[246] An die Liebe

Tausendfache bittre Qual
Gabst du mir, o Liebe! Tausend Mahl
Lohntest du mit Dornenkränzen
Meiner Treu; und jenes milde Glänzen
Deiner Fackel ward ein Donnerstrahl.
Zarte Lauben sah ich dich entblättern,
Junge Sprößlinge zerschmettern;
Und in Abgrund sank das blüthenreiche Thal.
Dennoch zeuch, o Liebe! zeuch hernieder;
Rufe mich ins Leben wieder
Aus der öden, kalten Todesnacht.
Liebe, die allein
Sonne, Mond und Sternenschein
Uns zu Licht in unsrer Wüste macht!
Liebe, die allein
Aus den Wolken in den Hain
Frühlingswonn' herunter lacht!
[247]
O besuche mich in dieser Todesnacht.
Bring den Köcher mit, voll süßer Pfeile;
Deine Dornen auch, und Donnerkeile;
Nur, o Liebe! aß ein neuer Tag
In den Finsternissen mir beginne;
Wieder vollen, warmen Schlag
Mein erstorbnes Herz gewinne:
Daß ein holdes Angesicht
Mir zum Engel sich verkläre;
Seine Stimme, wenn es singt und spricht,
Mir ein Laut aus einer höhern Sphäre –
Wenn das Mädchen grüßt, sein Gruß ein voller May,
Und der Händedruck ein Himmel sey!
Kann, o traute Liebe! nie,
So mit innigem Verlangen,
All so fest, wie meine Seele sie,
Mich die Engelseel' umfangen –
So erleucht' ein Blick von ihr
Diese dunkeln Pfade mir;
Laß mich nur um ihre Schönheit schweben,
Und mein Herz in ihrem Glanze leben!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Jacobi, Johann Georg. An die Liebe [1]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8A63-E