsten, wie Mißtöne desto härter kreischen, je näher sie dem Einklange sind. – Man vergibt ohne Ursache, weil man ohne Ursache zürnte; denn ein gerechter Zorn müßte ein ewiger sein. Nichts beweiset die elende Unterordnung unserer Vernunft unter unsere herrischen Triebe so auffallend, als daß wir unter den Heilmitteln gegen Haß, Kummer, Liebe u.s.w. die bloße platte Zeit aufstellen – die Triebe sollen vergessen oder [413] ermüden, zu siegen – die Wunden sollen unter dem Markgrafen- oder sympathetischen Pulver des Flugsandes in der Sanduhr der Zeit versanden. – – Gar zu jämmerlich! – Was hilft aber alles und am Ende mein Klagen?«

»Die Sache ist« – antwortete der helle sanfte Professor, in dessen Kolorite nur einige pedantische Tuschen gebraucht sind –: »die Gefühle der Menschenliebe 125 helfen nichts ohne Grundsätze.« – »Und Grundsätze«, sagte Paul, »nichts ohne Gefühle.«

»Folglich« – fuhr der Professor fort; denn ich konnte mit meinem Pikeur nicht zum Schlagen kommen und hielt müßig mit ihm im Hintertreffen – »müssen beide so verbunden sein wie Genie und Kritik, wovon jenes allein nur Meister- und Schülerwerke, und diese allein nur Alltagwerke liefern kann. Mich dünkt, der Mangel an Liebe kommt nicht von unserer Kälte, sondern von der Überzeugung her, daß der andere keine verdiene; die kältesten Menschen würden die bessere Meinung von ihren Mitbrüdern und die größere Wärme gegen sie zugleich bekommen.«

»Muß man denn aber nicht, Hr. Professor«, sagte Klotilde, »eben das Unrecht dem Feind vergeben? Das Recht soll man ja nicht vergeben?«

»Natürlich nicht« – antwortete er, aber weiter wollt' er sich nicht stören lassen. »Eigentlich kann keine andere Häßlichkeit und Schädlichkeit ein Gegenstand unsers Hasses sein als die moralische.«

»Ich könnte Sie hier sogleich«, sagte Jean Paul, »mit grimmigen Tiergefechten und kriegenden Kinderstuben aufhalten; denn beide fühlen keine Immoralität des Feindes und hassen ihn doch; aber ich kann mich selber beantworten, wenigstens so so. Hasseten[414] wir nicht bloße Immoralität: so müßte der hereinhangende Zweig, der uns entgegenschlüge, und der Mensch, der ihn abgeschnitten, um dasselbe damit gegen uns zu tun, uns auf gleiche Art erbittern. Die Entrüstung eines geschlagenen Kindes ist vom Abscheu des Selbsterhaltungtriebes, z.B. von dem Abscheu vor Scheidewasser oder vor Wunden, verschieden; es ist in ihm ein doppeltes, wesentlich verschiedenes Unbehagen vorhanden, das über die Wirkung und das über die Ursache. – Wesen, die der Moralität fähig sind, unterscheiden sich von denen, die es nicht sind, nicht im Grade, sondern in der Art; folglich kann kein nichtmoralisches mit der Zeit oder stufenweise in ein moralisches übergehen. Wenn nun Kinder in irgendeinem Alter völlige nichtmoralische Wesen wären: so könnten sie in keinem Jahre auf einmal anfangen, andere zu werden. Kurz ihr Zorn ist nur ein dunkleres Gefühl der fremden Ungerechtigkeit. Bei den Tieren weiß ich weiter nichts zu sagen, als daß in ihnen Verwandtschaften unserer moralischen Gefühle sein müssen – wer ihnen Seelen-Unsterblich keit verleiht wie wir, der muß ihnen ohnehin einige Anfanggründe und präexistierende Keime der Moralität einräumen, wären auch diese von ihrem tierischen Wulste noch stärker als das Gewissen bei Schlafenden, Wahnsinnigen und Trunknen überschwollen.......Ach, hier ist Nacht an Nacht! – Und diese Dunkelheit, Hr. Professor, sei meine Strafe für mein Unterbrechen und Verbauen Ihres Lichts.« –

»Wenn also«, fuhr er fort, »der Haß sich bloß gegen moralische Fehler richtet: so ists sonderbar, daß wir niemals, auch sogar für die größten, uns selber hassen.«

»Mich dünkt«, sagte Flamin, »man sei sich aber zuweilen wegen seiner Übereilungen spinnefeind.« – »Auch würden Ihre Gründe«, setzte Jean Paul hinzu, »ebensogut gegen die Liebe gelten, halb wenigstens; aber antworten Sie nur dem da!«

»Uns selber«, sagt' er, »hassen wir nie, sondern wir verachten oder bedauern uns nur, wenn wir gesündigt haben; gleichwohl das wollt' ich noch dazufügen – feinden wir alle Menschen, unser Ich ausgenommen, der Laster wegen an. Kann das recht sein? – Selberhaß, Hr. Regierungrat«, fuhr er mit höherer Stimme fort, [415] »ist nicht möglich; denn Haß ist nichts als ein Wunsch des fremden Unglücks, d.h. ein Wunsch der Strafe, nicht einer bessernden, sondern einer rächenden. Eine solche Züchtigung kann sich aber der bußfertigste Sünder selber nicht wünschen; und sogar dieser Wunsch wäre nichts als ein versteckter der Besserung, d.h. der Beglückung. Einem fremden Sünder aber gönnen wir kaum schnelle Bekehrung, wenigstens keine ohne den Durchgang durch vergeltende Büßungen. Was also in unserer Empfindung gegen fremde Fehler mehr ist als in der gegen eigne, das ist eine Verfälschung von unserer Eigensucht – Der kleinste Haß begehrt das Unglück des Feindes: das hab' ich noch zu erweisen.«

Seine eigne Frau wandte ein: »Mein eignes Herz sagt mir ja deutlich, daß ich meine ärgste Feindin weder um Haus und Hof noch um ihre Kinder noch ins Elend bringen möchte – ich hielt' es nicht einmal aus, wenn eine meinetwegen ein Auge naß machen müßte.«

»Recht gut!« verfolgt' er kalt, »die bessere Seele wird nie ihrem Gegenfüßler einen Beinbruch vergönnen, noch ihn hülflos ohne einen Flocken von Wundfäden oder einen Wunsch der Heilung verlassen im Knochenbruch; aber ich weiß, daß dieselbe bessere Seele sich an seinen kleinern Schnittwunden des Lebens belustigt – an seinen Beschämungen – an seinem Spielverlust – am Rückgange seiner Schlitten-Lustfahrt – an seinem komischen Gebärdenspiel und Anzuge – am Ausfallen seines Haars –« (Hier kam er unschuldigerweise unserm Jean Paul in seines, dessen Scheitel das Schicksal der neunten Kurwürde hat.) »Die mildeste Seele verbirgt nur hinter ihre weiche Teilnahme an großen Schmerzen das harte Wohlgefallen an kleinen, die doch das kleinere Beileid fodern. Die zartesten Menschen, die ihrem Feinde nicht die kleinste Hautwunde ritzen könnten, schlagen seinem Herzen doch mit Vergnügen tausend tiefere.« – »Ach, wie ist das möglich?« sagte Luna. – »Es wäre auch wohl nicht möglich«, antwortete ihr Klotilde, »wenn der Seelenschmerz eine so bestimmte Physiognomie und so sichtbare Tränen hätte wie der körperliche.«

[416] »Ja«, sagte der Professor, »– das ists... Um sich gegen Lasterhafte sanfter zu machen, denke man sie sich nur ganz in seine Hände geliefert: was würde man ihnen denn antun wollen? Die peinliche Frage oder Folter würden wir nach dem ersten Bekenntnisse ihrer Mängel einstellen. Aber eben durch die Unmöglichkeit, die Strafe auszuteilen, wird unsere Entrüstung sowohl verewigt als verdoppelt.«

»Ja, wahrlich!« sagte Melchior. »Je öfter ich von den zwei lebendigen Guillotinen des Jahrhunderts, deren Lippen Parzenscheren waren, von Alba und Philipp, lese oder meinetwegen von den zwei andern Völker-Schnittern, Marat und Robespiere: desto schärfer frißt mir, da ihnen der Tod die Amnestie-Akte geschrieben, das Ätzwasser des Grimms ihr Strafurtel in mein eignes Herz.«

»Und doch«, fiel ich einmal ein und ließ den Pikeur bei dem Nachtrab, »soll mir und Ihnen heute jemand den Herzog und den König lebendig einhändigen und zwei Kessel warmes Öl dazu... nein, ich könnte keinen hineinwerfen, es müßte denn das Öl recht lange in der Kälte gestanden sein; ich würde sie mit einer Realterrition und mit einigen hundert Infamienstrafen begnadigen. Ach, welcher eiserne Mensch wäre doch das, der ein von Qualen berstendes Herz und ein Angesicht, auf das der Wurm der Pein seine Windungen zöge, nicht wenn er könnte mit einer kühlenden heilenden Hand besänftigte und labte. – Aber«, fuhr ich hurtig fort, um einmal von meinem Pikeur Gebrauch zu machen, »im Affekte stellet uns die Erinnerung an alle vorige Irrtümer desselben nicht im geringsten gegen jetzige sicher.«

»Sie lassen mich«, fiel der Professor ein, »nur nicht zum Worte. Denn ich bin noch manche Erweise schuldig, die ich so gern abtrage. Unser Haß verkehrt als Affekt allemal jede Tat in ein ganzes Leben – jede Eigenschaft in eine Person, oder richtiger, da wir die Person doch nur im Spiegel ihrer Eigenschaften erblicken, eine Eigenschaft in alle; nur in der Freundschaft, nicht im Hasse wissen wir recht leicht den verdorbenen Bestandteil von der Person zu trennen, ja bei ihr verstatten wir uns die umgekehrte Verwandlung der Attribute (Eigenschaften) ins Ich. –

[417]

Wir hassen, insofern wir hassen, immer so, als hätte der Gegenstand weder vergangne Tugenden, noch Anlagen dazu, kein Mitleiden, keine Wahrheit, keine Kinderliebe, keine einzige gute Stunde, gar nichts. Kurz wir machen, da wir nur auf das Ich, nicht auf die augenblickliche Erscheinung desselben zürnen, das Wesen, dessen Strafe wir aussprechen, zu einem rein-bösen Wesen. Und doch ist nicht einmal eines denkbar; die Stimme des Gewissens, die in ihm tönte, obwohl umsonst, würde das erste Gute sein, der Schmerz, den es fühlte, das zweite, und jede Freude und jeder Trieb des Lebens wieder eines.«

»Ach, wie schön«, sagte Luna, »daß es kein so böses Wesen gibt und daß wir keines ganz zu hassen brauchen.«

»Das Ich kann schon darum«, schloß er weiter, »nicht angefeindet werden, weil es noch dasselbe ist, wenn es sich bessert und unsre Zuneigung erringt.«

In der Eiligkeit des Kampfes wurde von den zwei Hohlspiegeln, die uns die fremde moralische Verzerrung noch wilder verzerren, einer vergessen, es war unsere Ichsucht. Wenn ich oft Frauen von gleichem Wert und Selbstgefühle auf dem Markte keifen hörte und sah, und wenn die erste mit Lust das Schimpfwort wie einen glühenden Stein in die Brust der zweiten schleuderte, die mit Unlust in Wellen um den Stein aufsod und brauste, indes die dritte sich auf dem Mittelwege kühl dabei verhielt: so schämt' ich mich der Menschheit, daß dieselbe Injurie oder Immoralität, die auf alle dieselbe Wirkung machen sollte, in dem einen Menschen eine zu starke, im zweiten eine zu schwache, im dritten eine gleichgültige nachließ.

Auf den zweiten Verzerr-Spiegel zeigte Paul: auf die Sinne. Denn diese machen den Essig des Hasses um die Hälfte schärfer, indem sie das Sinnliche des Feindes, seine Kleider, Mienen, Bewegungen, Töne etc. gar in den Sauertopf als Essigmutter werfen.

Hier erschien der gordische Knoten, den ich nur mit dem Pikeur zerhauen konnte: »Wer rettet uns denn von den Sinnen?« fragt' ich mit einiger Hoffnung. – »Ich lasse«, fuhr Melchior auf, »wenigstens meiner Menschenliebe die Sinne nicht abrechnen: sie sind das Stroh, womit das Feuer unter dem steigenden Luftball [418] des Herzens unterhalten wird.« Aber Jean Paul drängte mich von dem Knoten zurück: »Ich bewahre«, sagt' er, »ein gutes versüßendes Mittel, wenn ein Sünder meine Sinne erbittert. Ich nehm' ihn und zieh' ihm wie ein siegender Feind alle Kleider aus und lass' ihm nicht einmal Hut und Zopf – wenn er nun so jämmerlich und kahl wie ein Toter vor mir steht (in der Phantasie nämlich): so fängt der Schelm schon an, mich zu dauern. Das langt aber nicht zu: ich muß mich noch mehr versüßen und gehe weiter und schlitze ihn durch einen langen Schnitt in die drei Kavitäten (Höhlungen) von oben bis unten entzwei wie einen Karpfen, so daß ich leicht das Gehirn und Herz pulsieren sehen kann. Der bloße Anblick eines roten Menschenherzens – dieses Danaidengefäßes der Freude, dieses Behältnisses von so manchem Jammer – macht als eine lebendige Lorenzodose mein eignes weich und schwer; und ich habe oft auf dem anatomischen Theater einem Straßenräuber nicht eher vergeben, als bis uns der Prosektor das Herz und das Gehirn des Inquisiten vorwies. Du unglückliches, du jammervolles Herz, wie manche glühende und wieder gefrierende Blutwellen mögen sich durch dich gewälzet haben! mußt' ich allzeit mit innerster Rührung denken. – Verfing aber alles nichts an mir: so tat ich das Äußerste und schlug den Feind tot und zog das nackte flatternde Seelchen, den Abendschmetterling, aus der Gehirnkammer-Verpuppung und hielt mir so den zappelnden Abendvogel zwischen den Fingern vors Gesicht und sah den Vogel an – ohne allen, allen Groll.«

»Sich den Feind«, sagt' ich, »entkleidet oder entkörpert zu denken, um ihn so zu ertragen wie Tote, die man vielleicht eben deswegen so liebt, das ist ja ganz meine Operation, wenn ich oft den gehässigen Eindruck einer abscheulichen Physiognomie mir dadurch zu mildern trachte, daß ich solche schinde und dann die skalpierte Haut zurückschlage.«

Nunmehr nahm ich mir ernstlich vor, die Throninsignien und den Zepter der Unterredung nicht mehr aus meinen Händen zu geben. Ich hob also an: »Wer schenkt uns aber Kraft oder Zeit, mitten im Waffentanze der Welt, in den schnellen Evolutionen unserer Affekten uns diese wahren Grundsätze nicht bloß erinnerlich, [419] sondern sinnlich und lebhaft zu machen? Wer kann der Äther-Flamme der Menschenliebe unter so vielen Menschen, die sie ausgießen, ersticken und überbauen, genug Brennstoff nachschüren? Wer hält uns für den Mangel eines heitern milden Temperaments schadlos? wer oder was?« – Als ich diesem Waffengriffe oder Schafte den Pikeur als Spitze anmachen wollte: wurde das kalte Abendessen hergetragen, und die Professorin lief weg, ihre Kinder zu holen. Denn das Essen mußte vor Sonnenuntergang abgetan sein, weil es als eine neue Lage grünes Brennholz die Flamme des Enthusiasmus auf einige Zeit verschlichtet und die gerade purpurne Feuer-Pyramide zersplittert. – Man wartete vergeblich auf mein Fortfahren; ich schüttelte und nickte: wenn wir wieder beisammen sind und alle sitzen.

Unter dem Essen konnte ich gemächlich meine Sprachmaschine aufstellen und drehen: »Ich fragte vor dem Essen einige Male fing ich an –: wer kann uns alle Grundsätze der Menschenliebe beleben, auffrischen, tätig machen? Der Oberpikeur, versetz' ich; aber ich befahre, ich habe durch öfteres Anlaufen und Ansetzen zu meinem Fechtsprunge eine größere Erwartung davon erregt, als mir und dem Sprunge frommen mag. Der Pikeur ließ mich einen Tag vorher, ehe das Stümpchen von seinem Lebenlichte gar in den Leuchter versank und zerfloß, vor sein hartgedrücktes Krankenlager kommen und verlangte von mir – kein Rezept – eine Haussuchung. Er zog meinen Kopf zu seinem magern Kopfkissen nieder und sprach so: ›Sie sehen, Hr. Doktor, der Tod setzt mir sein Weidmesser schon an die Kehle. Ich fahre aber wohlgemutet dahin, und was ich Zeitliches hinter mir lasse, wend' ich der Armut zu. Ich habe mir – dessen darf ich mich rühmen – in meinem ganzen Leben wenig zugute getan und bloß für Arme gedarbt, gekargt und geschwitzt – und ein solcher Christ macht sein Testament mit Freuden: er weiß, er wird dort belohnt. Aber ein harter Stein liegt mir auf dem Herzen: ich habe weder Kind noch Kegel, weder Hund noch Katz', und pfeif' ich auf dem letzten Loche, so ist die alte Frau, die mir die Stube auskehrt, ganz allein im Hause. Nun kann sie mich – sie ist ein grundehrliches Ding, aber blutarm – ausstehlen, eh' gerichtlich versiegelt ist. [420] Hr. Doktor, Sie fleh' ich an, Sie sind ein Freund der Armen wie ich und rezeptieren oft gratis, Sie sollen mit dem Notarius, dem ich nicht mehr traue als meiner Vettel, zum Besten einer armen Jägerschaft und hiesigen Hausarmut, die ich gestern mit meinem sauern Schweiß testamentlich bedacht, in alle Stuben gehen und alles ehrlich inventieren und über alles, was im Hause ist, ein Notariatinstrument ausfertigen lassen. Hier beim ersten Artikel fängt der Notarius an, bei den Hosen unter dem Kopfkissen, weil mein Geldbeutel drinnen steckt.‹

– Ein Mensch, dessen Stoppeln der Tod vollends umstürzt und einackert, hat bei mir ein größeres Recht als das der ersten Bitte, er hat das der letzten. Ich erschien den andern Tag und brachte den Notarius und meinen Haß gegen den argwöhnischen Sterbenden mit. Ich half mit lustiger Kälte die Effekten der Krankenstube protokollieren: seinen von der abgescheuerten Jagdtasche gebohnten Jagdrock, seine abgegriffne Gewehrkammer, die er oft in Stürmen vor dem Fuchshau als Wild-Schildwache präsentiert hatte, und sogar den ledernen Unterzieh-Schuh des Daums und die lange Mumien-Bandage der Nase, die er über den Wunden beider getragen, als er sich solche mit seiner eignen Vogelflinte geschossen hatte.

Da wir die übrigen stummen Zimmer, die leeren Schalengehäuse seiner vertrockneten Tage, durchgingen: fing schon das gefrorne Blut in mir aufzutauen an und rollte in wärmere leichte Quecksilberkügelchen auseinander. Als ich aber gar mit dem Notarius in die Rumpelkammer stieg und da die Trödelbude seiner alten Schlafröcke durchblätterte, dieser Raupenbälge und Bluthemden seiner Fiebernächte, in denen ich ihn noch einmal dürsten und stöhnen sah – ferner seinen Patenbrief und seinen daraus in Silber nachgestickten Namenzug auf den Halskrägen der Hühnerhunde – und das Kniestück seiner schönen Mutter, der er als ein lächelndes Kind im Schoße saß, und das drahtene, mit grüner Seide übersponnene Brautkränzchen seiner Frau.... (Um Gottes willen, stört mich nur jetzt nicht mit Zureden, wahrlich ich habe schon davon gegessen) – – als ich diese Opernkleider, diese Opernkasse und diese Theatermaschinen in die [421] Hände nahm, womit der kranke Schauspieler unten die Proberolle eines Harpaxes zum Besten der Armen hienieden gespielt: so tat mir nicht nur der moralische Kassedefekt und der magere Freuden-Monatsold des siechen Mannes im Erdgeschosse weh, sondern ich wünschte ihm auch nicht mehr Strafe undElend, als er sich selber wünschen würde, wenn er sich vor dem Sturze ins tiefste Erdgeschoß aufrichtig bekehrte; nein, eher weniger Elend. Ich hatte also keinen Haß mehr; denn ich setzte mich nicht bloß in seine äußere Stelle – wie andere tun, die sich bloß mit ihrer eignen ganzen Seele, ihren Wünschen und Gewohnheiten etc. in des andern physische Stelle denken –, sondern in seine innere, in seine Seele, in seine Jugend, seine Wünsche, seine Leiden, in seine Gedanken. Ich sagte, indem ich die Treppe herunterging: ›Armer Pikeur, ich habe keine satirische Freude mehr an deinem nagenden Argwohn, an deinen Irrtümern und Selbgeschossen des Geizes, an deinem knickernden Hunger – du mußt eine ganze lange Ewigkeit mit deinem Ich auskommen und leben wie ich mit meinem. – Du mußt mit ihm aufstehen und umherziehen und allein für dasselbe sorgen – und du mußt dich ja lieben wie ich mich; ja wider Willen auch die Not und die Sünde an diesem Ich aushalten. – Ziehe damit in Frieden hin in die andere Welt, wo statt der zerbrochnen Gläser schon neue gestimmte für die verstimmte Harmonika deines Lebens werden zu finden sein im großen Geister-Hause.‹

Auf der Treppe schrie mir die alte Frau das Verscheiden des Mannes entgegen. Ich traf im Bette den gelben naßkalten Körper ohne Sinne an und sah, daß er bald das letzte Bühnenkleid abwerfe, den Leib. Den andern Tag verkündigte mir das Geläute seine Zurückkehr in die Erde, in diese theatralische Anzieh-Stube der Seelen und Blumen – wie auf andern Bühnen werden wir herein– und hinausgeklingelt.

Noch unterweges probiert' ich mein gemäßigteres System auch dem armen Notariat-Teufel an, und am Tage darauf wurde es den Juristen anversucht, die aus den Kollegien kamen – (Jean Paul! wahrlich ich bin jetzt mild, kommuniziere uns deinen Einfall nachher, fahr mir nur jetzt nicht dazwischen) – Ich tats, sag'[422] ich, und sogar mit den Plebejern unter ihnen, die diesen Stand, den einzigen freimütigen im Staate, verunehren, konnt' ich einen Frieden meines Herzens schließen. Denn ich durfte ja nur denen Advokaten und denen von meinen medizinischen Kollegen, denen ich oft so hitzig die von ihnen selber gemünzten Preismedaillen abschnitt und einschmolz, das Dach über dem Kopfe abdecken, das Mauerwerk aus dem Sparrwerk brechen und ihre Stuben allen vier Winden aufmachen: dann konnt' ich hinein gucken und darin alles sehen, was mich versöhnte, ihre Haushaltung, ihre schuldlosen Weiber, ihren Schlaf, d.h. ihren Schein-Tod, ihre Krankheiten, ihre Tränen, ihre Geburt- und Trauertage. Wahrlich um einen Mann zu lieben, brauch' ich mir nur seine Kinder oder Eltern zu denken und die Liebe von und zu ihm. – Diese menschenliebende Seelenwanderung legt man in jeder Minute leicht zurück, ohne den Luftball der Phantasie und ohne die Täucherglocke des Tiefsinus. Beim Himmel! es ist eine Sünde, daß ich erst dreißig Jahre alt werden mußte, eh' ich darhinter kam, was die Eigenliebe eigentlich will, meine und jede nichts als Wiederholungen des Ich sucht sie um sich zu haben, sie dringt darauf, daß jeder Infant der Erde ein Pfarrsohn sei wie ich – daß jeder edle Menschen verloren und gewonnen – daß jeder ein Leibarzt sei und vorher in Göttingen den Wissenschaften obgelegen – daß er Sebastian heiße und daß gegenwärtiger Berghauptmann sein Leben in 45 Hundposttagen geschrieben – kurz daß es auf der Erde 1000 Millionen Viktors gebe statt eines einzigen. Ich bitte jeden, in seiner eignen Seele Auskundschafter herumzuschicken und nachsehen zu lassen, ob sie nicht tausendmal hasse 126 , weil der andere eine Speckkammer auf dem Magen trägt, oder weil er so dünn ist wie eine Fadennudel, oder weil er Kreissekretär ist, oder weil er sein Kalbfleisch mit Butter begießet 127 oder weil er katholischer Nachtwächter in Augsburg ist und einen Rock, links weiß, rechts rot und grün, trägt. Die Menschen sind [423] so sehr in ihre Ich eingesunken, daß jeder den Küchenzettel fremder Leibgerichte gähnend anhört und doch mit dem Intelligenzblatte der seinigen andere zu erfreuen meint.«

Die befiederte Echo, die Nachtigall, schlug den Tönen der ungehörten Sphären-Musik nach und brachte sie uns hernieder; aber ich mußte meinen Herabschuß vom Berge Senis gar hinaustun und gab, da ich schon das Lob des Vogels besorgte, es ihm nickend hurtig voraus. »Göttlich! Himmlisch! – Ich horche immer gelegenheitlich mit hin! – Aber nur noch eines: in den Tanzsälen, in den Vorzimmern, in großen Gesellschaften, deren heißer Lerchenrost einem Swift alles Fett ausbrät, werd' ich seit meinen empfindsamen Reisen in fremde Seelen froher und fetter. Diese Duldung des Sünders schließt eine noch größere des Narren und die größte des Dunsen ein, obgleich die große Welt diese drei geduldeten Sekten gerade im umgekehrten Verhältnis ihres Unwerts bekriegt. Diese Amnestie der Menschheit macht die Pflichten der Liebe leichter und die hohen Entzückungen der Freundschaft und Liebe gerechter, weil die Glut der letztern das Herz oft für die übrigen Menschen verglaset und verkalkt. Daher ist die letzte und beste Frucht...«

Klotilde sah mich fragend und bittend um die Erlaubnis eines Wortes und fast zurechtweisend an, da ich mich in die Stelle derer zu setzen vergaß, denen ich diese Versetzung anlobte. Ich hielt errötend inne. Jean Paul bemerkte: »Daherfahren die Zuhörer im Konzertsaale gerade bei den schönsten Adagios, die sie am meisten erweichen, am meisten über Getöse auf und fluchen und weinen in einer Minute.« – »Mich beschämt«, sagte Klotilde, »eine eigne Erfahrung. Ich legte neulich Sillys Brief in ›Allwills Papieren‹ vor Tränen weg und ging voll vom Buche ins Casino; aber ich darf die harten Urteile nicht bekennen, die ich jenen Abend einige Male innerlich über meine Bekannte fällete. Ich mutete ihnen zu, sie sollten alle in meiner Stimmung sein, da sie doch nicht gerade von Sillys Briefe herkamen.«

»Das wollt' ich eben«, beschloß ich, »noch beifügen: die letzte und beste Frucht, die spät in einer immer warmen Seele zeitigt, ist eben Weichheit gegen den Harten – Duldung gegen den Unduldsamen[424] – Wärme gegen Ichsuchtler – und Menschenfreundschaft gegen den Menschenfeind.«....

– – Es ist sehr sonderbar, geliebter Kato. Gerade eben kommt Jean Paul und erzählt mir eine Mordgeschichte von menschlicher Ungerechtigkeit, die mir wie ein Glüheisen zischend durchs volle Herz fährt. Alle meine Grundsätze stehen licht und klar wie Gestirne um meine Seele, aber ich muß untätig den Wellen, mit denen mein Blut auf dem unterirdischen Erdbrand kochend aufspringt, von oben herab zusehen und ihr Fallen und Auskühlen abwarten. Ach, wir arme, arme Sterbliche! – Jean Paul, der die Geschichte schon vorgestern wußte und also die kühlende Methode ebensolange vor mir gebraucht hatte, will an meiner Stelle die Gemäldeausstellung unserer insularischen Blumenstücke besorgen und ein Nachschreiben anschließen. Recht! Denn ich könnt' es heute wahrlich nicht. – Am 10ten April hat sich die Luft gekühlt: da kommen Sie gewiß schon der Franzosen wegen, die den 10ten ihre Wahlversammlungen anfangen: wir müssen hier von ihren großen Festen und Messen wenigstens die Zahlwochen und Nach-Kirchweihen feiern. – Ach, wie beklommen hör' ich auf. – Jetzo lesen Sie weiter, aber nicht

Ihren

Viktor


Nachschreiben von Jean Paul


Guter Bruder!


Das tugendhafte Zürnen unsers Viktors wird sich bald stillen. Die Ursache, warum er (und jetzt ich) Dir die große Bekehrung unsrer unfriedlichen Triebe schriftlich berichten, ist, damit wir uns recht schämen müssen, wenn wir einmal länger poltern als eine Minute oder länger hassen als einen Augenblick. Diese umfangende Liebe begehrt ein Opfer, das zögernder hingegeben wird, als man denkt, das Opfer des selbstgefälligen Vergnügens, das der Zorn in den Anblick fremder Sünden, und die Satire in den der fremden Torheiten als einen versüßenden Zusatz 128 mengt[425] und an deren Stelle nur das reine Mitleiden über die ewigen Krankheitversetzungen und chronisch-blutenden Wunden und Narben der hülflosen Menschheit tritt.

Aber nun will ich mit unserer schwimmenden Insel und mit ihrem seligen Helldunkel ganz nahe vor Dein Auge rudern!

Die Sonne hatte sich über die Nebel-Alpen herumgezogen und stand weißglühend über Frankreich in Westen, gleichsam um bald als ein funkelndes Schild der Freiheit in seine Ebene, als ein Vermählung-Ring des Himmels und der Erde in sein flutendes Meer hineinzufallen. Die Abendschatten überschwemmten schon die zwei ersten Stufen des Berges, und der verfinsterte Rhein ergriff mit einem Arm der Nacht die Erde. Wir stiegen unsere kleinen Stufen hinauf, so wie die Sonne ihre großen hinabging, und sie richtete sich immerfort gegen uns aus ihrem brennenden Grabe auf mit ihrem auferstehenden Heiligenangesicht. Der Berg erhob unsere Augen und unsere Seelen. Ich nahm, an meine Fehler erinnert, Viktors Hand und sagte: »Ach, Lieber! wenn es einmal wäre, daß ein Mensch mit allen Menschen Frieden schlösse und mit sich, wenn einmal sein zerrüttetes Herz mitten im Sauerteige der hassenden und gehaßten Welt nur den milden süßen Lebensaft der Liebe auffaßte und bewahrte, wie die Auster mitten im Schlamm nur helles reines Wasser in ihr Gehäuse nimmt; ach, wenn er das voraus wüßte: dann könnte wohl ein froher Abend wie dieser seine dürstende zerlechzte Brust erquicken und füllen und den ewigen Seufzer befriedigen.« – Viktor antwortete (aber er schauete sich nicht um, sondern hielt sein glänzendes und beglänztes Angesicht, das sein menschenliebendes Herz mit dem Rote eines wärmern Blutes übergoß, bloß gegen die halb aus der Erde brennende Sonne gekehrt): »Vielleicht werden wir es können – wir werden überall glücklich sein, wo ein Mensch lächelt, sollt' ers auch nicht verdienen – wir werden nicht mehr aus Pflicht der höflichen Verleugnung, sondern aus Liebe freundlich mit jedem Bruder sprechen, und für Herzen, die keine innre Entrüstung mehr zu decken haben, wird es keine verwickelte Lagen mehr geben. – – Ruhet die Frühlingsonne heute nicht wie ein gebrochnes Mutterauge über ihrer Welt und [426] blicket warm an alle Herzen, an böse und gute? – Ja, du Ewiger, wir alle hier geben jetzt allen deinen Wesen unsre Hand und unser Herz, und wir hassen nichts mehr, was du geschaffen hast.«

Wir waren fortgerissen und umfaßten uns mit Tränen ohne Worte im ersten Dunkel der Nacht. Auf der Begräbnisstelle der Sonne stand der Zodiakalschein als eine rote Grabes-Pyramide und loderte unbeweglich in die stumme blaue Tiefe hinauf.

Die Stadt Gottes, die hoch über der Erde schwebt, erschien aus der ewigen Ferne, auf den Bogen der Milchstraße gebauet, mit allen ihren angezündeten Sonnen-Lichtern. Wir stiegen den Berg herab – jede Stelle der Erde war jetzo ein Berg – eine unsichtbare Hand trug die Seele über den dunkeln Dunstkreis, und sie schauete wie von Alpen herab, und sie sah nichts als die glänzenden Spitzen andrer Gebürge, und alles Niedrige, alles Tiefe, alle Gräber und alle kleine Ziele und Laufbahnen der Menschen waren mit einem großen Dufte zugehüllt.

Wir verloren uns voneinander in die Gänge, aber in unsern Herzen waren wir alle beisammen – wir kamen wieder zueinander, aber in unsrer Seele blieb die Stille ungestört; denn jedes Herz schlug wie das andere, und ein Gebet war von einer Umarmung in nichts verschieden als in der Einsamkeit. –

Die zerstreueten Flammen unserer Gefühle hatten sich allmählich in unserm Geiste zusammengezogen zu einer heißen Sonnenkugel und kleine Minuten zu einer Ewigkeit, wie die Alten glaubten, daß die herumflatternden Flammen der Nachmitternacht sich am Morgen in eine Sonne verdichten 129.

Ach! ich schwacher Unbekannter mit solchen Paradiesen stand unter blätterlosen Zweigen traurig vor dem gestirnten dunkelblauen Rhein, der wie ein himmlisches, zwischen zwei Republiken geknüpftes Band 130 wallend auf der deutschen Erde aufliegt, und mir war, als könnte der Durst und das Feuer einer so kleinen Brust nur mit seinen großen Wellen gelöscht werden. Ach, wir sind alle so: im flüchtigen Gefühle unsrer kleinen Größe und [427] Wonne wollen wir alle an großen Gegenständen ruhen und sterben, wir wollen alle uns in den tiefen Himmel stürzen, wenn er über uns zitternd funkelt, und an die bunte Erde, wenn sie neben uns wallend blüht, und in den unendlichen Strom, wenn er gleichsam aus der Vergangenheit in die Zukunft zieht.

Unsre Freundinnen und die Kinder hatten still den Ankerplatz so schöner Stunden verlassen – ich sah sie singend wie Schwanen über die Wellen ziehen und in diese ihre Lenzblumen werfen, damit sie als Erinnerungen an unser Insel-Ufer zurückschwämmen; und die zwei Kinder schliefen sanft in stillen Armen zwischen der Pracht des Himmels und der Erde, und die Arme und die Lieder und die Fluten wiegten sie.

Als es 12 Uhr wurde und der Frühling seinen ersten Morgen hatte: suchte und rief uns alle Viktor auf den Berg zusammen, wir wußten noch nicht weswegen. Der Rhein klang hinauf und hinab – die hellen Frühlingtöne der Nachtigall glitten zerschneidend durch sein Brausen – die Sterne der zwölften Stunde fielen tropfend in das verfinsterte Grab der Sonne und loschen aus in der grauen Asche des westlichen Gewölks – als plötzlich eine gerade schöne Flamme in Abend aufstieg und ein harmonisches Schmettern sich durch die Finsternis riß.

»Denkt ihr denn nicht«, sagte Viktor, »an euerFrankreich, für das heute am 21ten März die erste Stunde des Tages anbricht, an dem die sechstausend Ur-Versammlungen sich wie Gestirne vereinigen, damit aus Millionen Herzen ein einziges Gesetz entstehe?« –

Und als ich gen Himmel sah, kam mir die gebogne Milchstraße wie der eiserne Waagbalken des bedeckten Schicksals vor, in dessen Schalen, aus Welten ausgewölbt, die zertrümmerten blutigen Völker liegen und der Ewigkeit vorgewogen werden Aber die Waage des Schicksals schwankt bloß darum auf und nieder, weil die Gewichte erst seit einigen Jahrtausenden in sie geworfen worden. Wir traten zusammen und sagten, in der Begeisterung der Nacht und der Töne, unter den steigenden und fallenden Sternen, vereinigt: »Du armes Land, deine Sonne und dein Tag steige einmal höher und werfe das Bluthemde deiner[428] blutigen Morgenröte zurück – möge der höhere Genius dein Blut von deinen Händen und deine Tränen von deinen Augen abwischen – o, dieser Genius baue und trage und schirme den großen freien Tempel, der sich über dich als zweiter Himmel wölbt, aber er tröste auch jede Mutter und jeden Vater und jedes Kind und jede Gattin und alle Augen, die den geliebten zerdrückten Herzen nachweinen, die geblutet haben und zerfallen sind und die nun als Grundsteine unter dem Tempel liegen.« –

Was ich jetzt sage, kann ich nur meinem Bruder erzählen, denn nur er wird es vergeben. Ich und Viktor stiegen in einen Kahn, den ein langes Seil ans Ufer kettete und mit welchem der Zug des Stroms spielte; wir arbeiteten uns gegen das Ufer zurück, und dann ließen wir den Kahn wieder mit den Wellen der Mitternacht entgegen fließen. In unsrer Seele war wie außer uns Wehmut und Erhebung sonderbar gemischt: die Musik des Ufers wich und kam – Töne und Sterne stiegen auf und sanken ein die Wölbung des Himmels stand im zitternden Rhein wie eine geborstene Glocke, und oben über uns ruhte das von der alten Ewigkeit bewohnte Tempel-Gewölbe mit seinen festen Sonnen unerschüttert – der Frühling wehte vom Morgen her, und die Baumgerippe auf dem Totenacker des Winters wurden zum Auferstehen angeregt. Auf einmal sagte Viktor: »Mir ist, als wäre der Rhein der Strom der Zeit; denn unser schwankendes Leben wird ja von beiden Strömen nach Mitternacht gerissen.« Auf einmal rief mir mein Bruder auf der Insel zu: »Bruder, kehre in den Hafen zurück und schlafe, es ist zwischen 1 und 2 Uhr.«

Diese brüderliche, sich durch die Töne und die Wellen drängende Stimme warf plötzlich eine neue Welt, vielleicht die Unterwelt, in meine offne Seele: denn es leuchtete auf einmal der Blitz der Erinnerung über mein ganzes dunkles Wesen, daß ich gerade in dieser Nacht vor 32 Jahren in diese überwölkte, mit täglichen Nächten bedeckte Erde getreten und daß die Stunde zwischen 1 und 2 Uhr, worin mich mein Bruder in den Hafen und zum Schlafe gerufen, meine Geburtstunde gewesen sei, die so oft dem Menschen beide nimmt.

Es gibt schauerliche Dämmeraugenblicke in uns, wo uns ist, [429] als schieden sich Tag und Nacht – als würden wir gerade geschaffen oder gerade vernichtet – das Theater des Lebens und die Zuschauer fliehen zurück, unsre Rolle ist vorbei, wir stehen weit im Finstern allein, aber wir tragen noch die Theaterkleidung, und wir sehen uns darin an und fragen uns: »Was bist du jetzo, Ich?« Wenn wir so fragen: so gibt es außer uns nichts Großes oder Festes für uns mehr – alles wird eine unendliche nächtliche Wolke, in der es zuweilen schimmert, die sich aber immer tiefer und tropfenschwerer senkt – und nur hoch über der Wolke gibt es einen Glanz, und der ist Gott, und tief unter ihr ist ein lichter Punkt, und der ist ein Menschen-Ich. –

Für diese Augenblicke ist das aus schwerer Erde gebildete Herz nicht lange gemacht. Ich ging in die süßern über, wo das volle tränentrunkne Herz nichts kann und nichts will als bloß weinen. Ich hatte nicht den Mut, meinen teuern Viktor von der erhabnen Nachbarschaft um ihn herabzuziehen auf meine Geringfügigkeiten; aber ich bat ihn, nur noch ein wenig mit mir in dieser Stille, über diesem düstern, in die Mitternacht rinnenden Strome zu verharren. Und dann lehnt' und drückt' ich mich warm an meinen sanften Liebling, und die kleinen Tropfen der gesenkten Augen fielen ungesehen in den großen Strom, gleich als wär' er der weite Strom der Zeit, in den jedes Auge seine Zähren und so viele tausend Herzen ihre Bluttropfen fallen lassen und der darum weder schwillt noch eilt.

Ich dachte nach und sah in den Rhein: »so rinnt es und rinnt es, das gaukelnde wallende Leben, aus seiner verhüllten Quelle wie der Nil. Wie wenig hab' ich bisher getan und genossen! Unsre Verdienste und unsre Freuden sind nicht groß! – Unsre Verwandlungen sind größer, unser Herz und unser Kopf kommen tausendfach verändert und unkenntlich unter die Erde, wie der Kopf der eisernen Maske 131 oder wie Ermordete so lange verwundet und zerschnitten werden, bis sie nicht mehr kenntlich sind. – – Ach und doch werden wir nur verändert, aber wir selber verändern [430] so wenig in der Erde, nicht einmal in uns. – – Jede Minute kommt uns als das Ziel aller vorigen vor. – Die Saat des Lebens halten wir für die Ernte, den Honigtau an den Ähren für die süße Frucht, und wie Tiere käuen wir die Blüten. – – Du großer Gott! welche Nacht liegt um unsern Schlaf! wir fallen und wir steigen mit geschlossenen Augen und fliegen blind und in einem festen Schlafe umher 132.«......Meine Hand hing in den Strom hinaus und seine kalten Wogen hoben sie. Ich dachte: »Wie brennt doch das kleine Licht in uns mitten im wehenden Sturme der Natur so gerade und unbeweglich auf! Alles um mich stößet mit Riesenkräften zusammen und ringet! Der Strom ergreift die Inseln und die Klippen, der Nachtwind tritt in den Strom und watet herauf und drängt seine Wellen zurück und ringet mit den Wäldern – selber droben im friedlichen Blau arbeiten Welten gegen Welten. – Die unendlichen Kräfte ziehen wie Ströme gegeneinander und begegnen sich wirbelnd und brausend, und auf den ewigen Wirbeln laufen die kleinen Erden um den Sonnenstrudel. – Und die sanft heraufsteigenden schimmernden Reihen der Sternbilder sind bloß unabsehliche Kettengebürge von tobenden Sonnenvulkanen.... Und doch ruhet in diesem Sturme der Menschengeist so still und friedlich wie ein stiller Mond über windigen Nächten – in mir ist jetzt alles ruhig und sanft, ich seh' den kleinen Bach meines Lebens vor mir rinnen und in den Zeitenstrom mit andern tropfen – der helle Geist schauet durch die brausenden Blutströme, die ihn umziehen, und durch die Stürme, die ihn überhüllen und verfinstern, hell hindurch und sieht drüben stille Auen, leise lichte Quellen, Mondschimmer und einen ruhigen schönen Engel, der langsam darin wandelt.«- In meiner Seele stand ein stiller Karfreitag, windstill und regenfrei und lau, wiewohl mit einem sanften Gewölke bezogen.

Aber das klare Bewußtsein der Ruhe wird bald ihr Untergang. Ich sah hin auf drei um die Insel schwimmende Hyazinthen, die Klotilde im Scheiden den Wellen zugeworfen: »Jetzt in deiner Geburtstunde«, sagt' ich zu mir, »spült das Meer der Ewigkeit tausend [431] kleine Herzen ans steinige Ufer der Erde: ach, wie wird es ihnen einmal an der Feier ihrer Geburttage sein? – Und was mögen die unzähligen Brüder denken, die mit dir vor 32 Jahren in diese Dunstkugel mit verbundnen Augen stiegen? Vielleicht erdrückt ein großer Schmerz den Gedanken an ihren Anfang vielleicht schlafen sie tief jetzo, wie ich sonst – oder noch tiefer, tiefer.«... Und nun sanken alle meine jüngern und ältern Freunde, die schon tiefer schlafen, recht schwer auf die gebrochne Brust...

»Ich weiß wohl, was du jetzt so still übersinnst und so stumm betrauerst«, sagte mein Viktor. Ich antwortete: »nein« – und nun sagt' ich ihm alles... Du gute beste Seele!

Als ich ihn lange genug umarmt hatte: kehrten wir eilig zurück – und ich umfaßte meine andern Brüder – und ich sehnte mich nach Dir, mein Teurer. – – Wir zogen endlich aus der Baustelle eines friedlichern Lehrgebäudes für unser Herz, aus der stummen Insel fort, und der hohe Berg, das erhabne Gerüst für die Vasen unsrer Freudenblumen, die Empor im großen Tempel, unser Leuchtturm im Hafen der Ruhe, schauete uns lange nach, und der hangende Garten unsrer Seele lag auf ihm im Sternenlicht. –

Und als wir ans Ufer traten: stieg der Hesperus als Morgenstern, dieser nah' aufspringende Funke der Sonne, über den Morgennebel auf und kündigte früher als das Morgenrot seine blühende Mutter an. – Und als wir bedachten, daß er als der Abendstern um unsre Nacht unten herumziehe, um als Morgenstern die Nachmitternacht und den Osten mit der ersten glänzenden Tauperle zu schmücken: so sagte jedem sein froheres Herz: »und so werden alle Abendsterne dieses Lebens einmal als Morgensterne wieder vor uns treten.«

Denke auch an Morgen, mein Bruder, wenn Du nach Abend siehest, und wenn vor Dir eine Sonne untergeht, so wende Dich um und siehe wieder in Morgen einen Mond aufsteigen: der Mond ist der Bürge der Sonne, wie die Hoffnung die Bürgin der Seligkeit. – Aber komm nun bald zu Deinem Viktor und zu Deinem Bruder

J. P. [432]

Viertes Bändchen

Intelligenzblatt der Blumenstücke

»Ich bitte meine Leser um Erlaubnis oder um Verzeihung, daß ich hier etwas drucken lasse, das sie alle nichts angeht – ausgenommen den einzigen Leser, der unter dem Namen Septimus Fixlein den 23ten Mai 1796 aus Scheerau an mich geschrieben hat. – –

Zu guter Septimus! Ich bitte Dich sehr, schreibe mir Deinen wahren Namen; denn hier auf dem offenen Meere der Welt, mitten unter hundert Schiffen, kann ich Dir nicht durch das Sprachrohr der Presse das zuschreien, was ich Dir viel lieber nahe an Deinem Angesicht und an Deiner Brust zuflüstern möchte. Ahme dem größten Genius immer nach, aber nur nicht in der Unsichtbarkeit. Dein wahrer Name stört ja unser Verhältnis nicht. – Der Mantel der Liebe bedecket alle Fehler; aber soll denn er selber bedecket bleiben wie ein Fehler? – Schreibe mir wenigstens mit Deiner Handschrift irgendeine Adresse, unter der ich sicher einige Worte meiner Seele vor Dich bringen kann. Fragst Du aber nichts nach meinem Intelligenzblatt und bleibst Du immer eingehüllet: so nimm hier meinen Dank für alle Zeichen Deiner schönen Seele an – Dein Leben kehre sich wie eine Welt in sanftem Wechsel bald dem Sonnenlicht der Wirklichkeit, bald dem Mondschein der Dichtkunst zu – und in allen Deinen Wolken sei nur Abendrot oder ein Regenbogen und kein Gewitter – und wenn Du fröhlich bist, so erinnere Dich dein Genius an den 23ten Mai – und wenn Du traurig bist, so sende Dir ein guter Mensch einen Brief voll Liebe zu, wie Du mir geschrieben, ja er schreibe sogar seinen wahren Namen darunter.


Hof im Voigtland, den 5. Jul. 1796.


Jean Paul Fr. Richter.«


[435] So viel stand vor zwanzig Jahren auf dem letzten Blatte der ersten Ausgabe dieser Geschichte. Diese Zeilen könnten so gut wie mehre andere aus der zweiten wegbleiben und untersinken; aber es ist ein so triftiger Grund zum Obenbleiben vorhanden, daß sie vielmehr in allen den unzähligen künftigen Auflagen vornen im vierten Bändchen voranschwimmen sollen; und dieser Grund ist bloß, weil der Septimus Fixlein niemand anders gewesen als der alte – Gleim, dem ich als einen Unbekannten mit jenen Zeilen für ein meiner damaligen Dürftigkeit angemessenes Geldgeschenk habe danken wollen. Später lernte ich diesen echten Ur- und Groß-Deutschen näher kennen, von Angesicht zu Angesicht, wie von Tat zu Tat; – und ich sehne mich herzlich nach den Stellen in meiner Lebensbeschreibung, wo ich seiner länger gedenken kann.


Baireuth, den 7ten März 1818.

[436]
Funfzehntes Kapitel

Rosa von Meyern – Nachklänge und Nachwehen der schönsten Nacht – Briefe Nataliens und Firmians – Tischreden Leibgebers


Wenn man in einer feuchtwarmen, gestirnten Lenznacht den Arbeitern in einem Steinsalzbergwerk ihr breites Wetterdach von Erde über den Kopf abhöbe und sie so plötzlich aus ihrem lichtervollen engen Keller in den dunkeln, weiten Schlafsaal der Natur und aus der unterirdischen Stille in das Wehen und Düften und Rauschen des Frühlings herausstellte: so wären sie gerade in Firmians Fall, dessen bisher verschlossenen, stillen, hellen Geist die vorige Nacht auf einmal mit neuen Schmerzen und Freuden und mit einer neuen Welt gewaltsam auseinandergetrieben und verdunkelt hatte. Heinrich beobachtete über diese Nacht ein sehr redendes Stillschweigen, und Firmian verriet sich umgekehrt durch ein stummes Jagen nach Reden. Er mochte die Flügel, die sich gestern zum erstenmal feucht außer der Puppe ausgedehnet hatten, zusammenlegen wie er wollte, sie blieben immer länger als die Flügeldecken. Es wurd' am Ende Leibgebern lästig und schwül; sie waren schon gestern schweigend nach Baireuth und ins Bette gegangen, und er wurde müde, wenn er die vielen Halbschatten und Halbfarben überzählte, die erst alle aufzutragen waren, bevor man vier tapfere, breite Striche am Gemälde der Nacht tun konnte.

Nichts ist wohl mehr zu beklagen, als daß wir nicht alle zu einerlei Zeit den Keichhusten haben – oder Werthers Leiden oder 21 Jahre oder 61 – oder hypochondrische Anfälle – oder Honigmonate – oder Mokierspiele: – wie würden wir, als Choristen desselben Freuden oder Trauer- oder Husten-Tutti, unsern Zustand in dem fremden finden und ertragen und dem andern alles vergeben, worin er uns gleicht. Jetzt hingegen, wo der eine zwar heute hustet, aber der andere erst morgen – das Simultan [437] und Kompaniehusten nach dem Kanzelliede in den Schweizerkirchen ausgenommen – da der eine die Tanzstunden besucht, wenn der andere den Kniestunden in Konventikeln obliegt – da das Mädchen des einen Vaters über dem Taufhecken hangt, und in derselben Minute der Junge des andern auf Seilen über dem kurzen Grabe; jetzt, da das Schicksal zum Grundton unsers Herzens in den Herzen um uns fremde Tonarten oder doch übermäßige Sexten, große Septimen, kleine Sekunden greift: jetzt, bei diesem allgemeinen Mangel des Unisono und derHarmonie, ist nichts zu erwarten als kreischendes Katzen-Charivari, und nichts zu wünschen als doch einiges Harpeggieren, wenn nicht Melodie.

Leibgeber ergriff als einen Henkel der Rede oder als einen Pumpenschwengel, um drei Tropfen aus dem Herzen zu drücken, Firmians Hand und umarmte sie mit allen Fingern sanft und warm. Er tat gleichgültige Fragen nach den heutigen Lustgängen und Lustreisen; aber er hatte nicht vorausgesehen, daß ihn der Druck der Hand tiefer in die Verlegenheit senken werde; denn er mußte nun (das konnte man fodern) ebensowohl über die Hand als über die Zunge regieren, und er konnte die fremde Hand nicht Knall und Fall fortschicken, sondern mußte sie in einem allmählichen diminuendo des Drucks entlassen. Eine solche Aufmerksamkeit auf Gefühle macht' ihn schamrot und toll; ja er hätte meine Beschreibung davon ins Feuer geworfen; ich habe Nachrichten, daß er nicht einmal bei Weibern, die doch das Herz (das Wort nämlich) immer auf der Zunge haben, wie einen heraufsteigenden globulus hystericus, dieses Wort auszusprechen vermochte: »Es ist«, sagt' er, »der Gießhals und der Kugelzieher ihres Herzens selber; es ist der Ball an ihrem Fächer-Rapier und für mich eine Giftkugel, eine Pechkugel für den Bel zu Babel.«

Auf einmal entsprang seine Hand aus dem süßen Personalarrest; er nahm Hut und Stock und plauderte heraus: »Ich sehe, du bist so einfältig wie ich: instanter, instantius, instantissime, mit drei Worten: hast du es ihr gesagt wegen der Witwenkasse? Nur ja und nein! Ich fahre sogleich zur Tür hinaus.« Siebenkäs[438] warf noch schneller alle Nachrichten auf einmal hervor, um auf immer von jeder frei zu sein: »Sie tritt gewiß hinein. Ich hab' ihr nichts gesagt und kann nicht. Du kannst ihrs leichtlich sagen. Du mußt auch. Ich komme nicht mehr in Fantaisie. Und nachmittags, Heinrich, wollen wir uns recht erlustigen, unser Lebenspiel soll ein klingendes sein – an unsern Pedalharfen stehen ja die Erhöhtritte für Freudentöne noch alle, und wir können darauf treten.« Heinrich kam wieder zu sich und sagte fortgehend: »Am menschlichen Instrument sind die Cremoneser Saiten aus lebendigem Gedärm gedreht, und die Brust ist nur der Resonanzboden und der Kopf vollends der Dämpfer.« –

Die Einsamkeit lag wie eine schöne Gegend um unsern Freund, alle verirrte, verjagte Echos konnten zu ihm herübergelangen, und er konnte sich auf dem aus zwölf Stunden gewebten Flor, der sich vor dem schönsten historischen Gemälde seines Lebens aufspannte, das Gemälde zitternd nachzeichnen mit Kreide und tausendmal nachzeichnen. – Aber den Besuch der schönen, immer weiter aufblühenden Fantaisie mußte er sich verwehren, um nicht mit einem lebendigen Zaun Natalien dieses Blumental zu verriegeln. Er mußte für seine Genüsse Entbehrungen nachzahlen. Die Reize der Stadt und ihrer Nachbarschaft behielten ihre bunte Hülse und verloren ihren süßen Kern; alles glich für ihn einem Dessertaufsatz, über dessen gläsernen Boden man in den vorigen Zeiten buntes Zucker-Pulver streuete, und den in den jetzigen nur farbiger Sand grundiert, mehr zum Stippen als zum Käuen tauglich. Alle seine Hoffnungen, alle Blüten und Früchte seines Lebens wuchsen und reiften nun, gleich unsern höhern, wie die der unterirdischen Platterbse 133, – unter der Erde, ich meine in dem Schein-Grabe, in das er gehen wollte. Wie wenig hatt' er: und wie viel! Sein Fuß stand auf verdorrten, stechenden Rosenstöcken, sein Auge sah rund um die elysischen Felder seiner Zukunft bedorntes Strauchwerk, borstiges Gestrippe und einen aus seinem Grab gemachten Wall gezogen; sein [439] ganzes Leipziger Rosental schränkte sich auf das grüne Rosenstöckchen ein, das unaufgeblüht von Nataliens Herzen an seines verpflanzt worden. – Und wie viel hatt' er doch! Von Natalie ein Vergißmeinnicht seines ganzen Lebens – das geschenkte seidne war nur die Rinde des immer blühenden –; einen Seelenfrühling, den er endlich nach so vielen Frühlingen erlebt, den, zum ersten Male von einem weiblichen Wesen so geliebt zu werden, wie ihm hundert Träume und Dichter an andern vorgemalt. – Aus der alten papiernen Rumpelkammer der Akten und Bücher auf einmal den Schritt in die frischgrüne blumenvolle Schäferwelt der Liebe zu tun, zum ersten Male eine solche Liebe nicht nur zu erhalten, sondern auch einen solchen Scheide-Kuß wie eine Sonne in ein ganzes Leben mitzunehmen und mit ihm es durchzuwärmen – dies war Seligkeit für einen Kreuzträger der Vergangenheit! Noch dazu konnt' er ganz hingegeben sich von den schönen Wellen dieses Paradiesesflusses ziehen und treiben lassen, da er Natalien nicht zu besitzen, nicht einmal zu sehen vermochte. In Lenetten hatt' er keine Natalie geliebt, wie in dieser keine Lenette; seine eheliche Liebe war ein prosaischer Sommertag der Ernte und Schwüle, und die jetzige eine poetische Lenznacht mit Blüten und Sternen, und seine neue Welt war dem Namen ihrer Schöpfung-Stätte, der Fantaisie, ähnlich. Er verbarg sich nicht, daß er – da er Natalien vorzusterben sich entschieden – in ihr ja nur eine Abgeschiedene liebe als ein Abgeschiedener; ja als ein noch Lebender eigentlich nur eine für ihn schon verklärte Vergangene – und er tat frei die Frage an sich, ob er nicht diese in die Vergangenheit gerückte Natalie so gut und so feurig lieben dürfe als irgendeine längst in eine noch fernere Vergangenheit geflogene, die Héloise eines Abälards oder eines St. Preux oder eine Dichters-Laura oder Werthers-Lotte, für welche er nicht einmal so im Ernste starb wie Werther.

Seinem Freunde Leibgeber war er mit aller Anstrengung nicht mehr zu sagen imstande als: »Du mußt recht von ihr geliebt worden sein, von dieser seltenen Seele, denn bloß der Ähnlichkeit mit dir darf ich ihre himmlische Güte für mich zuschreiben, ich, der ich sonst so wenig gleich sehe und nirgends Glück bei [440] Weibern gemacht.« Leibgeber und sogleich er selber hinterdrein lächelte über seine fast einfältige Wendung; aber welcher Liebhaber ist nicht während seines Maies ein wahres gutes lebendiges Schaf?

Leibgeber kam bald wieder in den Gasthof mit der Nachricht zurück, daß er die Engländerin auf Fantaisie habe fahren sehen. Firmian war recht – froh darüber: sie machte ihm seinen Vorsatz noch leichter, sich aus dem ganzen Freudenbezirke auszuschließen. Denn sie war die Tochter des Vaduzer Grafen und durfte also den Armenadvokaten, den sie einmal für Leibgebern halten sollte, jetzt nicht erblicken. Heinrich aber botanisierte jede Stunde des Tages draußen im Blüten-Abhang von Fantaisie, um mit seinen botanischen Suchgläsern (mit seinen Augen) weniger Blumen als die Blumengöttin auszuspüren und auszufragen. Aber es war an keine Göttererscheinung zu denken. Ach! die verwundete Natalie hatte so viele Ursachen, sich von den Ruinen ihrer schönsten Stunden entfernt zu halten und die überblühte Brandstätte zu fliehen, wo ihr der begegnen konnte, den sie nie mehr sehen wollte! –

Einige Tage darauf beehrte der Venner Rosa von Meyern die Tischgesellschaft in der Sonne mit der seinigen... Wenn die Zeitrechnungen des Verfassers nicht ganz trügen: so speisete er damals selber mit am Tische; ich erinnere mich aber der zwei Advokaten nur dunkel, und des Venners gar nicht, weil Festhasen seiner Art ein eisernes Vieh und weil ganze Wildbahnen und Tierspitäler davon zu bekommen sind. Ich bin mehr als einmal auf Personen lebendig gestoßen, die ich nachher von der Glatze bis auf die Sohle abgebosselt und in meinem biographischen Wachsfigurenkabinett herumgeführt habe; ich wünschte aber, ich wüßte – es hälfe dem Flor meines biographischen Fabrikwesens in etwas auf – es allezeit voraus, welchen ich gerade unter den anwesenden Leuten, womit ich esse oder reite, abkonterfeien werde. Ich würde tausend winzige Personalien einsammeln und in mein Briefgewölbe niederlegen können; so aber bin ich zuweilen genötigt (ich leugn' es nicht), kleinere Bestimmungen – z.B. ob etwas um 6 oder 7 Uhr vorging – geradezu herzulügen, [441] wenn mich alle Dokumente und Zeugen verlassen. Es ist daher moralisch gewiß, daß, hätten an demselben Morgen noch drei andere Autoren sich mit mir niedergesetzt, um Siebenkäsens Ehestand aus denselben geschichtlichen Hülfquellen der Welt zu geben, daß wir vier, bei aller Wahrheitliebe, ebenso verschiedene Familiengeschichten geliefert hätten, als wir von den vier Evangelisten schon wirklich in Händen haben; so daß unserem Tetrachord nur mit einer Harmonie der Evangelisten wäre nachzuhelfen gewesen, wie mit einer Stimmpfeife.

Meyern aß, wie gesagt, in der Sonne. Er sagte dem Armenadvokaten mit einem Triumph, der etwas von einer Drohung annahm, daß er morgen zurückreise in die Reichsstadt. Er tat eitler als je; wahrscheinlich hatt' er funfzig Baireutherinnen seine eheliche Hand verheißen, als wär' er der Riese Briareus mit funfzig Ringfingern an hundert Händen. Er war auf Mädchen wie Katzen auf Marum verum erpicht, daher jene Blumen und dieses Kraut von den Besitzern mit Drahtgittern überbauet werden. Wenn solche Wildschützen, die überall Jagdfolge und Koppeljagd ausüben, von Geistlichen mit dicken Eheringen lebendig auf ein Wild geschmiedet werden, das mit ihnen durch jedes Dickicht rennt, bis sie verbluten: so schreiben uns menschenfreundliche Wochenblätter, die Strafe sei zu hart; – allerdings ist sie es für das unschuldige – Wild.

Den andern Tag ließ Rosa wirklich beim Advokaten fragen: ob er nichts an seine Frau bestellen solle; er reise zu ihr.

Natalie blieb unsichtbar. – Alles, was Firmian von ihr zu sehen bekam, war ein Brief an sie, den er aus dem Postbeutel schütten sah, als er täglich nach einem von seiner Frau nachfragte. Zu einem Billet brauchte Lenette vielleicht nicht mehr Stunden, als Isokrates Jahre zu seiner Lobrede auf die Athener bedurfte; nicht mehr, sondern gerade zehn. Der Brief an Natalien kam, der Hand und dem Siegel zufolge, vom Landes-(Stief-)Vater v. Blaise. Du gutes Mädchen! (dacht' er ) wie wird er nun mit dem aus dem Eis seines Herzens gegossenen Brennspiegel den stechenden Brennpunkt langsam um alle Wunden deiner Seele führen! Wie viele verdeckte Tränen wirst du vergießen, die niemand [442] zählt; und du hast keine Hand mehr, die sie trocknet und bedeckt, außer deiner!

An einem blauen Nachmittage ging er allein in den einzigen für ihn nicht zugesperrten Lustgarten, in die Eremitage. Überall begegneten ihm Erinnerungen, aber nur schmerzlich-süße, überall hatte er da verloren oder hingegeben, Leben und Herz, und hatte von der Einsiedelei sich ihrem Namen gemäß zum Einsiedler machen lassen. Konnt' er die große dunkle Stelle vergessen, wo er neben dem knieenden Freunde und vor der untergehenden Sonne zu sterben geschworen und sich von seiner Gattin und seiner Bekannten-Welt zu scheiden versprochen?

Er hatte den Lustort verlassen, das Angesicht nach der sinkenden Sonne gerichtet, die mit ihren fast waagrechten Flammen die Aussicht verbauete, und zog nun die Stadt im Bogen weit vorüber, immer mehr nach Abend bis in die Straße nach Fantaisie dahin. Er sah mit einem bewegten Herzen dem sanft auflodernden Gestirne nach, das, gleichsam in die glühenden Kohlen von Wolken zerbröckelnd, in jene Fernen hinabzufallen schien, wo seine verwaisete Lenette mit dem Angesicht voll Abendrot in dem verstummten Zimmer stand. »Ach, gute, gute Lenette«, rief es in ihm, »warum kann ich dich nicht jetzt, in diesem Eden, an diesem vollen weichen Herzen selig zerdrücken – ach, hier würd' ich dir lieber vergeben und dich schöner lieben!« – Du gute Natur voll unendlicher Liebe bist es ja, die in uns die Entfernung der Körper in Annäherung der Seelen verwandelt; du bist es, die vor uns, wenn wir uns an fernen Orten recht innig freuen, die freundlichen Bilder aller derer, die wir verlassen mußten, wie holde Töne und Jahre vorüberführt, und du breitest unsere Arme nach den Wolken aus, welche über die Berge herfliegen, hinter denen unsere Teuersten leben! So öffnet sich das abgetrennte Herz dem fernen, wie sich die Blumen, die sich vor der Sonne auftun, auch an den Tagen, wo das Gewölk zwischen beide tritt, auseinander falten. – Der Glanz losch aus, nur die blutige Spur der gefallnen Sonne stand im Blau, die Erde trat höher mit den Gärten hervor – und Firmian sah auf einmal nahe an sich das grünende Tempetal der Fantaisie, übergossen von roter Wolken- und von weißer [443] Blüten-Schminke, vor sich schwanken und rauschen; aber ein Engel stand aus dem Himmel mit dem Schwerte eines funkelnden Wolkenstreifs davor und sagte: geh hier nicht ein; kennst du das Paradies, aus dem du gegangen bist?

Fimian kehrte um, lehnte sich im Helldunkel des Frühlings an die Kalkwand des ersten baireuthischen Hauses, um die Wundenmale seiner Augen auszuheilen und vor seinem Freunde mit keinen Zeichen zu erscheinen, die vielleicht erst zu erklären waren. Aber Leibgeber war nicht da; jedoch etwas Unerwartetes, ein Blättchen an diesen von Natalie. Ihr, die ihrs empfindet oder betrauert, daß immer und ewig eine Mosisdecke, ein Altargeländer, ein Gefängnisgitter, aus Körper und Erde gemacht, zwischen Seel' und Seele gezogen ist, ihr könnt es nicht verdammen, daß der arme, gerührte, einsame Freund ungesehen das kalte Blatt an den heißen Mund, an das zitternde Herz anpreßte. Wahrlich für die Seele ist jeder Körper, sogar der menschliche, nur die Reliquie eines unsichtbaren Geistes, und nicht etwa der Brief, den du küssest, auch die Hand, die ihn schrieb, ist wie der Mund, dessen Kuß dich mit der Nähe einer Vereinigung täuschet, nur das sichtbare, von einem hohen oder teuern Wesen geheiligte Zeichen, und die Täuschungen unterscheiden sich nur in ihrer Süßigkeit.

Leibgeber kam an, riß es auf, las es vor:

»Morgen um 5 Uhr liegt Ihre schöne Stadt hinter meinem Rücken. Ich gehe nach Schraplau. Ich hätte nicht, o teurer Freund, aus diesem holden Tale weichen können, ohne noch einmal vor Sie mit der Versicherung meiner längsten Freundschaft und mit dem Danke und Wunsche der Ihrigen zu kommen. Ich würde gern von Ihnen auf eine lebendigere Art als auf diese Abschied genommen haben; aber das lange Trennen von meiner britischen Freundin ist noch nicht vorüber, und ich habe jetzt ihre Wünsche, wie vorher meine, zu bekämpfen, um mich in meine bürgerliche Einsamkeit zu begraben oder vielmehr zu flüchten. Mit Freuden und Schmerzen hat mich der schöne Frühling verwundet; doch bleibt mein Herz wie Cramners seines wenn ich so fremd vergleichen darf – in der Asche des Restes auf dem Scheiterhaufen einsam-unversehrt für meine Geliebten. – [444] Aber Ihnen geh' es wohl, wohl! Und besser, als es mir, einem Weibe, je gehen kann. Ihnen kann das Geschick nicht viel nehmen, ja nicht einmal geben; auf allen Wasserfällen liegen Ihnen lachende ewige Regenbogen; aber die Regenwolken des weiblichen Herzens färben sich spät und erst, wenn sie lange getropft, mit dem wehmütigen heitern Bogen, den die Erinnerung an ihnen erleuchtet. – Ihr Freund ist gewiß noch bei Ihnen? – Drücken Sie ihn feurig an Ihr Herz und sagen ihm, alles, was ihm Ihres wünscht und gibt, wünscht meines ihm; und nie wird er und sein Geliebter von mir vergessen.

Ewig

Ihre Natalie«


Firmian hatte sich unter der Vorlesung mit dem gegen den Abendhimmel gekehrten Gesicht voll Tränen auf das Fenster gestützt. Heinrich griff mit freundschaftlicher Feinheit seiner Antwort vor und sagte, ihm ansehend: »Ja, diese Natalie ist wirklich gut und tausendmal besser als tausend andere, aber ich lasse mich rädern von ihrem eignen Wagen, pass' ich ihr nicht morgen um 4 Uhr auf und setze mich dicht neben sie: wahrlich! Ich muß ihre Ohren fassen und füllen, oder meine sind länger als die an einem Elefanten, der seine zu Fliegenwedeln gebraucht.« – »Tu es, lieber Heinrich«, sagte Firmian mit der heitersten Stimme, die aus der zugepreßten Kehle zu ziehen war, »ich will dir drei Zeilen mitgeben, um nur etwas einzubringen, da ich sie nie mehr sehen darf.« – Es gibt eine lyrische Trunkenheit des Herzens, worin man keine Briefe schreiben sollte, weil nach 50 Jahren Leute darüber geraten können, denen das Herz und die Trunkenheit zugleich abgeht. Firmian schrieb denn doch; und siegelte nichts; und Leibgeber las nichts.

»Ich sage zu Ihnen: lebe auch wohl! Aber ich kann nicht sagen: vergiß mich nicht! O vergiß mein! Nur mir laß das Vergißmeinnicht, das ich bekommen. – Der Himmel ist vorüber, aber das Sterben nicht. Meines kommt bald; und für dieses nur tu' ich und noch stärker mein Leibgeber eine Bitte an Sie, aber eine so seltsame – Natalie, schlage sie ihm – nicht ab. Deine Seele hat ihren Stand hoch über weiblichen Seelen, welche jede Sonderbarkeit [445] erschreckt und verwirrt; Du darfst wagen; Du wagst nie dein großes Herz und Glück. – So hab' ich denn an jenem Abende zum letzten Male gesprochen und am heutigen zum letzten Male geschrieben. Aber die Ewigkeit bleibt mir und dir!

F. S.«


Er schlief die ganze Nacht nur träumend, um Leibgebers Wecker zu sein. Aber um 3 Uhr morgens stand dieser schon als Briefträger und Requetenmeister unter einer Riesenlinde, deren Hängebette mit einer schlafenden Welt über die Allee hineinsank, wodurch Natalie kommen mußte. Firmian spielte in seinem Bette Heinrichs Rolle des Wartens nach und sagte immer zu sich: jetzt wird sie von der Britin Abschied nehmen – jetzt einsitzen – jetzt vor dem Baum vorbeifahren, und er wird ihr in die Zügel fallen. Er phantasierte sich in Träume hinein, die ihn mit einem peinlichen Wirrwarr und mit wiederholten Versagungen seiner Bitte wund stießen. Wie viele trübe Tage werden oft, im physischen und im moralischen Wetter, von einer einzigen sternhellen Nacht geboren! – Endlich träumte ihn, sie reich' ihm aus ihrem herrollenden Wagen die Hand, mit weinenden Augen und mit dem grünen Rosenzweige vor der Brust, und sage leise: »Ich sage doch nein! Würd' ich denn lange leben, wenn du gestorben wärest?« – Sie drückte seine Hand so stark, daß er erwachte; aber der Druck währte fort, und vor ihm stand der helle Tag und sein heller Freund und sagte: »Sie hat ja gesagt; aber du hast fest geschlafen.«

Bei einem Haare, erzählte er, hätt' er sie verpasset. Sie war mit ihrem Ankleiden und Abreisen schneller fertig geworden als andere mit ihrem Auskleiden und Ankommen. Ein betaueter Rosenast, dessen Blätter mehr stachen als seine Dornen, lag an ihrem Herzen, und ihre Augen hatte der lange Abschied rot gefärbt. Sie empfing ihn liebreich und freudig, obwohl erschrocken und horchend. Er gab ihr zuerst, als Vollmacht, Firmians offnen Brief. Ihr brennendes Auge glühte noch einmal unter zwei großen Tropfen, und sie fragte: »Und was soll ich denn tun?« »Nichts«, sagte Leibgeber, künstlich zwischen Scherz und Ernst, [446] »Sie sollen bloß leiden, daß Sie von der preußischen Kasse, sobald er gestorben ist, jedes Jahr an seinen Tod erinnert werden, als wären Sie seine Witwe.« – »Nein«, sagte sie gedehnt mit einem Tone, hinter dem aber nur ein Komma auftritt, und kein Punktum. Er wiederholte Bitten und Gründe und setzte dazu: »Nur wenigstens meinetwegen tun Sie es, ich kann es nicht sehen, wenn er eine Hoffnung oder einen Wunsch verliert; er ist ohnehin ein Tanzbär, den der Bärenführer, der Staat, im Winter fortzutanzen zwingt, ohne Winterschlaf; – ich hingegen bringe die Tatzen selten aus dem Maul und sauge beständig. Er hat die ganze Nacht gewacht, um mich aufzuwecken, und zählt nun zu Hause jede Minute.« – Sie überlas den Brief noch einmal von einem Buchstaben zum andern. Er bestand auf keinem Entscheidespruch, sondern zwirnte ein anderes Gespräch aus dem Morgen, aus der Reise und aus Schraplau zusammen. Der Morgen hatte schon hinter Baireuth seine Feuersäulen aufgerichtet, die Stadt trat mit immer mehren Rauchsäulen heran; er mußte in wenigen Minuten vom Wagen herab. »Leben Sie wohl«, sagte er im sanftesten Tone, mit einem Fuß im Wagenfußtritte hängend, »Ihre Zukunft ahme den Tag um uns nach und werde immer heller. – Und nun, welches letzte Wort geben Sie mir an meinen guten, teuern, geliebten Firmian mit?« – (Ich will nachher eine Bemerkung machen.) Sie zog den Reiseflor wie einen Vorhang des ausgespielten Bühnenlebens nieder und sagte eingehüllt und erstickt: »Muß ich, so muß ich. Auch dies sei! Aber Sie geben mir noch einen großen Schmerz mit auf den Weg.« Allein hier sprang er herab, und der Wagen rollte mit der vielfach Verarmten über die Trümmer ihrer Tage dahin.

Hätt' er statt des abgequälten Ja ein Nein erhalten: er wäre ihr hinter der Stadt wieder nachgekommen und wieder als blinder Passagier aufgesessen.

Ich versprach oben, etwas zu bemerken: es ist dieses, daß die Freundschaft oder Liebe, die ein Mädchen für einen Jüngling hat, durch die Freundschaft, die sie zwischen ihm und seinen Freunden wahrnimmt, unter unsern Augen wächst und solche polypenartig in ihre Substanz verwendet. Daher hatte Leibgeber aus Instinkt [447] die seinige wärmer offenbart. Uns Liebhabern hingegen wird dergleichen elektrische Belegung oder magnetische Bewaffnung unserer Liebe durch die Freundschaft, die wir zwischen unserer Geliebten und ihrer Freundin bemerken, nur selten beschert, so sehr auch durch die Bemerkung unsere Flamme wüchse; alles, was uns zufället, ist der Anblick, daß unsere Geliebte unsertwegen gegen alle andere Menschen erstarret und ihnen nur Eistassen und kalte Küche präsentiert, um uns einen desto feurigern Liebetrank zu kochen. Aber die Methode, das Herz, wie den Wein, dadurch geistiger, stärker und feuriger zu machen, daß man es um den Siedpunkt herum eingefrieren lässet, kann wohl einer blinden, eigensüchtigen, aber nie einer hellen, menschenfreundlichen Seele gefallen. Wenigstens bekennt der Verfasser dieses, daß er, wenn er im Spiegel oder im Wasser ersah, daß der Januskopf, der vor ihm auf dem einen Gesicht liebend zerfloß, sich auf dem abgekehrten hassend gegen die ganze Erde verzog er bekennt, daß er auf der Stelle ein oder ein paar solcher feindseliger Gesichter selber nachgeschnitten habe gegen den Januskopf. – Verleumden, schelten, hassen sollte ein Mädchen, des Abstichs halber, wenigstens so lange nicht, als es liebt; ist es Hausmutter, hat es Kinder und Rinder und Mägde, so wird ohnehin kein billiger Mann gegen mäßiges Ergrimmen und gegen ein bescheidenes Schmähen etwas haben. – –

Natalie hatte aus vielen Gründen in den sonderbaren Antrag gewilligt; weil er eben sonderbar war – weil ferner der Name »Witwe« für ihr schwärmendes Herz noch immer ein Trauerband zwischen ihr und Firmian zusammenwebte, das sich reizend und phantastisch um den Auftritt und den Eid jener nächtlichen Trennung schlang – weil sie heute von einer Empfindung zur andern gestiegen war und nun in der Höhe schwindelte – weil sie uneigennützig ohne Grenzen war und mit hin nach dem möglichen Schein des Eigennutzes wenig fragte – und weil sie endlich überhaupt nach dem Scheinen und dem Urteilen darüber weniger fragte, als wohl ein Mädchen darf.

Leibgeber streckte nach dem Erreichen aller seiner Ziele nur einen freudigen langen Zodiakalschein aus; Siebenkäs warf seinen [448] Trauer-Nachtschatten nicht hinein, sondern einen Halbschatten. Nur jetzt aber war er unvermögend, die beiden Lustgegenden Baireuths, Eremitage und Fantaisie, zu besuchen, welche für ihn Herkulaneum und Portici waren. Und über letztes mußt' er ja ohnehin bei seiner Abreise ziehen und da manches Versunkne wieder ausgraben. Dieses wollte er nicht lange hinaussetzen, da nicht nur die Luna untergegangen war, welche von ihrem Himmel auf alle weißen Blumen und Blüten des Frühlings einen neuen Silberschein geworfen, sondern weil auch Leibgeber sein Memento mori-Totenkopf war, der ohne Zunge und Lippe immer deutlich sagte: man erinnere sich, daß man sterben muß in Kuhschnappel – zum Spaß. Leibgebers Herz brannte nach außen in die Weite, und die Flammen seines Waldbrandes wollten auf Alpen, auf Inseln, in Residenzstädten ungebunden umherschießen und spielen; der Aktenwasserschatz in Vaduz, dieses papierne Parade- und Wochenbette der Justiz – lit de justice – wäre für ihn ein schweres, dumpfes Siechbette gewesen, mit welchem die Leute sonst den auf ihm erliegenden Wasserscheuen zuletzt selber erstickten aus Mitleid. Freilich konnte eine kleine Stadt ihn so wenig ausstehen als er sie; denn verstehen konnte sie ihn noch weniger. Saßen ja sogar im größern Baireuth an der Wirts-Tafel in der Sonne mehre Justizkommissarien (ich habe die Sache aus ihrem Munde selber), welche seine Tafelrede (im 12ten Kapitel) über die den Fürsten so schweren Palingenesien von Kronprinzen für eine förmliche Satire auf einen lebenden Markgrafen angesehen, indes er bei allen Satiren auf niemand anders zielte als auf sämtliche Menschen zugleich. Freilich, wie unbesonnen führte er sich nicht in den elenden acht Tagen, die er in unserem Hof im Voigtlande verbrachte, auf öffentlichem Markte auf? Wollen mirs nicht glaubhafte Varisker – wie die alten Voigtländer zu Cäsars Zeiten nach einigen hießen, nach andern aber Narisker – bezeugen, daß er in den besten Kleidern neben dem Rathause Bergamottebirnen und in der Brotbank Gebacknes dazu öffentlich eingekauft? Und haben ihm nicht Nariskerinnen nachgesehen, die beschwören wollen, daß er besagtes Speisopfer – da doch Stallfütterung allgemein empfohlen [449] wird – im Freien verzehrt habe, als wär' er ein Fürst, und im Gehen, als wär' er eine römische Armee? – Man hat Zeugen, die mit ihm gewalzt, daß er Maskenbällen in Schlafrock und Federmütze beigewohnt, und daß er beide schon den ganzen Tag im Ernst getragen, eh' er sie zum Spaße abends anbehalten. Ein nicht unverständiger Narisker voll Memorie, der nicht wußte, daß ich den Mann unter meinen historischen Händen hatte, ging mit folgenden frechen Reden Leibgebers heraus: Jeder Mensch sei ein geborner Pedant. – Wenige hängen nach, fast alle vor dem Tode in verdammten Ketten, ein Freimann bezeichne daher in den meisten Ländern nur einen Profos oder auch einen Scharfrichter. – Torheit als Torheit sei ernsthaft, man verübe daher so lange die kleinste, als man scherze. – Er halte den Geist, der schaffend auf der Dinte der Kollegien schwebe, wie bei Moses auf den Wassern, mit vielen Kirchenvätern für Wind. – In seinen Augen seien die ehrwürdigen Konzilien, Konferenzen, Deputationen, Sessionen, Prozessionen im Grunde nicht ohne alles komische Salz, als ernsthafte Parodien eines steifen leeren Ernstes betrachtet, um so mehr, da nur meistens einer unter der Kompanie (oder gar seine Frau) eigentlich referiere, votiere, dezidiere, regiere, indes das mystische corpus selber mehr nur zum Scherze an dem grünen Sessiontische vexierend angebracht sei; so hänge zwar an Flötenuhren außen ein Flötenspieler angeschraubt, dessen Finger auf der kurzen, aus dem Mund wachsenden Flöte auf und niedertreten, so daß Kinder über die Talente des hölzernen Quanzes außer sich geraten; inzwischen wissen alle Uhrmacher, daßinnen eine eingebauete Walze gehe und mit ihren Stiften versteckte Flöten anspiele. – Ich antwortete: »Solche Reden verraten sehr einen frechen und vielleicht spöttischen Menschen.« Es wäre wohl zu wünschen, jeder könnt' es dem Verfasser dieses nachtun, der hier die Narisker aufzufodern imstande ist, ihn, wenn sie können, eines Schrittes oder Wortes zu zeihen, das satirisch oder nicht genau nach dem Hut- und Haubenstock eines pays coutumier geformet gewesen; er verlangt freien Widerspruch, wenn er lügt. – –

Ein Briefchen war die Wurfschaufel, die den Armenadvokaten [450] am andern Tage aus Baireuth fortwarf, nämlich eines vom Grafen zu Vaduz, der Leibgebers kaltes Fieber und Talg-Aussehen freundschaftlich bedauerte und zugleich den schnellern Regierantritt des Inspektorats bestellete. Dieses Blättchen legte sich an Siebenkäs als Flughaut an, womit er seinem scheinbaren Kokons-Grabe zueilte, um daraus als frischer Inspektor aufzufliegen. Im nächsten Kapitel kehrt er um und räumt die schöne Stadt. In diesem nimmt er noch bei Leibgebern, dessen Rolle ihm zustirbt, im Silhouetten-Schneiden Privatstunden. Der Schneider-Meister und Mentor in der Schere tat hiebei nichts, was durch mich auf die Nachwelt zu kommen verdiente, als das, wovon ich in meinen Belegen kein Wort antreffe, was ich aber aus dem Munde des Hrn. Feldmanns, Gasthof-Inhabers, selber habe, der gerade an der Tafel vorschnitt, als es vorfiel. Es war nichts, als daß ein Fremder vor der Wirtstafel stand und unter mehrern Tischgenossen auch den Silhouetten-Improvisatore Leibgeber ausschnitt in Schattenpapier. Dieser ersah es und schnitt unter der Hand und unter dem Tellertuche seinerseits den Supernumerarkopisten des Gesichtes nach – und als dieser den einen Nachschnitt hinreichte, langte jener den andern hin, sagend: »Al pari, mit gleicher Münze bezahlend!« Der Passagier machte übrigens außer den Schatten-Holzschnitten noch Luftarten; worunter ihm keine gelang als die phlogistische, die er leicht mit seiner Lunge verfertigte, und in der er, gleich den Pflanzen, gedieh und sich färbte: sie ist einatembar und bekannter unter dem Namen »Wind«, um sie von den andern, untrinkbaren phlogistischen zu unterscheiden. – Als der phlogistische Windmacher, der von Stadt zu Stadt aus dem tragbaren Katheder seines Leibes gute Vorlesungen über die andern Luftarten hielt, das Macher- und Schneiderlohn und sich fortgetragen hatte, so bemerkte Heinrich nur folgendes: »Reisen und dozieren zugleich sollten Tausende; wer sich auf drei Tage einschränkt, kann sicher darin über alle Materien als außerordentlicher Lehrer lesen, von denen er wenig versteht. So viel seh' ich schon, daß sich jetzt überall leuchtende Wandelsterne um mich und andere drehen, die uns über Elektrizität, über Luftarten, über Magnetismus, kurz, über die Naturlehre ein fliegendes [451] Licht zuwerfen; aber das ist nur etwas: ich will an diesem Entenflügel ersticken, wenn solche Kathederfahrer und Kurrendlehrer (nicht Kurrendschüler) nicht überhaupt über alles Wissenschaftliche lesen können, und mit Nutzen, über die kleinsten Zweige besonders. Könnte nicht der eine auf das erste Jahrhundert nach Christi Geburt – oder aufs erste Jahrtausend vor derselben, weil es nicht länger ist – vorlesend reisen, ich meine nämlich, solches den Damen und Herren in wenigen Vorlesungen beibringen, der zweite aufs zweite, der dritte aufs dritte, der 18te auf unseres? Solche transzendente Reiseapotheken für die Seele kann ich mir gedenken. Ich freilich für meine Person bliebe dabei nicht einmal, ich kündigte mich als peripatetischer Privatdozent in den allerkleinsten Kapiteln an – z.B. ich würde an kurfürstlichen Höfen Unterricht über die Wahlkapitulation erteilen, an altfürstlichen bloß über die Fürstenerianer – exegetisch an allen Orten über den 1. Vers im 1. Buch Mosis – über den Seekraken – über den Satan, der halb dieser sein mag – über Hogarths Schwanzstück, mit Beiziehung einiger Vandykischen Köpfe auf Gold- und Kopfstücken – über den wahren Unterschied zwischen Hippozentauren und Onozentauren, den der zwischen Genies und deutschen Kritikern 134 am meisten aufhellet – über den ersten Paragraph von Wolf oder auch von Pütter – über Ludwigs (XIV.) des Vergrößerten Leichenbier und Volkfeste unter seiner Bahre – über die akademischen Freiheiten, die ein akademischer kursorischer Lehrer sich außer dem Ehrensold nehmen kann, und deren größte oft der Torschluß des Hörsaals ist – überhaupt über alles. So und auf diesem Wege (will es mir vorkommen), wenn hohe circulating schools 135 so gemein würden wie Dorfschulen, wenn die Gelehrten (wie man doch wenigstens angefangen) als lebendige Weberschiffe zwischen den Städten auf und niederfahren und den Faden der Ariadne, wenigstens der Rede, überall anhängen und zu etwas verweben wollten; auf [452] einem solchen Wege, wenn jede Sonne von einer Professur nach dem ptolomäischen System ihr Licht selber um die finstern, auf Hälse befestigten Weltkugeln herumtrüge – welches wohl offenbar nichts vom kopernikanischen hätte, nach welchem die Sonne auf dem Katheder stille steht, mitten unter den herreisenden und umlaufenden Wandelsternen oder Studenten – auf diesem Wege könnte man sich endlich einige Rechnung machen, daß aus der Welt etwas würde, wenigstens eine gelehrte. – Weisen würde der bloße Stein der Weisen, das Geld, den Toren aber würden die Weisen selber zuteil, und Wissenschaften aller Art und noch mehr die Wiederhersteller der Wissenschaften kämen auf die Beine – es gäbe keinen Boden mehr als klassischen, worauf man mithin ackern und fechten müßte – jeder Rabenstein wäre ein Pindus, jeder Nacht- und jeder Fürstenstuhl eine delphische Höhle – und man sollte mir dann in allen deutschen Kreisen einen Esel zeigen. – – Das folgte, wenn alle Welt auf gelehrte und lehrende Reisen ginge, der Teil der Welt freilich ausgenommen, der durchaus zu Hause sitzen muß, wenn jemand da sein soll, der hört und zahlt – gleich dem point de vue, wozu man bei Heerschauen oft den Adjutanten erlieset.« – –

Auf einmal sprang er auf und sagte: »Wollte Gott, ich ginge einmal nach Brückenau 136. Dort auf Badezubern wäre mein Lehrstuhl und Musensitz. Die Kauffrau, die Rätin, die Landedelfrau oder deren Tochter läge als Schaltier im zugemachten Bassin und Reliquienkasten und steckte, wie aus ihrer andern Kleidung, nichts heraus als den Kopf, den ich zu bilden hätte – welche Predigten wollt' ich als Antonius von Padua erobernd der weichen [453] Schleie oder Sirene halten, wiewohl sie mehr eine Festung mit einem Wassergraben ist! Ich säße auf der hölzernen Hulfter ihrer feurigen, wie Phosphor unter Wasser gehaltenen Reize und dozierte! – Was wär' aber das gegen den Nutzen, den ich stiften könnte, wenn ich mich selber in ein solches Besteck und Futteral einschöbe und drinnen im Wasser wie eine Wasserorgel ginge und als Flußgott meine wenigen Amtgaben an der Schulbank auf meiner Wanne versuchte; wenn ich zwar die Lehr-Gestus unter dem warmen Wasser machte, weil nur der Kopf mit dem Magisterhut aus der Scheide, wie ein Degenknopf, herauslangte, indessen aber doch schöne Lehren, üppige unter Wasser stehende Reis-Ähren und Wasserpflanzen, einen philosophischen Wasserbau und dergleichen aus dem Zuber heraustriebe und alle Damen, die ich jetzt ordentlich mein Quäker- und Diogenes-Faß umringen sehe, mit dem herrlichsten Unterricht besprenget entließe? – Beim Himmel! ich sollte nach Brückenau eilen, als Badgast weniger denn als Privatdozent.« –

Sechzehntes Kapitel

Abreise – Reisefreuden – Ankunft


Firmian schied. Er reisete aus dem Gasthofe, der für ihn ein rheinisches Monrepos oder mittelmärkisches Sanssouci gewesen war, nicht gern dem Vertausche schöner Zimmer gegen kahle entgegen. Ihm, der keine Bequemlichkeiten, gleichsam die weichen Ausfütterungen dieses harten Lebens, noch gekannt und noch keinen andern Knecht als den Stiefelknecht, hatt' es ungewöhnlich wohl getan, daß er auf sein Zimmertheater so leicht mit der Klingel den ersten Schauspieler, den Kellner Johann, aus dem Kulissen-Stockwerke herauf läuten konnte, noch dazu mit Teller und Flasche in der Hand begabt, wovon der Schauspieler nicht einmal etwas bekam und genoß, sondern nur er und das Publikum. Noch unter dem Tore des Gasthofs zur Sonne warf er Herrn Feldmann, dem Besitzer, das mündliche Lob – das dieser [454] sogleich als ein zweites Glanzschild von mir gedruckt erhalten soll, sobald es aus der Presse ist – mit den Worten zu: »Bei Ihnen fehlt einem Gaste nichts als der wichtigste Artikel, die Zeit. Ihre Sonne erreiche und behalte das Zeichen desKrebses.« Mehre Baireuther, die dabei standen und das Lob hörten, nahmen es für eine elende Satire.

Heinrich begleitete ihn etwan 30 Schritte über die reformierte Kirche bis zum Gottesacker hinaus und riß sich dann leichter als sonst – weil er ihn in wenig Wochen auf dem Sterbebette wiederzusehen hoffte – von seinem Herzen los. Er begleitete ihn darum nicht nach Fantaisie, damit sich sein Freund stiller in das Zauber Echo verlieren könnte, das ihm heute der ganze Garten von den Geisterharmonien jenes seligen Abends zurückgeben würde.

Firmian trat allein in das Tal, wie in einen heiligen, schauerlichen Tempel. Jedes Gesträuch schien ihm von Licht verklärt, der Bach aus Arkadien hergeflossen und das ganze Tal ein versetztes, aufgedecktes Tempe-Tal zu sein. Und als er an die heilige Stätte kam, wo Natalie ihn gebeten hatte: »denk an heute«: so war ihm, als würfe die Sonne einen himmlischern Glanz, als käme das Bienengetöne von verwehten Geister-Stimmen, als müßt' er auf die Stelle niederfallen und sein Herz an das betauete Grün andrücken. Er ging auf diesem zitternden Resonanzboden den alten Weg zurück, den er mit Natalien gemacht, und eine Saite um die andere gab bald in einem Rosenspalier, bald aus einer Quelle, bald auf dem Balkon, bald in der Laube wieder den verklungnen Ton. Seine Brust schwoll trunken an bis zum Schmerz; seine Augen deckte ein feuchter, durchsichtiger, bleibender Schimmer, der zu einem großen Tropfen einlief; nur der Morgenglanz und das Blütenweiß drangen noch von der Erde durch das tränentrunkne Auge und durch den Blumenflor aus Träumen, in deren Lilienduft die Seele betäubt und schlummernd niedersank. – Es war, als ob er im Genusse seines Leibgebers bisher nur in halber Kraft die Liebe für Natalien empfunden hätte; so neumächtig und himmelluftig wehte ihn in dieser Einsamkeit die Liebe wie mit ätherischen Flammen an. Eine jugendliche Welt blühte in seinem Herzen.

[455] Plötzlich rief in sie das Geläute von Baireuth hinein, das ihm seine Abschiedstunde schlug; und ihn überfiel jene Bangigkeit, mit welcher man nach dem Scheiden noch zu lange in der Nähe der geräumten Freudenstadt verweilt. Er ging.

Welcher Duftglanz fiel auf alle Auen und Berge, seitdem er an Natalie dachte und an den unvergänglichen Kuß! Die grüne Welt hatte jetzo Sprache für ihn, die auf der Herreise ihm nur als Gemälde erschienen. Den ganzen Tag trug er in seinem dunkelsten Innern einen Lichtmagneten der Freude, und mitten unter Zerstreuungen und Gesprächen fand er, wenn er auf einmal in sich hineinblickte, daß er immer selig geblieben.

Wie oft kehrt' er sich nach den Baireuther Bergen um, hinter welchen er zum ersten Male Tage der Jugend gelebt! Natalie zog hinter ihm nach Morgen weiter, und Morgenlüfte, die um die ferne Einsame geflattert, wehten herüber, und er trank Ätherflut wie einen geliebten Atem.

Die Berge sanken ein – in das Himmelblau war sein Paradies untergetaucht – sein Westen und Nataliens Osten flohen mit doppelten Flügeln weiter auseinander. –

Eine geschmückte Ebene nach der andern trat fliehend hinter ihn zurück.

Wie vor Jugendjahren eilte er, wechselnd zwischen Sehen und Genießen, vor den mit Blumen überdeckten Gliedern des ausgedehnten Frühlings vorbei.

So kam er abends im Taldorfe an der Jaxt, wo er auf der Herreise über seine liebeleeren Tage weinend hingeblickt hatte, mit einem andern Herzen an, das voll war von Liebe und Glück; und das wieder weinte. Hier – wo er damals unter den auflösenden Zauberlichtern des Abends sich gefragt: welche weibliche Seele hat dich je geliebt, wie dein alter Traum der Brust so oft vorgespiegelt? und wo er sich eine traurige Antwort gegeben – hier konnt' er an den Baireuther Abend denken und zu sich sagen: ja, Natalie hätte mich geliebt. Nun stand wieder der alte Schmerz aber verklärt vom Tode auf. Er hatte ihr den Schwur der Unsichtbarkeit auf Erden getan – er zog jetzt seinem Sterben entgegen, um sie nie mehr zu sehen – sie war vorausgezogen und [456] ihm gleichsam vorgestorben, und sie hatte bloß die Schmerzen, zweimal geliebt und verloren zu haben, in die langen dunkeln Jahrgänge ihres Lebens mitgenommen. »Und hier wein' ich und schaue in mein Leben!« sagt' er müde und schloß die Augen zu, ohne sie zu trocknen. –

Am Morgen ging in ihm eine andere Welt auf, nicht die bessere, sondern die ganz alte. Ordentlich als hätten die konzentrischen Zauberkreise von Natalie und Leibgeber nicht weiter gereicht und nicht mehr umschließen können als bloß noch das kleine Sehnsucht-Tal an der Jaxt: so trug jeder Schritt nach der Heimat die Dichtkunst seines bisherigen Lebens in poetische Prose über. Die kalte Zone seiner Tage, der Reichs-Marktflecken, lag ihm schon näher; die warme, auf der noch die abgeblühten Blätter der ephemerischen Freudenblumen nachflatterten, war weit hinter ihm.

Aber auf der andern Seite rückten die Bilder seines häuslichen Lebens immer lichter heran und wurden zu einer Bilderbibel, indes die Gemälde seines Wonnemonats in ein dunkles Bilderkabinett zurückwichen.

Ich mess' es in etwas dem Regenwetter bei.

Gegen das Ende der Woche ändert sich außer dem Beichtkinde und dem Kirchengänger auch das Wetter, und der Himmel und die Menschen wechseln da Hemden und Kleider. Es war Sonnabends und wolkig. Im feuchten Wetter geht es an unsern Gehirnwänden zu wie an Zimmerwänden, deren Papiertapeten es einsaugen und sich zu Wolken aufrollen, bis das trockne Wetter beide Tapezierungen wieder glättet. Unter einem blauen Himmel wünsch' ich mir Adlerschwingen, unter einem bewölkten bloß einen Flederwisch zum Schreiben; dort will man in die ganze Welt hinaus, hier in den Großvaterstuhl hinein; kurz acht Wolken, zumal wenn sie tropfen, machen häuslich und bürgerlich und hungrig, das Himmelblau aber durstig und weltbürgerlich.

Diese Wolken vergitterten ordentlich das Baireuther Eden; er sehnte sich bei jedem schnellern großen Tropfen, der in die Blätter schlug, an das eheliche Herz, das ihm gehörte und das er bald verlieren sollte, und in seine enge Stube. Endlich, als die Eisschollen[457] von schroffen Wolken in einen grauen Schaum sich aufgelöset hatten, und als die untergehende Sonne wie eine Teichdocke aus diesem hangenden Weiher gezogen war und es mithin – tröpfelte, da erschien – Kuhschnappel. Mißlaute, uneinige Gefühle erzitterten in ihm. Der spießbürgerliche Marktflecken erschien ihm, im Abstich mit freiern Menschen, so zusammengeknüllet, so kanzleistilig mit Leber- und Magenreimen, so voll Troglodyten – daß er sein grünes Gitterbette am lichten, hellen Tage auf den Markt hätte wälzen und darin unter lauter vornehmen Fenstern schlafen können, ohne etwas nach dem Groß und Kleinen-Rat darhinter zu fragen. Je näher er dem Theater seines Sterbens kam, desto schwerer kam ihm diese erste und vorletzte Rolle vor; an fremden Orten wagt, zu Hause zagt man. Auch fraß ihn der Hüttenrauch und Schwaden an, der allein uns alle so sehr drückt, daß selten einer den Kopf ganz emporhebt, über den Schwaden heraus. Im Menschen nistet nämlich ein verdammter Hang zu stillesitzender Gemächlichkeit, er lässet sich wie ein großer Hund lieber tausendmal stechen und necken, eh' er sich die Mühe nimmt, aufzuspringen, anstatt zu knurren. Ist er freilich nur einmal auf den Beinen, so legt er sich schwer – die erste heroische Tat kostet, wie (nach Rousseau) der erste gewonnene Taler, mehr als tausend neue hinterdrein. Unsern Siebenkäs stach auf dem Polster der Häuslichkeit, zumal unter dem tropfenden Gewölke, die Aussicht auf die lange, beschwerliche, gefährliche Finanz-und chirurgische Operation eines theatralischen Sterbens.

Aber je näher er dem Rabenstein, diesem Mäuseturm seines vorigen engen Lebens, trat, desto schneller und greller löseten in seiner bangen Brust die Gefühle seiner vorigen herzzerdrückenden Stampfmühlen und die Gefühle seiner künftigen Erlösung einander ab. Er dachte immer, er müsse sich wieder sorgen und grämen wie sonst – weil er den offnen Himmel seiner Zukunft vergaß; so wie man sich nach einem schweren Traume noch immer ängstigt, ob er gleich vorüber ist.

Als er aber die Wohnung seiner so lange verstummten Lenette erblickte: verschwand alles aus seinem Auge und Herzen, und [458] nichts blieb darin als die Liebe und ihre wärmste Träne. Seiner Brust, die bisher jeder Gedanke mit Funken der Liebe voll geladen hatte, war das Band der Ehe zu einer Ausladekette vonnöten!

»O, reiß' ich mich nicht ohnehin so bald von ihr auf immer ab und presse ihr irrige Tränen aus und geb' ihr die schwere Wunde der Trauer und eines Leichenbegängnisses! – Wir sehen uns dann nie mehr, nie mehr, du Arme!« dacht' er.

Er lief eiliger. Er drängte sich mit zurückgekrümmtem, nach den obern Fenstern blickendem Kopfe dicht an den Fensterladen seines Neben-Kommandeur Merbitzer vorbei. Dieser spaltete im Hause Sabbatholz, und Firmian winkte, ihn durch kein Schildwachengeschrei zu verraten; der alte Neben-Zar winkte sogleich mit ausgestreckten Fingern zurück, Lenette sei nämlich oben allein in der Stube. Die alten gewohnten Ripienstimmen des Hauses, das zankende Gellen der Buchbinderin, der Sing-Dämpfer des eifrigen Beters und Fluchers Fecht, fiel ihm unter dem Hinaufschleichen der Treppe wie süßes Futter entgegen. Der abnehmende Mond seiner fahrenden Zinn-Habe glänzte aus der Küche ihm herrlich und silbern entgegen, alles war gescheuert aus dem Bade der Wiedergeburt gestiegen, eine kupferne Fischpfanne – die so lange keinen Essig vergiftete, als man sie nicht flicken ließ – glühte ihn aus dem Küchenrauch des Einheizens, wie die Sonne aus dem Heerrauch, an. Er zog leise die Stubentüre auf: er sah niemand darin und hörte Lenetten in der Kammer betten. Er tat, mit einem Hammerwerk in der Brust, einen weiten leisen Schritt in die geputzte Stube, die schon ein Sonntaghemde aus weißem Sand angelegt, und woran die bettende Flußgöttin und Wassernymphe alle Wasserkünste versucht hatte zu einem ausgefeilten Kunstwerk. Ach, alles ruhte so friedlich, so einträchtig nebeneinander vom Gewühle der Woche aus. Über alles war das Regengestirn aufgegangen, nur sein Dintenfaß war eingetrocknet. Seinen Schreibtisch behaupteten ein paar große Köpfe, welche als Haubenköpfe schon das sonntägliche Kopfzeug trugen, damit von ihnen als den Geschlecht-Vormündern (Curatores sexus) das Zeug morgen auf die verschiedenen Köpfe der Frauen vom Rate überwanderte.

[459] Er trieb die offne Kammertüre weiter auf und sah nach so langer Entfernung seine geliebte Gattin, die mit dem Rücken gegen ihn stand. Jetzo war ihm, als vernehm' er auf der Treppe den Walkmühlen-Gang des Pelzstiefels, und um die erste Minute ohne ein fremdes Auge an ihrem Herzen zuzubringen, sagte er sanft zweimal: »Lenette!« Sie prallete herum, rief: »Ach Herr Gott, du?« – Er war schon auf ihr Herz gestürzt und ruhte an ihrem Kuß und sagte: »Guten Abend, guten Abend, was machst du denn? wie ging es dir?« Seine Lippen erdrückten die Worte, die er begehrte – plötzlich stemmte sie sich sträubend aus seinen Armen – und ihn ergriffen zwei andere hastig, und eine Baßstimme sagte: »Wir sind auch da – willkommen, Herr Armenadvokat, Gott sei Lob und Dank.« – Es war der Schulrat.

Wir fieberhaften, von eignen und von fremden Mängeln abgetriebnen und von ewigem Sehnen wieder zusammengeführten Menschen, in welchen eine Hoffnung von fremder Liebe nach der andern verdürstet, und in denen die Wünsche nur zu Erinnerungen werden! Unser mattes Herz ist doch wenigstens glänzend und recht und voll Liebe in der einen Stunde, wo wir wiederkommen und wiederfinden, und in der zweiten Stunde, wo wir trostlos scheiden, wie alle Gestirne milder, größer und schöner erscheinen, wenn sie aufsteigen und wenn sie untersinken, als wenn sie über uns ziehen. Wer aber immer liebt, und niemals zürnt, dem fallen diese zwei Dämmerungen, worin der Morgenstern der Ankunft und der Abendstern des Abschieds geht, zu trübe auf die Seele, er hält sie für zwei Nächte und erträgt sie schwer.

Siebenzehntes Kapitel

Der Schmetterling Rosa als Minierraupe –

Dornenkronen und Distelköpfe der Eifersucht


Das vorige Kapitel war kurz wie unsere Täuschungen. Ach es war auch eine, armer Firmian! – Nach der ersten stürmischen gegenseitigen Katechetik, ferner nach den erhaltenen und erteilten Berichten wurde er immer mehr gewahr, daß aus Lenettens unsichtbarer[460] Kirche, worin der Pelzstiefel als Seelenbräutigam stand, recht klar eine sichtbare werden sollte. Es war, als wenn das Erdbeben der vorigen Freude den Vorhang des Allerheiligsten, worin Stiefels Kopf als Cherubim flatterte, ganz entzweigerissen hätte. Aber ich sage hier, die Wahrheit zu sagen, eine Lüge; denn Lenette suchte absichtlich eine besondere Vorliebe für den Rat an den Tag zu legen, der vor Freude darüber sich von Arkadien nach Otaheite, von da nach Eldorado, von diesem nach Walhalla verflatterte; ein gewisses Anzeigen, daß sein bisheriges Glück in Firmians Abwesenheit kleiner gewesen war. Der Rat erzählte, daß Rosa mit dem Heimlicher gebrochen, und daß der Venner, den dieser zu einer Spinnmaschine brauchen wollte, sich zu einer Kriegmaschine gegen ihn umgekehrt habe: der Anlaß sei die Nichte in Baireuth, die vom Venner den Korb erhalten, weil er sie im Kusse eines Baireuther Herren angetroffen. – Firmian wurde brennend rot und sagte: »Du elender Kakerlak! Der jämmerliche Schwindelhaber hat einen Korb bekommen, aber nicht gegeben. Hr. Rat, werden Sie der Ritter des armen Frauenzimmers und durchbohren Sie diese Mißgeburt von einer Lüge, wo Sie sie finden – von wem haben Sie dieses Unkraut?« Der Stiefel wies gelassen auf Lenetten: »von Ihnen da!« – Firmian fuhr zusammen: »Von wem hast denn du es?« – Sie sagte mit einer über das ganze Gesicht ausgelaufnen Wangenglut: »Hr.v. Meyern waren hier bei mir und erzählten es selber.« Der Rat fuhr dazwischen: »Ich wurd' aber sogleich hergeholet und schaffte ihn geschickt beiseite.« – Stiefel hielt um die verbesserte Geschichte der Sache an. Firmian stattete furchtsam und mit wechselnder Stimme einen günstigen Bericht von dem Rosenmädchen ab – im dreifachen Sinne eines, wegen der Rosen auf den Wangen, wegen ihrer siegenden Tugend, wegen der Gabe der grünen Rosenknospen –; er bewilligte ihr aber Lenettens wegen nur das Akzessit, nicht die goldene Medaille. Er mußte den verräterischen Venner, als den Widder, an der Stelle Nataliens auf den Opferaltar binden oder ihn wenigstens vor ihren Triumphwagen anschirren als Sattelgaul und es frei erzählen, daß Leibgeber die Verlobung verhütet und sie durch die satirischen Skizzen, die er [461] von Meyern entworfen, gleichsam beim Ärmel zurückgezogen habe vom ersten Tritte in die Höhle des Minotaurus. »Aber von dir«, sagte Lenette, aber ohne den Frageton, »hatte doch Hr. Leibgeber alles erst?« – »Ja!« sagt' er. – Die Menschen legen in einsilbige Wörter, zumal in Ja und Nein, mehr Akzente, als die Sineser haben; das gegenwärtige Ja war ein herausgeschnelltes, tonloses, kaltes Ja, denn es sollte bloß einem »Und« gleichgelten. Sie unterbrach eine abirrende Frage des Rats mit einer Kernschuß Frage: wann Firmian bei ihr mit gewesen? Dieser merkte endlich mit seinem Kriegperspektiv in ihrem Herzen allerlei feindliche Bewegungen: er machte eine lustige Schwenkung und sagte: »Hr. Rat, wann besuchten Sie Lenetten.?« – »Dreimal wenigstens in jeder Woche, oft öfter, immer um gegenwärtige Zeit«, sagt' er. »Ich will weiter nicht eifersüchtig werden«, sagte Firmian mit freundlichem Scherz, »aber geben Sie acht, meine Lenette wird es, daß ichmit Leibgebern zweimal, einmal nachmittags, einmal abends, bei Natalien gewesen und in Fantaisie spazieren gegangen: nun, Lenette?« – Sie warf die Kirschen-Lippe auf, und ihr Auge schien Voltas elektrischer Verdichter zu sein.

Stiefel ging, und Lenette warf ihm aus einem Angesicht, auf dem zwei Feuer, das Zornfeuer und ein schöneres, zu brennen schienen, einen Funken voll Augenliebe über die Treppe nach, der die ganze Pulvermühle eines Eifersüchtigen in Brand hätte stecken können. Das Ehepaar war kaum droben, so fragte er sie, um ihr zu schmeicheln: »Hat dich der verwetterte Venner wieder gequält?« – Jetzo knatterte ihr Feuerwerk, dessen Gerüst schon lange im Gesichte gestanden, zischend los: »Ei, du kannst ihn freilich nicht leiden, deiner schönen gelehrten Natalie wegen bist du auf ihn eifersüchtig. Denkst denn du, ich weiß es nicht, daß ihr miteinander die ganze Nacht im Walde herumgegangen, und daß ihr euch geherzet und geküsset habt! Schön! – Pfui! Das hätt' ich aber nicht gedacht – Da mußte freilich der gute Hr. von Meyern die reizende Natalie mit aller ihrer Gelehrsamkeit sitzen lassen. Defendier dich doch!« –

Firmian antwortete sanft: »Ich hätte den unschuldigen Punkt, der mich betrifft, vor dem Schulrat mit erzählt, hätt' ich dirs nicht [462] schon angesehen – nehm' ichs denn übel, daß er dich unter meiner Reise geküsset hat?« Das entflammte sie noch mehr, erstlich, weil es ja Firmian nicht gewiß wußte – denn richtig wars –, zweitens, weil sie dachte: »Jetzo kannst du leicht vergeben, da du eine Fremde lieber hast als mich«; aber aus demselben Grunde, da sie ja auch einen Fremden lieber hatte als den Mann, hätte sie ja auch verzeihen müssen. Anstatt seine vorige Frage zu beantworten, tat sie, wie gewöhnlich, selber eine: »Hab' ich noch jemanden seidne Vergißmeinnicht gegeben, wie eine Gewisse einem Gewissen getan? Gottlob, ich habe meine ausgelöset noch in der Kommode.« Jetzo stritt Herz mit Herz in ihm; sein weiches wurde innig von dem absichtlosen Zusammenbinden so unähnlicher Vergißmeinnicht durchdrungen; aber sein männliches wurde heftig aufgereizt durch ihr verhaßtes Schutz- und Trutzbündnis mit dem, der das von Natalie gerettete einfältige Mädchen, wie es jetzt am Tage lag, in die Fantaisie als ein Schießpferd hingeschickt, um darhinter sich und sein Rachgewebe zu verstecken. Da nun Siebenkäs mit zorniger Stimme seinen Richterstuhl zu einem Armensünderstuhl des Venners machte, diesen einen weiblichen Knospenkäfer schalt und einen Taubenhabicht und Hausdieb der Eheschätze und einen Seelenverkäufer gepaarter Seelen und da er mit dem höchsten Feuer beschwur, daß nicht Rosa eine Natalie, sondern sie einen Rosa ausgeschlagen – und da er natürlich seiner Frau jede Verbreitung des Vennerischen lügenden Halbromans gebieterisch untersagte: so verwandelte er die arme Frau vom Fuß bis auf den Kopf in einen harten, beißenden – Rettig aus Erfurt.... Lasset unsere Augen nicht zu lange und nicht zu richterlich auf dieser Hitzblatter oder auf diesem Eiterungfieber der armen Lenette bleiben! – Ich meines Orts lasse sie stehen und falle lieber hier das ganze Geschlecht auf einmal an. Ich werde das tun, hoff' ich, wenn ich behaupte, daß die Weiber nie mit fressendern Farben malen – so daß Swifts schwarze Kunst dagegen nur eine Wasserkunst ist –, als wenn sie körperliche Häßlichkeiten fremder Weiber abzufärben haben; ferner, daß das schönste Gesicht zu einem häßlichen aufbirst, aufquillt und sich auszackt, wenn es, statt der Trauer über den Überläufer, [463] Entrüstung über die Werboffizierin verrät. Genau genommen, ist jede auf ihr ganzes Geschlecht eifersüchtig, weil demselben zwar nicht ihr Mann, aber doch die übrigen Männer nachlaufen und so ihr untreu werden. Daher tut jede gegen diese Vice-Königinnen der Erde den Schwur, den Hannibal gegen die Römer, die Könige der Erde, ableistete und ebensogut hielt. Jede hat daher die Kraft, die Fordyce allen tierischen Körpern beilegt, die andern kalt zu machen; und in der Tat muß jede ein Geschlecht verfolgen, das aus lauter Nebenbuhlerinnen besteht. Daher nennen sich viele, z.B. ganze Nonnen-Klöster, die Herrnhuterinnen, Schwestern oder auch verschwisterte Seelen, um etwan, weil gerade Geschwister sich am meisten veruneinigen, durch diesen Ausdruck das Verhältnis ihrer Gesinnung zum Teil zu bezeichnen. Daher bestehen die parties carrées de Madame Bouillon aus drei Männern, und nur aus einer Frau. Das hat vielleicht den hl. Athanasius, Basilius, Scotus 137 und andere Kirchenlehrer gezwungen, an zunehmen, daß die Weiber – bloß die Maria ausgenommen – am Jüngsten Tage als Männer auferstehen, damit im Himmel kein Zank und Neid entstehe. Nur eine einzige Königin wird von vielen l000 ihres Geschlechts geliebt, genährt, gesucht – die Bienenkönigin von den Arbeitbienen, die nach allen neuern Augen Weibchen sind. –

Ich will dieses Kapitel mit einem Vorwort für Lenetten ausmachen. Der böse Feind Rosa hatte, um Gleiches mit Gleichem oder mit noch etwas Schlimmerem zu vergelten, ganze Säetücher voll Unkraut ins offne Herz Lenettens ausgeleert und vor ihr anfangs Komplimente und Nachrichten von ihrem Manne, und zuletzt Verkleinerungen ausgepackt. Sie hatte ihm schon darum sehr geglaubt, weil er ein – gelehrtes Mädchen anschwärzte, verließ und aufopferte. Ihr Groll aber gegen den Schuldigen, Siebenkäs, mußte unendlich wachsen, bloß weil sie den Ausbruch desselben verschieben mußte. Zweitens hassete sie an Natalien die Gelehrsamkeit, durch deren Mangel sie selber so zu Schaden gekommen; sie hielt mit mehren Weibern an einer Venus, wie viele Kenner an der medizeischen, den Kopf nicht für echt. Es [464] brachte sie am meisten auf, daß Firmian einer Fremden mehr beistand als seiner Frau, ja auf Kosten derselben; und daß Natalie aus Hochmut für einen solchen reichen Herren, wie Meyern war, einen Korb statt eines Netzes geflochten – und daß ihr Mann alles eingestanden, weil sie seine Offenheit bloß für herrschsüchtige Gleichgültigkeit gegen ihren Widerwillen nehmen mußte.

Was tat Firmian? – Er vergab. Seine zwei Gründe dazu werden von mir gutgeheißen: Baireuth und das Grab – jenes hatte ihn so lange von ihr getrennt, und dieses wollte ihn auf immer von ihr scheiden. Ein dritter Grund könnt' auch dieser sein: Lenette hatte im Punkte seiner Liebe gegen Natalien so ganz und gar unrecht – nicht.

Achtzehntes Kapitel

Nachsommer der Ehe – Vorbereitungen zum Sterben


Ob es gleich Sonntag war und der Spezial (der Superintendent) so wenig als seine Zuhörer ein Auge aufmachte, weil er, wie viele Geistliche, mit zugedrückten – physischen – Augen predigte: so holte doch mein Held beim Spezial seinen Geburtschein ab, weil dieser bei der brandenburgischen Witwenkasse unentbehrlich war.

Leibgeber hatte das übrige zu besorgen unternommen. Genug davon! denn ich spreche nicht gern viel von der Sache, seitdem mir vor mehren Jahren der Reichs-Anzeiger – als schon längst die Siebenkäsische Kassenschuld bei Heller und Pfennig berichtigt gewesen – öffentlich vorgehalten, ich brächte durch den letzten Band des Siebenkäs Sitten und Witwenkassen in Gefahr, und er, der Anzeiger, habe mich deshalb nach seiner Art derb vorzunehmen. Aber bin ich und der Advokat denn eine Person? Ist es nicht jedem bekannt, daß ich – wie mit meiner Ehe überhaupt, so noch besonders – mit der preußischen Zivilwitwenkasse ganz anders umgehe als der Advokat – und daß ich dato weder zum Schein noch im Ernste mit Tod abgegangen, so viele Jahre hindurch ich auch schon in gedachte preußische Kasse ein Bedeutendes eingezahlt? Ja will ich nicht sogar – ich darf es wohl[465] versichern – der Kasse noch recht lange Zeiten fort, wenn auch zu meinem Schaden, jährlich das Gesetzte entrichten, so daß sie bei meinem Tode von mir mehr soll gezogen haben als von irgendeinem Einsetzer? Dies sind meine Grundsätze; aber dem Armenadvokaten darf ich nachrühmen, daß die seinigen wenig von meinen abweichen. Er war bloß in Baireuth dem freundschaftlichen Sturm und Drang seines Leibgebers mit seinem sonst wahren Herzen gegen einen Freund erlegen, welchem er jeden Wunsch, am meisten sein eignes Versprechen erfüllte. Leibgeber hatte ihn in jenem begeisterten Augenblicke mit seiner wilden weltbürgerlichen Seele berauscht, welche auf ihrer bandlosen Seelenwanderung des ewigen Reisens zu sehr das Leben für ein Karten- und Bühnenspiel, für ein Glück- und Kommerz-Spiel zugleich, für eine Opera buffa und seria zugleich ansah. Und da er noch dazu Leibgebers Geldverachtung und Geldmittel kannte und seine eignen dazu: so ging er eine an sich unrechtliche Rolle ein, deren strafende Peinlichkeit unter dem Durchführen er so wenig voraussah als die Bußpredigt aus Gotha.

– Und doch hatt' er von Glück zu sagen, daß nur der Beckersche Anzeiger hinter den Strohwitwenstuhl Nataliens gekommen war, und nicht Lenette. Himmel! hätte vollends diese mit ihrem seidnen Vergißmein in der Hand (das Nicht war fort) Firmians Adoptiv-Ehe erfahren! – Ich mag die Frau nicht richten lassen und nicht richten. Aber hier will ich allen meinen Leserinnen besonders einer darunter – zwei auffallende Fragen herschreiben: »Würden Sie nicht meinem Helden für sein frommes und warmes Betragen gegen dieses weibliche Paar, wenn nicht einen Eichen-, doch Blumenkranz oder wenigstens (weil er auf seinem Herzen eine Doppelsonate durch vier weibliche Hände spielen lässet) nur ein Brustbukett von Ihrem Richterstuhle herunterreichen? – Teuerste Leserinnen, Sie können unmöglich schöner richten, als Sie eben gerichtet haben, wiewohl meine Überraschung nicht so groß ist als mein Vergnügen. Meine zweite Frage soll niemand an Sie tun als Sie selber; jede frage sich: ›Gesetzt, du hättest diesen vierten Teil in die Hände bekommen, wärest aber jene Lenette selber und wüßtest nun alles haarklein: wie würde [466] dir das von deinem Eheherrn Siebenkäs gefallen, was würdest du tun?‹«

Ich wills sagen: weinen – stürmen 138– keifen – grollen – schweigen – brechen etc. So fürchterlich verfälschet die Selbsucht das feinste moralische Gefühl und besticht es zu doppelten Richtersprüchen über einerlei Rechtssache. Ich helfe mir, wenn ich über den Wert eines Charakters oder eines Entschlusses schwankte, sogleich dadurch, daß ich mir ihn naß aus der Presse kommend und in einem Roman oder einer Lebensbeschreibung vorgemalet denke – heiß' ich ihn dann noch gut, so ist er sicher gut. –

Es ist schöner, wenn in den alten Satyrs und im Sokrates Grazien steckten, als wenn in den Grazien Satyrs wohnen; der in Lenetten ansässige stieß mit sehr spitzen Hörnern um sich. Ihr unerwiderter Zorn wurde spöttisch, denn seine Sanftmut machte mit seinen vorigen Hiobs-Disputationen einen verdächtigen Abstich, woraus sie die vollständige Erstarrung seines Herzens abzog. Sonst wollt' er, wie ein Sultan, von Stummen bedienet sein, bis sein satirischer Fötus, sein Buch, mit dem Roonhuysischen Hebel und dem Kaiserschnitt des Federmessers in die Welt gehoben war; wie Zacharius so lange stumm verblieb, bis das Kindlein aufhörte es zu sein, und geboren wurde und zugleich mit dem Alten schrie. Sonst war ihre Ehe oft den meisten Ehen ähnlich, deren Paare jenen Zwillingstöchtern 139 gleichen, die, mit den zwei Rücken ineinandergewachsen, sich immer zankten, aber niemals erblickten und immer nach entgegengesetzten Weltgegenden zogen, bis die eine mit der andern auf und davon lief. Jetzt hingegen ließ Firmian alle Mißtöne Lenettens ohne Zorn ausschnarren. Auf ihre Ecken, auf ihre opera supererogationis im Waschen, auf die Wasserschößlinge ihrer Zunge fiel nun ein mildes Licht, und die Farbe des Schattens, den ihr aus dunkler Erde geschaffnes Herz wie jedes warf, verlor sich sehr ins Himmelblaue, wie (nach Mariotte) sich die Schatten unter dem Sternenlicht so [467] bläuen wie der Himmel darüber. Und stand nicht der große blaue Sternenhimmel in der Gestalt des Todes über seiner Seele? – Jeden Morgen, jeden Abend sagt' er sich: »Wie sollt' ich nicht vergeben; wir bleiben ja noch so kurz beisammen.« Jeder Anlaß, zu vergeben, war eine Versüßung seines freiwilligen Abschieds; und wie die, welche verreisen oder sterben, gern verzeihen, und noch mehr die, so beides sehen: so wurde in seiner Brust den ganzen Tag die hohe wärmende Quelle der Liebe nicht kalt. Er wollte die kurze, dunkle Allee aus Hängeweiden, die aus seinem Hause bis zu seinem leeren Grabe – ach ein volles für seine Liebe – lief, nur an werten Armen zurücklegen und auf jeder Moosbank darin zwischen seinem Freund und seinem Weibe, in jeder Hand eine geliebte, ausruhen. So verschönert der Tod nicht nur, wie Lavater bemerkt, unsere entseelte Gestalt, sondern der Gedanke desselben gibt dem Angesicht auch schon im Leben schönere Züge und dem Herzen neue Kraft, wie Rosmarin zugleich sich als Kranz um Tote windet und mit seinem Lebenwasser Ohnmächtige belebt.

»Mich wundert – sagt hier der Leser – dabei nichts; in Firmians Fall dächte wohl jeder so, wenigstens ich.« – Aber, du Lieber, sind wir denn nicht schon darin? Macht die Ferne oder die Nähe unserer ewigen Abreise denn einen Unterschied? O, da wir hienieden nur als trügerisch-feste und rot gefärbte Gebilde neben unsern Höhlen stehen und gleich alten Fürsten in Grüften stäubend einfallen, wenn die unbekannte Hand das mürbe Gebilde erschüttert: warum sagen wir denn nicht wie Firmian: »Wie sollt' ich nicht vergeben; wir bleiben ja noch so kurz beisammen.« – Es wären daher für uns vier bessere Buß-, Bet- und Fasttage als die gewöhnlichen, wenn wir jährlich nur vier harte, hoffnungslose Krankentage hintereinander auszuhalten hätten; weil wir auf dem Krankenlager, dieser Eisregion des Lebens neben dem Krater, mit erhöhten Augen auf die einschrumpfenden Lustgärten und Lustwälder des Lebens niedersehen würden – weil da unsere elenden Rennbahnen kürzer, und nur die Menschen größer erscheinen – und wir da nichts mehr lieben würden als Herzen, keine andern Fehler vergrößern und hassen als unsere, und weil wir [468] mit schönern Entschlüssen das Siechbette verlassen, als wir es bestiegen. Denn der erste Genesungtag des überwinterten Körpers ist die Blütezeit einer schönen Seele, sie tritt gleichsam verklärt aus der kalten Erdenrinde in ein laues Eden, sie will alles an den schwachen, schwer atmenden Busen ziehen, Menschen und Blumen und Frühlinglüfte und jede fremde Brust, die am Krankenbette für sie geseufzet hatte, sie will alles, wie andere Auferstandene, eine Ewigkeit hindurch lieben, und das ganze Herz ist ein feucht-warmer, quellender Frühling voll Knospen unter einer jungen Sonne. – –

Wie würde Firmian seine Lenette geliebet haben, wenn sie ihn nicht gezwungen hätte, ihr zu verzeihen, statt ihr liebzukosen! – Ach, sie hätte ihm sein künstliches Sterben unendlich erschweret, wäre sie so wie in den Flittertagen gewesen! –

Aber das vorige Paradies trug jetzt eine Ernte reifer Paradieskörner – so nannte man sonst die gesunden Pfefferkörner. Lenette heizte die Vorhölle der Eifersucht und briet ihn darin für den künftigen Vaduzer Himmel gar. Eine Eifersüchtige ist durch kein Handeln und kein Sprechen zu heilen; sie gleicht der Pauke, die unter allen Instrumenten am schwersten zu stimmen ist und die sich am kürzesten in der Stimmung erhält. Ein liebevoller warmer Blick war für Lenette ein Zugpflaster – denn mit jenem hatt' er Natalien angesehen –; sah er fröhlich aus: so dachte er offenbar an die Vergangenheit; machte er eine trübe Miene: so wars schon wieder derselbe Gedanke, aber voll Sehnen. Sein Gesicht mußt' er als einen offnen Steckbrief oder Anschlagzettel seiner Gedanken darhinter herumtragen. Kurz der ganze Ehemann diente ihr bloß als gutes Geigenharz, womit sie die Pferdhaare rauh machte, um die viole d'amour den ganzen Tag zu streichen. Von Baireuth durft' er sich wenig Worte entfallen lassen, kaum den Namen; denn sie wußte schon, woran er dachte. Ja er konnte nicht einmal Kuhschnappel stark heruntersetzen, ohne den Argwohn zu erregen, er vergleich' es mit Baireuth und finde dieses (aus ihr wohlbekannten Gründen) viel besser; daher schränkte er – ob im Ernste oder aus Nachgiebigkeit, weiß ich nicht – den Vorzug meines jetzigen Wohnortes vor dem Reichsmarktflecken [469] bloß auf die Gebäude ein und wollte das Lob nicht bis auf die Einwohner ausdehnen.

Nur über einen Gegenstand kannte er im Nennen und Preisen gar keine Rücksicht auf mißdeutende Ärgernis, nämlich über seinen Freund Leibgeber; aber gerade dieser war Lenetten durch Rosas Anschwärzungen und durch Helfershelferei in Fantaisie jetzt noch unleidlicher geworden, als er ihrs schon früher in ihrer Stube mit seinem Wildtun und seinem großen Hunde gewesen. Auch Stiefel, wußte sie, hatte bei ihr mehrmals manche Verstöße gegen gesetztes Wesen an ihm aussetzen müssen.

»Mein guter Heinrich kommt nun bald, Lenette«, sagte er. »Und sein garstiges Vieh auch mit?« fragte sie.

– »Du könntest wohl«, versetzte er, »meinen Freund ein bißchen mehr liebhaben, gar nicht wegen seiner Ähnlichkeit mit mir, sondern wegen seiner freundschaftlichen Treue; dann würdest du auch gegen seinen Hund weniger haben, wie du ja wohl bei mir tätest, wenn ich einen hielte. Er braucht nun einmal auf seinen ewigen Reisen ein treues Wesen, das durch Glück und Unglück, durch dick und dünn mit ihm geht, wie der Saufinder tut; und mich hält er für ein ähnliches treues Tier und liebt mich mit Recht so sehr. Es bleibt ohnehin die ganze treue Gespannschaft nicht lange in Kuhschnappel«, setzte er hinzu, an manches denkend. Indes gewann er mit keiner Liebe seinen Prozeß um Liebe. Ich falle hier auf die Vermutung, daß dies ganz natürlich war und daß Lenette durch die bisherige warme Nähe des Schulrats sich in einer Temperatur der Liebe verwöhnt und verzärtelt hatte, wogegen ihr freilich die des Gatten wie kühlende Zugluft vorkam. Die hassende Eifersucht handelt wie die liebende; die Nulle des Nichts und der Kreis der Vollendung haben beide ein Zeichen.

Der Advokat mußte endlich durch sein scheinbares Erkranken sein scheinbares Erliegen vorbereiten und grundieren; aber dieses willkürliche Überbücken und Aufsinken aufs Grab gab ein Trug bei seinem Gewissen noch für bloße Versuche aus, Lenettens erbitterte Seele zu gewinnen. So erhebt der betörende und betörte Mensch immer sein Blendwerk entweder zu einem kleinern oder zu einem wohlwollenden!

[470] Die griechischen und römischen Gesetzgeber erdichteten Träume und Prophezeiungen, worin die Baurisse und zugleich die Baubegnadigungen und Baumaterialien ihrer Plane enthalten waren, wie z.B. Alcibiades eine Weissagung von Siziliens Eroberung vorlog. Firmian tats in seiner Haushaltung passendabgeändert nach. Er sprach oft in Stiefels Gegenwart davon denn dieser nahm an allem zärtlichern Anteil – und folglich wurde seiner ihrer –, daß er bald auf immer von dannen gehen werde – daß er bald Versteckens spielen werde, ohne je von einem alten freundschaftlichen Auge mehr gefunden zu werden daß er hinter den Bettschirm und Bettvorhang des Bahrtuchs treten und entschlüpfen werde. Er erzählte einen Traum, den er vielleicht nicht einmal erdichtete: »Der Schulrat und Lenette sahen in seiner Stube eine Sense 140, die sich von selber bewegte. Endlich ging das leere Kleid Firmians aufrecht in der Stube herum. ›Er muß ein anderes anhaben‹, sagten beide. Plötzlich ging unten auf der Straße der Gottesacker mit einem unbegrünten Hügel vorbei. Aber eine Stimme rief: ›Suchet ihn nicht darunter, es ist doch vorbei.‹ Eine zweite sanftere rief: ›Ruh aus, du Müder!‹ – Eine dritte rief: ›Weine nicht, wenn du ihn liebst.‹ Eine vierte rief fürchterlich: ›Spaß, Spaß mit aller Menschen Leben und Tod!‹« – Firmian weinte zuerst und dann sein Freund und endlich mit letztem seine zürnende Freundin.

Aber nun wartete er sehnlichst auf Leibgebers Hand, die ihn schöner und schneller durch den düstern Vorgrund und die schwüle Vorhölle des künstlichen Todes führte: er wurde jetzo zu weich dazu.

Einst an einem schönen Augustabend war ers mehr als sonst; auf seinem Angesicht schwebte jene verklärende Heiterkeit der Ergebung, der tränenlosen Rührung und der lächelnden Milde, wenn der Kummer mehr erschöpft als gehoben ist; wie etwan zuweilen Über den blauen Himmel der bunte Schlagschatten des Regenbogens fället. Er beschloß, heute bei der geliebten Gegend den einsamen Abschiedbesuch zu machen.

[471] Draußen hing (für seine Seele, nicht für sein Auge) über die lichte Landschaft ein dünner, wehender Nebel herein, wie Berghems und Wouvermans' Pinsel über alle Landschaften einen weichenden Duft statt eines Schleiers werfen. Er besuchte, er berührte, er beschauete, gleichsam um Lebewohl zu sagen, jede volle Staude, an deren Rückenlehne er sonst gelesen hatte, jeden dunklern kleinen Wellenstrudel unter einem abgespülten Wurzeldickicht, jeden duftenden, grünenden Felsenbloch, jede Treppe aus steigenden Hügeln, auf denen er sich künstlich den Auf- oder Untergang der Sonne vervielfacht hatte, und jede Stelle, wo ihm die große Schöpfung Tränen der Begeisterung aus der überseligen Brust getrieben hatte. Aber mitten unter den hochstämmigen Ernten, unter der wiederholten Schöpfunggeschichte, im lebenwimmelnden Brütofen der Natur, in der Samenschule des reifen, unabsehlichen Gartens dehnte sich eine dumpfe, zerborstene Stimme durch den hellen Trommetenklang des Alexanders-Festes der Natur und fragte: »Welches Totengebein wandelt durch mein Leben und verunreinigt meine Blüten?« Es kam ihm vor, als sing' es aus der tiefern Abendröte ihn an: »Wandelndes Skelett mit dem Saitenbezug von Nerven in der Knochenhand, – du spielest dich nicht; der Atem des weiten Lebens wehet tönend die Äolharfe an, und du wirst gespielet.« – Aber der trübe Irrtum sank bald unter – und er dachte: »Ich töne und spiele zugleich – ich werde gedacht und denke – die grüne Hülse hält nicht meine Dryade, meinen spiritus rector (den Geist) zusammen, sondern er sie – das Leben des Körpers hangt ebensosehr vom Geiste als er von jenem ab. – Überall drängt sich Leben und Kraft; der Grabhügel, der modernde Leib ist eine Welt voll arbeitender Kräfte – wir vertauschen die Bühnen, aber wir verlassen sie nicht.«

Als er nach Hause kam, lag folgendes Blättchen von Leibgeber an ihn da: »Ich bin auf dem Wege; mache dich auf deinen! L.«

[472]
Neunzehntes Kapitel

Das Gespenst – Heimziehen der Gewitter im August oder letzter Zank –

Kleider der Kinder Israel


Einmal abends gegen 11 Uhr geschah unter dem Dachstuhl ein Schlag, als wenn einige Zentner Alpen hineinfielen. Lenette ging mit Sophien hinauf, um zu sehen, ob es der Teufel oder nur eine Katze sei. Mit mehlichten und ausgedehnten, winterlichen Gesichtern kamen die Frauen wieder – »ach daß sich Gott erbarme«, sagte die fremde, »der Hr. Armenadvokat liegt droben, wie eine Leiche, auf dem Gurtbette.« Der lebendige, dem mans erzählte, saß in seiner Stube; er sagte, es sei nicht wahr, er würde doch auch vom Knalle gehöret haben. Aus dieser Taubheit errieten nun alle Weiber, was es bedeute, nämlich seinen Tod. Der Schuster Fecht, der heute durch die Thronfolge regierender Nachtwächter war, wollte zeigen, wo ihm das Herz säße, und versah sich bloß mit dem Wächterspieß – das war sein ganzer Artilleriepark –, steckte aber ungesehen noch ein Gesangbuch, schwarzgebunden, als eine heilige Schar zu sich, falls etwan doch der – Teufel droben läge. Er betete unterweges viel vom Abendsegen, der eigentlich heute von ihm als Wächter-Archont, da ohnehin sein Stundengesang ein ausgedehnter, in Gassen abgeteilter Abendsegen ist, nicht gefodert werden konnte. Er wollte mutig gegen das Gurtbette vorschreiten, als er leider auch das weißgepülverte Gesicht vor sich sah und hinter dem Bette einen Höllenhund mit Feueraugen, der die Leiche grimmig zu bewachen schien. Er stand sogleich verglaset, wie zu einer Leichenwache aus Alabaster gehauen, in Angstschweiß hartgesotten, da und hielt seinen Raufer hin, das Stoßgewehr. Er sah voraus, wenn er sich umwendete, um über die Treppe hinabzuspringen, so werde ihn das Ding von hinten umklaftern und ihn satteln und hinabreiten. Glücklicherweise tropfte eine Stimme unten wie ein Kordial-und Couragewasser ins Herz, und er legte seinen Sauspieß an, willens, das Ding tot zu stechen oder doch den Kubikinhalt zu visieren mit dem Visierstab. Aber [473] als jetzt das eingeschneiete Ding langsam in die Höhe wuchs; – so wurd' es ihm auf seinem Kopfe, als hab' er eine feste Pechmütze auf und jemand schraub' ihm die Kappe samt den inliegenden Haaren je länger, je mehr ab – und den Aalstachel konnt' er mit zwei Händen nicht mehr halten (unten am Schaft hielt er ihn), weil der Speer so schwer wurde, als hinge sich der älteste Schuhknecht daran. Er streckte das Stichgewehr und flog kühn von der obersten, dreimal gestrichnen Oktave der Treppe wehend herunter zur Kontrabaßtaste oder – stufe. Er schwur drunten vor dem Hausherren und vor allen Mietleuten, er wolle sein Nachtwächteramt ohne Spieß versehen, der Geist halte solchen in der Haft; ja es schüttelte ihn Frost, wenn er nur mit den Augen dem Armenadvokaten lange in den Zügen des Gesichts herumging. Firmian war der einzige, der sich erbot, das Rapier zu holen. Als er hinaufkam, traf er an, was er vermutet hatte – seinen Freund Leibgeber, der sich mit einer alten erschütterten Perücke eingepudert hatte, um bei den Leuten allmählich Siebenkäsens Kunst-Tod einzuleiten. Sie umarmten einander leise, und Heinrich sagte, morgen komm' er die Treppe herauf und ordentlich an.

Drunten bemerkte Firmian bloß, es sei oben nichts zu sehen als eine alte Perücke – da sei der Spieß des schnellfüßigen Spießers, und er zähle hier zwei furchtsame Häsinnen und einen Hasen. Aber der ganze Konventikel wußte nun wohl, was er zu denken habe – man müßte keinen Verstand im Kopfe haben, wenn man noch einen Kreuzer für Siebenkäsens Leben geben wollte, und die Geisterseher und – seherinnen dankten Gott herzlich für den Todesschrecken als Pfandstück des eignen weiteren Lebens. Lenette hatte die ganze Nacht nicht das Herz, sich aufzusetzen im Gitterbette, aus Angst, sie sehe – ihren Mann, wie er leibt und lebt.

Am Morgen stieg Heinrich mit seinem Hunde die Treppe herauf, in bestäubten Stiefeln. Dem Armenadvokaten war, als müsse dessen Hut und Achsel voll Blüten aus dem Baireuther Eden liegen – er war ihm eine Gartenstatue aus dem verlornen Garten. Für Lenetten war eben darum diese Palme aus Firmians ostindischen Besitzungen in Baireuth – vom Saufinder wollen wir nicht [474] einmal sprechen – nichts als eine Stechpalme; und nie konnte sie weniger als jetzo Geschmack einem solchen Stachelbeerstrauche, einem solchen Distelkopf – der so schön war, als käm' er eben aus Hamiltons Pinsel 141 – abgewinnen. Allerdings – ich will es geradezu sagen – begegnete er aus inniger Liebe gegen seinen Firmian Lenetten, die ebensoviel Schuld als Recht hatte, ein wenig zu kahl und zu kalt. Wir hassen nie eine Frau herzlicher, als wenn sie unsern Liebling quält, so wie umgekehrt eine Frau dem Plagegeist ihrer Schoßjüngerin am meisten gram wird.

Der Auftritt, den ich sogleich zu geben habe, läßt mich am stärksten fühlen, welche Kluft zwischen dem Romanschreiber, der über das Verdrüßliche wegsetzen und alles sich und dem Helden und den Lesern verzuckern kann, und zwischen dem bloßen Geschichtschreiber wie ich, der alles durchaus rein historisch, unbekümmert um Verzuckern und um Versalzen, auftragen muß, immer bleiben wird. Wenn ich daher früher den folgenden Auftritt ganz unterschlagen habe: so ist dies wohl ein Fehler, aber kein Wunder in den Jahren, wo ich lieber bezauberte als belehrte und mehr schön malen wollte als treu zeichnen.

Lenetten war nämlich schon vor geraumer Zeit der ganze Leibgeber nicht recht zum Ausstehen, weil er, der weder Titel noch Ansehen hatte, mit ihrem Manne, einem längst eingebürgerten Kuhschnappler Armenadvokaten und Gelehrten, öffentlich so gemein und bekannt tat und ebensogut als ihr von ihm verführter Mann ohne Zopf ging, so daß viele mit den Fingern auf beide wiesen und sagten: »Ei, seht das Paar oder par nobile fratrum!« Diese Reden und noch schlimmere konnte Lenette aus den echtesten historischen Quellen schöpfen. Freilich heutigentages gehört fast so viel Mut dazu, sich einen Zopf anzuhängen, als damals, sich seinen abzuschneiden. Ein Domherr hat in unsern Zeiten nicht nötig, wie in den vorigen, sich einen Zopf und dadurch den angenehmen Gesellschafter zu machen, und er braucht ihn also nicht erst zweimal jährlich, wie einen Pfauenschweif, abzuwerfen, um seine tausend Gulden Einkünfte gesetzmäßig zu verdienen, indem er im Chore zur Vesper erscheint mit rundem Haar; er [475] trägts schon am Spieltische wie am Chorpulte. In den wenigen Ländern, wo etwa der Zopf noch herrscht, ist er mehr Dienst-Pendel und Staats-Perpendikel, und langes Haar, das schon die fränkischen Könige als Kron-Abzeichen (Kron-Insi gnie) haben mußten, ist bei Soldaten, sobald es nicht wie bei jenen fliegend und ungebunden getragen wird, sondern fest geschnürt und gefangen vom Zopfband, ein ebenso schönes Zeichen des Dienens. Die Friesen taten längst ihren Schwur mit Anfassen des Zopfes, und hieß solcher der Bödel-Eid 142 – so setzt denn in manchen Ländern der Soldaten- oder Fahneneid einen Zopf voraus; und wenn bei den alten Deutschen schon ein auf der Stange getragener Zopf eine Gemeinde vorstellte 143, wie natürlich muß eine Kompanie, ein Regiment, wovon jeder einzelne Soldat den seinigen hinten trägt, nicht gleichsam einen Kompaniezopf der vaterländischen Vereinigung bilden und deutsches Wesen zeigen!

Lenette machte nun vor ihrem Manne kein Geheimnis daraus denn ihr stand Stiefel von weitem bei –, daß sie sich im Grund wenig über Leibgeber und sein Betragen und sein Tragen erfreue. »Mein Vater Seliger war doch lange Rats-Kopist«, sagte sie in Leibgebers Gegenwart, »aber er betrug sich immer wie andere Leute in Kleidung und sonst.«

»Als Kopist«, versetzte Siebenkäs, »mußte er freilich immer kopieren, so oder so, mit Federn oder Röcken; mein Vater hingegen spannte Fürsten die Büchsen und schor sich um nichts, und was fiel, das fiel. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen beiden Vätern, Frau!« Sie hatte schon früher bei Gelegenheit den Kopisten gegen den Büchsenspanner gehalten und gemessen und von weitem angedeutet, daß Siebenkäs keinen so vornehmen Vater wie sie und folglich auch nicht die vornehme éducation gehabt, wodurch man Manieren bekommt und überhaupt lernt wie man sich trägt. Dieser lächerliche Herabblick auf seinen Stammbaum verdroß ihn immer so, daß er oft über sich selber lachte. Indes fiel ihm der kleine Seitenschlag auf Leibgeber weniger auf als ihre ungewöhnliche körperliche Zurückziehung von [476] ihm; sie war nicht zu bewegen, seine Hände anzufassen, und gar ein Kuß von ihm, sagte sie, wäre ihr Tod. Mit allem peinlichen Eindringen und Fragen über den Grund holte er keine andere Antwort aus ihr heraus als die: sie woll' es sagen, wenn er fort sei. Aber dann war er selber leider auch fort und im Sarge, d.h. auf dem Wege nach Vaduz.

Auch diese ungewöhnliche Hartnäckigkeit eines starren Haubenkopfes wurde von ihm noch leidlich ertragen in einer Zeit, wo sich das eine Auge am Freunde wärmte, und das andere am Grabe kühlte.

Endlich kam noch etwas dazu, und niemand erzählt es gewiß treuer als ich; daher man mir glauben sollte. Es war abends, ehe Leibgeber in seinen Gasthof (ich glaube zur Eidechse) zurückging, als die tiefschwarze Halbscheibe eines Gewitters sich stumm über den ganzen Westen der Sonne wölbte und immer weiter herüberbog auf die bange Welt, da war es, daß beide Freunde über die Herrlichkeit eines Gewitters, über das Beilager des Himmels mit der Erde, des Höchsten mit dem Tiefsten, über die Himmelfahrt des Himmels nach der Erde, wie Leibgeber sagte, sprachen, und daß Siebenkäs bemerkte, wie eigentlich nur die Phantasie hier das Gewitter vorstelle oder ausbilde, und wie nur sie allein das Höchste mit dem Niedrigsten verknüpfe. Ich wollte, er hätte dem Rate von Campe und Kolbe gefolgt und statt des fremden Wortes Phantasie das einheimische Einbildungkraft gebraucht; denn die Puristin und Sprachfegerin Lenette fing an zuzuhören, sobald er nur das Wort ausgesprochen. Sie, die in der Brust nichts hatte als Eifersucht und im Kopfe nichts als die Fantaisie, hatte alles auf die Baireuther Fantaisie bezogen, was nur der menschlichen Phantasie von beiden Männern nachgerühmt wurde, z.B. wie sie (die markgräfliche Fantaisie nämlich, dachte Lenette) selig mache durch die Schönheit ihrer hohen Geschöpfe – wie nur im Genusse ihrer Schönheiten ein Kuhschnappel zu ertragen sei – (freilich, weil man an seine Natalie denkt, dachte sie) – wie sie das kahle Leben mit ihren Blumen überkleide – (mit ein paar seidnen Vergißmeinnicht, sagte Lenette zu sich) – und wie sie (die markgräfliche Fantaisie) nicht [477] nur die Pillen des Lebens, auch die Nüsse, ja den Paris-Apfel der Schönheit selber versilbere.

Himmel, welche Doppelsinnigkeiten von allen Ecken! Denn wie trefflich hätte Siebenkäs den Irrtum der Verwechslung der Phantasie mit Fantaisie widerlegen können, wenn er bloß gezeigt hätte, daß von der dichterischen wenig in der markgräflichen zu finden sei und daß die Natur schöne romantische Täler und Berge gedichtet, welche der französische Geschmack mit seinen rhetorischen Blumen- und Periodenbauten und Antithesen behangen und ausstaffiert, und daß Leibgebers Wort von der Phantasie, die den Paris-Apfel versilbere, in einem andern Sinne auf Fantaisie passe, von deren Äpfeln der Natur man erst das gallische Weihnachtsilber abzuschaben habe, eh' man sie anbeißt.

Kaum war Leibgeber zum Hause hinaus und nach seiner Gewohnheit unter das Gewitter hinein, das er gern im Freien genoß: so brach Lenettens Gewitter noch vor dem himmlischen aus. »So hab ichs doch mit meinen eignen Ohren vernommen«, fing sie an, »wie dieser Atheist und Störenfried dich in Baireuth in der Phantasie verkuppelt; und dem soll eine Frau eine Hand geben oder mit einem Finger berühren?« – Sie ließ noch einige Donner nachrollen; aber es ist meine Pflicht gegen die arme, durch vielerlei Gemisch zu einem Gärbottich umgesetzte Frau, ihr nicht alle Aufbrausungen nachzuzählen. Inzwischen brauseten nun auch die Säuern des Mannes auf; denn seinen Freund vor ihm zu schelten – gleichviel, aus welchem Mißverständnis, und er fragte gar nicht über dasselbe, da keines sie entschuldigen konnte – blieb ihm eine Sünde gegen den Heiligen Geist seiner Freundschaft; – und er donnerte demnach tüchtig zurück. Es kommt als Entschuldigung dem Manne zustatten freilich der Frau auch –, daß die Gewitterluft die feurigen Kohlen auf seinem Haupte noch mehr in Flammen blies und daß er demnach wie toll in der Stube auf-und abfuhr und geradezu den Vorsatz, Lenetten vor seinem Sterben alles nachzusehen, in die Luft sprengte; denn er wollte und durfte nicht leiden, daß dem letzten Freunde seines Lebens und Sterbens von der Erbin seines Namens unrecht begegnet wurde in Worten oder Werken. Von den [478] vulkanischen Ausbrüchen des Advokaten, die ich ihm zuliebe gleichfalls alle verschweige, geb' ich einen Begriff, wenn ich berichte, daß er, mit dem Gewitter jetzt um die Wette donnernd, ausrief: »einem solchen Manne!« – und eine Ohrfeige mit den Worten: »du bist auch ein Weiberkopf!« einem Haubenkopf erteilte, der schon einen kühnen Hut mit Federn aufhatte. – Da der Kopf Lenettens Favoritsultanin unter den andern Köpfen war und oft von ihr gestreichelt wurde: so war nach einem solchen Schlage billig nichts weiter zu erwarten als ein so heftiges Auftoben, als wär' er ihr selber wider fahren (wie Siebenkäs gleicherweise für seinen Freund aufgebrauset); aber es kam nichts als ein mildes volles Weinen. »O Gott, hörst du das schreckliche Gewitter nicht?« sagte sie bloß. »Donner hin, Donner her!« versetzte Siebenkäs, welcher – einmal über seinen bisherigen philosophischen Ruhegipfel hinausgerollt – nun nach geistigen und physischen Fallgesetzen die Gewalt des Sturzes wachsen ließ bis zum Versinken, »das Wetter sollte nur allem kuhschnappelschen Gesindel heute auf den Kopf fahren, das meinen Heinrich anschwärzt.« – Da das Gewitter noch heftiger wurde, sprach sie noch sanfter und sagte: »Jesus, welcher Schlag! – Sei doch bußfertig! Wenn er dich nun in deinen Sünden träfe!« – »Mein Heinrich geht draußen«, sagt' er; »o wenn ihn der Blitz nur jetzt erschlüge und mich gleich mit durch einen Strahl: so wär' ich alles elenden Sterbens entübrigt; und wir blieben beieinander!« –

So trotzig und Leben und Religion verachtend hatte die Frau ihn noch nie gesehen, und sie mußte daher jede Minute gewärtig sein, daß der Blitz in das Merbitzersche Haus herabschieße und ihn und sie erlege, um ein Exempel zu geben.

Jetzo deckte ein so heller Blitz den ganzen Himmel auf, und ein so brechender Donner fuhr ihm nach, daß sie ihm die Hand hinreichte und sagte: »Ich will gern alles tun, was du begehrst – sei nur um Gottes willen wieder gottesfurchtig – ich will ja Herrn Leibgeber auch die Hand geben und den Kuß, er mag sie abgewaschen haben oder nicht, wenn ihn der Hund abgeleckt – und ich will nicht hinhören, wenn ihr auch noch so stark die versilbernde und blühende Phantasie der Baireuther herausstreicht.« –

[479] Himmel! wie tief ihm der Blitz jetzt in zwei Irrgänge Lenettens hineinleuchtete und ihm ihre unschuldige Verwechslung der Phantasie mit Fantaisie, wovon ich schon gesprochen, sehen ließ und dann seine eigne Verwechslung ihres Ekels mit ihrem Hasse. Letztes war nämlich so: Da ihr weibliches Reinlichhalten und ihr Putzen sich leichter den Katzen anschloß als den Hunden, welche beides und die Katzen selber nicht achten: so war ihr Leibgebers Hand, wenn gerade des Saufinders Zunge darauf gewesen, eine Esaus-Hand voll Chiragra und ein Daumenschrauben für die ihrige – der Ekel litt kein Berühren –, und Heinrichs Mund vollends war, und wäre der Hund vor zehn Tagen daran mit seinem gesprungen, das größte Schreckbild, welches nur der Abscheu für ihre Lippen hinstellen konnte; – sogar die Zeit galt ihr für keine Lippenpomade 144.

Aber diesesmal brachten die entdeckten Irrtümer nicht Frieden wie sonst, sondern das erneuerte Gebot der Trennung. Zwar traten ihm Tränen in die Augen, und er reichte ihr die Hand und sagte: »Vergib zum letztenmal! Im August ziehen ohnehin die Gewitter heim«; aber er konnte keinen Kuß der Versöhnung anbieten oder annehmen. Unwiderruflich sprach sein neuester Abfall von den wärmsten Entschlüssen der Duldung die Weite ihrer innern Trennung aus. Was hilft Einsehen der Irrungen bei dem Bestehen ihrer Quellen? Was hälf' es, dem Meere ein paar Flüsse abschneiden, wenn ihm die Wolken und die Wogen bleiben? Die Realinjurie gegen den Haubenkopf schmerzte in seiner Brust am meisten nach; er wurde für ihn ein Gorgonenkopf, der immer drohte und rächte. [480] Er suchte nun seinen Freund, wie mit neuer Liebe – weil er für ihn geduldet –, so mit neuem Eifer auf, um den Sterbeplan mit ihm abzureden. »An welcher gefährlichen Krankheit«, fing Heinrich die medizinische Beratschlagung an, »gedenkst du am liebsten deinen Geist aufzugeben? Wir haben die besten, tödlichsten Zufälle vor uns. Verlangst du eine Luftröhrenentzündung – oder eine Darmentzündung – oder ein entzündetes Zäpfchen – oder ist dir mehr mit Hirnwut gedient oder mit Steckkatarrh – oder ist dir Bräune, Kolik und der Teufel und seine Großmutter lieber? Auch haben wir die nötigsten Miasmen und ansteckenden Materien bei der Hand, die wir brauchen – und wenn wir den August, den Erntemonat der Schnitter und Ärzte, als Giftpulver dazu mischen: so überstehest du es nicht.« – Er versetzte: »Du hast wie der Meister-Bettler 145 alle Schäden feil, Blindheit und Lähmung und alles. Ich für meine Person bin ein Freund von dem Schlagfluß, diesem volti subito, dieser Extrapost und Jagdtaufe des Todes – ich habealler prozessualischen Weitläuftigkeiten satt.« – Leibgeber merkte an: »Der ist wohl das Summarissimum des Todes – inzwischen müssen wir, nach den besten Pathologien, die ich kenne, uns zu einem dreifachen Schlagfluß entschließen. Wir können uns hier nicht nach der Natur, sondern nach dem medizinischen Grundgesetz richten, daß der Tod allezeit einen Tertiawechsel vorausschicke, ehe sie einen dort akzeptieren und honorieren, oder einen dreimaligen Hammer-Schlag des Versteigerns. Ich weiß, die Ärzte lassen nicht mit sich reden: nimm den dreifachen Schlag!« – Aber Siebenkäs sagte komischheftig: »Beim Henker! wenn mich der Schlagfluß zweimal recht trifft: was kann ein Arzt mehr fodern? – Nur kann ich vor drei oder vier Tagen nicht erkranken, ich muß auf einen wohlfeilern Sarg-Baumeister warten.« Die Sarg-Baute hausieret bekanntlich unter den Tischlern herum, wie ein Reiheschank. Man muß nun einem solchen Schiffzimmermann der letzten Arche zahlen, was er fodert, weil der Nachlaß eines Verstorbnen der Leichen-Regie, [481] den Akzisoffizianten des Todes, wie der Palast eines verstorbnen Doge und Papstes, zum Plündern stets muß preisgegeben wer den.

»Diese Galgenfrist«, versetzte Leibgeber, »kann noch einen andern Nutzen haben. Sieh hier habe ich mir eine alte Haus-Postille um halbes Sündengeld erhandelt, weil nirgends so eindringliche Leichenpredigten gehalten als in diesem Werke, und zwar in dessen hölzernem Deckel, worin ein lebendiger Prediger wie in einer Kanzel eingepfarrt sitzt.« – Es saß nämlich im Deckel der Käfer, den man die Totenuhr, auch den Holzbohrer, Trotzkopf nennt, weil er angerührt den Schein eines Scheintoten unter allen Martern fortsetzt, und weil seine Schläge, die nur ein Türklopfen für das geliebte Weibchen sind, für Anklopfen des wahren Todes genommen werden; daher sonst ein Hausgerät, worin er schlug, als bedeutendes Kauf-und Erbstück gegolten. – Leibgeber erzählte ihm weiter: da ihm nichts in der Welt so verhaßt sei als ein Mensch, der aus Todes-Furcht Gott und den Teufel durch schnelle Bekehrung zu überlisten suche: so stecke er gern bei solchen höllenscheuen Sündern die Postille auf einige Tage unvermerkt unter die Möbeln, um sie durch die Leichenpredigten recht zu quälen, die der Käfer voraushalte, ob er gleich dabei seinerseits, so gut wie mancher Pfarrer, gerade nur an Weltliches denkt. »Könnt' ich aber nicht füglich die Postille mit dem Leichenprediger so unter deine Bücher schieben, daß deine Frau ihn hörte und dann an das Sterben dächte, nämlich an deines, und sich immer mehr daran gewöhnte?«

»Nein, nein«, rief Firmian, »sie soll mir nicht so viel vorausleiden, sie hat genug vorausgelitten.« – »Meinetwegen«, versetzte Heinrich, »denn sonst reimte sich mein Käfer wohl mit dir, da der Trotzkopf oder ptinus pertinax sich ebensogut totzustellen weiß als du wirst.«

Übrigens freuete er sich, daß alles so schön ineinander häkle, und daß er gerade vor einem Jahre auf die Glasperücke Blaisens gestiegen und oben injuriert oder geschimpft, ohne sich selber den geringsten Schaden zu tun. Injurien nämlich verjähren in einem Jahre, es müßten denn kritische sein, deren Regiment nicht länger [482] dauert als das des Rektors in Ragusa, 1 Monat, d.h. solange das Zeitungblatt im Lesezirkel umläuft. Ein Buch selber hingegen, das die Diktatorwürde in der gelehrten Republik bekleidet, darf eben seines großen Einflusses wegen nicht länger regieren als ein römischer Diktator, 6 Monate, d.h. von der Geburtmesse bis zur Seelen- oder Totenmesse, und ist, gleich Büchermachern, entweder im Frühling tot oder im Herbst.

Sie kamen zurück in eine neugekleidete und neugestellte Stube. Lenette tat, was sie konnte, um die Risse ihrer Haushaltung wie Risse des Porzellans mit Blumen zu übermalen, und sie legte immer Partituren auf, worin gerade die abgesprungne Saite eines Möbels nicht anzuschlagen war. Firmian opferte diesesmal ihrer Bemühung, überall spanische Wände um die Steppen und Brachäcker ihrer Armut herumzuführen, gern mehr lustige Einfälle auf, als er sonst, oder als Heinrich jetzo tat. Alle Weiber, sogar die ohne Geist, sind über Dinge, die sie näher angehen, die feinsten Zeichendeuterinnen und prophetischen Hellseherinnen. Lenette beweiset es. Abends war Stiefel da, man disputierte, und dieser ließ es frei merken, daß er mit Salvian und mit mehren guten Theologen 146 glaube, daß die Kinder Israel, deren Kleider 40 Jahre in der Wüste kein Loch bekamen, des Anzugs wegen immer in einem Wuchse blieben, ausgenommen Kinder, an denen der Rock, den man ihnen aus dem abgelegten Kleidernachlaß der Verstorbenen zugeschnitten, zugleich mit dem Körper in die Höhe und Breite wuchs; »auf diese Weise«, setzte er hinzu, »werden alle Schwierigkeiten des großen Wunders leicht durch kleine Nebenwunder aufgelöset.« – Leibgeber sagte mit einem funkelnden Auge: »Das glaubt' ich schon im Mutterleibe. Im ganzen israelitischen Heerzug konnt' es kein Loch geben, außer was man von Ägypten mitgebracht, und das wurde nicht größer. Ja gesetzt, einer riß sich in der Trauerzeit ein Loch in die Backe und in den Rock: so nähten sich beide Löcher selber miteinander wieder [483] zu. Jammer und schade ists, daß diese Armee die erste und die letzte blieb, bei der die Montur eine hübsche Art von Über-Körper war, der mit der Seele wuchs, um die er lief – und wo allmählich der polnische Rock zu einem Kur-Habit erstarkte, aus einem microvestis zu einem macrovestis heranwuchs. Ich seh' es, in der Wüste war Essen eine Tuchfabrik, Manna die englische Wolle und der Magen der Webstuhl. Ein Israelit, der sich gehörig mästete, lieferte damals das nötigste Landes- und Wüstenprodukt. Ich würde, wär' ich damals auf einem Werbplatz gestanden, nur den Rock des Rekruten unten an das Rekrutenmaß gehangen haben. Wie ists aber in unsrer Wüste, die nicht ins Gelobte Land, sondern nach Ägypten führt? – Bei den Regimentern wachsen das ganze Jahr die Gemeinen, aber kein Rock; ja die Monturen sind nur für dürre Jahre und dürre Leute gefertigt, in nassen ringeln sie sich zusammen als gute Feuchtigkeitmesser, und der Schweiß stiehlt mehr Tuch als der Kompanieschneider und selbst der Lieferant. Der Chef, der etwan auf eine Periphrase und einen Streckteich der Montierstücke gerechnet hätte, weil er außer den Israeliten auch an den Kleidermotten und Schnecken ein Beispiel sähe, die sich nicht nach der Decke, sondern nach denen sich die Decke strecket, ein solcher Chef würde, weil die Regimenter dann fast in einem Zustand wie die alten Athleten föchten, des Henkers dar über werden, und die Regimenter des Teufels.«

Diesen unschuldigen Sermon, der nur Stiefels exegetischen Wahnsinn beschießen sollte, glaubte Lenette auf ihren Kleiderschrank gerichtet. Diese Deutsche war wie der Deutsche, der hinter jeder Rakete und Pulverschlange der Laune einen besondern satirischen Kernschuß sucht. Siebenkäs bat ihn daher, seiner armen Frau, auf deren Herz jetzt ohnehin so viele scharf-gezähnte Schmerzen abgeschleudert würden, die unvermeidliche, unüberwindliche Unwissenheit ihrer Exegese nachzusehen oder lieber gar zu ersparen. –

Es ging endlich ein Kuhschnappler Bader mit Tod ab, der dem teuern Tischler unter den Hobel fiel. »Nun hab' ich«, sagte Firmian lateinisch, »mit dem Schlagfluß keine Minute zu passen; [484] wer steht mir dafür, daß mir kein Mensch vorstirbt und den wohlfeilen Tischler wegfängt?« – Daher wurde auf den nächsten Abend das Erkranken anberaumt.

Zwanzigstes Kapitel

Der Schlagfluß – der Obersanitätrat – der Landschreiber – das Testament – der Rittersprung – der Frühprediger Reuel – der zweite Schlagfluß


Abends riß Heinrich den Vorhang des Trauerspiels voll lustiger Totengräberszenen auf, und Firmian lag mit dem schlagflüssigen Kopfe auf dem Bette, stumm und an der ganzen rechten Seite gelähmt. Der Patient konnte sich über seine Verstellung und über die Qualen, womit sie Lenetten durchschnitt, nicht anders beruhigen als durch den innern Schwur, ihr als Vaduzer Inspektor die jährliche Hälfte seiner Einnahmen namenlos zu senden, und durch die Vorstellung, daß sie durch seinen Tod zugleich Freude und Freiheit und ihren Liebhaber gewinne. Das Mietpersonale schloß einen Kreis um den Schlagflüssigen; aber Leibgeber trieb alles aus der Kammer und sagte: »Der Leidende braucht Ruhe.« Es tat ihm ordentlich wohl, daß er in einem fort scherzhaft lügen konnte. Er versah das Reichserbtürhüteramt und schlug vor dem Doktor, den man verordnen wollte, die Tür ins Schloß: »Ich will dem Kranken (sagt' er) wenig verschreiben, aber das wenige gibt ihm doch einstweilen die Sprache. Die verdammten Todesflüsse von Mixturen, Hr. Schulrat« (denn dieser wurde sogleich hergeholt), »sind wie die Flüsse, die jedes Jahr einen Toten haben wollen.« Er rezeptierte ein bloßes Temperierpulver: »Recipe«, schrieb er laut:


»R. Conch. citratae Sirup. I.
Nitri crystallisati gr. X.
D. S. Temperierpulver.

Vor allen Dingen«, setzt' er gebietend hinzu, »muß man die Füße des Patienten in laues Wasser stellen.«

Das ganze Haus wußte, es helfe alles nichts, da sein Tod durch das Mehl-Gesicht nur gar zu gewiß verkündigt worden, und Fecht hatte eine mitleidige Freude, daß er nicht fehlgeschossen.

[485] Der schwache Mann brachte das Temperierpulver kaum hinunter, so war er schon imstande, zum Erstaunen der ganzen Todes-Assekuranzkammer in der Stube wieder vernehmlich (aber nicht stark) zu sprechen. Der Haus-Feme wars fast nicht recht. Der gute Heinrich hatte aber wieder einen Vorwand, seine frohe Miene zu erneuern. Er tröstete die Advokatin mit den Sprüchen: der Schmerz sei hienieden nichts mehr als ein höheres Hänseln oder die Ohrfeige oder der Schwertschlag, womit man zu einem Ritter befördere.

Der Kranke hatte aufs Pulver eine recht leidliche Nacht; und er selber schöpfte wieder Hoffnung. Heinrich gab es nicht zu, daß die gute Lenette mit den Augen voll Tränen und voll Schlafs die Nachtwächterin seines Bettes wurde; er wolle nachts dem Patienten beispringen, sollt' es gefährlich werden, sagt' er. Das letzte war aber nicht möglich, da beide erst eben in dieser Nacht den Vertrag miteinander machten – und zwar lateinisch, wie einen fürstlichen –, daß morgen abends der Tod oder der fünfte Akt dieser Einschiebtragödie, die in der Tragödie des Lebens selber nur ein Auftritt ist, sich ereignen sollte. »Es ist morgen«, sagte Firmian, »schon zu lange – meine Lenette kümmert mich unaussprechlich. Ach, ich habe, wie David, das elende Auslesen unter Teuerung, Krieg und Pest, und keine Wahl als seine. – Du, lieber Bruder, du bist mein Kain und richtest mich hin und glaubst auch so wenig wie er von der Welt, in die du mich schickst 147. Wahrlich, eh' du mir das Temperierpulver vorgeschrieben, das mich zu reden nötigte, wünscht' ich in meiner stummen Düsterheit, aus Spaß würde Ernst. Einmal muß ich hindurch, durchs Tor unter der Erde, das in die umbauete Festung der Zukunft führt, wo man sicher ist. O, guter Heinrich, das Sterben schmerzet nicht, aber das Scheiden, das von werten Seelen mein' ich.« – Heinrich versetzte: »Gegen diesen letzten Bajonettstich des Lebens hält uns die Natur ein breites Achilles-Schild vor: [486] man wird auf dem Totenbette früher moralisch- als physischkalt, eine sonderbare hofmännische Gleichgültigkeit gegen alle, von denen wir zu scheiden haben, kriecht frostig durch die sterbenden Nerven. Vernünftige Zuschauer sagen nachher: seht, so verzichtend und vertrauend stirbt nur ein Christ! – – Laß es, guter Firmian; die paar schlimmen, heißen Minuten, die du bis morgen auszuhalten hast, sind ein hübsches warmes Aachner Bad für den kranken Geist, das freilich verdammt nach faulen Eiern riecht; nach einiger Zeit aber, wenn das Bad erkaltet ist, riecht es wie das Aachner nach nichts.«

Am Morgen pries ihn Heinrich so: »Wie der jüngere Kato in der Nacht vor seinem Tode ruhig schlief – die Geschichte konnte ihn schnarchen hören –, so scheinest du heute nacht ein erneuertes Beispiel dieser Seelengröße in so entkräfteten Zeiten gegeben zu haben: wär' ich dein Plutarch, ich gedächte des Umstandes.« – »Aber ernstlich«, versetzt' er, »ich wünschte wohl, daß ein gescheuter Mann, ein literarischer Historienmaler West, meinen sonderbaren Primatod nach vielen Jahren, wenn der Tod schon den Sekundawechsel geschickt, einer guten Beschreibung würdigte für die Presse.«... Derselben hat ihn nun, wie es scheint, ein biographischer West gewürdigt; aber man lasse mich es frei heraussagen, daß ich mit unglaublicher Freude diese Bett-Rede und diesen Wunsch, den ich so gänzlich erfülle, unter den Dokumenten angetroffen habe. – Leibgeber sagte darauf: »Die Jesuiten in Löwen edierten einmal ein schmales Buch, worin das schreckliche Ende Luthers gut, aber lateinisch beschrieben war. Der alte Luther erwischte das Werk und vertierte es wie die Bibel und fügte bloß hinten bei: ›Ich D. M. Luther habe diese Nachricht selbst gelesen und verdolmetscht.‹ – Das würd' ich an deiner Stelle, wenn ich meinen Tod ins Englische übersetzte, auch darunter schreiben.« – Schreib es immer darunter, lieber Siebenkäs, da du noch lebst; aber vertiere mich nur!

Der Morgen gibt sonst seine Erfrischungen unter dem menschlichen Lagerkorn herum, es sei, daß einer auf dem harten Krankenbette oder auf der weichern Matratze liege, – und richtet mit dem Morgenwind gebückte Blumen- und Menschenhäupter [487] auf; aber unser Kranker blieb liegen. Es setzte ihm bedenklich zu, und er konnte nicht verhehlen, daß es mit ihm zurückgehe wenigstens wollt' er auf allen Fall sein Haus bestellen. Dieses erste Viertel, das die Totenglocke zur Sterbestunde schlug, drückte einen schweren scharfen Glockenhammer in Lenettens Herz hinein, aus dem der warme Strom der alten Liebe in bittern Zähren brach. Firmian konnte dieses trostlose Weinen nicht ansehen; er streckte verlangend die Arme aus, und die Gepeinigte legte sich sanft und gehorsam zwischen sie an seine Brust, und nun vereinigte die heißeste Liebe ihre doppelten Tränen, ihre Seufzer und ihre Herzen, und sie ruhten, obwohl an lauter Wunden, glücklich aneinander in so geringer Entfernung vom Grenzhügel der Trennung.

Er tat es daher der Armen zuliebe und besserte sich zusehends; auch war diese Herstellung vonnöten, um die gute Laune zu erklären, womit er seinen Letzten Willen besorgte. Leibgeber gab seine Freude zu erkennen, daß der Patient wieder imstande war, auf der Serviette des Deckbettes zu speisen und eine tiefe Krankensuppen-Schüssel wie einen Weiher völlig abzuziehen. »Die lustige Laune«, sagte Leibgeber zum Pelzstiefel, »die sich beim Kranken wieder einstellet, gibt mir große Hoffnungen; die Suppe aber frisset er offenbar nur der Frau zuliebe hinein.« Niemand log so gern und so oft aus Satire und Humor als Leibgeber; und niemand feindete ernste Unredlichkeit und Verschlagenheit unduldsamer an als er; er konnte l000 Scherzlügen, und keine 2 Notlügen vorbringen; bei jenen standen ihm alle täuschende Mienen und Wendungen zu Gebote, bei diesen keine.

Vormittags wurden der Schulrat und der Hausherr Merbitzer ans Bette vorgefodert: »Meine Herren«, fing der Kranke an, »ich gedenke nachmittags meinen Letzten Willen zu haben und auf dem Richtplatz der Natur drei Dinge zu sagen, welche ich will, wie mans in Athen durfte 148; aber ich will jetzo schon ein Testament eröffnen, eh' ich das zweite mache oder vielmehr das Kodizill [488] des ersten. Meine sämtlichen Schreibereien soll mein Freund Leibgeber einpacken und behalten, sobald ich selber eingepacket bin ins letzte Kuvert mit Adresse. – Ferner will und verordne ich, daß man sich nicht weigere – da ich die dänischen Könige, die alten österreichischen Herzoge und die vornehmen Spanier vor mir habe, wovon sich die ersten in ihrer Rüstung, die zweiten in Löwenfellen, die dritten in elenden Kapuzinerbälgen beisetzen lassen – man soll sich nicht weigern, sag ich, mich ins Beet der andern Welt mit der alten Hülse und Schote zu stecken, worin ich in der ersten grünte; kurz, so wie ich hier bin und testiere. Diese Verordnung nötigt mich, die dritte zu machen, daß man die Totenfrau bezahle, aber sogleich fortweise, weil ich in meinem ganzen Leben zwei Weibern auffallend gram geblieben, der einen, die uns herein-, und der andern, die uns hinausspület, obwohl in einem größern Badezuber abscheuert als jene: der Hebamme und der Totenfrau; sie soll mit keinem Finger an mich tippen, und überhaupt gar niemand als mein Heinrich da.« Sein Groll gegen diese Dienerschaft des Lebens und des Todes kann, wie ich vermute, aus demselben Anlaß fließen wie der meinige: nämlich aus dem herrischen und sportelsüchtigen Regiment, womit uns diese bei den Pflanzerinnen und Konviktoristinnen der Wiege und der Bahre gerade in den zwei entwaffneten Stunden der höchsten Freude und der höchsten Trauer keltern und pressen.

»Weiter will ich, daß Heinrich mir mein Gesicht, sobald es die Zeichen meines Abschiedes gegeben, mit unserer langhälsigen Maske, die ich oben aus dem alten Kasten heruntergetragen, auf immer bedachen und bewaffnen soll. Auch will ich, wenn ich aus allen Fluren meiner Vergangenheit gehe und nichts hinter mir höre als rauschende Grummethügel, wenigstens an meine Brust noch den seidnen Strauß meiner Frau, als Spielmarke der verlornen Freuden, haben. Mit einer solchen Schein-Insignie geht man am schicklichsten aus dem Leben, das uns so viele Pappendeckelpasteten voll Windfülle vorsetzt. – Endlich soll man nicht, wenn ich fortgehe, hinter mir, wie hinter einem, der aus Karlsbad abreiset, vom Turm nachklingen, wie man uns sieche, [489] flüchtige Brunnengäste des Lebens ebenso wie Karlsbader mit Musizieren auf den Türmen empfängt, zumal da die Kirchendienerschaft nicht so billig ist wie der Karlsbader Türmer, der für An- und Nachblasen nur auf 3 Kopfstücke aufsieht.« – – Er ließ sich nun Lenettens Schattenriß ins Bette reichen und sagte stammelnd: »Meinen guten Heinrich und den Hrn. Hausherrn ersuch' ich, nur auf eine Minute abzutreten und mich mit dem Hrn. Schulrate und meiner Frau allein zu lassen.«

Da es geschehen war: so blickte er lange stumm und warm den kleinen, teuern Schatten an; sein Auge trat, von Schmerzen durchbrochen, über wie ein zerrissenes Ufer; er reichte den Schattenriß dem Rate zu, stockte überwältigt und sagte endlich: »Ihnen, getreuer Freund, Ihnen allein kann ich dieses geliebte Bildnis geben. Sie sind ihr Freund und mein Freund – O Gott, kein Mensch auf der ganzen weiten Erde nimmt sich meiner guten Lenette an, wenn sie von Ihnen verlassen wird – Weine nur nicht so bitterlich, Gute, er sorgt für dich – O mein teuerster Freund, dieses hülflose, schuldlose Herz wird brechen in der einsamen Trauer, wenn Sie es nicht beschirmen und beruhigen: o verlassen Sie es nicht wie ich!« Der Rat schwur bei dem Allmächtigen, er verlasse sie nie, und nahm Lenettens Hand und drückte sie, ohne die Weinende anzusehen, und hing mit tropfenden Augen gebückt auf das Angesicht seines verstummenden Freundes herein – aber Lenette drängte ihn weg von der Brust ihres Gatten und machte ihre Hand frei und sank auf die Lippen nieder, die ihr Herz so sehr erschüttert hatten – und Firmian schloß sie mit dem linken Arm ans erquickte Herz und streckte überdeckt den rechten nach seinem Freunde aus – und nun hielt er an die gedrückte Brust die zwei nächsten Himmel der Erde geknüpft, die Freundschaft und die Liebe...

– Und das ists eben, was mich an euch betörten und uneinigen Sterblichen ewig tröstet und freuet, daß ihr euch alle herzlich liebet, wenn ihr euch nur in reiner menschlicher Gestalt erblickt, ohne Binden und Nebel – daß wir alle nur erblinden, wenn wir fürchten, daß wir erkalten, und daß unser Herz, sobald der Tod unsere Geschwister über das Gewölke unserer Irrtümer hinausgehoben, [490] selig und liebend zerfließet, wenn es sie im durchsichtigen Äther, ohne die Entstellung der hiesigen Hohlspiegel und Nebel, als schöne Menschen schweben sieht und seufzen muß: ach in dieser Gestalt hätt' ich euch nie verkannt! – Daher strecket jede gute Seele ihre Arme nach den Menschen aus, die der Dichter in seinem Wolkenhimmel wie Genien unsern tiefen Augen zeigt, und die doch, wenn er sie auf unsere Brust heruntersinken lassen könnte, in wenig Tagen auf dem schmutzigen Boden unserer Bedürfnisse und Irrtümer ihre schöne Verklärung verlören; wie man das kristallene Gletscherwasser, das, ohne zu erkälten, erfrischet, schwebend, wenn es vom Eis-Demante tropft, auffangen muß, weil es sich mit Luft verunreinigt, sobald es die Erde berührt 149. –

Der Schulrat ging fort – aber bloß zum Doktor. Dieser vornehme Generalissimus des Freund Heins – der den Titel Obersanitätrat nicht umsonst führte, sondern für Geld – war ganz geneigt, den Kranken zu besuchen, erstlich, weil der Schulrat ein Mann von Ansehen und Vermögen war, und zweitens, weil Siebenkäs als ein Konviktorist der Leichenlotterie, deren korrespondierendes Mitglied und frère servant auch der Doktor war, nicht sterben durfte; denn diese Leichenkasse war nur eine Reichsoperationskasse voll Notpfennige für Honoratiores. Leibgeber erschrak tödlich vor dem in Schlachtordnung anrückenden Obergesundheitrate; er mußte besorgen, durch den Doktor könnt' es wirklich schlimmer werden, so daß Siebenkäs den Ruhm Molièrens nachließe, der auf dem Theater am Spiele des eingebildeten Kranken verstarb. Er fand zwischen Ärzten und Patienten das Verhältnis so unbestimmt, als es noch das zwischen Spechten oder Borkenkäfern und Bäumen ist, indem noch darüber gestritten wird, ob die Bäume vom Bohren und Eierlegen dieser Tiere verfalben, oder ob umgekehrt diese Tiere geflogen kommen, weil die Borke schon wurmstichig und der Stamm schon abgestorben ist. Ich glaube, in Hinsicht der Käfer und Spechte – auch der Ärzte –, sie sind beides abwechselnd, Ursache und Wirkung, und das Dasein keines Tieres kann eine Zerstörung [491] voraussetzen, weil sonst bei der Bildung der Erde auch ein krepierter Gaul für die Schmeißfliegen und ein großer Ziegenkäse für die Käsemilben hätte geschaffen werden müssen.

Der Obersanitätrat Oelhafen ging, mit zorniger Unhöflichkeit gegen die Gesunden, gerade auf den Kranken los und machte sich sogleich über den Sekundenzeiger des Lebens, über die medizinische Wünschelrute her, über den Puls: Leibgeber setzte den Pflug des satirischen Grimms in sein Gesicht und zog krumme Furchen und wählte Tiefackern. »Ich finde«, sagte der Heilkünstler, »eine wahre Nerven-Apoplexie von Überladung – man hätte den Arzt eher rufen sollen – der volle harte Pulsschlag verkündigt Wiederholung des Schlages – Ein Brechpulver, das ich hiegegen verordne, wird vom besten Erfolge sein.« Und hier zog er kleine Brech-billet-doux, wie Bonbons eingewickelt, heraus. Er hatte die Vomitive im Selbverlage und trieb diesen unschuldigen Land-Handel hausierend als Schnurrjude. Es gab wenige Krankheiten, wobei er nicht sein Brechmittel als Gnadenmittel, Wagenwinde, Pumpenstiefel und Fegefeuer ansetzen konnte; besonders arbeitete er fleißig mit diesem Brech- und Arbeitzeug bei Schlagflüssen, Brustentzündungen, Migränen und Gallenfiebern – er räume, sagt' er, zuvörderst in den ersten Wegen auf, und darüber räumte er den Inhaber der ersten Wege selber mit auf, der nachher leicht den letzten Weg alles Fleisches einschlug. Leibgeber knetete sein tolles Gesicht um und sagte: »Herr Kollege und Protomedikus Oelhafen, wir können ganz gut ein concilium oder consilium oder collegium medicum hier halten. Es will mir vorkommen, als sei mein Temperierpulver ratsam gewesen, da es apoplectico gestern wieder zur Sprache verholfen.« – Der Protomedikus hielt ihn für einen Heilpfuscher und sagte zum Pelzstiefel, ohne seinen Kollegen nur anzusehen: »Lassen Sie laues Wasser bringen, ich will ihm es eingeben.«- Leibgeber fuhr zornig auf: »Wollen wirs miteinander einnehmen, da unsere zwei Gallenblasen sich ergießen – der Patient darf nicht, soll nicht, kann nicht.« – »Sind Sie ausübender Arzt, mein Herr?« sagte der Obersanitätrat verachtend-stolz.

»Jubeldoktor«, sagt' er, »bin ich, und zwar seitdem ich kein [492] Narr mehr bin. Es muß Ihnen aus Haller erinnerlich sein, daß einmal ein Narr behauptete, er sei geköpft, bis man ihn durch einen Hut aus Blei herstellte; ein Kopf, mit Blei überdachet und infuliert, fühlet sich so deutlich als einer, der damit ausgegossen ist. – Hr. Kollege, ich war fast derselbe Tor; ich hatte eine Gehirnentzündung und erfuhr zu spät, daß man sie schon geheilet und gelöschet habe. Kurz, ich bildete mir ein, mein Haupt habe sich abgeblättert, wie die mürben Füße gleich Krebsscheren abspringen, wenn man zu viel Mutterkorn genossen. Kam der Balbier und warf seinen purpurnen Arbeitbeutel und Köcher ab: so sagte ich: ›Mein lieber Hr. Obermeister Spörl, Fliegen, Schildkröten, Nattern lebten zwar, wie ich, noch fort, wenn der Kopf herunter war; aber zu rasieren war an ihnen wenig – Er ist ein vernünftiger Mann und sieht, daß ich so wenig geschoren werden kann als der Torso in Rom – wo gedächt' Er mich einzuseifen, Hr. Spörl?‹ – Kaum war er hinaus, so kam der Perückenmacher herein: ›Ein andermal, Hr. Peißer‹, sagt' ich, › – wenn Sie nicht die Luft um mich oder die Brusthaare in Locken schlagen wollen: so stecken Sie nur Ihre Kämme wieder in die Westentasche. Ich lebe seit Nachmitternacht ohne Fries und Karnies und stehe wie der babylonische Turm ohne Kuppel da – Wollen Sie aber draußen in der Nebenstube meinen Kopf suchen und dem caput mortuum einen Zopf und ein Toupet machen: so nehm' ichs an und will den Kopf als eine Zopfperücke aufsetzen.‹ – Zum Glück kam der Rektor magnificus, ein Arzt, und sah meinen Gram, wie ich die Hände zusammenschlug und ausrief: ›Wo sind meine vier Gehirnkammern und mein corpus callosum und mein anus cerebri und mein eiförmiges Zentrum, wo nach Glaser dieEinbildungkraft sitzt? Wie applizieret ein Rumpfparlament sich Brillen und Hörrohre? Die Ursachen sind ganz bekannt. Ist es so weit mit dem besten eingehäusigen Kopf in der Welt gekommen, daß er keinen hat, der sein Samengehäuse wäre?‹ – Der Rektor magnificus ließ aber einen alten, engen Doktorhut aus den Universitätschränken herholen und passete mir solchen mit einem leichten Schlage auf und sagte: ›Die Fakultät setzet ihren Doktorhut nirgends hin als auf Kopf – auf einem Nichts könnt' er gar nicht [493] haften.‹ – Und durch den Hut wuchs meiner Phantasie, wie geköpften Schnecken, ein neuer Kopf nach. Seit ich nun kuriert bin, kurier' ich andere.«

Der Obersanitätrat drehte einen Basiliskenaugapfel von ihm weg und ließ sich aufgebracht an seinem Stockband wie einen Warenballen die Treppe hinab, ohne das aufgebrochne Vomitiv (ein Komitiv für die andere Welt) zu sich zu stecken, das nun dem Patienten aus seinem eignen Beutel zu bezahlen bleibt.

Der gute Heinrich hatte aber in einen neuen Krieg gegen Stiefeln und Lenetten zu ziehen; bis sich Firmian mit der Versicherung als Vermittler darein schlug, er hätte ohnehin das Brechpulver weggewiesen, da sich damit – ach, er meint' es bildlich eine alte Brustkrankheit und einige gordische Lungenknoten, die Knoten seines Erdenschauspiels, schlecht vertrügen.

Inzwischen war doch nicht zu verhehlen – er mochte sich verstellen, wie er wollte –, daß es mit ihm schlechter und schlechter werde; jeden Augenblick stand der Rikoschettschuß des Schlages bevor. »Es ist Zeit«, sagte Firmian, »daß ich testiere; – ich sehne mich nach dem Landschreiber.« Dieser Schreiber setzt bekanntlich, nach dem kuhschnappelischen Dorf- und Stadtrechte, alle Letzte Willenverfügungen auf. – Endlich trat er herein, der Landschreiber Börstel, eine welke, eingedorrte Schnecke, mit einem runden, scheuen, horchenden Knopfplatten-Angesicht voll Hunger, Angst und Aufmerksamkeit. Das Fleisch, dachten viele, sei nur, wie die neue schwedische Steinpappe, über die Knochen aufgeschmiert. »Was solle (begann Börstel) Denenselben heute niederschreiben?« – »Mein zierliches Kodizill«, sagte Siebenkäs; »lassen Sie aber vorher eine und die andere verfängliche Frage, wie man vor Testatoren pfleget, an mich ergehen, um unter der Hand auszuholen, ob ich meinen Verstand noch habe.« – Dieser fragte: »Für wen nehmen Selbige mich?« – »Für den Hrn. Landschreiber Börstel«, antwortete Patient. – »Das ist (versetzte Börstel) nicht nur recht richtig, sondern es legt auch an den Tag, daß Sie wenig oder nicht phantasieren – und es mag denn ohne weiteres zum Letzten kodizillarischen Willen geschritten werden.«


[494] Letzter Wille des Armenadvokaten Siebenkäs


»Endesunterschriebener, der mit andern Augustäpfeln jetzo gelbt und abfället, will, so nahe am Tode, der die körperliche Leibeigenschaft des Geistes aufhebt, noch einige frohe Rück- und Seitenpas und Großvatertänze machen, drei Minuten vor dem Basler Totentanz.«

Der Landschreiber hielt innen und fragte staunend: »Mehr und dergleichen bring' ich zu Papier?«

»Zuerst will und verordn' ich Firmian Siebenkäs, alias Heinrich Leibgeber, daß Hr. Heimlicher von Blaise, mein Tutor, die 1200 fl. rhnl. Vormundschaftgelder, die er mir, seinem Pupillen, gottlos abgeleugnet, binnen Jahr und Tag an meinen Freund, Hrn. Leibgeber, Inspektor in Vaduz 150, einhändigen solle und wolle, der sie nachher meiner lieben Frau wieder treulich übermachen wird. Weigert Hr. v. Blaise sich dessen, so heb' ich hier die Schwurfinger auf und leiste auf dem Totenbette den Eid ab: daß ich ihn nach meinem Ableben überall, nicht gerichtlich, sondern geistig, verfolgen und erschrecken werde, es sei nun, daß ich ihm als der Teufel erscheine oder als ein langer weißer Mann oder bloß mit meiner Stimme, wie es mir etwa meine Umstände nach dem Tode verstatten.«

Der Landschreiber schwebte mit dem befederten Arme in der Luft und brachte seine Zeit mit bloßem schreckhaften Zusammenfahren hin: »Ich sorge nur, mich nehmen (sagt' er) der Herr Heimlicher, schreib' ich solche Sachen nieder, am Ende beim Flügel.« – Aber Leibgeber schnitt ihm mit seinem Körper und Gesicht die Flucht über das Höllentor der Kammer ab.

»Ferner will und verordne ich, als regierender Schützenkönig, daß kein Sukzessionkrieg mein Testament zu einem Sukzessionpulver für unschuldige Leute mache – daß ferner die Republik Kuhschnappel, zu deren Gonfaloniere und Doge ich durch die[495] Schützen-Kugeln ballotiert worden, keine Defensivkriege führen soll, weil sie sich nicht damit defendieren kann, sondern bloß Offensivkriege, um die Grenzen ihres Reichs, da sie schlecht zu decken sind, wenigstens zu mehren – und daß sie solche holzersparende Mitglieder sein sollen, wie ihr tödlich kranker Landesund Reichsmarktflecken-Vater war. Jetzo, da mehr Wälder verkohlen als nachwachsen, ist das einzige Mittel dagegen, daß man das Klima selber einheize und in einen großen Brut-, Darr- und Feldofen umsetze, um die Stubenöfen zu ersparen; und dieses Mittel haben längst alle gute forstgerechte Kammern ergriffen, die vor allen Dingen die Forstmaterie, die Wälder, ausreuten, die voll Nachwinter stecken. Wenn man bedenkt, wie sehr schon das jetzige Deutschland gegen das von Tacitus mappierte absticht, bloß durch das Lichten der Wälder ausgewärmt: so kann man leicht schließen, daß wir doch endlich einmal zu einer Wärme, wo die Luft unsere Wildschur ist, gelangen werden, sobald es ganz und gar kein Holz mehr gibt. Daher wird der jetzige Überfluß daran, um die Flöße zu steigern – wie man 1760 in Amsterdam öffentlich für 8 Millionen Livres Muskatennüsse verbrannte, um ihren alten Preis zu erhalten –, gleichfalls eingeäschert.

Ich als König vom kuhschnappelischen Jerusalem will ferner, daß der Senat und das Volk, Senatus populusque Kuhschnappeliensis 151, nicht verdammt werden, sondern selig, besonders auf dieser Welt – daß ferner die Stadt-Magnaten nicht die kuhschnappelischen Nester (Häuser) zugleich mit den indischen verschlucken – und daß die Abgaben, die durch die vier Mägen der Hebbedienten durch müssen, durch die Panse, durch die Mütze, den Psalter und den Fettmagen, am Ende doch aus Milchsaft zu rotem Blute (aus Silber zu Gold) verarbeitet, und wenn sie durch die Milchgefäße, den Milchsack und Milchgang geflossen, ordentlich ins Geäder des Staats-Körpers getrieben werden. – Ich will ferner und verordne ferner, daß der Große und der Kleine Rat...« [496] Der Landschreiber wollte aufhören und schüttelte auffallend den Kopf; aber Leibgeber spielte scherzend mit der ausgehenkten Büchse, womit der Testator sich auf den Schützenthron geschwungen – anstatt daß andere sich an fremden Springstäben von Ladstöcken darauf heben –, und Börstel schrieb in seinen Morgenschweißen weiter nieder:

»Daß also der Schultheiß, der Seckelmeister, der Heimlicher und die acht Ratherrn und der Großweibel mit sich reden lassen und keine andern Verdienste belohnen als die Verdienste fremder Leute, und daß der Schuft von Blaise und der Schuft von Meyern aneinander täglich prügelnde Hände als Verwandte legen sollen, damit doch einer da ist, der den andern bestraft....«

Da sprang der Landschreiber in die Höhe, berichtete, es versetz' ihm die Luft, und trat ans Fenster, um frischere zu schöpfen, und als er ersah, daß drunten in geringer Schußweite vom Fensterstock ein Gerberloh-Hügel emporstehe, hob und setzte ihn der nachschiebende Schrecken von hinten auf die Brüstung hinaus; nach einem solchen ersten Schritte tat er, eh' ihn ein Testamentzeuge hinten fangen konnte, einen zweiten, langen in die nackte Luft hinein und schlug als die eigne Zunge seiner Schnellwaage über den Fensterstock hinaus, so daß er dem niedrigen Poussierstuhl – ich meine der Gerber-Loh – leicht begegnen konnte. Als fallender Künstler konnt' er nach seiner Ankunft nichts Besseres vornehmen, als daß er sich seines Gesichtes als eines Grabstichels und einer plastischen Form und Kopiermaschine bediente und damit sein Bild in vertiefter Arbeit matt in den Hügel formte; auf letztem lagen seine Finger als arbeitsame Poussiergriffel und kopierten sich selber, und mit dem Notariatpetschaft, das er neben das Dintenfaß gestellt und mitgenommen hatte, kontrasignierte er aus Zufall den Vorfall. So leicht kreiert ein Notarius einem Pfalzgrafen gleich – einen zweiten; Börstel aber ließ den Konotarius und das ganze Naturspiel liegen und dachte im Heimgehen an andere Sachen. Die Herren Stiefel und Leibgeber hingegen sahen zum Fenster heraus und hielten sich, als er unter Dach und Fach verschwunden war, an seinen zweiten äußerlichen Menschen, der ausgestreckt unten auf dem anatomischen Theater [497] lag und nach Juchten roch – worüber der Verfasser dieses nicht ein Wort mehr sagen will als das von Heinrich: »Der Landschreiber hat unter das Testament ein größeres Petschaft drücken wollen, das keiner nachsticht, und solches mit seinem Leibe untersiegelt – und drunten sehen wir ja den ganzen sphragistischen Abdruck.«

Der Letzte Wille wurde von den Testamentzeugen und dem Testator unterzeichnet, so weit der Wille ging – und mehr als ein solches halb militärisches Testament war unter solchen Umständen kaum zu fodern.

Jetzo neigte sich der Abend herein, wo sich der kranke Mensch, wie seine Erde, von der Sonne abwendet und sich bloß dem dämmernden Abendstern der zweiten Welt zukehrt, wo die Kranken in diese ziehen, und wo die Gesunden nach dieser schauen – und wo Firmian ungestört dem teuern Weibe den Abschiedkuß zu geben und langsam zu ermatten hoffte, als leider der gewitterhafte Helfer (Diakonus) und Frühprediger Reuel 152 in die Stube rauschte. Er stellte sich in der kirchlichen Rüstung, in Ringkragen und Schärpe, ein, um den Kranken, dem er das Band der Ehe in doppelte Schleifen unter dem Halse gebunden hatte, hinlänglich auszuhunzen, daß er als Beichtpfennig-Defraudant den Zoll der Kranken- und der Gesunden-Kommunion auf dem Himmel- und Höllenwege umfahren wolle. Wie (nach Linné) die ältern Botaniker, ein Croll, Porta, Helvetius, Fabrizius, aus der Ähnlichkeit, die ein Gewächs mit einer Krankheit hatte, den Schluß machten, daß es solche hebe – daher sie gelbe Pflanzen, Safran, Kurkumei, gegen Gelbsucht verschrieben – Drachenblut, japanische Erde gegen Dysenterie – Kopfkohl gegen Kopfweh spitze Dinge, Fischgräten gegen Seitenstich –, wie also die offizinelle Pflanze sich wenigstens von weitem dem Gebrechen nähert, wogegen sie wirkt: so nehmen auch in den Händen guter Frühprediger die geistigen Heilmittel, Predigten, Ermahnungen, [498] die Gestalt der Krankheiten, des Zorns, des Stolzes, des Geizes, an, wider welche sie arbeiten, so daß oft zwischen dem Bettlägerigen und dem Arzte kein Unterschied ist als der der Stellung. Reuel war so. Vorzüglich dacht' er darauf, in einer Zeit, wo der lutherische Geistliche so leicht für einen heimlichen Jesuiten und Mönch verschrieen wird, sich von letztem, der nichts sein nennt und der kein Eigentum haben darf, nicht durch Worte, sondern durch Handlung zu unterscheiden und daher recht augenscheinlich nach Eigentum zu jagen und zu schnappen. Hoseas Leibgeber suchte ein Sperrstrick und Drehkreuz für den Prediger zu werden und hielt ihn mit der Anrede auf der Schwelle auf: »Es wird schwerlich viel verfangen, Ew. Hochehrwürden – ich wollt' ihn gestern ebenso im Flug, volti subito, citissime bekehren und ummünzen; aber am Ende warf er mir vor, ich wäre selber nicht bekehrt, und das ist auch wahr: denn im Sommer-Raps meiner Meinungen sitzen ketzerische Pfeifer an Pfeifer und nagen.« Reuel versetzte, zwischen Moll- und Durton schwankend: »Ein Diener Gottes wartet und pflegt seines hl. Amts und sucht Seelen zu retten, es sei nun vom Atheismus oder von andern Sünden; aber der Erfolg bleibt ganz den Sündern heimgestellt.«

Das schwarze Gewitter zog also voll Sinai-Blitze in die dunkle Kammer hinaus – der Helfer schwenkte den wehenden Schlauch-Ärmel, wie eine ehrlich machende Fahne, über den aufs Bettuch hingestreckten Atheisten, wofür er ihn hielt – er säete den guten Samen so auf den Patienten, wie die Bauern in Swedieland den Rübensamen, den sie nämlich auf die Beete bloß speien – und sagte ihm in einer Krankenvermahnung (dem gewöhnlichen Gegenstück der Leichenpredigt), die mich und den Leser vielleicht auch einmal unter dem letzten Deckbette einholet, die ich also nicht von Baireuth nach Heidelberg zum Druck abschicke, da sie unterwegs in jeder Krankenstube zu hören ist, darin sagt' ers ihm, als ein gerader Mann, ins Gesicht, er sei ein Teufelsbraten und eben gar. Der gare Braten machte die Augen zu und hielt aus. Aber sein Heinrich, den es schmerzte, daß der Frühprediger die geliebten Ohren und das geliebte Herz mit glühenden Zangen zwickte, und den es ärgerte, [499] daß ers nur tat, um den Kranken an den Beichtstuhl zu scheuchen, Heinrich fing den fliegenden Ärmel und erinnerte leise: »Ich hielt es für unhöflich, Hr. Frühprediger, es vorauszuschicken, daß der Kranke harthörig ist, und Sie zum Schreien anzufeuern – er hat bisher kein Wort vernommen – Hr. Siebenkäs, wer steht da? Sehen Sie, so wenig hört er – Arbeiten Sie einmal mich bei einem Glas Bier um, das gefället mir eher, und ich hör' auch besser. Ich sorge, er hat jetzt Phantasien und hält Sie, wenn er Ihrer ansichtig wird, für den Teufel, weil Sterbende mit solchem den letzten Fechtergang zu machen haben. – Schade ists, daß er die Rede nicht vernommen; sie würde ihn, denn beichten will er nicht, recht herzlich geärgert haben, und hinlängliche Ärgernis fristete nach dem 8ten Band von Hallers Physiologie Sterbenden oft das Leben auf Wochen. Eine Art wahrer Christ ist er aber doch, ob er gleich so wenig beichtete wie ein Apostel oder Kirchenvater; Sie sollen nach seinem seligen Hintritte von mir selber es hören, wie ruhig der rechte Christ verscheidet, ohne alle Verzuckungen und Verzerrungen und Todes-Ängsten; er ist ans Geistliche so gewöhnt wie die Schleiereule an die Kirchtürme; und so wie diese auf dem Glockenstuhl mitten unter dem Geläute sitzen bleibt: so bin ich Mann dafür, daß auch unser Advokat unter dem Anschlagen der Totenglocke gelassen verharren wird, weil er aus Ihren Frühpredigten die Überzeugung gewonnen, daß er nach dem Tode noch fortlebt.« – Es war freilich einiger harter Scherz über Firmians Schein-Sterben und Unsterblichkeit-Glauben in der Rede; ein Scherz, den nur ein Firmian zugleich verstehen und verzeihen konnte; aber Leibgeber wollte auch ernsthaft die Leute anfallen, welche zufällige Körperstille des Sterbenden für geistige nehmen und Körpersturm für Gewissensturm.

Reuel versetzte nichts als: »Sie sitzen, wo die Spötter sitzen, der Herr wird sie finden – meine Hände hab' ich gewaschen.« Da er sie aber noch lieber gefüllet hätte, und da er doch das Teufelskind in kein Beichtkind umsetzen konnte: so ging er rot und stumm davon, demütig von Lenette und Stiefel unter fortdauernden Verbeugungen hinabgeführt.

[500] Man mache die Gallenblase des guten Heinrichs, die seine Schwimmblase und leider oft seine aufsteigende hysterische Kugel ist, nicht größer als sie ist; sondern man richte über diesen Naturfehler darum gelinder, weil Heinrich schon an so vielen Sterbebetten solche geistliche frères terribles, solche Galgenpatres stehen sehen, die auf das sieche, welke Herz noch Salz ausstreueten, und weil er mit mir glaubte, daß der Religion unter allen Stunden des Menschen seine letzte die gleichgültigste sein müßte, da sie die unfruchtbarste ist und kein Same in ihr aufgeht, welcher Taten treibt. – –

Während der kleinen Entfernung des höflichen Paars sagte Firmian: »Ich bins satt, satt, satt – ich mache nun keinen Spaß mehr – in zehn Minuten sag' ich meine letzte Lüge und sterbe, und wollte Gott, es wäre keine. Lasse kein Licht hereinsetzen und hülle mich sogleich unter die Maske, denn ich seh' es schon voraus, ich werde meine Augen nicht beherrschen können, und unter der Larve kann ich sie doch weinen lassen, wie sie wollen o du mein Heinrich, mein Guter!« Das infusorische Chaos in Reuels Ermahnung hatte doch den müden Figuranten und Mimiker des Todes ernst und weich gemacht. Heinrich nahm – aus feiner, liebender Sorge – ihm alle Lügenrollen willig ab und machte sie selber; und rief daher ängstlich und laut, als das Paar in die Stube trat: »Firmian, wie ist dir?« – »Besser«, sagte dieser, aber mit einer gerührten Stimme, »– in der Erdennacht glimmen Sterne an, ach ich bin an den Schmutz geknüpft, und ich kann nicht hinauf zu ihnen – o das Ufer des schönen Frühlings ist steil, und wir schwimmen auf dem Toten Meer des Lebens so nahe am Ufer, aber die Eintagfliege hat noch keine Flügel.« – Der Tod, diese erhabene Abendröte unsers Thomastages, dieses herübergesprochene große Amen unserer Hoffnung, würde sich wie ein schöner, bekränzter Riese vor unser tiefes Lager stellen und uns allmächtig in den Äther heben und darin wiegen, würden nicht in seine gigantischen Arme nur zerbrochene, betäubte Menschen geworfen; nur die Krankheit nimmt dem Sterben seinen Glanz, und die mit Blut und Tränen und Schollen beschwerten und befleckten Schwingen des aufsteigenden Geistes hangen zerbrochen [501] auf den Boden nieder; aber dann ist der Tod ein Flug und kein Sturz, wenn der Held sich nur in eine einzige tötliche Wunde zu stürzen braucht; wenn der Mensch wie eine Frühlingwelt voll neuer Blüten und alter Früchte dasteht, und die zweite Welt plötzlich wie ein Komet nahe vor ihm vorübergeht und die kleine Welt unverwelkt mitnimmt und mit ihr über die Sonne fliegt. – –

Aber gerade jenes Erheben Firmians würde in schärfern Augen, als Stiefel hatte, ein Zeichen des Erstarkens und Genesens gewesen sein: nur vor dem Zuschauer, nicht vor dem Niedergebrochnen wirft die Streitaxt des Todes einen Glanz; es ist mit der Totenglocke wie mit andern Glocken, deren erhebendes Brausen und Tönen nur der Entfernte, und nicht der vernimmt, der selber in der summenden Halbkugel steht.

Da in der Sterbenstunde jede Brust aufrichtiger und durchsichtiger wird, wie der siberische Glasapfel in der Zeit der Reife nur eine gläserne Hülse, ein durchsichtiges süßes Fleisch über seine Kerne deckt: so wäre Firmian in jener dithyrambischen Stunde, so nahe an der blanken Schneide der Todessichel, imstande gewesen, alle Mysterien und Blüten seiner Zukunft aufzuopfern, d.h. aufzudecken, hätt' es nicht sein Wort und seinen Freund zugleich verletzt; – aber jetzo blieb ihm nichts gelassen als ein duldendes Herz, eine stumme Lippe und weinende Augen.

Ach, war denn nicht jeder scheinbare Abschied ein wahrer; und als er seinen Heinrich und den Schulrat mit zitternden Händen auf sein Herz herunterzog, wurde denn nicht das letzte von der traurigen Gewißheit gedrückt, daß er den Rat morgen und Heinrich in einer Woche auf ewig einbüße? Daher war folgende Anrede bloße Wahrheit, aber eine trübe: »Ach, wir werden auseinandergetrieben in kurzer Zeit – o, die menschlichen Arme sind morsche Bande und reißen so bald! – Nur geh' es euch recht wohl und besser, als ich es je verdiente: der chaotische Steinhaufe euerer Lebenstage rolle euch nie unter die Füße und nie auf den Kopf, und die Felsen und Klippen um euch überziehe ein Frühling mit Grün und Beeren! – Gute Nacht auf ewig, geliebter Rat! und du, mein Heinrich«... Diesen riß er an seinen Mund und schwieg im Kuß und dachte an die Nähe der wahren Scheidung.

[502] Aber er hätte durch diese Stacheln des Abschieds seinem Herzen keinen solchen fieberhaften Reiz erteilen sollen – er hörte seine verdeckte Lenette hinter seinem Bette weinen und sagte mit einem weiten Todesriß im gefüllten Herzen: »komm, meine teure Lenette, komm zum Abschied!« und breitete wild die Arme nach der unsichtbaren Geliebten aus – Sie wankte hervor und sank hinein bis an sein Herz – und er blieb stumm unter zermalmenden Gefühlen – und endlich sagte er leise zur Bebenden: »Du Geduldige, du Getreue, du Geplagte! wie oft hab' ich dir wehgetan! O Gott, wie oft! Wirst du mir vergeben? Willst du mich vergessen?« (Ein Krampf des Schmerzens drängte die Erschütterte fester an ihn.) »Ja, ja, vergiß mich nur ganz; denn du warst ja nicht glücklich bei mir«.... Die schluchzenden Herzen erstickten die Stimme, und nur die Tränen konnten strömen ein durstiger, saugender Schmerz schwoll auf dem ermattenden, ausgeleerten Herzen, und er wiederholte: »Nein, nein, bei mir hattest du wahrlich nichts, nichts, nur Tränen – aber das Schicksal wird dich beglücken, wenn ich dich verlassen habe.« Er gab ihr den letzten Kuß und sagte: »Lebe nun froh und lasse mich ziehen!« – Sie wiederholte unter tausend Tränen: »Du wirst ja gewiß nicht sterben.« Aber er drängte und hob die Zusammenfallende von seinem Herzen weg und rief feierlich: »Es ist vorüber- das Schicksal hat uns geschieden – es ist vorüber.« – Heinrich zog die Weinende sanft hinweg und weinte selber und verwünschte seinen Plan und winkte den Schulrat nach und sagte: »Firmian will jetzt ruhen!« Dieser kehrte sein schwellendes, von Qualen zerstochenes Angesicht ab gegen die Wand. Lenette und der Rat trauerten zusammen in der Stube – Heinrich wartete das Zusammensinken der hohen Wogen ab – dann fragt' er ihn leise: »Jetzt?« Firmian gab das Zeichen, und sein Heinrich schrie sinnlos: »o, er ist gestorben!« und warf sich mit wahren heißen Tränen, die wie Blut aus dem nahen, blutigen Risse stürzten, über den Unbeweglichen, um ihn gegen jede Untersuchung zu bedecken. Ein trostloses Paar stürzte aus der Stube ans zweite – Lenette wollte über den abgekehrten Gatten fallen und rief schmerzlich: »Ich muß ihn sehen, ich muß noch einmal Abschied nehmen von meinem[503] Mann.« Aber Heinrich befahl, vertrauend, dem Rate, die Trostlose zu halten und hinauszubringen. Das erste war er imstande wiewohl seine eigne Fassung nur eine erkünstelte war, die den Sieg der Religion über die Philosophie erweisen sollte –, aber er vermochte sie nicht hinauszuziehen, da sie sah, daß Heinrich die Todesmaske ergriff: »Nein«, rief sie zornig, »ich werde doch meinen Mann noch einmal sehen dürfen.« Heinrich hielt die Larve empor, drehte sanft Firmians Gesicht herum, auf dem noch die halb verwischten Tränen des Abschieds standen, und deckt' es mit ihr zu und trennte es durch sie auf ewig von dem weinenden Auge der Gattin. Der große Auftritt hob sein Herz, und er starrete die Maske an und sagte: »Eine solche Maske legt der Tod über alle unsere Gesichter – So strecke ich mich auch einmal im Mitternachtschlaf des Todes aus und werde verlängert und falle mehr ins Gewicht. – Du armer Firmian, war denn deine Lebens-Partie à la guerre der Lichter und der Mühe wert? Zwar wir sind nicht die Spieler, sondern die Spielsachen, und unsern Kopf und unser Herz stößet der alte Tod als einen Ball über die grünende Billardtafel in den Leichensack hinunter, und es klingelt mit der Totenglocke, wenn einer von uns gemacht wird. Du lebst zwar in einem gewissen Sinne noch fort 153 – wenn anders das Freskogemälde aus Ideen ohne Schaden von dem zerfallenden Körper-Gemäuer 154 abzunehmen ist –, o es möge dir da in deinem Postskript-Leben besser ergehen – Was ists aber? Es wird auch aus jedes Leben, auf jeder Weltkugel, brennet einmal aus – die Planeten alle haben nur Kruggerechtigkeit und können niemand beherbergen, sondern schenken uns einmal ein, Quittenwein Johannisbeersaft – gebrannte Wasser – meistens aber Gurgelwasser von Labewein, das man nicht hinunterbringt, oder gar sympathetische Dinte (d.i. liquor probatorius), Schlaftränke und Beizen – dann ziehet man weiter, von einer Planeten-Schenke in die andere, und reiset so aus einem Jahrtausend ins andere – [504] o du guter Gott, wohin denn, wohin, wohin? – Inzwischen war doch die Erde der elendeste Krug, wo meistens Bettelgesindel, Spitzbuben und Deserteure einkehren, und wo man die besten Freuden nur fünf Schritte davon, entweder im Gedächtnis oder in der Phantasie genießen kann, und wo man, wenn man diese Rosen wie andere anbeißet, statt anzuriechen und statt des Dufts das Blättermus verschluckt, wo man nichts davon hat als sedes 155..... O es gehe dir, du Ruhiger, in andern Tavernen besser, als es dir gegangen ist, und irgendein Restaurateur des Lebens mache dir ein Weinhaus auf statt des vorigen Weinessighauses!« –

Einundzwanzigstes Kapitel

Dr. Oelhafen und das medizinische Chaussieren –

Trauer-Administration – der rettende Totenkopf –

Friedrich II. und Standrede


Leibgeber quartierte vor allen Dingen die Leidtragende unten beim Haarkräusler ein, um dem Toten den mittlern Zustand nach dem Tode bequemer zu machen: »Sie sollen«, sagt' er zu ihr, »vor den traurigen Denkmälern um uns her so lange auswandern, bis der Selige weggebracht ist.« Sie gehorchte aus Gespensterfurcht; er konnte also dem Erblaßten leicht zu essen geben: er verglich ihn mit einer eingemauerten Vestalin, die in ihrem Erbbegräbnis eine Lampe, Brot, Wasser, Milch und Öl vorfand, nach dem Plutarch im Numa: »wenn du nicht (setzt' er hinzu) dem Ohrwurm gleichst, der sich, wenn er entzweigeschnitten ist, umkehrt, um seinen eignen Wrack zu verzehren.« – Er heiterte wenigstens wollt' ers – durch solche Scherze die wolkige und herbstliche Seele seines Lieblings auf, um dessen Auge lauter Trümmern des vorigen Lebens lagen, von den Kleidern der verwitibten Lenette an bis zu ihrem Arbeitzeug. Den Haubenkopf, den er unter dem Gewitter geschlagen, mußte man in einen unsichtbaren Winkel stellen, weil er ihm, wie er sagte, gorgonische Gesichter schnitte. [505] Am Morgen hatte der gute Leibgeber, der Leichenbesorger, die Arbeiten eines Herkules, Ixions und Sisyphus miteinander Es kam ein Kongreß und Pikett nach dem andern, um den Erblasser zu sehen und zu loben – denn man beklatschet die Menschen und die Schauspieler bloß im Weggehen und findet den Toten moralisch-, wie Lavater ihn physiognomisch-verschönert; aber er trieb das Volk von der Leichenkammer ab: »Mein sel. Freund«, sagt' er, »hat sichs in seinem Letzten ausgebeten.«

Dann trat die Zofe des Todes auf, die Leichenfrau, und wollte ihn abscheuern und anputzen; Heinrich biß sich mit ihr herum und bezahlte und exilierte sie. – Dann mußt' er sich vor der Witwe und dem Pelzstiefel anstellen, als stell' er sich an, als woll' er sein blutendes Herz mit einem äußern Entsagen bedecken; »ich sehe aber (sagte der Rat) leichtlich hindurch, und er affektiert den Philosophen und Stoiker nur, da er kein Christ ist.« – Stiefel meinte jene eitle Härte der Hof-und Welt-Zenos, die jenen hölzernen Figuren gleichen, denen eine angeschmierte Rinde von Steinstaub die Gestalt von steinernen Statuen und Säulen verleiht. – Ferner wurde die Leichenkuxe und Ausbeute oder Dividende aus der Leichenkasse erhoben, die vorher einen Pfennigmeister mit dem sammelnden Teller unter den Interessenten und Teilhabern der Körperschaft herumgejagt hatte. – Dadurch erfuhrs auch der Obersanitätrat Oelhafen, als zahlendes Mitglied. Dieser benützte seinen zur Kranken-Runde bestimmten Vormittag und verfügte sich ins Trauerhaus, um seinen Kunstbruder, Leibgeber, ungewöhnlich zu erbosen. Er stellte sich daher, als sei ihm von der Todes-Post nichts zu Ohren gekommen, und erkundigte sich zuerst nach des Kranken Befinden. – »Es hat sich nach dem neuesten Befundzettel (sagte Heinrich) ausbefunden: er ist selig eingeschlafen, Hr. Protomedikus Oelhafen – im August, März, September hat der Tod seinen Preßgang, seine Weinlese.« – »Das Temperierpulver«, versetzte der rachsüchtige Arzt, »hat, wie es scheint, die Hitze hinlänglich temperiert, da er kalt ist.« – Es tat Leibgebern weh, und er sagte: »Leider, leider! Inzwischen taten wir, was wir konnten, und brachten ihm Ihr Brechpulver hinunter – er gab aber nichts von sich als die [506] schlimmste Krankheitmaterie des Menschen, die Seele. Sie sind, Hr. Protomedize, Zent- oder Fraisherr, mit dem Gericht über Blutrunst oder mit der hohen Frais beliehen; da ich aber als Advokat nur die niedere Gerichtbarkeit ausübe: so durft' ich auf keine Weise etwas wagen, am wenigsten das Leben des Mannes, oder was würde er sonst nicht für ein Gesicht dazu gemacht haben.«

»Nu, er hat auch eins dazu gemacht, und ein langes, das hippokratische«, versetzte nicht ohne Witz der Arzt; – freundlich erwiderte jener: »Ich muß es Ihnen glauben, da ich als Laie dergleichen Gesichter selten zu sehen kriege, Ärzte aber die hippokratische Physiognomik täglich bei ihren Kranken treiben können; wie denn der Arzt von Praxis sich durch einen gewissen Scharfblick auszeichnet, womit er den Tod seiner Patienten voraussagt; eine Unmöglichkeit für jeden andern, der kein Heilkünstler ist und nicht viele hat abfahren sehen.«

»Sie als ein so exzellenter Kunstverständiger«, fragte Oelhafen, »haben natürlicherweise Senfpflaster dem Kranken auf die Füße appliziert; nur daß sie freilich nicht mehr zogen?«

»Auf die Gedanken und Sprünge – versetzte Leibgeber – kam ich wohl, dem Seligen kunstgemäß die Füße mit Senf und Sauerteig zu besohlen und die Waden mit Zugpflastern zu tapezieren; aber der Patient, von jeher, wie Sie wissen, ein spöttischer Patron, nannte dergleichen das medizinische Chaussieren und dabei uns Ärzte die Schuster des Todes, die dem armen Kranken, wenn die Natur schon ihm zugerufen: ›gare, Kopf weg!‹ noch spanische Fliegen als spanische Stiefel anlegten, Senfpflaster als Kothurne, Schröpfköpfe als Beinschellen, als wenn ein Mann nicht ohne diese medizinische Toilette und ohne rote Absätze von Senf-Fersen und ohne rote Kardinalstrümpfe von Zugpflastern in die zweite Welt einschreiten könnte. Dabei stieß der Selige mit den Füßen künstlich nach meinem Gesichte und dem Pflaster; und verglich uns Kunstverständige mit Stechfliegen, die sich immer an die Beine setzen.«

»Er mag wohl bei Ihnen mit der Stechfliege recht gehabt haben; auch Ihrem Kopfe – caput tribus insanabile – könnte ein [507] Schuster des Todes unten etwas anmessen«, versetzte der Doktor und verfügte sich schleunigst davon.

Ich habe oben etwas von dessen Brechmitteln fallen lassen; diesem füg' ich nun bei: richtet er wirklich mit ihnen hin, so bleibt immer der Unterschied zwischen ihm und einem Fuchs 156, daß dieser von weitem, nach den alten Naturforschern, sich – um Hunde zu locken und anzufallen – anstellt, als vomiere ein Mensch. Gleichwohl muß der größte Freund der Ärzte gewisse Einschränkungen ihres peinlichen Gerichts oder Königsbannes anerkennen. Wie nach dem europäischen Völkerrecht kein Heer das andere mit gläsernen oder giftigen Kugeln niederschießen darf, sondern bloß mit bleiernen; wie ferner keines in feindliche Lebenmittel und Brunnen Gift einwerfen darf, sondern nur Dreck: so verstattet die medizinische Polizei einem (die obere Gerichtbarkeit) ausübenden Arzte zwar narcotica, drastica, emetica, diuretica und die ganze Heilmittellehre zu seinem freien Gebrauch, und es wäre sogar polizeiwidrig, wenn man ihn nicht machen ließe; hingegen wollt' es der größte Stadt- und Landphysikus wagen, seinem Gerichtbezirke statt der Pillen ordentliche Giftkugeln, statt heftiger Brechpulver Rattenpulver einzugeben: so würde es von den obersten Justizkollegien ernsthaft angesehen werden er müßte denn den Mausgift bloß gegen das kalte Fieber verschreiben –; ja ich glaube, ein ganzes medizinisches Kollegium würde nicht von aller Untersuchung frei bleiben, sucht' es einem Menschen, dem es mit Lanzetten jede Stunde die Adern öffnen darf, solche mit dem Seitengewehr zu durchstechen und ihn mit einem Instrument, das ein kriegerisches, aber kein chirurgisches ist, über den Haufen zu stoßen: so findet man auch in den Kriminalakten, daß Ärzte nicht durchkamen, die einen Menschen von einer Brücke ins Wasser stürzten – anstatt in ein kleineres, entweder mineralisches oder anderes Bad.

Sobald der Friseur von dem Einlaufen der Leichenlotterie-Gelder in den Nothafen vernommen hatte: so kam er herauf und erbot sich, seinem entschlafnen Hausmann einige Locken und einen Zopf zu machen und ihm den Kamm und die Pomade mit [508] unter die Erde verabfolgen zu lassen. Leibgeber mußte für die arme Witwe sparen, die ohnehin unter so vielen Freßzangen und Geierfängen und Fangzähnen der Leichendienerschaft schon halb entfiedert dastand, – und er sagte, er könne nichts, als ihm den Kamm abkaufen und in die Westentasche des Erblaßten stecken, dieser könne sich damit die Frisur nach seinem Gefallen machen. Dasselbe sagte er auch dem Bader und fügte noch bei, im Grabe, worin bekanntlich die Haare fortwachsen, trüge ohnehin die ganze geheime und fruchtbringende Gesellschaft, gleich 60jährigen Schweizern, schöne Bärte. Diese beiden Haar-Mitarbeiter, die sich als zwei Uranus-Trabanten um die nämliche Kugel bewegen, zogen mit verkürzten Hoffnungen und verlängerten Gesichtern und Beuteln ab, und der eine wünschte, er hätte jetzt im Gefühle der Dankbarkeit den Leichenbesorger Heinrich zu balbieren, und der andere, ihn zu frisieren. Sie murmelten auf der Treppe: so wär' es nachher kein Wunder, daß der Tote im Grabe nicht ruhte, sondern herumginge und schreckte.

Leibgeber dachte an die Gefahr, den Lohn der langen Täuschung einzubüßen, wenn jemand, während er nur etwan in der nächsten Stube sei – denn bei jedem längern Ausgang schloß er die Tür ab –, nach dem sel. Herrn sehen wolle. Er ging daher auf den Gottesacker und steckte aus dem Beinhause einen Totenkopf unter den Überrock. Er händigte ihn dem Advokaten ein und sagte ihm: wenn man den Kopf unter das grüne Gitterbette – worin defunctus lag – schöbe und mit einem grünen Seidenfaden in Verbindung mit seiner Hand erhielte, so könnte der Kopf doch wenigstens im Finstern als eine Bélidorsche Druckkugel, als ein Eselkinnbacke gegen Philister hervorgezogen werden, die man zurückzuschrecken hätte, wenn sie warme Tote in ihrer Ruhe stören wollten. Freilich im höchsten Notfall wäre Siebenkäs aus seiner langen Ohnmacht wieder zu sich gekommen und hätte – wobei noch dazu den medizinischen Systemen ein Gefallen geschehen wäre – den Schlagfluß zum dritten Male repetiert; – indessen war doch der Totenkopf besser als der Schlag. Firmian hatte eine wehmütige Empfindung beim Anblick dieser Seelen-Mansarde, dieses geistigen, kalten Brütofens, und sagte: [509] »Der Mauerspecht 157 hat sicherer darin ein weicheres, ruhigeres Nest als der ausgeflogene Paradiesvogel.«

Leibgeber hausierte nun bei der Kirchen- und Schul-Dienerschaft und trug die Stolgebühren, den Brückenzoll, unter leisen Flüchen ab und sagte: übermorgen in aller Stille bringe man ohne Sang und Klang den Seligen zur Ruhe; es hatte niemand etwas dabei zu tun als das, was sie willig taten – das Postporto, womit man die Leichen in die andere Welt frankieret, einzustecken, einen alten armen Schuldiener ausgenommen, der sagte, er hielt' es für Sünde, einen Kreuzer von der dürftigen Witwe zu nehmen, denn er wisse, wie Armut tue. Das konnten aber die Reichern eben nicht wissen.

Abends ging Heinrich zum Friseur und zu Lenetten hinab und ließ den Schlüssel an der Türe, weil die oben herum wohnenden Mietleute seit dem neulichen Geistergerüchte viel zu furchtsam waren, um nur aus der ihrigen den Kopf zu stecken. Der Haarkräusler, der noch zornig war, daß er das Haarwerk des Verstorbenen nicht kräuseln dürfen, verfiel auf den Gedanken, es wäre doch etwas, wenn er hinaufschliche und den Haar-Forst gar abtriebe. Der Vertrieb von Haaren und von Brennholz – zumal da man jene zu Ringen und Lettern schlingt – ist stärker als ihr Nachwuchs, und man sollte keinem Verstorbenen einen Sarg oder ein eignes Haar lassen, das schon die Alten für den Altar der unterirdischen Götter wegschoren. – Merbitzer wiegte sich daher auf den Zehen in die Stube und hielt schon die Freßzangen der Schere aufgezogen. Siebenkäs schielte in der Kammer leicht aus den Augenhöhlen der Maske und erriet aus der Schere und aus der Gewerkschaft des Hausherrn das nahende Unglück und Popens Lockenraub. Er sah, in dieser Not konnt' er weniger auf seinen Kopf als auf den kahlen unter dem Bette zählen. Der Hausherr, der furchtsam hinter sich die Türe zum Rückzug aufgesperret gelassen, rückte endlich an die Pflanzung menschlicher Scherbengewächse und hatte vor, in diesem Erntemonat als Schnitter zu verfahren und den Bartscherer mit dem Haarkräusler zu vereinigen und zu rächen. Siebenkäs spulte mit den bedeckten [510] Fingern, so gut er konnte, um den Totenkopf herauszuhaspeln; da das aber viel zu langsam ging – Merbitzer hingegen zu hurtig –, so mußt' er sich dadurch einstweilen helfen, daß er unter der Zwischenzeit – besonders da böse Geister den Menschen so häufig anhauchen – dem Hausherren einen langen Nachtwind aus der Mundspalte der Larve entgegenblies. Merbitzer war nicht imstand, sich das bedenkliche Gebläse zu erklären, das ihm wahre Stickluft und einen tödlichen Samiel-Wind entgegentrieb, und seine warmen Bestandteile fingen an, zu einem Eiskegel anzuschießen. Aber leider hatte der Selige den Atem bald verschossen, und er mußte die Windbüchse langsam von frischem laden. Dieser Stillestand brachte den Lockenräuber wieder zu sich und auf die Beine, so daß er neue Anstalten traf, den Troddelwipfel der Nachtmütze anzufassen und diesen dünnen, fliegenden Sommer, die Mütze, der Haar-Flur abzuziehen. Aber mitten im Greifen vernahm er, daß unter dem Bette sich etwas in Gang setze – er hielt still und wartete es gelassen ab – da es eine Ratte sein konnte –, in was sich etwan das weitere Getöse auflöse. Aber unter der Erwartung verspürt' er plötzlich, daß sich etwas Rundes an seinen Schenkeln heraufdrehe und daran aufwärts dringe. Er griff sogleich mit der leeren Hand – denn die andere hielt die Schere offen – hinab, und diese legte sich ohnmächtig wie ein Tasterzirkel um die steigende, schlüpferige Kugel an, die an ihr immer heben wollte. Merbitzer wurde zusehends beinhart und klößig – aber ein neues Aufheben der liegenden Hand und ein Blick auf den kommenden Knauf teilten ihm, bevor er sich käsig und geronnen zu Boden setzte, einen solchen Fußstoß des Schreckens mit, daß er leicht über die Stube flog, wie ein Kernschuß dahingetrieben vom Kartaunenpulver der Angst. – Er setzte unten mitten in die Stube hinein mit aufgesperrter Schere in der Hand, mit aufgesperrtem Maul und Auge und mit einem Bleichplatz auf dem Gesichte, wogegen seine Wäsche und sein Puder Hoftrauer waren; gleichwohl hatt' er in dieser neuen Stellung so viel Besonnenheit – welches ich ihm gern zur Ehre berichte –, daß er kein Wort vom ganzen Vorgang entdeckte; teils weil man Geistergeschichten ohne den größten Schaden [511] nicht vor dem neunten Tage erzählen darf; teils weil er die Haarschur und Kaperei an keinem Tage überhaupt erzählen konnt Firmian machte seinem Freund nachts um 1 Uhr die ganze Sache mit der Treue bekannt, die ich jetzt selber gegen den Leser zu beobachten gesucht. – Dies gab Leibgebern den guten Fingerzeig, vor die hohe Leiche eine tüchtige Leichenwache zu stellen, zu welcher er in Ermanglung von Kammerherrn und andern Hofbedienten niemand anstellen konnte als den Saufinder.

Am letzten Morgen, der unserem Siebenkäs, die Hausmiete aufkündigen sollte, kam die casa santa des Menschen, unsere chambre garnie, unsere letzte Samenkapsel, der Sarg, für den man zahlen mußte, was begehret wurde. »Es ist die letzte Baubegnadigung dieses Lebens, der letzte Betrug der Zimmerleute«, sagte Heinrich.

In der Nachmitternacht, um 12 1/2 Uhr, als keine Fledermaus, kein Nachwächter, kein Biergast, kein Nachtlicht mehr zu sehen war – und bloß noch einige Feldgrillen in Garben und einige Mäuse in Häusern zu hören –, sagte Leibgeber zum bangen Geliebten: »Jetzt marschier ab! Du warst ohnehin, seitdem du das Sterbliche ausgezogen und in die Ewigkeit gegangen bist, nicht eine Minute selig und fröhlich. Ich sorge für das übrige. Warte auf mich in Hof an der Saale; wir müssen uns nach dem Tode noch einmal wiedersehen.« Firmian legte sich schweigend und weinend an sein warmes Angesicht. Er durchlief in der dämmernden Stunde noch einmal alle blühende Stätten der Vergangenheit, hinter denen er wie in eine Gruft versank, sein erweichtes Herz legte gern auf jedes Kleid seiner trüben, geraubten Lenette, auf jede Arbeit und Spur ihrer häuslichen Hand die letzten Tränen nieder – er steckte ihren Verlobungsstrauß aus Rosen und Vergißmeinnicht hart an die heiße Brust und drückte die Rosenknospen Nataliens in die Tasche – und so schlich er stumm, zerdrückt, mit überwältigtem Schluchzen und gleichsam durch ein Erdbeben aus der Erde hinausgeworfen an die Eisküste einer fremden, die Treppe hinter seinem besten Freunde hinab, drückte ihm unter der Haustür die helfende Hand, und die Nacht bauete ihn bald mit dem Grabhügel ihres großen Schatten zu. – Leibgeber [512] weinte herzlich, sobald er verschwunden war; Tropfen fielen auf jeden Stein, den er einsteckte, und auf den alten Block, den er in die Arme auffassete, um in die Sarg-Muschel das Gewicht eines Leichnams einzubetten. Er füllete den Hafen unsers Körpers und sperrte die Bundeslade zu und hing sich den Sargschlüssel wie ein schwarzes Kreuzchen auf die Brust. – Jetzo schlief er das erstemal im Trauerhause ruhig: alles war getan.

Am Morgen macht' er kein Geheimnis vor den Trägern und vor Lenetten daraus, daß er den Leichnam mit großer Mühe mit seinen zwei Armen eingesargt. Sie wollte ihren sel. Herrn noch einmal sehen; aber Heinrich hatte den Hausschlüssel zum bunten Gehäuse in der Finsternis verworfen. Er half, indem er den Schlüssel herumtrug, darnach eifrig suchen – aber es war ganz vergeblich, und viele Umherstehende mutmaßten bald, Heinrich betrüge bloß und wolle nur den verweinten Augen der Witwe nicht gern noch einmal den zusammengehäuften Stoff des Schmerzes zeigen. Man zog mit dem blinden Passagier im Quasi-Sarg hinaus auf den Kirchhof, der im Tau unter dem frischen blauen Himmel glimmte. In Heinrichs Herz kroch eine eiskalte Empfindung herum, als er den Leichenstein durchlas. Er war vom herrnhutischen plattierten Grabe des Großvaters Siebenkäsens abgehoben und umgestürzt, und auf der glatten Seite glänzte die eingehauene Grabschrift: »Stan. Firmian Siebenkäs ging 1786 den 24. August...« Dieser Name war sonst Heinrichs seiner gewesen, und sein jetziger »Leibgeber« stand unten auf der Kehrseite des Monuments. Heinrich dachte daran, daß er in einigen Tagen mit weggeworfnem Namen als ein kleiner Bach in das Weltmeer falle und darin ohne Ufer fließe und in fremde Wellen zergehe – es kam ihm vor, daß er selber mit seinem alten und neuen Namen herunterkomme in die Grube; – da wurde ihm so gemischt zu Mute, als sei er auf dem eingefrorenen Strom des Lebens angewachsen, und droben steche eine heiße Sonne auf das Eisfeld herab, und er liege so zwischen Glut und Eis. – Noch dazu kam jetzt der Schulrat gelaufen, mit dem Schnupftuch an der Nase und an den Augen, und teilte im stotternden Schmerze die eben im Marktflecken eingelaufene Neuigkeit mit, daß der alte [513] König in Preußen den 17ten dieses verstorben sei. – Die erste Bewegung, die Leibgeber machte, war, daß er auf zur Morgensonne sah, als werfe aus ihr Friedrichs Auge Morgenfeuer über die Erde. – – Es ist leichter, ein großer als ein rechtschaffener König zu sein; es ist leichter, bewundert als gerechtfertigt zu werden; ein König legt den Ohrfinger an den längsten Arm des ungeheuern Hebels und hebt, wie Archimedes, mit Fingermuskeln Schiffe und Länder in die Höhe, aber nur die Maschine ist groß – und der Maschinist, das Schicksal – aber nicht der, der sie gebraucht. Der Laut eines Königs hallet in den unzähligen Tälern um ihm als ein Donner nach, und ein lauer Strahl, den er wirft, springt auf dem mit unzähligen Planspiegeln überdeckten Gerüste als glühender dichter Brennpunkt zurück. Aber Friedrich konnte durch einen Thron höchstens – erniedrigt werden, weil er darauf sitzen mußte, und ohne die so eng umschließende Krone, den Stachelgürtel und Zauberkreis des Kopfes, wäre dieser höchstens – größer geworden; und glücklich, du großer Geist, konntest du noch weniger werden; denn ob du gleich in deinem Innern die Bastille und die Zwinger der niedrigern Leidenschaften abgebrochen, ob du gleich deinem Geiste das gegeben, was Franklin der Erde, nämlich Gewitterableiter, Harmonika und Freiheit; ob du gleich kein Reich schöner fandest und lieber ausdehntest als das der Wahrheit; ob du dir gleich von der Hämlings-Philosophie der gallischen Enzyklopädisten nur die Ewigkeit, nicht die Gottheit verhängen ließest, nur den Glauben an Tugend, nicht deine eigene: so empfing doch deine liebende Brust von der Freundschaft und von der Menschheit nichts als den Widerhall ihrer Seufzer – die Flöte –, und dein Geist, der mit seinen großen Wurzeln, wie der Mahagonibaum, oft den Felsen zertrieb, worauf er wuchs, dein Geist litt am grellen Kampfe deiner Wünsche mit deinen Zweifeln, am Kampfe deiner idealen Welt mit der wirklichen und deiner geglaubten, ein Mißlaut, den kein milder Glaube an eine zweite sanft verschmelzte, und darum gab es auf und an deinem Thron keinen Ort zur Ruhe als den, den du nun hast. – –

Gewisse Menschen bringen auf einmal die ganze Menschheit [514] vor unser Auge, wie gewisse Begebenheiten das ganze Leben. Auf Heinrichs aufgedeckte Brust sprangen scharfe Splitter des niedergesunkenen Gebirges, dessen Erdfall er vernahm.


Er stellte sich an das offne Grab und hielt diese Rede, mehr an unsichtbare Zuhörer als an sichtbare: »Also die Grabschrift ist die versio interlinearis des so kleingedruckten Lebens? – Das Herz 158 ruhet nicht eher, als bis es so wie sein Kopf in Gold gefasset ist? – Du verborgner Unendlicher, mache das Grab zum Souffleurloch und sage mir, was ich denken soll vom ganzen Theater! Zwar was ist im Grabe? Einige Asche, einige Würmer, Kälte und Nacht – – beim Himmel, oben darüber ist auch nichts Bessers, ausgenommen daß mans noch dazu fühlet. – Hr. Rat, die Zeit sitzt hinter unsereinem und lieset den Lebens-Kalender so kursorisch und schlägt einen Monat nach dem andern um, daß ich mir vorstellen kann, dieses Grab, dieser Schloßgraben hier um unsere Lustschlösser, dieser Festunggraben stehe verlängert neben meinem Bette, und man schüttele mich aus dem Betttuche, wie herabgeschüttelte aufgefaßte spanische Fliegen, in dieses Kochloch – – nur zu, würd' ich sagen – nur zu, ich komme entweder zum Alten Fritz oder zu seinen Würmern – und damit basta! Beim Himmel! man schämt sich des Lebens, wenn es die größten Männer nicht mehr haben – Und so holla!« –

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Durchreise durch Fantaisie – Wiederfund auf dem Bindlocher Berg – Berneck, Menschen-Verdoppeln – Gefrees, Kleiderwechsel – Münchberg, Pfeifstück – Hof, der fröhliche Stein und Doppel-Abschied samt Töpen


Heinrich bewegte jetzo mehre Flügel als ein Seraphim, um seinem Freunde früher nachzufliegen. Eilig packt' er die Schreibereien desselben ein und überschrieb sie nach Vaduz – das zu gesiegelte Testament des Landschreibers wurde der Orts-Obrigkeit übergeben – von dieser wurden die Totenscheine ausgestellt, damit die preußische Witwenkasse sähe, daß man sie nicht betröge[515] – und dann stieß er ab und stellete noch einige wichtige Trostgründe und einige wichtige Dukaten der gebeugten Strohwitwe zu, die in ihrem grillierten Kattun so trauerte, wie sichs gehört.

Lasset uns jetzt früher als er seinen Verstorbenen einholen und begleiten. In der ersten Stunde des Nachtganges kämpften in Firmians Herzen noch verworrene Bilder der Vergangenheit und der Zukunft durcheinander, und ihm war, als gäb' es für ihn gar keine Gegenwart, sondern zwischen Vergangen und Zukünftig sei Ode. Aber bald gab der frische reiche Erntemonat August ihm das weggespielte Leben zurück, und als der glänzende Morgen kam: so lag die Erde vor ihm sanft erhellet mit einem niedergefallenen Donnerwetter, das nur noch schönere Blitze aus Tropfen der Ähren warf, wie von einem Monde überschienen – es war eine neue Erde, er ein neuer Mensch, der durch die Eierschale des Sarges mit reifen Flügeln durchgebrochen war – o eine breite, sumpfige, überschattete Wüste, in der ihn ein langer, schwerer Traum herum getrieben, war mit dem Traum zersprungen, und er blickte weit und wach ins Eden – lang, lang hatte besonders die letzte Woche die Krümmungen des Leidens ausgedehnet, die unserem kleinen Leben eine Überlänge anlügen, wie man den kurzen Gängen eines Gartens durch Krümmungen derselben eine täuschende Ausdehnung zuteilt. Auf der andern Seite wurde seine leichtere, von alten Lasten entladene Brust durch einen großen Seufzer halb bang, halb froh geschwellet – er war nämlich zu weit in die Trophonius-Höhle des Grabes gegangen und hatte den Tod zu nahe gesehen – daher kam es ihm vor, als lägen um den Vulkan des Grabhügels mit seinem Krater die Landhäuser und unsere Lustschlösser und Weingärten angebauet, und die nächste Nacht verschütte sie. Er schien sich allein, ausgehoben und ein verstorbner Wiederkömmling zu sein, und daher glänzte ihn jedes Menschengesicht an wie das eines wiedergefundenen Bruders: »es sind meine auf der Erde zurückgelassenen Geschwister«, sagte sein Herz, und eine frühlingwarme, fruchtbare Liebe dehnte darin alle Fibern und Adern aus, und es wuchs um jedes fremde mit weichen festen Efeutrieben verstrickend herum, [516] aber das teuerste fehlte ihm noch zu lange; er zog daher recht langsam weiter, damit ihn Leibgeber, vor welchem er Weg und Zeit voraushatte, früher einholen könnte als in der Stadt Hof. Hundertmal wandt' und sah er sich unterwegs fast unwillkürlich nach dessen Nachschreiten und Einholen um, als wäre dieses schon jetzo zu sehen.

Endlich langte er in der Baireuther Fantaisie an einem Morgen an, wo die Welt glänzte von den Tautröpfchen an bis zu den Silberwölkchen hinauf; aber still war es überall; alle Lüftchen schwiegen, und der August hatte in seinen Büschen und in seinen Lüften keine Sänger mehr. Ihm war, als durchwandle er als Abgeschiedner von den Sterblichen eine zweite verklärte Welt, wo die Gestalt seiner Natalie mit Augen der Liebe, mit Worten des Herzens frei ohne Erdenfesseln neben ihm gehen und ihm sagen durfte: »Hier hast du dankbar zur Sternennacht aufgeblickt hier hab' ich dir mein wundes Herz gegeben – hier sprachen wir die irdische Trennung aus – und hier war ich oft allein und dachte mir das kurze Erscheinen.« – »Aber hier«, sagte er zu sich, als er vor dem schönen Schlosse stand, »hat sie zuletzt geweint im schönen Tale, weil sie von ihrer Freundin schied.«

Jetzo war allein sie die Verklärte; er war sich bloß der Zurückgebliebene, der zu ihr hinübersah. Er fühlt' es, daß er sie nicht mehr sehe auf der Welt; aber die Menschen, sagt' er sich, müssen sich lieben können, ohne sich zu sehen. Seine ganze karge Zukunft wird bloß von verklärten Traumbildern erleuchtet. Aber wie der Baum (nach Bonnet) so gut in die Luft oder den Himmel gepflanzt ist als in die Erde und sich aus beiden nährt: so der rechte Mensch überhaupt; und so lebte Firmian noch mehr künftig als bisher nur mit wenigen Wurzelästen seines Selbst in der sichtbaren Erde; der ganze Baum mit Zweigen und Gipfel stand im Freien und sog mit seinen Blüten an der Himmelluft, wo ihn eine bloß unsichtbare Freundin und ein unsichtbarer Freund erquicken sollten.

Endlich verdickte sich der schöne Duft des Träumens zu einem Nebel. Nataliens Trauer über sein Sterben schwebte ihm vor, und sein Einsamsein drückte auf das Herz, und die von [517] Liebe wundgepreßte Brust schmachtete unsäglich nach einem lebendigen Wesen, das da stände und ihn herzlich liebte; aber dieses Wesen lief erst hinter seinem Rücken und suchte ihn zu erreichen, sein Heinrich.

– »Herr Leibgeber«, rief plötzlich eine nachlaufende Stimme, »so stehen Sie doch! Ich bring' Ihnen Ihr Schnupftüchlein wieder, ich hab' es drunten gefunden.«

Er blickte sich um, und dasselbe Mädchen, das Natalie aus dem Wasser gezogen, lief ihm mit einem weißen Schnupftuch entgegen. Da er nun seines noch hatte und die Kleine ihn verwundert überschauete und sagte, es sei ihm vor einer Stunde unten am Bassin herausgefallen, aber er habe keinen so langen Rock angehabt: so stürzte ein Freudenguß in sein Herz – Leibgeber war nachgekommen und unten gewesen.

Im Sturme und mit dem Schnupftuche lief er nach Baireuth. Das Tuch war feucht, als wären die weinenden Augen seines Freundes darin gewesen; er drückte es auf seine eignen heißen, aber er konnte sie nicht mehr damit trocknen; denn er malte sich aus, wie Heinrich in der Einsamkeit lebe und seinen eignen Ausspruch bewähre: wer das Gefühl schont und verpanzert, der er hält es am empfindlichsten, wie unter dem Fingernagel die wundeste Gefühlhaut liegt. – Im Gasthofe zur Sonne vernahm er vom Kellner Johann, Leibgeber sei wirklich angekommen und vor einer halben Stunde abgegangen. Rechts und links blind und taub rannte Firmian ihm nach auf der Höfer Straße und mit einem solchen stürmischen Verfolgen des Freundes, daß ihn nicht einmal das feuchte Tuch mehr beschäftigte.

Spät erblickte er ihn auf der hinter dem Dorfe Bindloch aufsteigenden langen Anhöhe, einer Bergstraße im eigentlichen Sinne, auf der weder ab- noch aufwärts zu eilen war. Nach Vermögen schnell watete Leibgeber hinauf, um den Advokaten unerwartet einzuholen schon vor Hof, etwan in Münchberg oder in Gefrees, wenn nicht gar in Berneck, das wenige Post-Stunden von Baireuth abliegt.

Aber sollte alles nicht noch zehnmal besser gehen? Erblickte nicht Siebenkäs am Fuße des Berges ihn endlich oben unweit der [518] Gipfelebene und rief seinen Namen, und er hörte es nicht? Lief er nicht außerordentlich mit dem Schnupftuch in der Hand dem langsamen bergmüden Freunde nach, und kehrte dieser sich oben nicht zufällig und zum Überschauen der sonnigen Landschaft um und sah ganz Baireuth, ja zuletzt gar den – laufenden Freund? – Und stießen endlich nicht beide, der eine bergab, der andere bergauf eilend, aneinander, aber nicht wie zwei feindliche Heere, sondern wie zwei bekränzte schäumende Becher der Freude und der Freundschaft? –

Heinrich nahm bald wahr, daß in der Brust seines Freundes viel Gewaltsames und Auflösendes, vergangene und künftige Zeit, durcheinander arbeite; er suchte daher alle »Najaden der Tränenwellen« zu versöhnen und zu besänftigen. »Alles ging göttlich, und jedermann war gesund«, sagte er, »jetzo bist du frei wie ich – die Ketten sind abgetan – die Welt ist aufgemacht – da fahre nur recht frisch hinein wie ich und hebe dein Leben ordentlich erst an.« – »Du hast recht«, sagte Firmian, »ich habe ein Wiedersehen wie nach dem Tode, heiter und still und warm steht der Himmel über uns.« Er hatte deshalb auch nicht den Mut, nach seinen Hinterbliebenen, besonders nach der Witwe zu fragen. Leibgeber äußerte viele Freude, daß er ihn schon vier Poststationen vor Hof eingeholt und jagdbar gemacht; und es sei ihm dies um so lieber, da er sich auf diese Weise noch recht lange von ihm könne begleiten lassen, bevor sie in Hof auseinander müßten; welches letzte eigentlich das war, was er sagen und einschärfen wollte.

Jetzo fingen nun – um jeder wechselseitigen Rührung vorzubauen – seine Scherze über das Sterben an, die ordentlich wie Meilenzeiger oder Steinbänke auf der Kunststraße bis Hof fortgingen und die wir alle auf dieser Reise mitnehmen müssen, wenn wir nicht umkehren wollen. Er fragte ihn, ob die Diäten zugelangt, die er ihm, wie die alten Deutschen und Römer und Ägypter ihren andern Toten, mitgegeben – er gestand, Firmian müsse sehr fromm sein, da er, als er kaum das Sterbliche ausgezogen, schon wieder von Toten auferstanden sei; und er bestätigte Lavaters Lehre, daß es zwei Auferstehungen gebe, die frühere[519] für die Frommen, die spätere für die Gottlosen. Er brachte ferner bei: »Du hättest nach deinem tödlichen Hintritt keinen besseren Archimimus 159 haben können als mich; und jede Fliege, die ich auf deiner Hand weglaufen sah, war in meinen Augen ein Schirmvogt der Römer, die es wohl einsahen, daß der Vogt nichts auf der Hand zu machen habe, und daher einen Knaben mit einem Fliegenwedel vor jeden Toten postierten, was ich sündlich unterlassen habe.« – Leibgebers Geist und Körper sprangen mehr als sie gingen: »Ich bin fröhlich und frei«, sagt' er, »solang' ich im Freien bin – unter den Wolken hab' ich keine Wolken. – In der Jugend pfeifet einem der rauhe Nordwind des Lebens nur auf den Rücken; und beim Himmel, ich bin jünger als ein Rezensent.«

In Berneck übernachteten sie zwischen den hohen Brückenpfeilern von Bergen, zwischen welchen sonst die Meere schossen, die unsere Kugel mit Gefilden überzogen haben. Die Zeit und die Natur ruhten groß und allmächtig nebeneinander auf den Grenzen ihrer zwei Reiche – zwischen steilen, hohen Gedächtnissäulen der Schöpfung, zwischen festen Bergen zerbröckelten die leeren Bergschlösser, und um runde grünende Hügel lagen Felsen-Barren und Stein-Schollen, gleichsam die zerschlagenen Gesetztafeln der ersten Erdenbildung.

Beim Eintritt sagte Heinrich: »Die Pfarrer von hier bis Vaduz müssen nicht wissen, daß du das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt hast: sonst würden sie dir die Stolgebüren abfodern, die jede Leiche in jedem Pfarrort entrichten muß, wodurch sie geht. – Wären wir im alten Rom und nicht in Berneck«, sagte er vor dem Wirtshaus, »so ließe dich der Wirt nirgends ins Haus als durch den Rauchfang; – und wärs in Athen: so brauchtest du, gerade als wenn du in ein geistliches Amt wolltest, bloß durch einen Reifrock zu kriechen 160.« – Er konnte in einem solchen Fall voll Witz nie aufhören – welches ihn zu seinem Nachteil von mir unterscheidet – und sagte, es sei mit Gleichnissen und Ähnlichkeiten [520] wie mit Goldstücken, von denen Rousseau sagt, das erste sei schwerer zu erhalten als das nächste Tausend.

Daher stand es nicht in seinem Vermögen, abends keinen Einfall zu haben, als er den Advokaten die Nägel beschneiden sah: »Ich begreife nicht, da ichs an dir sehe, warum sichs Katharina Vicri, der man 50 Jahre nach ihrem Tode die Nägel sauber abkneipen müssen, nicht so gut selber getan hat wie du jetzt nach deinem Geistaufgeben.« Und als er ihn im Bette sich auf die linke Seite kehren sah: bemerkte er bloß, der Armenadvokat lasse gerade sein Oberbette so auf-und niedersteigen wie der Evangelist Johannes seines 161 aus Erde, das Grab, noch bis auf diese Stunde.

Am Morgen regnete es ein wenig in diese Blumen des Scherzes. Der Advokat hatte, als Leibgeber seine löwenhaarige Brust kalt wusch, einen kleinen Schlüssel zurückschieben sehen und gefragt, was er sperre. – »Auf– nichts«, sagte er, »aber zu – hat er das plombierte Cenotaphium 162 gesperrt.« Firmian mußte sich mit den Augen über das Fenster herauslehnen und sie ungesehen trocknen; dann sagte er, mit dem Kopfe draußen: »Gib mir den Schlüssel – es ist der in Wachs gedrückte eines künftigen – ich will ihn zum Musikschlüssel meiner innern Töne machen und will ihn hinhängen und täglich ansehen, und wenn mein Vorsatz, besser zu werden, etwan abgelaufen ist, will ich ihn mit diesem Uhrschlüssel wieder aufziehen.« Er bekam ihn. Da sah Leibgeber zufällig in den Spiegel: »Fast sollt' ich mich doppelt sehen, wenn nicht dreifach«, sagt' er; »einer von mir muß gestorben sein, der drinnen oder der draußen. Wer ist hier in der Stube denn eigentlich gestorben und erscheint nachher dem andern? Oder erscheinen wir bloß uns selber? – – He, ihr meine drei Ich, was sagt ihr zum vierten?« fragte er und wandte sich an ihre beiden Spiegelbilder und dann an Firmian und sagte: »Hier bin ich auch«! – Es lag etwas Schauerliches für seine Zukunft in diesen Reden, und Firmian, welchen mitten in seinem bewegten Herzen der kühlere Verstand den gefährlichen Wachstum dieser metamorphotischen [521] Selberspiegelung durch die Einsamkeit des Reisens befürchten ließ, äußerte zärtlich besorgt: »Lieber Heinrich, wenn du auf deinen ewigen Reisen künftig immer so einsam bliebest: ich fürchte, es schadet dir. Ist doch Gott selber nicht einsam, sondern sieht sein All.«

»Ich kann in der größten Einsamkeit immer zu dritt sein, das All nicht einmal gerechnet«, antwortete Leibgeber, durch den Sargschlüssel seltsam aufgerührt, und trat vor den Spiegel und drückte mit dem Zeigfinger den Augapfel seitwärts, so daß er in jenem sein Bild zweimal sehen mußte; »aber du kannst freilich die dritte Person darin nicht sehen.« – Doch fuhr er etwas aufgeweckter fort, um den damit wenig erheiterten Freund zu entwölken, und sagte, ihn ans Fenster führend: »Drunten auf der Gasse hab' ichs freilich besser und viel größere Gesellschaft; ich setze meinen Zeigfinger am Augapfel an: sofort liefer' ich von jedem, wer er auch sei, den Zwilling und habe jeden Wirt so gut doppelt wie seine Kreide. Da geht kein Präsident in die Sitzung, der seinesgleichen sucht, dem ich nicht seinen Urang-Utang gäbe, und beide gehen vor mir tête à tête. – Will ein Genie einen Nachahmer, ich nehme meinen Schreib- und Zeigfinger, und ein lebendiges Fac-simile ist auf der Stelle gezeugt. – Neben jedem gelehrten Mitarbeiter arbeitet ein Mitarbeiter mit, Adjunkten werden Adjunkte adjungiert, einzige Söhne in Duplikaten ausgefertigt; denn, wie du siehst, ich trage meine plastische Natur, meinen Staubfaden, meinen Bossiergriffel bei mir, den Finger. – Und selten lass' ich einen Solotänzer anders als mit vier Beinen springen, und er muß als ein Paar in der Luft hangen; was ich aber durch solches Gruppieren eines einzigen Kerls und seiner Gliedmaßen gewinne, solltest du schätzen. – Schlage endlich die gewonnene Volkmenge an, wenn ich gar ganze Leichen- und andere Prozessionen zu Doppelgängern verdopple, jedes Regiment um ein ganzes Regiment Flügelmänner verstärke, die alles vor- und nachmachen; denn, wie gesagt, ich habe wie eine Heuschrecke den Legestachel bei mir, den Finger. -Aus allem schöpfest du, Firmian, wenigstens die Beruhigung, daß ich mehr Menschen genieße als ihr alle, nämlich gerade noch einmal soviel, und [522] noch dazu lauter Personen, die als ihre Selberaffen in jeder Bewegung durch etwas wahrhaft Lächerliches so leicht ergötzen!«

Darauf sahen beide einander ins Gesicht, aber voll freudiger Zuneigung und ohne ein böses Nachgefühl des vorigen wilden Scherzes. Ein Dritter hätte in dieser Stunde sich vor ihrer Ähnlichkeit gefürchtet, da jeder der Gipsabguß des andern war, aber die Liebe machte beiden ihre Gesichter unähnlich; jeder sah im andern nur das, was er außer sich liebte; und es war mit ihren Zügen wie mit schönen Handlungen, die uns wohl an andern, aber nicht an uns selber in Rührung oder gar in Bewunderung versetzen.

Als sie wieder im Freien und auf der Straße nach Gefrees zogen, und der Sargdieterich samt den vorigen Gesprächen ihnen immer den Abschied vor die Seele brachte, dessen Todes-Sense mit jedem Meilenzeiger sich näher auf sie hereinbog: so suchte Heinrich einige rosenfarbene Strahlen in Firmians Nebel dadurch einzubeugen, daß er ihm ein genaues Protokoll alles dessen, was er an jedem Tage mit dem Grafen von Vaduz abgetan und abgeredet hatte, in die Hände gab: »Der Graf (sagt' er) dächte zwar, du hättest die Diskurse nur vergessen – aber so ists doch besser du hast dich wie ein Negersklave umgebracht, um in die Freiheit und auf die Goldküste deiner Silberküste zu kommen – und da wär's verdammt, wenn du noch verdammt würdest nach deinem Verscheiden.« – »Ich kann dir nie genug danken, du Bester«, sagte Firmian, »aber du solltest mirs nicht noch mehr erschweren und wie eine Hand aus den Wolken zurückfahren, wenn du deine ausgeleeret hast. Warum soll ich dich nach unserem Abschied nicht mehr sehen, sage?« – »Erstlich«, antwortete er gelassen, »könnten die Leute, der Graf, die Witwenkasse, deine Witwe darhinter kommen, daß ich in zwei Ausgaben dawäre, welches in einer Welt ein verdammtes Unglück wäre, wo man kaum in der ersten, im Originalexemplar, einsitzig, einschläferig gelitten wird. Zweitens hab' ich vor, mir auf dem Narrenschiff der Erde eine und die andere Rüpels-Rolle auszulesen, deren ich mich so lange nicht schäme, als kein Teufel mich kennt. – Ach ich wüßte mehr Gründe von Belang! – Auch tuts mir wohl, mich so unbekannt, [523] abgerissen, ungefesselt, als ein Naturspiel, als ein diabolus ex machina, als ein blutfremdes Mond-Lithopädium unter die Menschen und auf die Erde zu stürzen vom Mond herunter. Firmian, es bleibt dabei. Ich schicke dir vielleicht nach Jahren einen und den andern Brief, um so mehr da die Galater 163 an die Verstorbnen Briefe auf den Scheiterhaufen wie auf eine Postaufgaben. – Aber anjetzo bleibts dabei, wahrlich.« – »Ich würde mich nicht so leicht in alles fügen«, sagte Siebenkäs, »wenn mir nicht doch ahnete, daß ich dir bald einmal wieder begegnen werde; ich bin nicht wie du; ich hoffe zwei Wiedersehen, eines unten, eines oben. Wollte Gott, ich brächte dich auch zu einem Sterben wie du mich, und wir hätten dann unser Wiedersehen auf einem Bindlocher Berge, blieben aber länger beisammen!«

Wenn die Leser sich bei diesen Wünschen an den Schoppe im Titan erinnert finden: so werden sie betrachten, in welchem Sinne das Schicksal oft unsere Wünsche auslegt und erfüllt. Leibgeber antwortete bloß: »Man muß sich auch lieben, ohne sich zu sehen, und am Ende kann man ja bloß die Liebe lieben; und die können wir beide täglich in uns selber schauen.«

In Gefrees tat Leitgeber ihm den Vorschlag, im Gasthofe bei so schöner Muße, da in und außer der eingassigen Stadt nichts zu sehen sei, die Kleider gegeneinander auszuwechseln, besonders deswegen – führte er als triftigen Grund an –, damit der Graf von Vaduz, der ihn seit Jahren nicht anders als in gegenwärtigem Anzuge gesehen, sich bei dem Advokaten an nichts zu stoßen brauche, sondern alles genau so wie sonst antreffe, sogar bis auf den Schuhabsatz mit Nägeln herab. Das fiel ordentlich wie ein breiter Streif warmer Februarsonne auf des Advokaten Brust, der Gedanke, künftig von Heinrichs Ärmeln gleichsam umarmt und von allen seinen äußern Reliquien umfaßt und erwärmt zu werden. – Leibgeber ging ins Nebenzimmer und warf zuerst seine kurze grüne Jacke durch die halboffne Thür hindurch und rief: »Schanzlooper herein« – dann nach der Halsbinde und Weste lange Beinkleider mit Lederstreifen, sagend: »kurze herein!« – und endlich gar sein Hemde mit den Worten: »das Totenhemd her!«

[524] Das hereingeworfne Hemd wurde dem Advokaten auf einmal der Zeichendeuter Leibgebers, er erriet, daß dieser mit der Körperwanderung in Kleider auf etwas Höheres ausgelaufen als auf einen Rollenanzug für Vaduz; nämlich auf das Bewohnen des Gehäuses oder der Hülle, die seinen Freund umschlossen hatte. In einem ganzen Band von Gellertischen oder Klopstockischen Briefen voll Freundschaft, in einer ganzen Woche voll Leibgeberscher Opfertage lag für den Advokaten nicht so viel Liebes und Süßes als in diesem Kleider-Beerben. Er wollte seine beglückende Ahnung nicht durch Aussprechen entheiligen; aber bestärkt wurd' er darin, als nun Leibgeber, zu einem Siebenkäs umgekleidet, heraustrat und sich mit sanften Blicken im Spiegel ansah und darauf seine drei Finger stumm auf Firmians Stirn auflegte, was das größte Zeichen seiner Liebe war; daher ich zu meiner und Firmians Freude berichte, daß er das Zeichen unter dem Mittagessen (das Gespräch drehte sich um die gleichgültigsten Sachen) über dreimal wiederholte. Welche andere und lange Scherze würde über das Mausern Leibgeber zu anderer Zeit, bei andern Gefühlen getrieben haben! Wie würde er, um nur einiges zu mutmaßen, das wechselseitige Umbinden ihrer zwei Foliobände nicht benützt haben, um den Herrn Lochmüller (den Gastwirt in Gefrees) in die größten und lustigsten Verlegenheiten zu verstricken, aus denen der höfliche Mann sich keine Minute früher gewickelt hätte, als bis ihm dieser vierte Band zu Hülfe gekommen wäre, der erst gegenwärtig in Baireuth und nicht einmal unter der Presse ist! – Doch Leibgeber tat von allem nichts; und auch von Einfällen bracht' er nur die wenigen schwachen vor über beide als Wechselkinder und deren Wechselkinderei – über schnellen französischen Übergang der Leute en longue robe in die en robe courte; – und auch sagte er etwa noch, er nenne nun Siebenkäs nicht mehr einen seligen Verklärten in Stiefeln, sondern einen in Schuhen, was sich eher schicke und etwas erhabener klinge.

Mit besonderem Erfreuen sah er zu, wie sein Hund, der Saufinder, zwischen den alten Körpern und den neuen Kleidern, gleichsam zwischen zwei Feuern der Liebe, sich in nichts recht [525] finden konnte und mehrmals mit langer Nase abzog von dem einen zum andern; das Konkordat zwischen beiden, die Verkürzungen der einen Partei, die Vergrößerungen der andern machten das Vieh stutzig, aber nicht klug. »Ich schätze ihn wegen seines Betragens gegen dich noch einmal so hoch«, sagte Leibgeber; »glaube mir, er wird mir gar nicht untreu, wenn er dir treu ist.« Etwas Verbindlicheres konnt' er dem Advokaten schwerlich sagen.

Auf dem ganzen kahlen Wege von Gefrees nachMünchberg gab sich der Advokat aus Dankbarkeit die größte Mühe, das Sonnenlicht der Heiterkeit, in das ihn Heinrich immer zu führen suchte, auf ihn zurückzuwerfen. Es wurd' ihm nicht leicht, besonders wenn er seinem Schreiten im langen Rock nachsah. Am meisten strengt' er sich in Münchberg an, der letzten Poststation vor Hof, wo ihnen die körperlichen Arme, womit sie sich aneinander schlossen, gleichsam abgenommen werden sollten durch ein langes Entfernen.

Indem sie mehr schweigend als bisher auf der Höfer Landstraße und Leibgeber vorausging: so hob dieser, den das Fichtelgebirge zur Rechten wieder erquickte, sein gewöhnliches Reisepfeifen an, frohe und trübe Melodieen des Volkes, die meisten in Molltönen. Er sagte selber, er halte sich nicht für den schlechtesten Stadt- und Straßenpfeifer und er führe, glaub' er, das angeborne Fußbotenposthorn mit Ehren. Aber für Firmian waren, so kurz vor dem Abschiede, diese Klänge, die gleichsam aus Heinrichs langen vorigen Reisen wiederzukommen und aus seinen künftigen einsamen entgegenzutönen schienen, eine Art von Schweizer Kuhreigen, die ihm ins Herz rissen; und er konnte, zum Glücke hinter ihm gehend, sich mit aller Gewalt nicht des Weinens enthalten. – O bringt die Töne weg, wenn das Herz voll ist und doch nicht überfließen soll!

Endlich brachte er so viel Ruhe in der Stimme zusammen, daß er ganz unbefangen fragen konnte: »Pfeifst du gern und oft unterwegs?« Im Fragtone lag aber so etwas, als mach' ihm das Flöten nicht so viele Freude als dem Musiker selber. »Stets«, versetzte Leibgeber, – »ich pfeife das Leben aus, das Welttheater und was [526] so darauf ist und dergleichen – vielerlei aus dem Vergangenen auch pfeif' ich wie ein Karlsbader Türmer die Zukunft an. Mißfällts dir etwa? – Fugier' ich falsch, oder pfeif' ich gegen den reinen Satz?« – »O nur zu schön«, sagte Siebenkäs.

Darauf fing Leibgeber von neuem an, aber zehnmal kräftiger und trug ein so schönes schmelzendes Mundorgelstück vor, daß Siebenkäs ihm vier weite Schritte nachtat und – indem er zu gleicher Zeit mit der Linken das Tuch über seine nassen Augen deckte und die Rechte sanft auf Heinrichs Lippen legte – zu ihm fast stotternd sagte: »Heinrich, schone mich! Ich weiß nicht wie; aber heute ergreift mich jeder Ton gar zu stark.« Der Musiker sah ihn an – Leibgebers ganze innere Welt war im Augapfel dann nickte er stark und schritt schweigend heftig voraus, ohne sich umzuschauen oder angeschauet zu werden. Doch setzten die Hände, vielleicht unwillkürlich, in kleinen Taktregungen einiges von den Melodieen fort.

Endlich erreichten sie beklommen das Grubstreet oder die Münz-Stadt, wo ich gegenwärtige Assignate für halbe Welten kütte und färbe 164Hof nämlich. Es ist freilich mein Vorteil nicht, daß ich damals von allem nichts erfuhr, was nun halb Europa erfährt durch mich – ich war damals noch jünger und saß einsam zu Hause als Kopfsalat, willens, mich zu einemKopf zu schließen, welches Schließen, sowohl beim Menschen als beim Salat, durch nichts mehr gehindert wird als durch nachbarliches Berühren des Nebensalats. Es ist für einen Jüngling leichter, süßer und vorteilhafter, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft überzutreten (aus dem Gewächshause in den Garten), als umgekehrt aus dem Markte in den Winkel. Ausschließende Einsamkeit und ausschließende Geselligkeit sind schädlich, und, ihre Rangordnung ausgenommen, ist nichts so wichtig als ihr Tausch.

In Hof bestellte Siebenkäs zwei Zimmer bei dem Gastwirte, weil er glaubte, erst am Morgen trenne sich Leibgeber von ihm. Aber dieser – welchen sein eignes Vorausbestimmen des Scheidens und das Fürchten vor demselben längst geärgert – hatte sich innerlich geschworen, noch heute den Riß zu tun zwischen zwei [527] Geistern und nachher davon zu laufen ins Sächsische, wär's auch in der Nacht um 11 3/4 Uhr, aber in jedem Falle doch heute. Gefällig bezog er sein Zimmer, riegelte die Scheidetüre am Siebenkäsischen auf und dachte an die Pfeifmelodien, die ihm wie dem Advokaten noch im Kopfe steckten, wenn nicht im Herzen; aber bald lockte er ihn aus dem ausgeleerten taubstummen Zimmer in den zerstreuenden Wirrwarr der Wirtstube; verharrte auch da nicht lange, sondern bat ihn, als das erste Viertel des Monds gerade als brennende Lampe über einem Laternenpfahl auf dem Markt stand, die Stadt mit ihm zu umschiffen. Beide gingen und kletterten die Allee hinauf und sahen in die Höfer Gärten im Stadtgraben hinab, die vielleicht verdienen, die künstlichen Wiesen zu verdrängen, da sie mehr als andere Wiesen für das Vieh besäet sind. Daraus leit' ichs ab, daß Leibgeber, der in der Schweiz gewesen, nachts so spät die Bemerkung machte – denn die von der Natur geschmückte und adoptierte und von der Kunst enterbte Gegend dehnte sich vor ihm hin-, daß die Höfer den Schweizern glichen, deren ganzes Land ein englischer Garten wäre, ausgenommen die wenigen Gärten darin.

Beide zogen immer weitere Parallelen um die Stadt. Sie kamen über eine Brücke, von der sie einen bloß mit Gras besetzten Rabenstein erblickten, der sie an jene andere Eisregion mit ihrem Krater erinnerte, wo sie gerade vor einem Jahre in der Nacht voneinander geschieden waren; aber mit der schönern Hoffnung eines frühern Wiedersehens. Zwei solche Freunde wie diese haben in ähnlichen Lagen immer gleiche Gedanken; jeder ist, wenn nicht das Unisono, doch die Oktave, die Quinte, die Quarte des andern. Heinrich suchte im dunkeln Klag- und Trauerhaus seines Freundes wieder einiges Licht durch die Vogelstange anzustecken, die, wie ein Kommandostab und Brandpfahl, nicht weit von der Stelle des Königsbannes stand, und merkte an: »Ein Schützenkönig hat hier neben dem Springstab und Hebebaum, woran du dich zum großen Negus und großen Mogul von Kuhschnappel aufschwangest, auf eine schöne Art seinen Rabenstein, seinen malefizischen Sinai an der Hand, auf dem er seine Gesetze sowohl geben als rächen kann... Buffons [528] Naturgesetz, daß jedem Hügel allemal ein zweiter von gleicher Höhe und Materie gegenüberstehe, fasset viele korrespondierende Höhen unter sich, z.B. hier Rabenstein und Thron – in großen Städten große Häuser und petites maisons – die beiden Chöre in den Kirchen – das fünfte Stockwerk und den Pindus – Schaubühnen und außerordentliche Lehrstühle.«

Als Firmian, in trübere Ähnlichkeiten eingesunken, schwieg: so schwieg er auch. Er führte ihn nun – denn er war in der ganzen Gegend bewandert – einem andern Stein mit einem schönern Namen entgegen, auf den»fröhlichen Stein«. Firmian tat endlich, indem sie sich dazu den Berg hinaufarbeiteten, an ihn die mutige Frage: »Sage mirs, ich bin gefasset, geradezu und auf deine Ehre: wann gehest du auf immer von mir?« – »Jetzt«, antwortete Heinrich. Unter dem Vorwand, den blühenden, in duftende Bergkräuter gekleideten Bergrücken leichter zu ersteigen, hielt sich jeder an die Hand des andern an, und unter dem Hinaufarbeiten wurde jede aus scheinbar-mechanischem Zufall gedrückt. Aber der Schmerz durchzog Firmians Herz mit wachsenden größern Wurzeln und spaltete es weiter, wie Wurzeln Felsen. Firmian legte sich auf dem grauen Felsen-Vorsprung nieder, der abgetrennt in die grünende Anhöhe, wie ein Grenzstein, eingeschlagen war; aber er zog auch seinen scheidenden Liebling an seine Brust herab: »Setze dich noch einmal recht nahe an mich«, sagt' er. Sie zeigten, wie Freunde tun, alles einander, was jeder sah. Heinrich zeigte ihm das um den Fuß des Berges aufgeschlagene Lager der Stadt, die wie eingeschlummert zusammengesunken schien, und in der nichts rege war als die flimmenden Lichter. Der Strom ringelte sich unter dem Monde mit einem schillernden Rücken wie eine Riesenschlange um die Stadt und streckte sich durch zwei Brücken aus. Der halbe Schimmer des Mondes und die weißen durchsichtigen Nebel der Nacht hoben die Berge und die Wälder und die Erde in den Himmel, und die Wasser auf der Erde waren gestirnt, wie die blaue Nacht darüber, und die Erde führte, wie der Uranus, einen doppelten Mond, gleichsam an jeder Hand ein Kind.

»Im Grunde«, fing Leibgeber an, »können wir uns alle beide [529] immer sehen, wir dürfen nur in einen gemeinen Spiegel schauen, das ist unser Mondspiegel 165.« – »Nein«, sagte Firmian, »wir wollen eine Zeit ausmachen, wo wir zugleich aneinander denken – an unsern Geburttagen und an meinem pantomimischen Sterbetag und am jetzigen.« – »Gut, das sollen unsere vier Quatember sein«, sagte Leibgeber.

Auf einmal drückte des letzten Hand auf eine wahr scheinlich von Schloßen erlegte Lerche. Er fassete plötzlich Firmians Achsel und sagte, ihn aufziehend: »Steh auf, wir sind Männer – was soll das alles? – Lebe wohl! – Gott soll mich mit tausend Donnerkeilen zerknirschen, wenn du mir je aus dem Kopfe und aus dem Herzen kommst. Du sitzest mir ewig so warm in der Brust wie ein lebendiges Herz. Und so gehab dich denn wohl, und auf dem Berghemschen Seestück deines Lebens sei keine Welle so groß wie eine Träne. Fahre wohl!« – Sie wuchsen ineinander und weinten herzlich, und Firmian antwortete noch nicht: seine Finger streichelten und drückten das Haar seines Heinrichs. Endlich lehnt' er bloß sein Halbgesicht an die geliebten Augen; vor seinen schimmerte das weite Geklüft der Nacht, und seine vom Kusse abgewandten Lippen sagten, aber ohne allen Tonfall: »Lebe wohl, sagst du zu mir? Ach, das kann ich ja nicht, wenn ich meinen treuesten, meinen ältesten Freund verloren habe. Die Erde bleibt mir nun so verschattet, wie sie jetzt um uns steht. Es wird mir einmal hart fallen im Tode, wenn ich in meiner Finsternis mit der Hand herumgreife nach dir und im Fieber denke, das Sterben sei wieder verstellet wie dasmal, und wenn ich sage ›Heinrich, drücke mir wieder die Augen zu, ich kann ohne dich nicht sterben.‹« – Sie schwiegen in einem krampfhaften Umschlingen. Heinrich lispelte in seine Brust herab: »Frage mich, was ich dir noch sagen soll, dann soll mich Gott strafen, wenn ich nicht verstumme.« Firmian stotterte: »Wirst du mich fortlieben, und seh' ich dich bald wieder?« – »Spät«, antwortete er; [530] »– und ohne Aufhören lieb' ich dich.« Unter dem Abreißen hielt und bat ihn Firmian: »Wir wollen uns nur noch einmal ansehen.« Und sie bogen sich mit den von den Strömen der Rührung zerrissenen Angesichtern auseinander und blickten sich zum letztenmal an, als der Nachtwind, wie der Arm eines Stroms, sich mit dem tiefen Flusse vereinigte und beide in größern Wellen fortbrausten, und als das weite Gebirge der Schöpfung sich unter dem trüben Schimmer gebrochner Augen erschütterte. Aber Heinrich entriß sich, machte eine Bewegung mit der Hand, gleichsam als »alles sei aus«, und nahm seine Flucht an der Anhöhe hinunter.

Firmian wurd' ihm nach einiger Zeit, ohne es zu wissen, vom Stachelrad des Schmerzes nachgestoßen, und der von Blutschrauben taub gequetschte innere Mensch fühlte jetzo die Abnahme seines Gliedes nicht. Beide eilten, obwohl von Tälern und Bergen auseinandergeworfen, denselben Weg. Sooft Heinrich einmal stand und zurücksah, so tat Firmian beides auch. Ach nach einem solchen schwülen Sturm erstarren alle Wogen zu Eisspitzen, und das Herz liegt durchstochen auf ihnen. Klang es nicht unserem Firmian, da er mit diesem zerbrochenen Herzen über unkenntliche, dämmernde Pfade lief, klang es ihm nicht, als läuteten hinter ihm alle Totenglocken – als flöge vor ihm das entrinnende Leben dahin – und da er den blauen Himmel durchschnitten sah von einem schwarzen Wetterbaum 166, der auf den Sternen wie eine Bahre für die Zukunft stand, mußt' es da nicht um ihn rufen: mit diesem Maßstab aus Dunst nimmt das Schicksal von euch und euerer Erde und euerer Liebe das Maß zum letzten Sarge? –

Heinrich wurd' endlich aus der Fortdauer desselben Zwischenraums zwischen ihm und der abgekehrten Gestalt gewahr, daß sie ihm folge, und daß sie nur stocke, wenn er halte. Er nahm sich daher vor, im nächsten Dorfe, das seinen Stillestand verdeckte, der nachschleichenden Gestalt zu stehen. Im nächsten, in ein Tal versenkten Dorfe – Töpen – wartete er die Ankunft des nachfolgenden unkenntlichen Wesens im breiten Schatten einer blinkenden [531] Kirche ab. Firmian eilte über die weiße, breite Straße, trunken vom Schmerz, blinder im Mond, und erstarrete nahe vor dem Abgetrennten. Sie waren einander gegenüber, wie zwei Geister über ihren Leichen, und hielten sich, wie der Aberglaube das Getöse der lebendig Begrabnen, für Erscheinungen. Firmian zitterte, aus Furcht, daß sein Liebling zürne, und machte von ferne die bebenden Arme auf und stotterte: »ich bins, Heinrich« und ging ihm entgegen. Heinrich tat einen Schrei des Schmerzens und warf sich an die treue Brust, aber der Schwur hielt seine Zunge und so drückten die zwei Elenden oder Seligen, stumm und blind und weinend, ihre zwei schlagenden Herzen noch einmal recht nahe aneinander. – Und als die sprachlose, qualenvolle, wonnevolle Minute vorüber war: so riß sie eine eiserne, kalte auseinander, und das Schicksal ergriff sie mit zwei allmächtigen Armen und schleuderte das eine blutige Herz nach Süden, und das andere nach Norden – und die gebückten, stillen Leichname gingen langsam und allein den wachsenden Scheideweg weiter in der Nacht.... Und warum bricht denn mir mein Herz so gewaltsam entzwei, warum konnt' ich schon lange, eh' ich an diese Trennung kam, meine Augen nicht mehr stillen? O es ist nicht, mein guter Christian, darum, weil in dieser Kirche die ruhen und zerfallen, die an deinem und meinem Herzen gewesen waren. – Nein, nein, ich hab' es schon gewohnt, daß in der schwarzen Magie unsers Lebens an der Stelle der Freunde plötzlich Gerippe aufspringen – daß einer davon sterben muß, wenn sich zwei umarmen 167 – daß ein unbekannter Hauch das dünne Glas, das wir eine Menschenbrust nennen, bläset, und daß ein unbekannter Schrei das Glas wieder zertreibt. – Es tut mir jetzo nicht mehr so weh wie sonst, ihr zwei schlafenden Brüder in der Kirche, daß die harte, kalte Todeshand euch so früh vom Honigtau des Lebensweg schlug, und daß euere Flügel aufgingen, und daß ihr verschwunden seid – o ihr habt entweder einen festern Schlaf als unsern oder freundlichere Träume als unsere oder ein helleres Wachen als unseres. Aber was uns an jedem Hügel quält, das ist [532] der Gedanke: »Ach wie wollt' ich dich gutes Herz geliebet haben, hätt' ich dein Versinken vorausgewußt.« Aber da keiner von uns die Hand eines Leichnams fassen und sagen kann: »du Blasser, ich habe dir doch dein fliegendes Leben versüßet, ich habe doch deinem zusammengefallenen Herzen nichts gegeben als lauter Liebe, lauter Freude« – da wir alle, wenn endlich die Zeit, die Trauer, der Lebens-Winter ohne Liebe unser Herz verschönert haben, mit unnützen Seufzern desselben an die umgeworfenen Gestalten, die unter dem Erdfall des Grabes liegen, treten und sagen müssen: »O daß ich nun, da ich besser bin und sanfter, euch nicht mehr habe und nicht mehr lieben kann – o daß schon die gute Brust durchsichtig und eingebrochen ist und kein Herz mehr hat, die ich jetzt schöner lieben und mehr erfreuen würde als sonst« – was bleibt uns noch übrig als ein vergeblicher Schmerz, als eine stumme Reue und unaufhörliche bittere Tränen? – Nein, mein Christian, etwas Bessers bleibt uns übrig, eine wärmere, treuere, schönere Liebe gegen jede Seele, die wir noch nicht verloren haben.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Tage in Vaduz – Nataliens Brief – ein Neujahrwunsch

Wildnis des Schicksals und des Herzens


Wir finden unsern Firmian, der nach seinem Abschiede aus der Welt, wie Offiziere nach dem ihrigen, höher gestiegen war nämlich zum Inspektor –, in der Inspektorwohnung zu Vaduz wieder. Er hatte sich jetzo durch so viele verwachsene Stechpalmen und Dornenhecken durchzuwinden, daß er darüber vergaß, er sei allein, so ganz allein in der Welt. Kein Mensch würde die Einsamkeit verwinden und dulden, wenn er sich nicht die Hoffnung einer künftigen Gesellschaft oder einer jetzigen unsichtbaren machte.

Bei dem Grafen hatte er nichts zu scheinen als das, was er war; dann blieb er dem freien Leibgeber am ähnlichsten. Er fand in ihm einen alten Weltmann, der einsam, ohne Frau, Söhne, ohne [533] weibliche Dienerschaft, seine grauen Jahre mit den Wissenschaften und Künsten – die längsten und letzten Freuden eines ausgenossenen Lebens – nachfüllte und schmückte und der auf der Erde – den Spaß darüber ausgenommen – nichts mehr recht lieb hatte als seine Tochter, mit welcher eben Natalie unter den Sternen und Blüten der Jugendtage geschwärmt.

Da er in früherer Zeit alle Kräfte des Geistes und Leibes daran gesetzt, um die schlüpfrigsten und höchsten Cocagnebäume der Freude zu erklettern und abzuleeren: so kam er mit beiden Teilen seines Wesens etwas matt von ihnen herunter; sein geistiges Leben war jetzt eine Art von Pflegen und Liegen in einer lauen Badwanne, aus welcher er nicht ohne Regenschauer sich aufrichten konnte und in welcher immer Warmes nachgegossen werden mußte. Der Ehren-Punkt des Worthaltens und das höchste Glück seiner Tochter waren die einzigen unzerrissenen Zügel, womit ihn das moralische Gesetz von jeher festgehalten; indes er andere Bande desselben mehr für Blumenketten und Perlenschnüre nahm, die ein Weltmensch so oft in seinem Leben wieder zusammenknüpft.

Da man sich leichter hinkend als gerade gehend stellen kann, so hatt' es Siebenkäs hierin leichter, den lieben hinkenden Teufel, seinen Leibgeber, zu spielen. Der Graf stutzte bloß über seine natürliche weiße Schminke auf dem Gesicht und über seine Trauermiene und über eine Menge unnennbarer Abweichungen (Varianten und Aberrationen) von Leibgeber; aber der Inspektor half dem Lehnherren durch die Bemerkung aus dem Traum, daß er sich selber kaum mehr kenne und sein eigner Wechselbalg oder Kielkropf geworden sei, seit daß er krank gewesen und daß er seinen Universitätfreund Siebenkäs in Kuhschnappel habe einschlafen und aus der Zeitlichkeit gehen sehen. Kurz, der Graf mußte glauben, was er hörte – wer denkt an eine so närrische Historie, als ich hier auftrage? – und wäre damals mein Leser im Zimmer mit dabei gestanden, so hätte er dem Inspektor mehr als mir selber beigepflichtet, bloß weil sich Firmian noch mehr von seinen vorigen Unterredungen mit dem Grafen – freilich aus Leibgebers Tagebuch – entsann als der Graf selber.

[534] Indes, da er als der Geschäftträger und Lehnträger seines geliebten Heinrichs zu sprechen und zu handeln hatte: so war er wenigstens zweierlei in einem hohen Grade zu sein gezwungen, lustig und gut. Leibgebers Laune hatte eine stärkere Farbengebung und freiere Zeichnung und einen poetischern, weltbürgerlichern und idealern Umfang 168 als Firmians seine; daher mußte dieser seinen Kammerton zu jenes Chorton hinaufstimmen, um ihn, wenn nicht zu erreichen, doch nachzuahmen. Und dieser Schein einer heitern Laune setzte sich am Ende in eine wahre um. Auch trug sein feines Gefühl und seine Freundschaft immer Heinrichs vergrößertes, glänzendes Bild, auf dessen Haupt sich der Strahlenreif und Lorbeerkranz durchflochten, vor ihm, wie an einer Mosis-Wolkensäule, auf seinem Lebenswege her, und alle Gedanken in ihm sagten: »Sei herrlich, sei göttlich, sei ein Sokrates, bloß um dem Geiste, dessen Abgesandter du bist, Ehre zu machen.« Und welchem von uns wär' es möglich, den Namen einer geliebten Person zu nehmen und unter diesem zu sündigen? –

Niemand wird in der Welt so oft betrogen – nicht einmal die Weiber und die Fürsten – als das Gewissen; der Inspektor machte dem seinigen weis: er habe ja ohnehin in frühern Jahren, wie bekannt, Leibgeber geheißen, gerade so, wie er sich jetzo schreibe auch tu' er dem Grafen Vorschub genug – und wer sei mehr entschlossen als er, einmal wenn sichs schickt, diesem alles haarklein zu beichten, den, wie leicht vorauszusehen, eine solche humoristische, juristische Falschmünzerei und malerische Täuschung schöner überraschen müsse als alle notwendige Vernunftwahrheiten[535] und responsa prudentum, nicht zu erwähnen der gräflichen Freude, daß hier derselbe Freund und Humorist und Jurist zweiköpfig, zweiherzig, vierbeinig und vierarmig, kurz in duplo zu haben sei. Aber erwähnen müss' er doch dieses, daß er mehr Not- als Scherzlügen vorbringe, indem er an die vergangenen Unterredungen und Verhältnisse Leibgebers so ungern als selten anstreife und sich öfter über seine eignen nächsten, die keine Wahrheit ausschließen, verbreite.

So ist nicht der Inspektor, sondern der Mensch; dieser hat einen unbeschreiblichen Hang zur Hälfte – vielleicht weil er ein auf zwei Welten mit ausgespreizten Beinen stehender Kolossus und Halbgott ist –, namentlich zu Halbromanen – zum Halbfranko des Eigennutzes – zu halben Beweisen – zu Halbgelehrten – zu halben Feiertagen – zu Halbkugeln und folglich zu ehelichen Hälften. –

Die neuen Anstrengungen aller Art verbargen ihm in den ersten Wochen (wenigstens solange die Sonne schien) seine Schmerzen und seine Sehnsucht. Den größten Freudenzuschuß lieferte ihm aber des Grafen Zufriedenheit mit seinen juristischen Kenntnissen und pünktlichen Arbeiten. Als ihm dieser gar einmal sagte: »Freund Leibgeber, Ihr haltet brav, was Ihr mir früher versprochen; Euere Einsicht und Pünktlichkeit in Geschäften macht Euch neue Ehre; denn ich gestehe gern, daß ich einige Zweifel darüber bei aller meiner Achtung für Euere andern Talente nicht gern gehegt; denn Geschäfte trenn' ich wie Euer Friedrich II. durchaus von Gesprächen, und für jene foder' ich jeden nur möglichen schulgerechten und pünktlichen Gang« – da dachte und frohlockte er heimlich in sich: »So hab' ich doch meinem Lieben einen Tadel ab-und ein Lob zugewandt, das er am Ende, sobald ers nur gewollt, auch selber sich hätte erringen können.«

Nach einer solchen Opferfreude will der Mensch – wie Kinder tun, die immer, wenn sie etwas gegeben, nicht nachlassen wollen zu geben – immer stärkere Opferfreuden haben und Opfer bringen. Er packte seine Auswahl aus des Teufels Papieren aus und gab sie dem Grafen und sagte ihm ganz unverhohlen: er habe sie gemacht. »Ich täusch' ihn damit nicht im geringsten«, dacht' er, [536] »ob er sie gleich Leibgebern zuschreibt; denn ich heiße jetzo eben nicht anders.« Der Graf konnte die Papiere gar nicht genug lesen und loben, und besonders erfreuete er sich an dem treuen Eifer, womit der Verfasser von seinen beiden Landsleuten, dem britischen Zwillinggestirn des Humors, Swift und Sterne, sich die rechten Wege des Scherzes zeigen lassen. Siebenkäs hörte sein Buch mit solchen Genusse und mit einem so seligen Lächeln loben, daß er ordentlich wie ein eitler Autor aussah, indes er nichts als ein Verliebter in seinen Heinrich war, auf dessen Namen und Gestalt in des Grafen Seele er einige Lorbeerkränze mehr hatte spielen können.

Aber dieses einzige Erfreuliche war ihm auch als Trost und Labsal für ein Leben vonnöten, das beschattet und kalt zwischen zwei steilen Ufern von Aktenstößen fortschoß, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat; ach, er hörte nichts Bessers – bloß den guten Grafen ausgenommen, dessen ungewöhnliche Güte noch wärmer seinen Busen umflossen hätte, wenn er ihm dafür unter fremdem und eignem Namen zugleich hätte danken dürfen – ich sage, er hörte nichts Bessers als die Wellen seines Lebens, die zu weilen murmelten. Er kam täglich in die wiederholte harte Lage eines Kunstrichters – der er auch gewesen –, nämlich das lesen zu müssen, was er richten mußte, sonst Autoren, jetzt Advokaten – er sah in so viel leere Köpfe, in so viel leere Herzen; in jenen so viel Dunkelheit, in diesen so viel Schwärze – er sah, wie sehr das gemeine Volk, wenn es zur Egerien-Quelle der juristischen Dintenfässer reiset, um sich Blasensteine weg zu bringen, den Karlsbader Gästen gleiche, denen die heiße Quelle alle verheimlichten Krankheitmaterien auf die äußere Haut herausjagt – er sah, daß die meisten alten und schlimmsten Advokaten bloß darin eine schöne Ähnlichkeit mit den Giftpflanzen behaupten, daß sie, wie diese, in ihrer Jugend und Blütenzeit nicht halb so giftig sind, sondern mehr unschädlich; er sah, daß ein gerechtes Urteil oft so viel schade als ein ungerechtes, und daß man gegen beide appelliere – er sah, daß es leichter und ekelhafter zugleich sei, ein Richter als ein Advokat zu sein, nur daß beide durch ein Unrecht nichts verlieren, sondern daß der Richter [537] für ein kassiertes Urteil so gut bezahlt wird als der Advokat für einen verlornen Prozeß und sie also vom Rechtsfalle wie Schaffhäuser vom Rheinfalle gemächlich leben – daß man bei den Untertanen den Grundsatz der Stallbedienten handhabe, welche die Striegel für die halbe Fütterung des Pferdes halten – er sah endlich, daß niemand schlimmer daran fährt als eben der, ders sieht, und daß der Teufel nichts seltener hole als Teufel....

Unter solchen Arbeiten und Ansichten ziehen sich die weichen Herzadern gerinnend zusammen, und die offnen Arme des innern Menschen werden gelähmt – der beladene Mensch behält kaum den Wunsch zu lieben, geschweige die Zeit. Stets lieben und suchen wirSachen auf Kosten der Personen, und der Mensch, der zu viel arbeitet, muß zu wenig lieben. Der arme Firmian hörte jeden Tag nur an einer einzigen Stätte die Bitten und Wünsche seiner weichen Seele an, nämlich auf dem Kopfkissen, dessen Überzug sein weißes, auf seine nassen Augen wartendes Schnupftuch war. Über seiner ganzen alten Welt stand eine Sündflut aus Tränen, und nichts schwamm darin empor als die beiden schlaffen Totenkränze der gestorbnen Tage, Nataliens und Lenettens Vorsteck-Blumen, gleichsam die versteinerten Arzneiblumen seiner erkrankten Seele, die Einfaßgewächse verheerter Beete.

Vom Reichsmarktflecken konnt' er, da er so abgerissen und in keinem Winkel des elliptischen Gewölbes stand, so wenig zu Ohren bekommen als von Schraplau; von Lenetten und Natalien nichts. Bloß aus dem Anzeiger und Götterboten deutscher Programmen ersah er, daß er Todes verfahren sei, und daß das kritische Institut sich um einen seiner besten und emsigsten Mitarbeiter verlustigt sehe – welcher Nekrolog den Inspektor früher belohnte als irgendeinen deutschen Gelehrten, und nicht später als den olympischen Sieger Euthymus 169, dem ein Ausspruch des delphischen Orakels Opfer und Vergötterung noch bei seinen Lebzeiten zuerkannte. Ich weiß nicht, welche Ohren die deutsche Famas-Trompete lieber anbläset, ob taube oder lange.

Und doch bewahrte Siebenkäs mitten im Eismonate seines Liebe flehenden Herzens und in der Wüste seiner Einsamkeit noch [538] eine lebendige prangende Blume – und dies war Nataliens Abschiedkuß. – O, wüßtet ihr, die ihr an unsrer Unersättlichkeit verhungert, wie ein Kuß, der ein erster und ein letzter ist, durch ein Leben hindurch blüht als die unvergängliche Doppelrose der verstummten Lippen und glühenden Seelen, ihr würdet längere Freuden suchen und finden. Jener Kuß befestigte in Firmian den Geisterbund und verewigte die Liebe auf ihrem Blütengipfel; die stillen Lippen sprachen fort vor ihm – das Geisteswehen von Hauch zu Hauch webte fort – und so oftmals er auch in seinen Nächten hinter den geschlossenen nassen Augen Natalien mit ihren erhabnen Schmerzen von sich scheiden ließ und verschwinden in die dunkeln Laubengänge: so wurd' er doch des Abschieds und der Schmerzen und der Liebe nicht satt.

Endlich nach sechs Monaten – an einem schönen Wintermorgen, als die weißen Berge mit ihren schneekristallenen Wäldern sich gleichsam im Rosenblute der Sonne badeten, und als die Flügel der Morgenröte länger aufgeschlagen sich auf die blinkende Erde legten – da flog ein Brief, wie von Morgenwinden eines künftigen Lenzes früher hergetrieben, in Firmians leere Hand – er war von Natalien, die ihn, wie jeder, für den vorigen Heinrich ansah.

Teurer Leibgeber!

Länger kann ich nicht über mein Herz gebieten, das jeden Tag vor dem Ihrigen auseinandergehen oder zerspringen wollte, bloß um Ihnen alles zu zeigen, was darin verwundet ist. Sie waren ja doch einmal mein Freund: bin ich ganz vergessen? Hab' ich Sie auch verloren? – Ach, gewiß nicht, Sie können nur vor Schmerz nicht mit mir reden, weil Ihr Firmian an Ihrem Herzen starb und nun totenkalt auf der schmerzenden Stelle ruht und zerfällt. O warum haben Sie mich beredet, Früchte, die auf seinem Grabe wachsen, anzunehmen und mir jedes Jahr gleichsam seinen Sarg öffnen zu lassen? 170 Der erste Tag, wo ichs bekam, war bitter; bitterer als je einer. Wie mir zuweilen ist, das sehen Sie aus einem kleinen Neujahrwunsch, den ich an mich selber [539] gerichtet, und den ich beilege. Eine Stelle darin geht einen weißen Rosenstock an, dem ich im Zimmer einige blasse Rosen mitten im Dezember abgewann. – Mein Freund, nun geben Sie einer Bitte Gehör, die der Anlaß dieses Schreibens ist, meiner heißesten Bitte um Schmerzen, um größere: dann hab' ich Trost; zeigen Sie mir nur an, weil es niemand weiter vermag und ich niemand kenne, wie die letzten Stunden und Minuten unsers Teueren waren, was er sagte und was er litt, und wie sein Auge brach, und wie sein Leben aufhörte; alles, alles, was mich durchschneiden wird, das muß ich wissen – was kann es mich und Sie kosten als Tränen? Und diese laben ja ein krankes Auge. Ich bleibe


Ihre
Freundin
Natalie A.

N. S. Wenn mich nicht so viele Verhältnisse zurückzögen, so würde ich selber nach seinem Wohnort reisen und mir Reliquien für meine Seele sammeln; wiewohl ich für nichts stehe, wenn Sie schweigen. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer neuen Stelle; und ich hoffe, es einmal mündlich tun zu können, mein Inneres heilet doch so einmal zusammen, daß ich meine geliebte Freundin bei ihrem Vater aufsuchen und Sie erblicken kann, ohne zu sterben vor Schmerz über die Ähnlichkeiten, die Sie mit Ihrem nun unähnlichen, versenkten Geliebten haben.


*

Das schöne Gedicht, das in englischen Versen war, wag' ich so zu übersetzen:

Mein Neujahrwunsch an mich selber

Das neue Jahr öffnet seine Pforte: das Schicksal steht zwischen brennenden Morgenwolken und der Sonne auf dem Aschenhügel des zusammengesunknen Jahrs und teilt die Tage aus: um was bittest du, Natalie?

Um keine Freuden – ach alle, die in meinem Herzen waren, haben nichts darin zurückgelassen als schwarze Dornen, und ihr [540] Rosenduft war bald zerlaufen – neben dem Sonnenblick wächst die schwere Gewitterwolke, und wenn es um uns glänzt, so bewegt sich nur das wiederscheinende Schwert, das der künftige Tag gegen den freudigen Busen zieht. – – Nein, ich bitt' um keine Freuden, sie machen das durstige Herz so leer, nur der Kummer macht es voll.

Das Schicksal teilet die Zukunft aus: was wünschest du, Natalie?

Keine Liebe – O wer die stechende weiße Rose der Liebe an das Herz drücket, dem blutet es, und die warme Freudenzähre, die in ihren Rosenkelch tropfet, wird früh kalt und dann trocken – am Morgen des Lebens hängt die Liebe blühend und glänzend als eine große rosenrote Aurora im Himmel – o, tritt nicht in die glimmende Wolke, sie besteht aus Nebel und Tränen – Nein, nein, wünsche keine Liebe: stirb an schönern Schmerzen, erstarre unter einem erhabenern Giftbaum, als die kleine Myrte ist.

Du knieest vor dem Schicksal, Natalie: sag' ihm, was du wünschest!

Auch keine Freunde mehr – nein – wir stehen alle auf ausgehöhlten Gräbern nebeneinander – und wenn wir nun einander so herzlich an den Händen gehalten und so lange miteinander gelitten haben: so bricht der leere Hügel des Freundes ein, und der Erbleichende rollt hinab, und ich stehe mit dem kalten Leben einsam neben der gefüllten Höhle – – Nein, nein; aber dann, wenn das Herz unsterblich ist, wenn einst die Freunde auf der ewigen Welt beisammen stehen, dann schlage wärmer die festere Brust, dann weine froher das unvergängliche Auge, und der Mund, der nicht mehr erblassen kann, stammele: nun komm' zu mir, geliebte Seele, heute wollen wir uns lieben, denn nun werden wir nicht mehr getrennt.

O du verlassene Natalie, um was bittest du denn auf der Erde?

Um Geduld und um das Grab, um mehr nicht. Aber das versage nicht, du schweigendes Geschick! Trockne das Auge, dann schließ es! Stille das Herz, und dann brich es! – Ja, einstmals, wann der Geist in einem schönern Himmel seine Flügel hebt, wann das neue Jahr in einer reinern Welt anbricht, und wann[541] alles sich wiedersieht und wiederliebt: dann bring' ich meine Wünsche.... Und für mich keine – denn ich würde schon zu glücklich sein...


*


Mit welcher Sprache könnt' ich die innere Sprachlosigkeit und die Erstarrung ihres Freundes zeichnen, da er das Blatt gelesen hatte und immer noch behielt und anblickte, ob er gleich nichts mehr sehen und denken konnte. – O die Eisschollen des Gletschers des Todes wuchsen immer weiter und füllten ein warmes Tempe nach dem andern – der einsame Firmian hing durch kein anderes Band mehr mit den Menschen zusammen als durch das Seil, das die Totenglocke und den Sarg bewegt – und sein Bette war ihm nur eine breitere Bahre – und jede Freude schien ihm ein Diebstahl an einem fremden entblätterten Herzen. – Und so wurde der Stamm seines Lebens, wie mancher Blumen ihrer 171, immer tiefer hinabgezogen, und der Gipfel wurde zur verborgnen Wurzel. – –

Überall war der Abgrund einer Schwierigkeit offen und jedes Tun so mißlich wie jedes Unterlassen. Ich will die Schwierigkeiten oder Entschlüsse in der Reihe, wie sie durch seine Seele zogen, vor die Leser bringen. Im Menschen fliegt der Teufel allemal früher auf als der Engel, der schlimme Vorsatz eher als der gute 172: sein erster war nicht moralisch, der nämlich, Natalien zu antworten und zu erzählen, d.h. vorzulügen. Der Mensch findet den Trauerrock sowohl schön, wenn man ihn für ihn anlegt, als warm, wenn er ihn für andere umtut. »Aber ich löse ihr schönes Herz (sagt seines) mit einer fortgesetzten Wunde und Lüge in einen neuen Kummer auf: ach, nicht einmal mein wahrer Tod [542] wäre einer solchen Trauer wert. – Ich schweige also gar.« – Aber dann mußte sie denken, Heinrich zürne, auch dieser Freund sei eingebüßet; ja sie konnte dann nach dem Reichsmarktflecken reisen und vor seinen Grabstein treten und diesen als eine neue Bürde auf die gebückte, zitternde Seele laden. Beide Fälle teilten noch die dritte Gefahr, daß sie nach Vaduz hinkomme, und daß er dann die schriftlichen Lügen, die er sich ersparet, in mündliche verwandeln müsse. Noch ein Ausweg lief vor ihm hinauf, der tugendhafteste, aber der steilste – er konnte ihr die Wahrheit sagen. Aber mit welcher Gefahr aller seiner Verhältnisse war dieses Bekenntnis verknüpft, wenn auch Natalie schwieg – und auf seinen guten Heinrich fiel in Nataliens Augen ein schräges, gelbes Licht, zumal da sie Über die Großmut seiner Zwecke und Lügen keinen Aufschluß hatte. Gleichwohl litt sein Herz auf dem unsichern Wege der Wahrheit am wenigsten; und er beharrte endlich auf diesem Entschluß.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Nachrichten aus Kuhschnappel – Antiklimax der Mädchen –

Eröffnung der sieben Siegel


Das setzet mich eben oft außer mir, daß wir, wenn wir immerhin einen von der Tugend auf uns ausgestellten Wechsel annehmen und honorieren, ihn doch erst nach so vielen Doppel-Usos und so vielen Respekttagen auszahlen, indes der Teufel wie Konstantinopel von keinen wissen will. Firmian machte keine andern Einreden mehr als verzögerliche: er schob bloß seine Beichte auf und dachte, da Apollo der schönste Tröster (Paraklet) der Menschen ist, und da Natalie dem Basilisk des Grams sein eignes Bild im Spiegel der Dichtkunst gewiesen, so werde er an seinem Bildnis umkommen. So werden alle tugendhafte Bewegungen in uns durch die Reibungen der Triebe und der Zeit entkräftet. – –

Ein einziger neuer Brief schob alle Wände seines Theaters wieder durcheinander. Er kam vom Schulrat Stiefel.


[543] Hoch-Edelgeborner,

Insonders hochzuehrender Herr Inspektor!


Ew. Hoch-Edelgeboren erinnern sich noch mehr als zu gut der testamentarischen Verfügung, die unser beiderseitiger Freund, der sel. Hr. Armenadvokat Siebenkäs, getroffen, daß nämlich Hr. Heimlicher v. Blaise seine Pupillengelder auszahlen solle – und zwar, wie bekannt, an Dero werte Person, die solche wieder an die Witib zu extradieren habe –, widrigenfalls wolle Testator als Gespenst auftreten. Letztem sei, wie ihm wolle: so viel ist stadtkundig, daß allerdings seit einigen Wochen ein Gespenst in Gestalt unsers sel. Freundes dem Hrn. Heimlicher überall nachgesetzt hat, der darüber so bettlägerig geworden, daß er das heilige Abendmahl genommen und den Entschluß gefaßt, besagte Gelder wirklich herauszugeben. Nun frag' ich hier an, ob Sie solche vorher haben wollen, oder ob solche, wie fast natürlicher, sofort der hinterlassenen Witwe einzubändigen sind. Noch hab' ich anzumerken, daß ich letztere, nämlich die gewesene Frau Siebenkäs, wirklich – nach dem Willen des Erblassers – seit geraumer Zeit geheiratet habe, wie sie denn jetzt gesegneten Leibes ist. Sie ist eine treffliche Haus- und Ehefrau; wir leben in Ruhe und Einigkeit; sie ist gar keine Thaläa 173 und sie ließe ihr Leben so freudig für ihren Mann, wie er für sie – und ich wünsche oft nichts, als daß mein Vormann, ihr guter, unvergeßlicher erster Eheherr, Siebenkäs, der zuweilen seine kleinen Launen hatte, ein Zuschauer des Wohlbefindens sein könnte, worin gegenwärtig seine teuere Lenette schwimmt. Sie beweint ihn jeden Sonntag, wo sie vor dem Gottesacker vorübergeht; doch bekennt sie auch, daß sie es jetzo besser habe. Leider muß ich erst so spät von meiner Frau vernehmen, in welchen erbärmlichen Umständen sich der Selige mit seinem Beutel befunden; wie würde ich sonst ihm [544] und seiner Gattin unter die Arme gegriffen haben, wie es einem Christen gebührt! – Wenn der Selige, der jetzo mehr hat als wir alle, in seinem Glanze herabsehen kann auf uns: so wird er mir gewiß verzeihen. – Ich halte ergebenst um eine baldige Antwort an. Ein Grund der Herausgabe der vormundschaftlichen Gelder möchte dies mit sein, daß Hr. Heimlicher, der im Ganzen ein rechtschaffener Mann ist, nun nicht mehr vom Hrn. von Meyern verhetzet wird; beide haben sich nun stadtkundig ganz miteinander überworfen, und letzter hat sich in Baireuth von fünf Verlobten losgemacht und tritt gegenwärtig mit einer Kuhschnapplerin in den Stand der hl. Ehe.

Meine Frau ist ihm so gram, als es die christliche Liebe nur erlaubt, und sie sagt, wenn er ihr begegne, sei ihr wie einem Jäger, dem am Morgen eine alte Frau in den Weg tritt. Denn er habe zu manchem unnützen Verdrusse mit ihrem Manne geholfen; und sie erzählt mir oft mit Vergnügen davon, wie hübsch Sie, hochgeehrtester Hr. Inspektor, manchmal diesen gefährlichen Menschen abgekappt. In mein Haus wagt er jedoch keinen einen Tritt. Für heute verspare ich noch eine ausführlichere Bitte, ob Sie nicht die noch erledigte Stelle des Verstorbnen in dem Götterboten deutscher Programme – welcher, darf ich sagen, in den Gymnasien und Lyzeen von Schwaben bis Nürnberg, Baireuth und Hof mit Beifall gehalten wird – als Mitarbeiter besetzen wollten. An elenden Programmensudlern ist eher Überfluß als Mangel – und Sie sind daher (lassen Sie sich dies ohne Schmeichelei sagen) ganz der Mann dazu, der die satirische Geißel über dergleichen Froschlaich in den kastalischen Quellen zu schwingen wissen würde, wie wahrlich nur wenige. Jedoch künftig mehr! Auch meine gute Frau schließet hier die herzlichsten Grüße an den hochgeehrten Freund ihres sel. Mannes bei; und ich selber verharre unter der Hoffnung baldiger Bittegewähr


Ew. Hochwohlgeboren

ergebenster

S. R. Stiefel,

Schulrat.


[545] Das Menschenherz wird durch große Schmerzen gegen das Gefühl der kleinen gedeckt, durch den Wasserfall gegen den Regen 174. Firmian vergaß alles, um sich zu erinnern, um zu leiden, um sich zuzurufen: »So hab' ich dich ganz verloren, auf ewig – O du warest allemal gut, nur ich nicht – Sei glücklicher als dein einsamer Freund, den du mit Recht jeden Sonntag beweinest.« – Er warf auf seine satirischen Launen jetzt alle Schuld seiner vorigen Eheprozesse und schrieb seiner eignen unfreundlichen Witterung den Mißwachs an Freuden zu.

Aber er tat sich jetzt mehr Unrecht als sonst Lenetten. Ich will auf der Stelle die Welt mit meinen Gedanken darüber beschenken. Die Liebe ist die Sonnennähe der Mädchen, ja es ist der Durchgang einer solchen Venus durch die Sonne der idealen Welt. In dieser Zeit ihres hohen Stils der Seele lieben sie alles, was wir lieben, sogar Wissenschaften und die ganze beste Welt innerhalb der Brust; und sie verschmähen, was wir verschmähen, sogar Kleider und Neuigkeiten. In diesem Frühlinge schlagen diese Nachtigallen bis an die Sommersonnenwende: der Trautag ist ihr längster Tag. Dann holet der Teufel zwar nicht alles, aber doch jeden Tag ein Stück. Das Bastband der Ehe bindet die poetischen Flügel, und das Ehebette ist für die Phantasie eine Engelsburg und ein Karzer bei Wasser und Brot. Ich bin oft in den Flitterwochen dem armen Paradiesvogel oder Pfau von Psyche nachgegangen und habe in der Mause des Vogels die herrlichen Schwung- und Schwanzfedern aufgelesen, die er verzettelte: und wenn dann der Mann dachte, er habe eine kahle Krähe geehlicht, setzt' ich ihm den Federbusch entgegen. Woher kommt dies? Daher: Die Ehe überbauet die poetische Welt mit der Rinde der wirklichen, wie nach Descartes unsere Erdkugel eine mit einer schmutzigen Borke überzogene Sonne ist. Die Hände der Arbeit sind unbehülflich, hart und voll Schwielen und können den feinen Faden des Idealgewebes schwer mehr halten oder ziehen. Daher ist in den höhern Ständen, wo man statt der [546] Arbeitstuben nur Arbeitkörbchen hat, und wo man auf dem Schoß die Spinnrädchen mit dem Finger tritt, und wo in der Ehe die Liebe noch fortdauert- oft sogar gegen den Mann –, der Ehering nicht so oft wie in den niedern Ständen ein Gygesring, welcher Bücher, Ton-, Dicht-, Zeichen- und Tanz-Künste unsichtbar macht; auf den Höhen bekommen Gewächse und Blumen aller Art, besonders die weiblichen, gewürzhaftere Kräfte. Eine Frau hat nicht wie der Mann das Vermögen, die innern Luft- und Zauberschlösser gegen die äußere Wetterseite zu verwahren. An was soll sich die Frau nun halten? An ihren Ehevogt. Der Mann muß immer neben dem flüssigen Silber des weiblichen Geistes mit einem Löffel stehen und die Haut, womit es sich überzieht, beständig abschäumen, damit der Silberblick des Ideals fortblinke. Es gibt aber zweierlei Männer: Arkadier oder Lyriker des Lebens, die ewig lieben wie Rousseau in grauen Haaren – solche sind nicht zu bändigen und zu trösten, wenn sie an der mit goldnem Schnitt gebundenen weiblichen Blumenlese nichts mehr vom Golde wahrnehmen, sobald sie das Werklein Blatt für Blatt durchschlagen, wie es bei allen umgoldeten Büchern geht – zweitens gibt es Schafknechte und Schmierschäfer, ich meine Meistersänger oder Geschäftleute, die Gott danken, wenn dieZauberin sich, wie andere Zauberinnen, endlich in eine knurrende Hauskatze umsetzt, die das Ungeziefer wegfängt.

Niemand hat mehr Langeweile und Angst – daher ich einmal in einer komischen Lebenbeschreibung das Mitleiden darauf hinlenken will – als ein feister, schiebender, gewichtvoller Bassist von Geschäftmann, der, wie sonst römische Elefanten, auf dem schlaffen Seile der Liebe tanzen muß, und dessen liebendes Mienenspiel ich am vollständigsten bei Murmeltieren antreffe, die ins Bewegen nicht recht kommen können, wenn die Stubenwärme sie aus dem Winterschlaf aufreißet. Bloß bei Witwen, die weniger geliebt als geheiratet sein wollen, kann ein schwerer Geschäftmann seinen Roman auf der Stufe anfangen, wo alle Romanschreiber die ihrigen ausmachen, nämlich auf der Trau Altarstufe. Ein solcher im einfachsten Stil gebaueter Mann würde eine Last vom Herzen haben, wenn jemand seine Schäferin solange [547] in seinem Namen lieben wollte, bis er nichts mehr dabei zu machen hätte als die Hochzeit; – und zu so etwas, nämlich zu diesem Last- oder Kreuzabnehmen, bezeigt niemand mehr Lust als ich selber; ich wollt' es oft in öffentliche Blätter setzen lassen (ich sorgte aber, man nähm' es für Spaß), daß ich erbötig wäre, erträglichen Mädchen, zu deren Liebe ein Mann von Geschäften nicht einmal die Zeit hat, so lange platonische, ewige Liebe zu schwören, ihnen die nötigen Liebeerklärungen als Plenipotentiar des Bräutigams zu übermachen und kurz, solche als substitutus sine spe succedendi oder als Gesellschaftkavalier am Arme durch das ganze unebene Breitkopfische Land der Liebe zu führen, bis ich an der Grenze die Fracht dem Sponsus (Bräutigam) selber völlig fertig übergeben könnte, welches dann mehr eine Liebe als eine Vermählung durch Gesandte wäre. Wollte einer (nach einem solchen systema assistentiae) den Schreiber dies, da doch auch in den Flitterwochen noch einige Liebe vorkommt, auch in diesen zum Lehnsvormund und Prinzipalkommissarius anstellen, so müßte er so viel Verstand haben und es sich vorher ausbedingen...

In Siebenkäsens Lenette war, ohne seine Schuld, sogleich vor dem Traualtar die ideale, selige Insel meilentief hinabgesunken; der Mann konnte nichts dafür; aber er konnte auch nichts dagegen. Überhaupt, lieber Erziehrat Campe, solltest du nicht so laut mit dem Schulbakel auf dein Schreibpult schlagen, wenn eine einzige Fröschin im nächsten Teich etwas quäket, was in einem Almanach eingesandt werden kann – ach reiße den guten Geschöpfen, die die schönsten Träume voll Phantasieblumen ins leere Leben sticken, doch den kurzen einer empfindsamen Liebe nicht weg: sie werden ohnehin zu bald, zu bald geweckt, und ich und du schläfern sie mit allen unsern Schriften nicht wieder ein! Siebenkäs schrieb an demselben Tage dem Schulrat kurz und eilig zurück: es sei ihm recht lieb, daß er sich an das Testament und an die Gesetze gehalten, und er schicke ihm hier die ganze Vollmacht zur Gelder-Erhebung; nur bitte er ihn als einen großen Gelehrten, der oft dergleichen weniger verstehe als zu verstehen hoffe, alles bloß durch einen Advokaten abzumachen, da ohne [548] Juristen kein Jus helfe, ja oft mit ihnen kaum. – Programme zu rezensieren hab' er keine Zeit, geschweige zu lesen, und er grüße herzlich die Gattin.

Es ist mir nicht unangenehm, daß alle meine Leser es, wie ich sehe, von selber herausgebracht, daß das Gespenst oder der überirdische Wauwau oder Mumbo Jumbo 175, der dem Heimlicher v. Blaise besser als Reichs-Kammergerichtsexekutions-Truppen den Erbschaftraub aus den Klauen gezogen, niemand weiter gewesen als Heinrich Leibgeber, der sich seiner Ähnlichkeit mit dem sel. Siebenkäs bediente, um den revenant (Wiederkömmling) zu spielen; ich brauche also dem Leser das nicht erst zu sagen, was er schon weiß.

Wenn der Mensch endlich eine jähe Alpe mit Laubfroschhänden aufgekrochen ist: so ist oft die erste Aussicht droben die in eine neue klaffende Schlucht: Firmian sah eine neue Tiefe unter sich – er mußte seinen neulichen Vorsatz fortweisen – ich meine, er durfte Natalien nicht ein Wort von seiner Auferstehung aus dem Bein-Lüz, nicht eine Silbe von seiner Fortdauer nach dem Tode sagen. Ach das Glück seiner Lenette, die, obwohl unverschuldet, zwei Männer hatte, war dann auf eine Zungenspitze gestellt – er hätte die Schuld, Lenette den Jammer gehabt. »Nein, nein (sagt' er), die Zeit wird schon nach und nach in Nataliens gutem Herzen auf meinem blassen Bild Staub ansetzen und ihm die Farben ausziehen.«

Kurz er schwieg. Die stolze Natalie schwieg ebenfalls. In diesem abscheulichen Stande neben dem harten, ewigen Knoten des Schauspiels bracht' er seine Stunden auf dem Theater ängstlich zu – über jeden Reiz des Frühlings warf der Rabenzug der Sorgen den gaukelnden Schatten, und in seinen Schlummer fielen die giftigen Träume wie Mehltau. Jede Traumnacht zerschnitt den fallenden, niedersteigenden Planetenknoten und sein Herz dazu. Wie rettete ihn das Schicksal aus diesem Qualm, aus dieser Stickluft der Angst? Wie heilte es seinen Fingerwurm im Ehering Finger? – Dadurch daß es den Arm abnahm. – Nämlich an [549] einem langen Abende war der Graf kurz vor dem Bettegehen so vertraulich gegen ihn geworden als – Weltleute können. Er sagte, er habe ihm etwas sehr Angenehmes zu berichten; nur möge er ihm eine Vorerinnerung vergönnen. Er komme ihm fuhr er fort – während seines Amtes nicht mehr so aufgeweckt und humoristisch vor, als er ihn vor demselben gefunden; ja vielmehr, wenn ers sagen sollte, zuweilen niedergeschlagen und zu sentimental; und doch habe er früher selber gesagt (dies war aber der andere Leibgeber), er höre lieber jemand über ein Übel fluchen als jammern, und man könne ja die Füße in dem Winter und doch die Nase in dem Frühling stecken haben und im Schnee an eine Blume riechen. – »Ich verzeih' es gern, denn ich errate vielleicht die Ursache«:, setzte er hinzu; aber sein Verzeihen war eigentlich nicht ganz wahr. Denn wie alle Große war ihm alles Starke der Gefühle, sogar liebender, am meisten aber trauernder, ein Verdruß, und ein starker Handdruck der Freundschaft ein halber Fußtritt; und vor ihm sollte der Schmerz nur lächelnd, das Böse nur lachend, höchstens ausgelacht vorüberziehen, wie denn die kältesten Weltleute dem physischen Menschen gleichen, dessen größter Wärmegrad sich in der Gegend des Zwerchfells aufhält 176. Folglich mußte dem Grafen der vorige Leibgeber – dieser sturmwindige und dabei heitere tiefblaue Himmel – mehr zusagen als der angebliche. – Aber wie anders als wir, die wir den Tadel ruhig lesen, hörte Siebenkäs ihn an! DieseSonnenfinsternisse seines Leibgebers, welche keine eignen Sonnenflecken waren, sondern die er selber durch seine Stellung scheinbar hervorbrachte, warf er sich als so schwere Sünden gegen seinen Lieben vor, daß er für sie durchaus Beichte und Buße haben mußte.

Als nun gar der Graf fortfuhr: »Euere Empfindsamkeit kann sich wohl nicht bloß auf den Verlust Eueres Freundes Siebenkäs beziehen, von dem Ihr mir überhaupt nach seinem Tode nicht mit so viel Wärme mehr gesprochen als bei seinem Leben; verzeiht mir diese Offenheit« –: da durchschnitt ein neuer Schmerz über Leibgebers Verschattung seine Stirn, und mit Not ließ er seinen Gerichtherrn sich zu Ende erklären. »Aber bei mir, bester [550] Leibgeber, ist dies kein Vorwurf, sondern ein Vorzug – um Tote soll man nicht ewig trauern, höchstens um Lebendige. – Und eben das letzte kann bei Euch in künftiger Woche aufhören, denn da kommt meine Tochter und –« (dies sprach er langgezogen) »ihre Freundin Natalie mit; sie sind sich unterwegs begegnet.« Hastig sprang Siebenkäs auf, stand fest und stumm da, hielt sich die Hand vor die Augen, nicht als einen Fächer, sondern als einen Lichtschirm, um die übereinander stehenden und widereinander laufenden Wolkenreihen von Gedanken recht durchzuschauen und zu verfolgen, eh' er seine Antwort gab.

Aber der Graf, ihn als Leibgeber in allen Punkten schief sehend und seine empfindsame Umwandlung auf Nataliens Rechnung und Entbehrung schreibend, ersuchte ihn, bevor er spreche, ihn nur gar auszuhören und seine Versicherung anzunehmen, mit welcher Freude er alles tun würde, um die schöne Freundin seiner Tochter auf immer in seiner Nachbarschaft zu behalten. Himmel! wie verwickelte der Graf alles Einfache so tausendfältig!

Jetzt mußte der von neuen Windecken gestürmte Siebenkäs um einen Bedenkaugenblick ersuchen – denn hier standen ihm drei Seelen auf dem Spiel –; aber er hatte kaum einige heftige Gänge durch das Zimmer gemacht, als er wieder fest stand und zum Grafen und zu sich sagte: »Ja, ich handle recht!« Darauf tat er die fragende Bitte an ihn um sein Ehrenwort, daß er ein Geheimnis, das er ihm vertrauen wolle, und das weder ihn selber noch seine Tochter im geringsten betreffe oder beschädige, bei sich verwahren wolle. – »In diesem Falle, warum nicht?« versetzte der Graf, dem ein aufgedecktes Geheimnis das Lichten einer Sperrwaldung vor einer weiten Aussicht war.

Da schloß Firmian sein Herz und sein Leben und alles auf; es war ein losgelaßner Strom, der in einem neuen Kanale sich überstürzt und mit Blicken noch nicht zu übermessen ist. Mehrmals hielt ihn der Graf durch neues Mißverstehen auf, weil er eine Liebe Nataliens gegen den eigentlichen Leibgeber bloß voraussetzend sich erdichtet und die wahre gegen Siebenkäs von niemand erfahren hatte.

[551] Jetzt überraschte wieder der überraschte Gerichtherr von seiner Seite und zeigte dem Inspektor unter so vielen Gesichtern, die in solchen Fällen zu machen waren – beleidigte, zornige, bestürzte, verlegne, entzückte, kalte –, bloß eines der zufriedensten. Vorzüglich erfreu' ihn nur, sagte er, daß er doch an so manchem sich gestoßen und Licht sich angezündet – und daß er in einigen Punkten von Leibgeber nicht zu gut und in andern nicht zu blind gedacht; – am meisten aber sei er über das Glück entzückt, auf diese Weise einen Leibgeber doppelt zu haben und den abgereisten in keiner Trauer um einen verstorbenen Freund zu wissen. –

Über des Grafen Heiterbleiben wundere sich doch niemand, der nur irgendeinen hellen Ordenstern auf einer bejahrten erloschenen Brust funkeln sehen. Wenn unser alter Weltmann so den auf- und abfliegenden Weberschiffchen dieser freundschaftlichen Kette nachsah, dem Lieben und Opfern auf jeder Seite und die dadurch zusammengewirkte glänzende Raffaels-Tapete der Freundschaft in der Hand hielt und besah, so überkam er nach so langer Zeit den Genuß von etwas Neuem; so daß er bisher in seiner ersten Loge vor einem lebendigen komisch-historischen Schauspiel gestanden, das er sich selber schön entwickelte und das sich jede Minute in seinem Kopfe wiedergeben ließ. Auch sein Inspektor wurde für ihn zu einem neuen Wesen voll frischer Unterhaltung dadurch eben, daß er von der Bühne wegging, sich umkleidete und als der Pseudo-Selige, Siebenkäs, in seine Stube eintrat und ihm in der Zukunft von nichts als dem Erzähler selber recht viel erzählen konnte. Und so wurden ihm beide Freunde gleich schmeichelhaft-lieb durch eine sich andrängende Teilnahme an ihm, mit welcher sie gegenseitig ihren Seelenbund durchflochten hatten.

Wer die Seligkeit, wahr zu bleiben, genossen, der begreift die neue, mit welcher Siebenkäs sich jetzt über alles, über sich und über Heinrich und Natalie, ungehemmt ergießen konnte, – indem er die weggeworfne Last erst nachfühlte, die leichte Scherzlüge des Augenblicks zu einem jährlichen Lustspiel von 365 Aufzügen zu verarbeiten. Wie leicht eröffnete ers dem Grafen, daß er vor [552] der Ankunft Nataliens, die er weder forttäuschen noch enttäuschen könne, fliehen wollte, und zwar geradezu nach dem Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Da der Graf aufhorchte: so sagte er ihm alles, was ihn trieb und reizte: Sehnsucht nach seinem Grabstein und unheiligen Grabe, ordentlich um zu büßen Sehnsucht, Lenetten von fernen ungesehen zu sehen, ja vielleicht in der Nähe ihr Kind – Sehnsucht, über ihren Glück- und Ehestand mit Stiefeln das Rechte von Augenzeugen zu erfahren; denn Stiefels Brief hatte ihm die Blumenasche der vergangnen Tage in die Augen geweht und die eingeschlafne Blume der ehelichen Liebe aufgeblättert- Sehnsucht, den Schauplatz seiner niederbeugenden Lage dort mit abgelegter Bürde aufrecht und romantisch zu durchwandern – Sehnsucht, im Marktflecken etwas Neues von seinem Leibgeber zu vernehmen, der ja erst vor kurzem da gewesen – Sehnsucht, seinen Totenmonat, den August, einsam zu feiern, wo es ihm wie dem Weinstock ergangen, dem man im August die Blätter abbricht, damit die Sonne stärker auf die Beeren steche.

Mit drei Worten – denn weshalb viele Gründe, da man nur einmal wollen darf, so kanns nachher an Gründen dazu nicht fehlen – er reiste ab.

Fünfundzwanzigstes und letztes Kapitel

Die Reise – der Gottesacker – das Gespenst – das Ende des Elendes und des Buchs


Ich sehe jeden Tag mehr, daß ich und die übrigen 1000000099 Menschen 177 nichts sind als Gefüllsel von Widersprüchen, von unheilbaren Nullitäten und von Vorsätzen, deren jeder seinen Gegenmuskel (musc. antagonista) hat – andern Leuten widersprechen wir nicht halb so oft als uns selber –; dieses letzte Kapitel ist ein neuer Beweis: ich und der Leser haben bisher auf nichts hingearbeitet als auf das Beschließen des Buchs – und jetzo, da wir daran sind, ist es uns beiden äußerst zuwider. Ich [553] tue doch etwas, wenn ich – soviel ich kann – das Ende desselben, wie das Ende eines Gartens, der auch voll Blumenstücke ist, etwa bestens verberge und manches sage, was das Werklein allenfalls verlängert.

Der Inspektor sprang mit der Burg einer muskulösen, vollen Brust ins Freie unter die Kornähren, der Alp des Schweigens und Täuschens drückte nicht mehr so schwer auf ihn. Die Schlaglauwine seines Lebens war überhaupt unter seiner jetzigen Glücksonne um ein Drittel zerlaufen; die elektrische Belegung mit reichern Einkünften und selber die häufigern Geschäfte hatten ihn mit Feuer und Mut geladen. Sein Amt war ein mit einem solchen silbernen und goldnen Geäder durchschossener Berg, daß er schon in diesem Jahre namenlose Beisteuern zur preußischen Witwenkasse ablaufen lassen konnte, um seinen Betrug anfangs zu halbieren, und zuletzt gar aufzuheben und gutzumachen. Ich würde diese Pflichthandlung gar nicht vor die Augen des Publikums befördern, wenn ich nicht zu besorgen hätte, daß Kritter in Göttingen, der den Torschluß dieser Kasse aufs Jahr 1804 verlegt, oder auch noch glimpflichere Rechner, die ihre Letzte Ölung auf 1825 herausrechnen, daß diese etwan von meinen Blumenstücken Gelegenheit nehmen möchten, gar dem Inspektor den Totentanz der Witwenkasse aufzubürden. Es würde mich ungemein reuen, der ganzen Sache nur in den Blumenstücken erwähnt zu haben.

Er nahm seinen Weg nicht über Hof oder Baireuth und über die alten romantischen Reisewege; er fürchtete, Natalien mit seinem Scheinkörper von der hinter den Wolken säenden Hand des Schicksals entgegen gebracht zu werden. Und doch hoffte er von derselben Hand ein wenig, daß sie ihn zufällig auf seinen Leibgeber stoßen lasse, da dieser erst neulich in den kuhschnappelschen Wassern gekreuzet. Ohnehin hatte er sich unterwegs wieder in dessen Hemd und Jacke und ganzes Außen verkörpert, das er von ihm im Gefreeser Wirthaus eingewechselt; und der Anzug war ihm ein Spiegel, der ihm in einem fort den Entfernten zeigte. Ein Saufinder – wie der Leibgebersche –, der in einem Forsthause den Kopf nach ihm aufhob, gab ihm einen Stich der [554] Freude ins Herz; aber die Nase des Hundes kannte ihn so wenig wie dessen Herr.

Indes, je näher er gegen die Berge und Wälder vorschritt, hinter deren sinesischer Gottesackermauer seine zwei leeren Häuser, sein Grab und seine Stube, standen: desto enger zog die Beklommenheit ihr Zugnetz um sein Herz zusammen. Es war nicht die Furcht, erkannt zu werden; dies war (wegen seiner jetzigen Ähnlichkeit mit Leibgebern) unmöglich; ja man hätt' ihn eher für seinen eignen Poltergeist und Propheten Samuel genommen als für den noch lebenden Siebenkäs; sondern außer der Liebe und der Erwartung macht' ihn noch etwas anders ängstlich, was mich einmal einklemmte, da ich unter den herkulanischen Altertümern meiner Kindheit herumreisete. Es warfen sich wieder um meine Brust die eisernen Banden und Ringe, die sie in der Kindheit zusammenzogen, worin der kleine Mensch noch vor den Leiden des Lebens und dem Tode hülf- und trostlos zittert; man steht mitten innen zwischen dem abgerissenen Fußblock, den aufgesperrten Hand- und Beinschellen und zwischen dem hohen brausenden Freiheitbaume der Philosophie, die uns in den freien offnen Waffenplatz und in die Krönungstadt der Erde führte. Firmian sah in jedem Gebüsche, um das er sonst in seinem armen, leeren Winzer-Herbst spazieren gegangen, den abgestreiften Balg der Schlangen hangend, die sich sonst um seine Füße gewunden hatten – die Erinnerung, dieser Nachwinter der harten, rauhen Tage, fiel in die schönere Jahreszeit seines Lebens ein, und aus der Nähe solcher unähnlicher Gefühle, des vorigen Kettendrucks und der jetzigen Freiheitluft, floß ein drittes, bittersüßes, banges zusammen.

In der Dämmerung ging er langsam und aufmerksam durch die mit verzettelten Ähren bezeichneten Gassen der Stadt; jedes Kind, das mit dem Nachtbier vor ihm vorüberlief, jeder bekannte Hund und jeder alte Glockenschlag waren voll Schieferabdrücke von Freudenrosen und Passionblumen, deren Exemplare längst auseinandergefallen waren. Als er vor seinem vorigen Hause wegging, hört' er oben in seiner Stube zwei Strumpfwirkerstühle schnarren und klappern mit ihrem gezognen Schnarrkorpus-Register.

[555] Er quartierte sich im Gasthofe zur Eidechse ein, der nicht das glänzendeste Hotel im Marktflecken gewesen sein kann – da der Advokat darin Rindfleisch auf einem Zinnteller bekam, der nach den Schnitten und Stigmen durch ein Fac-simile seines eignen Messers sich unter seinen verpfändeten Teller-Ausschuß eingeschrieben –; indes aber hatte der Gasthof das Gute, daß Firmian das drei Treppen hohe Stübchen Nro. 7 nehmen und darin eine Sternwarte oder einen Mastkorb der Beobachtung anlegen konnte, gerade der tiefern Studierstube Stiefels gegenüber. Aber seine Lenette kam nicht ans Fenster. Ach, er wäre, hätte er sie erblickt, in die Stube vor Wehmut hingekniet. Bloß als es sehr dunkel wurde, sah er seinen alten Freund Pelzstiefel ein gedrucktes Blatt – höchst wahrscheinlich einen Korrekturbogen des Anzeigers deutscher Programme –, weil es zu finster war, gegen die Abendröte zum Fenster heraushalten. Es wunderte ihn, daß der Rat sehr eingefallen aussah und eine Florschärpe oder Binde um den Ärmel hatte: »Sollte denn«, dacht' er, »das arme Kind meiner Lenette schon verstorben sein?«

Spät schlich er sich zitternd nach dem Garten, aus dem nicht jeder wiederkommt, und an welchen der hangende Eden-Garten des zweiten Lebens stößet. Im Kirchhof war er vor nahen Zuschauern durch die Gespenstergeschichten gedeckt, womit Leibgeber dem Vormunde die Mündelgelder aus den Händen gerungen. Da er an sein leerstehendes unterirdisches Bette nicht sogleich gelangen konnte: so kam er vorher vor der Kindbetterin vorbei, auf deren damals schwarzen, jetzo grasigen Hügel er den Blumenstrauß gepflanzet hatte, der dem Herzen seiner Lenette eine unerwartete Freude machen sollte und nur einen unerwarteten Kummer machte. Endlich kam er vor den Bettschirm der Grab-Sieste, vor seinen Leichenstein, dessen Inschrift er mit einem kalten Schauer herunterlas. »Wenn nun diese steinerne Falltüre auf deinem Angesichte läge und den ganzen Himmel verbauete?« sagt' er zu sich – und dachte daran, welches Gewölke und welche Kälte und Nacht um die beiden Pole des Lebens, so wie um die beiden Pole der Erde, herrsche, um den Anfang und um das Ende des Menschen – er hielt jetzt seine Nachäffung der [556] letzten Stunde für sündlich – der Trauerfächer einer langen, finstern Wolke war vor dem Monde ausgebreitet – sein Herz war bang und weich, als plötzlich etwas Buntes, was nahe an seinem Grabe stand, ihn ergriff und seine ganze Seele umkehrte.

Es stand nämlich darneben ein neues, lockeres Grab in einer hölzernen, übermalten Einfassung, ähnlich einer Bettlade; auf diesen bunten Brettern las Firmian, solang' es sein überströmendes Auge lesen konnte: »Hier ruht in Gott Wendeline Lenette Stiefel, geborne Egelkraut aus Augsburg. Ihr erster Mann war der wohlsel. Armenadvokat St.F. Siebenkäs. Sie trat zum zweitenmal 1786 den 20. Okt. in die Ehe mit dem Schulrate Stiefel allhier und entschlief, nachdem sie 3/4 Jahre mit ihm in einer ruhigen Ehe gelebet, den 22. Jul. 1787 im Kindbette und liegt hier mit ihrem totgebornen Töchterlein und wartet auf eine fröhliche Auferstehung.«.....

»O du Arme, du Arme!« mehr konnt' er nicht denken. Jetzo, da ihr Lebenstag heller und wärmer wurde, schlingt die Erde sie ein; und sie bringt nichts hinunter als eine Haut voll Schwülen der Arbeit, ein Angesicht voll Runzeln des Krankenbettes und ein zufriedenes, aber leeres Herz, das, in die Hohlwege und Schachten der Erde hinabgedrückt, so wenig Gefilde und wenig Gestirne gesehen hatte. Ihre Leiden hatten sich allemal so eng und schwarz und groß über sie herüber gezogen, daß keine malende Phantasie sie durch das Farbenspiel der Dichtung mildern und verschönern konnte, so wie kein Regenbogen möglich ist, wenn es über den ganzen Himmel regnet. »Warum hab' ich dich so oft gekränkt, sogar durch meinen Tod, und deinen unschuldigen Launen so wenig vergeben?« sagt' er bitter weinend. Er warf einen Regenwurm, der sich aus dem Grabe drängte und ringelte, weit hinweg, als wenn er eben aus dem geliebten, kalten Herzen satt gefüllet käme, da ihn doch das sattigt, was uns am Ende auch satt macht, Erde. Er dachte an das zerstäubende Kind, das wie ein eignes die welken, dünnen Arme um seine Seele legte, und dem der Tod so viel, wie ein Gott dem Endymion, gegeben: Schlaf – ewige Jugend – und Unsterblichkeit. Er wankte endlich langsam von der Trauerstätte hinweg, als die Tränen sein Herz nicht erleichtert, nur ermüdet hatten.

[557] Als er im Gasthof eintrat: sang eine Harfenistin in Begleitung eines kleinen Flötenspielers der Wirtstube ein Lied vor, dessen Wiederkehr war: »Tot ist tot, hin ist hin.« Es war dieselbe, die am hl. Abend vor dem neuen Jahre, als seine nun zerstörte und gestillte Lenette mit der brechenden Brust voll Qualen, weinend und verlassen, ihr verzognes Angesicht ins Schnupftuch drückte, gespielet und gesungen hatte. O die heißen Pfeile der Töne zischten durch sein zerstochnes Herz – der Arme hatte keinen Schild – »Ich habe sie damals sehr gemartert (sagt' er unaufhörlich); wie sie seufzete, wie sie schwieg! – O wenn du doch mich jetzt sähst aus deinen Höhen, da du gewiß glücklicher bist; wenn du meine vollgeblutete Seele erblicktest, nicht damit du mir vergäbest – nein, damit ich nur den Trost hätte, deinetwegen etwas zu leiden – o wie wollt' ich jetzt anders gegen dich sein!«

So sagen wir alle, wenn wir die begraben, die wir gequälet haben; aber an demselben Trauerabende werfen wir den Wurfspieß tief in eine andere, noch warme Brust. O wir Schwächlinge mit starken Vorsätzen! Wenn heute die zerlegte Gestalt, deren verwesende, von uns selber geschlagene Wunden wir mit reuigen Tränen und bessern Entschlüssen abbüßen, wieder neu geschaffen und jugendlich überblüht in unsere Mitte träte und bei uns bliebe: so würden wir bloß in den ersten Wochen die wiedergefundne, liebere Seele vergebend an unsern Busen, aber dann später sie doch wie sonst in die alten, scharfen Marterinstrumente drücken. Daß wir dieses sogar gegen unsere lieben Verstorbenen täten, seh' ich daraus – die Härte gegen die Lebenden noch ungerechnet –, weil wir in den Träumen, wo uns die versunknen Gestalten wieder besuchen, gegen sie alles wiederholen, was wir bereuen. – Ich sage das nicht, um einem Wehklagenden den Trost der Reue oder des Gefühles zu nehmen, daß er das verlorne Wesen schöner liebe; sondern nur um den Stolz auf diese Reue und auf dieses Gefühl zu schwächen. –

Als Firmian noch spät das von der Trauerzeit ausgesogne, zernagte Angesicht seines alten Freundes, dessen Herz so wenig mehr besaß, gen Himmel blicken sah, als wenn er da zwischen [558] den Sternen die geraubte Freundin suchte: so drückte der Schmerz die letzte Träne aus dem ausgepreßten Herzen, und im Wahnsinn der Qual gab er sich sogar die Leiden seines Freundes schuld, als hätte dieser sie ihm nicht früher zu verdanken als zu vergeben gehabt.

Er erwachte mit der Müdigkeit des Schmerzes, d.h. mit der Verblutung aller Gefühle, die sich endlich in ein süßes Zerfließen und ein tötliches Sehnen auflöset. Er hatte ja alles verloren, sogar das, was nicht begraben war. Zum Schulrate durft' er aus Besorgnis nicht gehen, daß er sich verrate; daß er wenigstens die Ruhe des unschuldigen Mannes, der mit der Heirat einer noch verheirateten Frau weder sein orthodoxes Gewissen noch seinen Ehrgeiz hätte versöhnen können, auf ein zweideutiges Spiel zu setzen wage.

Aber den Friseur Merbitzer konnt' er mit einer verminderten Gefahr, sich zu verraten, besuchen und von ihm eine größere Aussteuer von Nachrichten mitnehmen. – Übrigens hatte jetzt die Sense des Todes mit den Banden der Liebe zugleich alle seine Ketten und Knoten zerhauen; er schadete nun niemand als sich, wenn er vor andern, ja vor der trauernden Natalie seine Totenlarve abzog und sich unvermodert darstellte – um so mehr, da ihm sein Gewissen an jedem schönen Abend und bei jeder guten Tat die Verzögerzinsen der rückständigen Wahrheit-Schuldenmasse abfoderte und alle Moratorien verweigerte. – Auch schwur sein Ich wie ein Gott seinem Ich, daß er nur diesen Tag noch bleibe und dann niemals wiederkehre.

Der Friseur ersah am Hinken sogleich, daß es niemand anders sei als der Vaduzer Inspektor – Leibgeber. Er setzte, gleich der Nachwelt, dem vorigen Mietmann Siebenkäs die dicksten Rosmarinkränze auf und beteuerte: sein jetziges Spitzbubenzeug von Strumpfwirkern oben sei gegen den sel. Herrn gar kein Vergleich, und das ganze Haus krache, wenn sie oben träten und schnarrten. Er brachte dann bei, daß der Selige die Frau in Jahrfrist nachgeholt habe – daß diese nie Merbitzers Haus vergessen können, daß sie oft bei Nacht in ihrer Trauerkleidung, worin man sie auch beerdigen müssen, eingesprochen und Red' und Antwort [559] von ihrer Veränderung gegeben: »sie lebten«, sagte der Haarkräusler, »wie zwei Kinder miteinander – nämlich Stiefel und sie.« – Dieses Gespräch, dieses Haus und endlich sein eignes, jetzt so lärmendes Zimmer zeigten nichts als leere Stätten des zerstörten Jerusalems – wo sein Schreibtisch war, stand ein Strumpfwirkerstuhl etc. – und alle seine Fragen nach der Vergangenheit waren die Brandkollekte, welche die niedergebrannten Lustschlösser wieder aus der Phönixasche heben sollte. Die Hoffnung ist das Morgenrot der Freude, und die Erinnerung ihr Abendrot; aber dieses tropfet so gern in entfärbtem grauen Tau oder Regen nieder, und der blaue Tag, den das Rot verspricht, bricht freilich an; aber in einer andern Erde, mit einer andern Sonne. – Merbitzer schnitt, unwissend, den Spalt tief und weit, in den er die abgeschnittenen Blütenzweige der alten Tage dem Herzen Firmians einimpfte – und als seine Frau zuletzt erzählte, daß Lenette nach dem Krankenabendmahl bei dem Vesperprediger angefragt: »ich komme doch nach meinem Tod zu meinem Firmian?« so kehrte Firmian von diesen blinden Dolchstichen seine Brust weg und eilte fort, aber ins Freie hinaus, um keinem Menschen zu begegnen, den er belügen hätte müssen.

Und doch mußt' er sich nach einem Menschen sehnen, und wäre einer nicht anders zu finden als unter seinem niedrigsten Dache im – Gottesacker. Der gewitterhafte Dampf- und Dunstkreis des Abends brütete alle Wünsche der Wehmut an; der Himmel war mit unreifen zerstückten Gewitterflocken durchzogen, und am östlichen Horizont warf schon ein brausendes Gewitter seine entzündeten Pechkränze und seine vollen Wolken auf unbekannte Gegenden nieder. Er ging nach Hause; aber indem er vor den hohen Staketen des Blaisischen Garten vorbeilief, glaubt' er eine Gestalt wie Natalie, schwarz gekleidet, in die Laube schlüpfen zu sehen. Erst jetzo fiel ihm die vorige Nachricht Merbitzers mehr auf, daß eine vornehme Trauerdame sich vor einigen Tagen alle Stuben seines Hauses zeigen lassen und sich besonders in den Siebenkäsischen aufgehalten und nach vielerlei erkundigt habe. Nataliens Umweg auf der Reise nach Vaduz war immer nach ihrer kühnen und romantischen Denkweise nicht unwahrscheinlich, [560] da sie ohnehin Firmians Wohnort nie gesehen und der Inspektor ihr auf nichts geantwortet – da Rosa verheiratet war – und Blaise sich seit der Gespenstererscheinung ausgesöhnt hatte – und da Firmians Sterbmonat sie am natürlichsten zu einer Wallfahrt nach seinem letzten Orte einladen können.

Ihr Freund mußte nun wohl den ganzen Abend mit schmerzlicher Wärme an die letzte denken, die noch als der einzige unbedeckte Stern aus dem überzognen Sternenhimmel seiner vorigen Tage schimmerte. – Es wurde nun dämmernd; es wehte kühl; die Gewitter hatten sich schon an andern Ländern erschöpft; bloß schwarzrotes, zertrümmertes Gewölke, gleichsam glimmende, halbverkohlte Brände, waren im Himmel übereinander gehäuft. Er ging zum letztenmal nun an den Ort, wo der Tod die rote, zugleich mit der Knospe abgeschnittene Nelke eingelegt hatte; aber in seiner Seele wehete es, wie außer ihm, nicht mehr so schwül, sondern frischer die Bitterkeit des ersten Schmerzes hatten Tränen verdünnt – er fühlte sanfter, daß die Erde nur der Zimmerplatz, nicht die Baustelle der Menschen sei im Morgen glänzte mit aufsteigenden Sternen ein blauer, langer Streif über den versunknen Gewittern – der Lichtmagnet des Himmels, der Mond, lag wie eine Strahlenquelle auf der Folie einer gespaltenen Wolke, und das weite Gewölke schmolz ein und rückte nicht. –

Als Firmian näher am geliebten Grabe das gesunkne Haupt aufhob, ruhte eine schwarze Gestalt darauf. Er stockte, er blickte schärfer hin: es war eine weibliche, deren Angesicht, ins Eis des Todes eingefroren und eingeschmiedet, gegen ihn hinstarrete. Als er näher trat, war seine teuerste Natalie am bunten Grabgerüste niedergebrochen angelehnt, vor dem Herbstatem des Todes waren die Lippen und Wangen mit weißer Schminke angelaufen und die offenen Augen erblindet, und nur die Tränentropfen, die noch um sie hingen, zeigten an, daß sie erst gelebt, und daß sie ihn für die Geistererscheinung gehalten, wovon sie so viel gehört hatte. Da sie in der schwärmerischen Trauer über seinem Grabe ihrem starken und öden Herzen die Geistererscheinung gewünschet hatte, und da sie ihn nun kommen sah: so dachte [561] sie, das Geschick erhöre sie; und dann zerdrückte die metallene Hand des kalten Entsetzens die rote Rose zur weißen. O! ihr Freund war unglücklicher; sein weiches, nacktes Herz lag zwischen zwei aneinanderstürzenden Welten zermalmt. Mit jammernder Stimme schrie er: »Natalie, Natalie!« Die Lippe zuckte auf, und das Auge wärmte ein Hauch von Leben an; aber als der Tote noch vor ihr stand, schloß sie das Auge und sagte schaudernd: »Ach Gott!« Vergeblich warf seine Stimme sie ins stechende Leben zurück; sobald sie aufblickte, gerann ihr Herz vor der nahen Schrecklarve, und sie konnte nur seufzen: »Ach Gott!« – Firmian riß an ihrer Hand und rief: »Du himmlischer Engel, ich bin nicht gestorben – blicke mich nur an – Natalie, kennst du denn mich nicht mehr? – O guter Gott! strafe mich nicht so gräßlich und nimm ihr das Leben nicht durch mich!« Endlich hob sie langsam die schweren Augenlider auf und sah den alten Freund neben sich zittern, mit den Tränen der Angst und mit dem wechselnden Angesicht, das unter den Giftstacheln der Qualen aufschwoll – er weinte froher und stärker und lächelte sie schmerzlich an, als sie die Augen offen ließ: »Natalie, ich bin ja noch auf der Erde und leide wie du – Siehst du nicht, wie ich zittere deinetwegen? – Nimm meine warme Menschenhand! Bist du noch in Furcht?« – »Nein«, sagte sie erschöpft, aber sie blickte ihn scheu, wie einen überirdischen Menschen, an und hatte keinen Mut zur Frage über das Rätsel. Er half ihr unter sanften Tränen auf und sagte: »Aber verlassen Sie, Unschuldige, diese Trauerstätte, auf die schon so viel Tränen gefallen sind für Ihr Herz hat das meinige kein Geheimnis mehr – ach ich kann Ihnen alles sagen, und ich sag' Ihnen auch alles.« Er führte sie über die stillen Toten hinauf durch die Hinterpforte des Gottesackers hinaus; aber sie hing, unter dem Ersteigen der nächsten Anhöhe, schwer, matt und immer zusammenschaudernd an seinem Arm, und bloß die Tränen, welche die Freude, die aufgelösete Angst, der Kummer und die Ermattung miteinander aus ihren Augen trieben, fielen wie erwärmter Balsam auf das kalte, zerspaltene Herz.

Auf der schwer erklommenen Höhe setzte sich die müde [562] Kranke nieder – und die schwarzen Wälder der Nacht lagen, von weißen Ernten gegittert und von dem stillen Lichtmeer des Mondes durchschnitten, vor ihnen, die Natur hatte den gedämpften Lautenzug der Mitternacht gezogen, und neben Natalien stand ein teuerer Auferstandner. Er erzählte nun Leibgebers Bitten seine kurze Sterbens-Geschichte – seinen Aufenthalt beim Grafen – alle Wünsche und Tränen seiner langen Einsamkeit – seinen festen Entschluß, sie lieber zu fliehen, als ihr schönes Herz mündlich oder schriftlich zu belügen und zu verwunden – und die Entdeckungen, die er dem Vater ihrer Freundin schon gemacht. Sie hatte bei dem Berichte seiner letzten Minute und seines ewigen Abschiedes von Lenetten geschluchzet, als wäre alles wahr gewesen. Sie dachte an vieles, als sie bloß sagte: »Ach Sie haben sich bloß für fremdes Glück geopfert, nicht für eignes. Doch werden Sie jetzt alle Täuschungen aufheben oder gutmachen.« – »Alle, so weit ich kann (sagt' er), meine Brust und mein Gewissen kommen endlich wieder in Freiheit: hab' ich nicht sogar Ihnen den Schwur gehalten, Sie nicht eher zu sehen als nach meinem Tode?« Sie lächelte sanft.

Beide sanken in ein trunknes Schweigen. Plötzlich fiel ihm, als sie einen vom kalten Tau gelähmten Trauermantel 178 auf den Schoß legte, ihre Trauer auf, und er fragte voreilig: »Sie betrauern doch nichts?« Ach sie hatte sie ja seinetwegen angelegt. Natalie antwortete: »nicht mehr!« – und setzte, den Schmetterling ansehend, mitleidig dazu: »Ein paarTropfen und ein wenig Kälte machten den Armen starr.« – Ihr Freund dachte daran, wie leicht ihn das Schicksal für seine Kühnheit mit dem Erstarren des schöner geschmückten, obwohl ebenso schwarz bekleideten Wesens neben ihm hätte strafen können, das ohnehin schon in den Nachtfrösten des Lebens und im Nachttau kalter Tränen gezittert hatte; aber er konnte ihr nicht antworten vor Liebe und vor Schmerz.

Sie schwiegen nun, im gegenseitigen Erraten, halb in ihre Herzen, halb in die große Nacht verloren. Alles Gewölke – ach nur das am Himmel – hatte der weite Äther aufgesogen – Luna [563] bog sich mit ihrem Heiligenschein wie eine umstrahlete Maria näher aus dem reinen Blau zu ihrer bleichen Schwester auf der Erde herein – der Strom schlug sich ungesehen unter niedrigen Nebeln fort, wie der Strom der Zeit unter den Nebeln aus Ländern und Völkern – hinter ihrem Rücken hatte sich der Nachtwind auf ein gebogenes, rauschendes Ährenstroh gebettet, das blaue Kornblumen bestreueten – und vor ihnen hinab lag die umgelegte Ernte der zweiten Welt, gleichsam die in der Fassung von Särgen liegenden Edelsteine, die durch den Tod kalt und schwer 179 geworden – und der fromme, demütige Mensch sank, als Gegenbild der Sonnenblume und des Sonnenstäubchens, als Mondblume gegen den Mond und spielte als Mondstäubchen in seinem kühlen Strahl und fühlte, nichts bleibe unter dem Sternenhimmel groß als die Hoffnungen.

Natalie stützte sich nun auf Firmians Hand, um sich daran aufzurichten, und sagte: »Jetzt bin ich schon imstande, nach Hause zu kommen.« – Er hielt ihre Hand fest, aber ohne aufzustehen und ohne anzureden. Er blickte das erhärtete Stachelrad des alten, von ihr gereichten Rosenzweiges an und drückte sich unwissend und unempfindlich die Stacheln in die Finger – längere und heißere Atemzüge hoben die beladene Brust empor glühende Tränen hingen sich vor sein Auge, und das Mondlicht zitterte vor ihnen nur in einem Leuchtregen hernieder – und eine ganze Welt lag auf seiner Seele und auf seiner Zunge und erdrückte beide. – – »Guter Firmian«, sagte Natalie, »was fehlet Ihnen?« – Er kehrte sich mit weiten, starren Augen gegen die sanfte Gestalt und zeigte mit der Hand auf sein Grab hinunter: »Mein Haus drunten, das schon so lange leer steht. Denn der Traum des Lebens wird ja auf einem zu harten Bette geträumt.« Er wurde irre, da sie zu sehr weinte, und da ihm das in himmlische Milde zerschmolzene Gesicht zu nahe war. Er fuhr mit der bittersten, innersten Rührung fort: »Sind denn nicht alle meine Teuern dahin, und gehst du nicht auch? Ach warum hat uns allen das folternde Geschick das wächserne Bild eines Engels auf[564] die Brust gelegt 180 und uns damit ins kalte Leben gesenkt? O das weiche Bild zerbricht, und kein Engel erscheint – Ja, du bist mir wohl erschienen, aber du verschwindest, und die Zeit zerdrückt dein Bild auf meinem Herzen – und das Herz auch: denn wenn ich dich verloren habe, bin ich ganz allein. Lebe aber wohl! Bei Gott, ich werde doch einmal im Ernste sterben – und dann erschein' ich dir wieder; aber nicht wie heute, und nirgends als in der Ewigkeit. Dann will ich zu dir sagen: ›O Natalie, ich habe dich drunten mit unendlichen Schmerzen geliebt: vergilt mirs hier!‹« – – Sie wollte antworten; aber die Stimme brach ihr. Sie schlug ihr großes Auge zum Sternenhimmel auf; aber es war voll Tränen. Sie wollte aufstehen; aber ihr Freund hielt sie mit der Hand voll Dornen und Blut und sagte: »Kannst du mich denn verlassen, Natalie?« – Hier stand sie erhaben auf, bog das Haupt gegen den Himmel zurück, riß schnell die Tränen weg, die sie überströmten, und die fliegende Seele fand die Zunge, und sie sagte mit betenden Händen: »Du Alliebender – ich hab' ihn verloren – ich hab' ihn wiedergefunden – die Ewigkeit ist auf der Erde – mach ihn glücklich bei mir!« Und ihr Haupt sank zärtlich und müde auf seines, und sie sagte: »Wir bleiben beisammen!« Firmian stammelte: »O Gott! o du Engel – im Leben und Tode bleibst du bei mir.« –

»Ewig, Firmian!« sagte leiser Natalie; und die Leiden unsers Freundes waren vorüber.

Fußnoten

1 So wurden wirklich alle Stücke im ersten Bande der ersten, unverbesserten Auflage geordnet, aber der guten Pauline verschlägt es gewiß nichts, daß ich in der zweiten, so sehr verbesserten mehr an ganz Deutschland denke und alles viel anders reihe.

2 Ich bitte inständig denjenigen Teil des Publikums, mit dessen Schilderung es auf den Haupt- und Kaufmann gemünzt ist, solche nicht auf sich zu beziehen; ich scherze oben offenbar, und meine Absicht ist ja klar.

3 Die Teufel mußten, sagt der Koran, dem Salomo dienen. Nach seinem Tode wurd' er ausgestopft und durch einen Stab in der Hand und durch einen andern, ans Steißbein gestemmten auf einen so scheinbar-lebendigen Fuß gesetzt, daß es die Teufel selber nicht früher merkten, als bis die Hinterachse von Würmern zernagt wurde und der Souverän umkugelte. S. Boysens Koran in Michaelis' Orientalischer Bibliothek.

4 »Und zwar in der längsten, aber besten Biographie, die ich je geschrieben und zu welcher mir täglich ganze Karren mit Aktenstücken, Urkunden Attestaten u.s.w. vor die Tür geschoben werden, weil ich kein Wort schreiben will, das ich nicht verbriefen kann.« – Diese ganze Note stand in der frühern Auflage; ist aber wohl in der gegenwärtigen entbehrlich, da der Titan längst in aller Händen ist.

5 Wilhelmis Unterhaltungen aus der Naturgeschichte. Insekten. B. 1.

6 Spielerleben etc. etc. Gotha 1813

7 Himmelblau ist die Ordenfarbe der Jesuiten, wie des indischen Krischna und des Zorns. Die Hypothese des Physikers Marat, daß Blau und Rot das Schwarze geben, sollte man untersuchen, indem man dem Jesuiterblau das Kardinalrot zusetzte. Er selber brachte später in der Revolution aus Blau und Rot und Weiß das schönste Elfenbeinschwarz heraus oder den chinesischen Tusch, womit später Napoleon zeichnete.

8 Er nennt die Menschen, wie viele Herrnhuter und Mönche und Fürsten einander, seine Brüder, aber vielleicht mit Recht, da er sie ebenso gut wie ein morgenländischer Fürst die seinigen behandelt, ja noch viel sanfter dazu, ohne körperliches Köpfen, Blenden und Verschneiden bei einigem geistigen.

9 Dieselbe raubende und würgende Tatze verbirgt sich bei beiden unter dem Schein eines Menschentritts.

10 L. 15. §. 38 de injur

11 Sp. 547. n. tr.

12 Der Heimlicher in Freiburg ist drei Jahre lang unverletzbar in seinem Amte und drei Jahre nach dem Austritte daraus. Hanseatische Zeitung No. 415, 1816.

13 So heißen Leute, die sich selber sehen.

14 Es bestand meistens in Schatzgelde, in fünf Vikariatdukaten u.s.w.

15 Plato malt bekanntlich unsere niedrigern Leidenschaften als einen im Unterleibe zappelnden Viehstand ab.

16 Er hatte gerade eine angebliche Kindermörderin zu verteidigen.

17 Deutscher Merkur von 1809.

18 Nach neuen Berichten ists mehr ein Reim als ein Vetter, das Dorf Potschappel bei Dresden.

19 Denn die wenigen sogenannten Ratfreunde (aus dem Bürgerstande), die in Nürnberg und Kuhschnappel unter den Patriziern sitzen, haben zwar ihren Sitz, aber keine andere Stimme als eine fremde; und der übrigen ruhigen Stellvertreter, wodurch der dritte Stand wirklich Sitz und Stimme in der Regierung hat, gleichsam durch vidimierte Kopien der Köpfe, nämlich durch Steuergelder, deren können sogar nie genug vorhanden sein.

20 An der Küste des nordwestlichen Amerika vom 50. bis 60. Grad nördlicher Breite tragen die Weiber in der durchlöcherten Unterlippe hölzerne Suppenlöffel, und zwar desto größere, je vornehmer sie sind; bei einer Frau war der Löffel 5 Zoll lang und 3 Zoll breit. Langsdorfs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt, Bd. 2

21 Das Buch kam 1789 in der Beckmannschen Buchhandlung in Gera unter dem Titel: »Auswahl aus den Papieren des Teufels« heraus. Ich werde weiter hinten meine Meinung über jene Satiren zu äußern wagen.

22 Auf den damaligen Gillets waren Tiere und Blumen abgebildet.

23 Mosheims Kirchengeschichte, 3. T. S. Anmerkung von Hrn. Einem.

24 so hieß man sonst (s. Klübers Anmerkungen zu de la Curne de Sainte-Palaye vom Ritterwesen) die Aufseher bei den Turnierübungen, deren schwache Nachbilder noch einige adlige Hauslehrer geben. Damals nannte man die ritterschaftlichen Hofmeister »Bubenzuchtmeister«, und man will wünschen, daß unsere in und außer Gymnasien diesen Namen in einer Zeit, die alle guten Reste des Ritterwesens wieder hervorsucht, wenn nicht führen, doch verdienen.

25 Der französische Akademist Nikolaus Henrion zerrete den Adam bis zu 123 Fuß 9 Zoll lang, Hevam 118 Fuß 9 3/4 Zoll. Die Rabbinen berichten das Obige, daß Adam nach dem Fall durch den Ozean gelaufen. S. den II, bibl. Discours von Saurin.

26 Die bekannte Sekte, die unbekleidet in die Kirche ging.

27 Im eigentlichen Sinn die erste Nacht, weil Eva nach vielen Gelehrten schon am Morgen ihrer Schöpfung die Obstdiebin wurde.

28 Es scheint fast auf die Ineinanderverleibung des ernsten Tigers und des spielenden Affen hinzudeuten, daß der Grêve-Platz in Paris zugleich die Richtstätte der Missetäter und das Lustlager öffentlicher Volkfeste ist, daß auf demselben Raum Pferde einen Königmörder zerreißen und Bürger einen König feiern und daß die Feuerräder der Geräderten und die Feuerräder der Feuerwerker benachbart nacheinander spielen – – schauerliche Gegensätze, die man nicht häufen darf, wenn man nicht selber in die Nachahmung derer, die zur Rüge den Anlaß gegeben, verfallen will.

29 Buxt. lex. p. 221.

30 Mösers Osnabrückische Geschichte etc. I. Tl.

31 Wer den Hesperus später lieset als diese Vorrede, dem muß die unschuldige Neubegierde gelassen werden. Der andere hat sie schon gestillt.

32 Prokulus, Landpfleger des Genserichs, stahl alle orthodoxe Kirchen in der Zeugitianischen Provinz in Afrika aus und ließ die Altartücher zu Kamisölern und Hosen verarbeiten. Simonis Christl. Altertum. p. 286.

33 In dem Mittelalter wurde am ersten Ostertage auf der Kanzel Spaß gemacht, den man ein christliches Ostergelächter hieß.

34 »Das Fest der Sanftmut am 20ten März.« Es beschließt das dritte Bändchen.

35 Nach Schröters Beobachtungen stellen sich uns die grünenden Strecken des Mondes als Flecken dar, weil sie weniger Licht zurückwerfen als kahle weiße.

36 S. Moritz Reise durch England.

37 Da der obige Kettenschluß als solcher seinen Zusammenhang haben muß: so hab' ich ihm einigen durch bloße Worte und Übergänge zu erteilen gesucht und die Glieder der Schlußkette in etwas durch den Faden der Rede verbunden; und man mag sie etwas für einen Bandwurm halten, in dem jedes Glied wie der ein eigner, privatisierender, idiopathischer Wurm ist.

38 Dictionnaire philosophique. Art. Reliques.

39 Im 3ten Stück des Lichtenbergischen Magazins für die Physik etc. wird das Beispiel einer Frau erzählt, die aus einer Blume einen Wurm ins Gehirn hinaufzog, der sie mit Wahnsinn, Kopfschmerzen u.s.w. marterte, bis er lebendig wieder aus der Nase zurückging.

40 Voltaire bringt heraus, daß einer, der 23 Jahr alt wird, eigentlich nur 3 1/2 Jahr im eigentlichen Sinn gelebt habe. Bei mir nehmen oft Leute das gouter ein, die keine Fünftels-Sekunde alt sind, ja einer davon starb ohne alles Alter ab. Unser guter alter Kant hingegen mag schon seine vollen 25 Jahre auf dem Nacken haben, wenn nicht mehr.

41 Das Werk, das der Hr. Vorredner als Vorläufer ankündigt, wie ich selber schon tat im ersten Bändchen, wird wirklich diesen Namen führen und soll mir (insofern ich kann) statt einer Dispensationbulle, statt einer Absolution in articulo mortis, statt einer poenitentiaria gegen so viele ästhetische Sünden dienen, die ich schon begangen habe. (Jetzt, nach der Herausgabe des Titans, hab' ich bloß nachzutragen, daß an die Stelle meiner Schoßsünden die meisten Kritiker ihre eignen im Beurteilen desselben gesetzt.)

42 Der giftige Boa Upas, unter dem man schon in wenigen Minuten das Haar verliert.

43 Die mittlern Deutschen baueten an die Brunnen ihrer Burgen ein kleines Haus – Ruhe genannt – für müde Pilger auf.

44 Auswahl aus den Papieren etc. S. 41.

45 Die Musici der Alten hatten sie an. Bartholin. de Tib. Vet. III. 4.

46 Männer ebenfalls, nur in kleinerem Grade. Ein Mann, welcher täglich 90 Sachen mit regelmäßiger Erinnerung abtut, soll eine 91ste ein- oder zweimal vergessen haben so vergißt er sie fort bei allem anderweitigen Gedächtnis. Es gibt hier keinen andern Arzt als einen Menschen oder einen Umstand, der gerade in dem Augenblicke des Vergessens erinnernd eintritt. Hat er nun einmal einmal zu vergessen aufgehört, so vergißt er nicht mehr weiter.

47 Ein Ortstaler gilt 6 Gr.

48 Schmeckherren nennt man in verschiedenen Städten die Bier- Polizeileutenants, welche umhergehen und den Wert der Biere kosten.

49 Nach den Rabbinen setzet am Sabbate die Qual der Verdammten aus; nach den Christen am Höllenfahrttage Christi.

50 Testimonium integritatis, das priesterliche Zeugnis, daß eine Verlobte nie etwas mehr gewesen.

51 Ich wünschte, schon damals hätte Market in Köthen seine treffliche Lampe (viel wohlfeiler und augendienlicher als eine von Argand) erfunden gehabt, welche man in einem Thomasabend nur einmal zu schneuzen braucht und die, mit Rüböl genährt, (mir seit Jahren) ein stilles reines helles Licht gewährt, wie andern sogar über Billardtafeln.

52 In Bern und im Pays de Vaud sind zu einem vollen Beweise entweder zwei männliche oder vier weibliche Zeugen nötig. Röslins Weibl. Rechte, 1775.

53 In Holland bedeutet die beste Kammer das geheime Gemach.

54 So lange die Tortur fortwährt, steht die messende Sanduhr aufrecht.

55 Wirklich behauptete Bonnet, daß sie nicht mehr als sechs Ideen auf einmal haben könne. S. Hallers große Physiologie.

56 Nur kann man nicht sagen, daß der Wind durch Verjagen böser Dünste nütze, weil er ja für alle schlimme, die er meinem Hintermann von mir zu brachte, mir wieder alle schlimme meines Vormanns zugeführet hätte, und weil das stehende Wasser nicht darum modert, weil kein fließendes den Moder wegschwemmt.

57 Denn es wird besonders der Frau viel leichter nachzugeben und stillzuschweigen, wenn sie recht als wenn sie unrecht hat.

58 Und die ganze »Auswahl aus des Teufels Papieren« ist in jenem Tone geschrieben; aber die Schein-Härte desselben, die sich gegen ganze Stände und Geschlechter richtet, war bloß die ästhetische Bedingung einer rein durchgeführten Satire.

59 Solche Restaurateurs für Bettler gibts in London.

60 In Paris wird mit den von den reichen Tafeln fallenden Brotkrumen und Brot-Pulvern ein ansehnlicher Handel-Verkehr getrieben.

61 Auf einer Schweinehaut mußte sonst der Jude mit nackten Füßen stehen und schwören.

62 Das Vieh darf am Schabbes gar nichts tragen; sogar die Läppchen der Unterscheidung werden den Hühnern abgenommen, so muß der Jude nur Unjuden melken lassen; nicht einmal Tau oder Staub darf er von sich ab kehren. Der Jude, oder altes und neues Judentum. B. 2. S. 481 etc.

63 Es ist Pflicht zweiter, verbesserter Auflagen, hier die Eßlust der Damen an Hoftafeln auszunehmen. Lange Sitzung, lange Weile, lange Gewohnheit und Tischgefälligkeit legen ihnen so viel in den Mund, als etwa der kantische Magen eines magern Philosophen vertrüge, aber kein Kurialmagen. Indes gehören eben Unverdaulichkeiten unter die Honneurs, welche Hofdamen zu machen haben.

64 Man muß gelesen haben, daß Prizelius Bataillenpferde an die trommelnde Schlacht so gewöhnt, daß er ihren Hafer auf die Trommel schüttet und auf deren zweitem Felle unten trommelt, während sie vom ersten das hüpfende Futter fressen.

65 Von der Erfahrung B. 1. p. 444.

66 Der Stoff der Allegorie ist leider wahr: die Schäfer wissen lebendigen Schafen mit Stäben das Fett aus dem Unterleibe zu drehen.

67 Bellarmin und die Rabbinen sagen, daß die Taube das Blatt, das sie dem Noah zutrug, aus dem Paradies abgeblattet, das zu hoch für die Sündflut lag.

68 Denn bekanntlich gibt es keine Gewächse mit eilf Staubfäden.

69 Wenigstens schreibts ein wittenbergischer Chroniker, es sei Erde im Apfel, den freilich sonst kein Nürnberger aufschneiden durfte. Wagenseil de civ. Norimb. p. 239.

70 Dr. Hooke rät den Sternsehern, sich das Sonnenbild so lange von Planspiegeln zurückwerfen zu lassen, bis es erloschen scheint. Priestleys Geschichte der Optik.

71 Den Lesern sag' ichs, daß eine große Nummer große Nadeln, und den Leserinnen sag' ichs, daß eine große kleinen Schrot anzeigt.

72 Es erinnert nämlich jeder sich noch aus dem zweiten Kapitel, welche ehrenrührige Anrede an Blaise Leibgeber auf den die Gerechtigkeit vorstellenden Ofen mit sympathetischer Dinte geschrieben. Als daher einmal an einem kalten Herbsttage die Themis für eine große Gesellschaft geheizet werden mußte: so war das kurze Pasquill, das ihn einen Injustizminister und dergleichen nennt, schon dem größern Teil der Gäste durch die Hitze lesbar geworden, eh' man nur daran gedacht, es abzukratzen. Von Blaise machte aber kein Hehl daraus, daß es entweder Leibgeber oder Siebenkäs gemacht.

73 Dessen introduction dans l'histoire de Dannemarc.

74 Art. 159. P. G. O.

75 Der Bruder des Doktor Hunters fand sie. S. van Dalems Reise durch England.

76 Pl. H. N. XII. 17.

77 Bekanntlich wurde dem Römischen Kaiser eine goldne Krone in Rom aufgesetzt, eine silberne in Aachen, eine eiserne in Pavia. Ein König hat einen Kopf, der alle Kronen zu tragen vermag, Kronen von allen Ländern, von allen Metallen, sogar von Quecksilber.

78 Zanger und Heil vermuten aus dem häufigern Seufzen beim Namen Jesu, aus dem frühen Kommen in die Kirche, aus dem späten Gehen nichts Gutes; etwas ist an der Sache und ein solches Wesen nicht ganz vom Teufel rein.

79 Wenig oder nichts gebührt der jetzigen Landwehr von dem Lobe, das ich der vorigen in der ersten Auflage gegeben; viel gerechter dürften dasselbe sich die regelmäßigen Soldatenheere der kleinren Souveräne jetzo zueignen.

80 Etudes de la nature, T. III. p. 220. Der Verfasser, ein Schüler Rousseaus, ist für Freunde Rousseaus.

81 Die Haarkräuslerin, die Schusterin, die Buchfinderin: denn die alte Sabel selber, das Erbamt bei der königlichen Tafel verwaltend, bring' ich nicht in Anschlag.

82 Griechen und Römer hatten bekanntlich bei Gastmahlen einen Zeremonienmeister oder Speise-Gonfaloniere, dessen Regierung so lange dauerte als das Essen.

83 Wolf Memorab. Cent. XIII. p. 540. Es ist freilich nur Verleumdung; aber in den finstern Zeiten griff man mehr die Handlungen und jetzo mehr die Lehrsätze der Ketzer an, weil jetzo Rechtglaubige und Andersglaubige doch wenigstens – im Handeln übereinkommen.

84 Diese Krönung des Peters mit ungesäuertem Brot (s. Jägers Historische Tabell.) ist wie die jetzigen mit den Kaufmitteln des Brots nichts als eine rhetorische Figur, die pars pro toto heißet.

85 zwei Löcher an einer Haselnuß deuten an, daß der Käfer, der darin als Würmchen den Kern zernagte, verpuppet ausgekrochen ist.

86 Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, das in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären; so würd' ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.

87 Wie die Griechen und Römer der Sonne ihre Träume erzählten, so sagt' ich den obigen einer katholischen Fürstin (Lichnowsky), die ihn veranlaßt hatte, da sie die Reise von Wien nach Baireuth machte, um ihren Sohn – der aus dem Boden seines Standes in die Gartenerde eines weisen und edlen Erziehers (Hofrat Schäfer) versetzt war – zu umarmen.

88 Jene versehen bei der Krone Böheim das Erzküchenmeister-, diese das Erbvorschneideramt.

89 Die Scholastiker glauben, zwei Engel haben Platz an einer und derselben Stelle. Occam. 1. qu. quaest. 4 u.a.

90 Man fabelte, das Männchen des Paradiesvogels brüte, bloß im Äther hangend, die Eier auf dem Rücken des Weibchens aus.

91 Besonders an kalten hellen Winter-Morgen und – Abenden. Seit mehr als zwanzig Jahren heg' ich – Siebenkäs desfalls – diese Krankheit, die eben jetzo am 24ten kalten Dezember bei ihrem Malen mir wieder sitzt, in mir. Sie ist nichts als eine Lähmung der Lungen-Nerven – besonders des umherschweifenden Nerven (nerv. vag.) – und kann mit der Zeit (denn man sieht, daß ihr zwanzig Jahre noch nicht hinreichen) jenen Lungenschlagfluß erwirken, den Leveillé in Paris und neulich Hohnbaum als eine neue Gattung aufstellen, und welchen man wohl, nach Ähnlichkeit des Millars-Husten, den Siebenkäsischen oder J. Pauls-Schlagfluß nennen könnte.

92 Buffon über die Erzeugung.

93 L. I. §. 3. D. de postulando.

94 Nach Justin; s. Bastholms Jüdische Geschichte, aus dem Dänischen. 1785.

95 Der Ehemann sollte mehr den Liebhaber, und dieser mehr jenen spielen. Es ist nicht zu beschreiben, welchen mildernden Einfluß kleine Höflichkeiten und unschuldige Schmeicheleien gerade auf die Personen haben, die sonst keine erwarten und erlangen, auf Gattinnen, Schwestern, Verwandte; sogar wenn sie Höflichkeit für das halten, was sie ist. Diese erweichende Pomade für unsere rauhen zersprungenen Lippen sollten wir den ganzen Tag auflegen, wenn wir nur drei Worte reden; und eine ähnliche Handpomade sollten wir im Handeln haben. Ich halte, hoff' ich, meinen Vorsatz, keiner Frau zu schmeicheln, und sogar meiner eignen nicht; aber 4 1/2 Monate nach der Trauung fang' ich an, ihr zu schmeicheln, und fahre fort mein lebelang.

96 S. Klübers Anmerkung zu de la Curne de Sainte-Palaye, über das Ritterwesen.

97 In die Schlangengrotte bei Civita Vecchia brachte man sonst halb vermoderte Kranken, denen, während sie in einem aus Opium gemachten Schlafe da ruhten, Schlangen die Wundenmaterie ableckten. Labats Reis. VI. p. 81.

98 Ganz dieselbe Erscheinung bemerkte wieder der Verfasser dieses in Baireuth den 19ten Jänner 1817.

99 Sander über das Große und Schöne der Natur. Tl. 1.

100 Wepf. hist. apoplect. p. 468.

101 Repub. des lettres, Octobr. 1685. V. 1091.

102 Teufels-Papiere S. 427. Unter der Einkleidung: »Gutgemeinte Biographie einer neuen, angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich erfunden und geheiratet.« Auf die starke Säuere dieser Satire mag wohl Lenette mit ihren Sonnenstichen zeitigend eingewirkt haben.

103 Tissot von den Nervenkrankheiten.

104 Diese besteht darin, daß man den Anker auf ein tiefes, hartes Lager niederwirft.

105 Dictionnaire des Merveilles de la nature par Sigaud de la Fond. T. II. – Die Art, wie eine ägyptische Königin eine Pyramide aus losen Steinen aufschichtete, und zwar höher, aber mit geringern Schmerzen als die obige Frau, ist bekannt und gehört nicht unter Sigauds Merveilles de la nature.

106 Dieses und alles folgende, was Agrippa ward und hatte, steht in Naudé (Naudäi) Abhandlung von den Gelehrten, die man für Zauberer gehalten, unter dem Namen Agrippa.

107 Schalk hieß sonst Diener, jetzo nicht selten umgekehrt.

108 Aus Mangel an Geld, an Gesundheit.

109 So heißet eine bis zur Ohnmacht getriebene.

110 So heißen die vom heimlichen Gericht Verurteilten.

111 Das hippokratische nennt man das verzogene in der Sterbstunde.

112 Jede Reise verwandelt das Spießbürgerliche und Kleinstädtische in unserer Brust in etwas Weltbürgerliches und Göttlichstädtisches (Stadt Gottes).

113 Das erste Gewächs öffnet sich morgens nach 8 Uhr, der Pippau um 11.

114 Er meint nicht die spätere genauere Analyse von Polen, sondern die erste

115 Ein Städtchen in der Grafschaft Mansfeld, gehörig dem Kurfürsten von Brandenburg.

116 Poetisch-philosophische Kapitel in der nun seit vielen Jahren in Gera gedruckten und als Makulatur reißend abgegangenen Auswahl.

117 »Der Vater darf für seine ledige Tochter, der Bruder für die Schwester etc., jede ledige oder verheiratete Mannsperson für die ledige Weibsperson eine Pension versichern lassen, ja sie kann sich selber eine Mannsperson wählen, auf deren Tod die Versicherung gestellet wird. – Beide werden als Eheleute angesehen, und sie behält wie eine wahre Witwe bei der Heirat die Hälfte.« Reglement für die Kgl. preuß. allgemeine Witwenverpflegungsanstalt vom 28. Dez. 1775. § 29.

118 Vom Generalkontrolleur Silhouette hat der Schattenriß seinen zweiten Namen. Ein leeres ödes Gesicht heißt in Paris eines à la Silhouette.

119 Die gelbe Gold- oder Asphodillwurzel.

120 Bekanntlich hauchen auch Giftpflanzen Lebenluft aus.

121 Z.B. in Engelhardszell knöpfet die österreichische Maut jeden Schmerbauch auf, um zu sehen, ob der Speck kein – Tuch sei.

122 Da Mädchen den Eiteln am ersten durchschauen: so erriet sie, daß er sie an einem solchen Tage nur als seine Paradewache, als seine Ehrenpforte zum Prahlen gebrauchen und in der besuchten Fantaisie vorführen wollte.

123 Uns ist allen schon aus den Zeitungen bekannt, daß durch die Wiener »Gala-Redouten« eine Papier-Laterne mit der Aufschrift wandert: »es ist aufgetragen«, welches man das Wiener Laternisieren nennen kann.

124 Der Tod den Schlaf, der Himmel den Traum.

125 Im ganzen Aufsatze ist nicht von der praktischen Menschen- und Feindes-Liebe, die sich durch Taten und durch Enthalten von Rache äußert und die keinem Rechtschaffenen schwer sein kann, sondern von den misanthropischen und philanthropischen Gefühlen die Rede, worüber die bloße Moral wenig vermag, von der innern Liebe ohne Taten, von der peinlichen geheimen Entrüstung über Sünder und Toren. Es ist leichter, sich für die Menschen aufzuopfern als sie zu lieben, es ist leichter, dem Feinde Gutes zu tun als ihm zu vergeben. – Die Sehnsucht und die Seltenheit der Liebe hat erst einen Maler gehabt – F. Jacobi; wir brauchen keinen zweiten.

126 Wenigstens stärker, da, wenn man einmal kalt gegen jemand ist, alles Äußerliche, das Schöne wie das Häßliche, die Kälte nur mehret.

127 Ein Franzos beschwor es, er könne die Engländer nicht ausstehen, parce-qu'ils versent du beurre fondu sur leur veau roti.

128 Die wachsende Menschenliebe bricht dem satirischen Vergnügen an fremder Torheit immer mehr ab, die Torheit eines Busenfreundes macht uns nichts als bittern Schmerz: warum wollen wir nicht alle Menschen als Busenfreunde behandeln?

129 Pomp. Mel. de S. O. 1. 18.

130 Schweiz und Holland.

131 Bekanntlich wurde das Gesicht des sogenannten Mannes mit der eisernen Larve nach seinem Tode mit so vielen Wunden verstümmelt, bis diese die eiserne durch eine andere ersetzten.

132 Eine Art Seevögel schläft fliegend und woget sich auf und nieder, und die Berührung des Meers weckt sie oft. Marollas Reise nach Afrika.

133 Die Platterbse hat zwar über der Erde einige Blumen und Früchte, aber unter ihr die meisten, obwohl weiße. Linné, Abhandlung von der bewohnten Erde.

134 Die Ähnlichkeit, die sie mit den Onozentauren haben sollen, bezieht sich wahrscheinlich auf den Reiter Bileam, der ungünstig rezensieren sollte und es doch nicht vermachte.

135 Sind von Dorf zu Dorf reisende und lehrende Schulhalter in England.

136 Seite 163 des Taschenbuchs für Brunnen- und Badegäste 1794 steht die Nachricht daß vor Damen, während sie in den Badewannen eingeriegelt liegen, auf den Deckeln der letzten junge Herren sitzen, um sie unter dem Wasser zu unterhalten. Dagegen kann freilich die Vernunft nichts haben – da das Wannenholz so dicht ist wie Seide, und da in jedem Falle jede allemal in einer Hülle stecken muß, in der sie ohne Hülle ist – aber wohl das Gefühl oder die Phantasie, und zwar aus demselben Grunde, warum ein Deckbette, 1/4 Elle dick, keine so anständige und dichte Kleidung ist als ein Florhabit für einen Ball. Sobald nicht die Unschuld der Phantasie geschonet wird so ist keine andere weiter zu schonen; die Sinnen können weder unschuldig noch schuldig sein.

137 Locor. Theol. a Gerhard. Tom. VIII. p. 1170.

138 Die weißblühende wird weinen, die rotblühende wird stürmen, wie der bleiche Mond Regenwetter, und der rötliche Sturmwind ansagt (pallida luna pluit, rubicunda flat).

139 In der Komorner Gespannschaft. Windisch, Geograph. von Ungarn. – Buchan erzählt von einer ähnlichen Doppelgeburt in Schottland.

140 Nach dem Aberglauben, daß sich das Scharfrichter-Schwert von selber bewege, wenn es jemand zu töten bekomme.

141 Der sich durch gemalte Disteln, wie Swift durch andere, auszeichnete.

142 Dreyers Miszellen. S. 105.

143 Westenrieders Kalender von 1791.

144 Nichts ist unvernünftiger, unbezwinglicher und unerklärlicher als der Ekel, dieser widersinnige Bund des Willens mit der Magenhaut. Cicero sagt: der Schamhafte bringt nicht gern den Namen der Schamhaftigkeit dieses transzendenten Ekels – auf die Zunge, und so geht der Ekle mit dem Ekel um, besonders da körperliche und moralische Reinheit Nachbarinnen sind, wie der reinliche und keusche Swift an sich zeigt. Sogar der körperliche Ekel, dessen Stoff mehr ein phantastischer als physischer ist, nimmt mehr das sittliche Gefühl in Anspruch, als man denkt. Gehe mit einem Magen, der Unverdautes oder Brechwein bei sich hat, über die Gasse: so wirst du an zwanzig Herzen und Gesichtern und, wenn du nach Hause kommst, an noch mehren Büchern ein innigeres sittliches und ästhetisches Mißfallen empfinden als sonst.

145 Ein Bettler in England der eine Bude voll Krücken, Augenpflaster, falscher Beine etc. besitzt, die jeder haben muß, der lahm, blind, hinkend sein will. Brit. Annal., I. B.

146 Bibliothèque ancienne et mod. T. IV. p. 59. 60. Solche Rezensionen, wie Le Clerc in dieser und in der Bibliothèque choisie verfertigte, sind zum Glück abgekommen, da sie sich von Büchern in nichts unterscheiden als in der Kürze und Fülle.

147 Die Rabbinen behaupten nämlich, Kain habe seinen Bruder erschlagen, weil dieser ihn widerlegen wollte, da er (Kain) die Unsterblichkeit der Seele etc. bestritt. Also der erste Mord war ein Autodafé und der erste Krieg ein Religionkrieg.

148 Drei solche Dinge durfte in Athen jeder Verurteilte öffentlich sagen, nach Casaubon in seiner XVI. Exerc. gegen Baron. Annal., ders wieder aus dem Suidas haben will.

149 Nach De Lüc, s. den 3. Bd. der Kleinen Reisen für Reise-Dilettanten.

150 Das ist er selber. Er will darum seine Verlassenschaft an sich, und nicht an seine Frau ausgehändigt haben, um es genauer zu wissen, da sie vielleicht während dieses Termins könnte reich geheiratet haben; auch erfährt er so den Fall des Unterlassens leichter und kann also die Drohung erfüllen, die er sogleich ausstoßen wird.

151 So steht auf den öffentlichen Gebäuden des Marktfleckens; wiewohl es durch den Abstich lächerlich wird, daß ein solcher Reichs-Bologneser dänische Reichs-Doggen nachahmt, wie z.B. Nördlingen, Bopfingen, die freilich mit ein wenig größerem Rechte auf ihre öffentlichen Gebäude und Ukasen setzen: Senatus populusque Bopfingensis, Nördlingensis.

152 Reuel, und nicht Reul, wie ich sonst geschrieben, heißt er, und es ist mir um so lieber, da ein solcher theologischer Helfer nicht den Klangnamen eines medizinischen Helfers, wie der edelherzige freigeistigeReil gewesen, unnütz führen soll.

153 Leibgeber meinet zugleich das zweite Leben, das er niche glaube, und Firmians Fortsetzung des ersten in Vaduz.

154 In Italien nimmt man große Freskogemälde unbeschädigt von der Mauer ab.

155 Rosenblätter wirken im Magen wie Sennesblätter.

156 Plin. H. N. VIII. 30.

157 Dieser macht bekanntlich als eine größere Psyche in Schädel sein Nest.

158 Bekanntlich kommt ein Königherz in ein goldenes Sarg-Besteck.

159 Es war bei den Römern der Schauspieler, der bei dem Leichenbegängnis den Toten mit seinem ganzen Mienenspiel nachmachte. Pers. Sat. 3.

160 Beides mußten sich die gefallen lassen, die man für tot gehalten und als solche eines Leichenbegängnisses gewürdigt hatte. Potters Archäol. von Rambach übersetzt. S. 530f.

161 Augustin. commentar. ad Johan. XXI. 23.

162 So oder auch tumulus honorarius hieß das leere Grabmal, das Freunde einem Toten baueten, dessen Körper nicht zu finden war.

163 Alexand. ab Alex. III. 7.

164 Es ist von 1796 die Rede.

165 Pythagoras machte, daß alles, was er mit Bohnensaft auf einen Spiegel schrieb, im Mond zu lesen war. Cael. Rhodogin IX. 13. – Als Karl V. und Franz I. sich über Mailand bekriegten, konnte man durch einen solchen Spiegel alles, was in Mailand am Tage vorging, ohne Mühe zu Paris zu nachts am Monde lesen. Agrippa de occ. philos. c. 6.

166 Eine lange Wolke mit Streifen wie Äste, die Sturmwetter verkündigt.

167 Der Aberglaube wähnt, daß von zwei Kindern, die sich küssen, ohne reden zu können, eines sterben muß.

168 »Daher ich voraussehe, daß die Leibgeberischen Hirtenbriefe in diesen Blumenstücken für die meisten Leser unausstehliche Absage- oder Ausfoderbriefe sind. Die meisten Deutschen verstehen – dies soll man ihnen nicht nehmen – Spaß, nicht alle Sehen, wenige Humor, besonders Leibgeberschen. Deshalb wollte ich anfangs – weil doch ein Buch leichter zu ändern ist als ein Publikum – alle seine Briefe verfälschen und faßlichere unterschieben; aber man kanns noch immer in der zweiten Auflage so anordnen, daß man die verfälschten ins Werk einmacht und seine wahren hinten anhangweise nachbringt.« – Dies wurde gar nicht nötig gemacht. Aber Himmel! wie können erste Auflagen so fehlschießen und so viele Leser falsch nehmen, für welche nachher zweite sich mit aufrichtiger Wärme erklären!

169 Plin. H. N. VII. 48.

170 Sie meint das Witwengehalt.

171 Bei den Ranunkeln und bei der Braunwurz senket sich jedes Jahr das Unterste des Stengels tiefer in die Erde ein und wird der Ersatz der wegfaulenden Wurzel.

172 Im Enthusiasmus ist die umgekehrte Rangordnung. Um deine fest liegenden Gründe von moralischem Werte viel gewisser zu kennen als aus Entschlüssen und Handlungen, so merke nur auf die Freude oder Betrübnis, welche zuerst in dir bei einer moralischen Anfoderung, Nachricht, Abweisung blitzschnell aufsteigt, aber sogleich wieder verschwindet durch das spätere Besinnen und Besiegen. Welche große faulende Stücke vom alten Adam findet man da oft!

173 Die Ehefrau des Pinarius, Thaläa, unter der Regierung des Tarq. superb. war die erste, die mit ihrer Schwiegermutter Gegania gezanket hat. Plut. im Numa. Vielleicht stellet einmal die deutsche Geschichte noch ehrenhafter die erste Gattin auf, dienicht mit ihrer Schwiegermutter gekeifet; wenigstens sollte ein deutscher Plutarch auf eine solche Jagd machen.

174 Der bekannte Wasserfall – pisse vache – stürzt sich in einem solchen Bogen vom Felsen, daß man unter ihm weggehen kann und also gegen Regen zugedecket ist. Malerische Reise in die Alpen.

175 Ist ein Popanz, 9 Fuß hoch, aus Baumrinde und Stroh, womit die Mandingoer ihre Weiber schrecken und bessern.

176 Walthers Physiologie. B. 2.

177 1000 Millionen bekriechen diese Kugel.

178 Ein Tagschmetterling mit schwarzen, weiß geränderten Flügeln.

179 Kälte und Schwere hat der echte Edelstein in größerem Maße als der unechte.

180 Man gab sonst den Toten wächserne Engelbilder mit ins Grab.

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TextGrid Repository (2012). Jean Paul. Romane und Erzählungen. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D68-A