Karl Immermann
Memorabilien

[5] Avisbrief

Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren! – Was heißt das? das soll die Jugend heißen und bedeuten, welche am vierzehnten Oktober 1806 mindestens zehn Jahre und höchstens sechszehn Jahre alt war, welche also am dritten Februar 1813 die siebzehnjährigen bis zu den dreiundzwanzigjährigen Menschen des Volks ausmachte. Man sieht aus der Nennung jener Tage, daß hier die Jugend von Norddeutschland gemeint ist. Denn am ersten wurde Norddeutschland umgeworfen und, soweit es den Fremden möglich war, in seinem Dasein zerstört, am zweiten aber begann der Wiederaufbau durch die Gesamtkraft der Nation in die Sichtbarkeit zu treten. Ich will unternehmen zu schildern, wie und auf welche Weise die norddeutsche Jugend von den beiden Tagen, von dem, was zwischen ihnen lag, und von dem, was dem letzten unmittelbar folgte, berührt worden ist, welche Gestalt des Geistes und des Herzens ihr dadurch zukam, und in welchen Folgen sich diese Gestalt abdrucken mußte. Die Altersgrenzen habe ich darum so gefaßt, weil sie mir die natürlichen Scheiden zu sein scheinen, von welchen ab und bis zu welchen hin der Mensch seine bestimmenden Eindrücke empfängt. Denn mit dem zehnten Jahre etwa pflegt das Bewußtsein zu erwachen, und in den ersten Zwanzigen hat es sich am Vaterhause, an der Schule, an der Universität und an den frühesten Berufsanfängen dergestalt entwickelt, daß die geistige Physiognomie zwar nachmals noch manchen Ausdruck empfangen kann, eigentlich sich zu verändern aber nicht mehr imstande ist. Die Züge stehen fest und nur die Objekte wechseln noch, über welche sie später lächeln, zürnen, oder ein stilles Nachdenken zeigen.

Was die jüngeren Kinder durch jene beiden Tage und durch das, was ihnen anhing, erfuhren, gab ihnen also wenigstens nicht den vollen Kernschuß der Eindrücke; und ein Gleiches [5] läßt sich von den älteren Leuten der Periode behaupten. Bei den einen wie bei den anderen traf ihr Strahl entweder auf einen zur Empfängnis noch nicht vorbereiteten Punkt, oder er fand schon einen Widerstand in Ausbildung und Charakter vor, welcher die unbedingte Einwirkung des ganzen Zeitraums mannigfach spaltete und brach.

Daß aber der vierzehnte Oktober und der dritte Februar zusammengehören, wird der Geschichte wohl unverboten bleiben zu sagen, wenn auch einige die Erinnerung an den ersten Tag unbequem finden. Diese verraten dadurch, daß sie von dem letzten ebenfalls nichts wissen oder nichts mehr wissen wollen. Denn eine glorreiche Erhebung fand nur statt, weil eine schmähliche Niederlage vorangegangen war. Die also von der Niederlage zu hören tauben Ohres sind, legen Zeugnis ab, daß ihnen die Erhebung vorübergegangen ist wie etwa ein Sturm, vor dem sich der für seine Gesundheit besorgte Mann unter einem Wetterdache birgt. Am konsequentesten unter diesen verfahren denn auch diejenigen, welche die Jahre 1813, 1814, 1815 geradezu für schädliche Wetterereignisse ausgeben.

Für solche werden die nachfolgenden Blätter nicht beschrieben. Da wir nur durch jene Jahre als Deutsche vorhanden sind, so zeigen sie, daß sie an diesem Zustande nicht teilhaben wollen, sondern entweder überhaupt nur als sogenannte Weltbürger daseien, oder sich bei andern Völkern naturalisiert haben wollen. Von diesen nenne ich, nicht in gehässiger Absicht, sondern beispielsweise: Franzosen, Engländer, Russen; denn alle drei Völker sind wirkliche Volksindividualitäten. Ob die Wahlvölker nun solchen Übergängern das Naturalisationspatent auszufertigen geneigt sein möchten, ist eine Frage, auf welche nur die Ironie die verneinende Antwort in Zweifel stellen würde. Sonach wären die Gemeinten lediglich an das Weltbürgertum verwiesen, über welches die öffentliche Überzeugung sich dahin geeinigt hat, es für eine Negation, d.h. für ein reines Nichts zu erklären.

Meine Darstellung wendet sich also an Deutsche und denen will sie etwas erzählen oder in das Gedächtnis zurückrufen. [6] Unter den Deutschen sind nicht etwa verschollene oder neu zu erweckende Altdeutsche verstanden, welche vielmehr auch schon der Geschichte und nicht mehr der Gegenwart, noch viel weniger aber der Zukunft angehören. Es hieße das recht eigentlich den Toten predigen wollen. Vielmehr verstehe ich unter Deutschen diejenigen, die von den Schauern der Weltgeschichte zwischen den sechs Strömen erschüttert, diese Schauer fromm nachfühlen und das Gebot der Weltgeschichte auszuführen sich bestreben, ohne dazu Abzeichen an Kappe und Kleid, oder Stichworte in Rede und Schrift nötig zu haben.

Daß für diese eine Darstellung, wie ich sie vorhabe, von Interesse sein werde, sollte ich meinen, wofern sie mir nämlich gelingt, wie ich wünsche. Denn der Gegenstand ist von der Art, daß er in Deutschland früher nie vorgekommen war und allem Vermuten nach kaum wieder vorkommen kann. Eine Napoleonische Überziehung war unerhört und kann sich nicht wiederholen, sollte auch in späteren Zeiten ein neuer Eroberer auf eine neue Schwäche treffen, weil dann doch Held und Überwundene in andern Farben spielen werden. Nun brachte jene Tyrannis auch eine nie gesehene Wirkung hervor. Unsere Jugend ging vor der Eroberung ihren mäßigen Lebens- und Bildungsschritt. Die Weltereignisse traten nicht an sie hinan; die Stille des Hauses umgab ihre ersten Entfaltungen, zugeschnitten war der Unterricht und dieser überlieferte sie nach gelindem Schäumen und Brausen in den akademischen Jahren einem geordneten Berufe, in dem sie nun das wurden, was sie vorher verachtet hatten, nämlich Philister. Zwischen der Gewalt des öffentlichen Lebens und ihr war bis dahin eine unübersteigliche Kluft befestigt gewesen. – Gegenwärtig lebt zwar die Jugend seit dem Erwachen ihrer Aufmerksamkeit mehr in den Weltbegebenheiten, weil diese alle Vorstellungen und Verhältnisse zu durchdringen angefangen haben, allein sie empfängt dieselben doch nur in einer Rückspiegelung und gestaltet sie sich in einer oft sehr vorschnellen Reflexion, so daß zwischen ihr und dem Öffentlich-Wirklichen abermals ein breiter Strom fließen bleibt, nämlich der Strom ruhiger Friedenstage. – [7] Ganz im Gegenteil zu beiden Zuständen sah die Jugend, welche beschrieben werden soll, ihrer ersten Blüte die furchtbarsten Erschütterungen in materiellster Aufdringlichkeit annahen und wenige Jahre später hörte sie sich berufen zu dem Eingreifen in das öffentliche Leben, über welches hinaus es kein tieferes gibt, nämlich die Waffen zu nehmen, um Thron und Vaterland retten zu helfen. Die Jugend vor der Eroberung war daher politisch null, die gegenwärtige Jugend ist im glücklichsten Falle (wenn nämlich keine phantastischen Verirrungen sie hinreißen) politisch-kontemplativ; die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren war politisch leidend und handelnd. Gewiß ein Phänomen, welches, nur einmal so vorgekommen und von den weitestgreifenden Folgen gewesen, ernste Betrachtung verdient. Und was zu letzterer noch mehr auffordert, ist: die Jugend litt damals als Jugend, handelte als Jugend. Jugendstimmungen wurden angerührt und jugendliche Motive in Bewegung gesetzt.

Aber, wird man sagen, dergleichen Betrachtungen sind schon zum Übermaß angestellt; bis zum Ekel ist von jener Zeit und von dem Anteile der Jugend an ihr geredet und geschrieben worden. Ich gestehe zu, daß der Gegenstand kein Modegegenstand mehr ist und manchem als sehr altfränkisch erscheinen mag. Aber die Mode bringt in solchen Dingen wenig mehr hervor, als die Debatte der Parteien. Und so verhielt es sich auch hier. Wir haben zwar viel gehört und gelesen einesteils: von frischer, freier, frommer, fröhlicher Jugend, vom Eichenwalde deutscher Jugend, von der Jugend Tugend und Zucht, von den Gebeinen der Jünglinge, die auf den Feldern von Groß-Görschen modern; andernteils: von überspannten jungen Menschen, von Demagogen und Hochverrätern – ich erinnere mich aber keiner Darstellung, welche, wenigstens mit einiger Mühe und Sorgfalt, hinabgestiegen wäre in die Ökonomie des jugendlichen Geistes und Gemüts jener Zeit, und nachgewiesen hätte, was darin durch die Hand des Elendes und der Befreiung ent wickelt oder zerrüttet, zurechtgerückt oder verschoben worden ist. Entweder helles Licht oder finsterer Schatten! Ein Gemälde, worin beides harmonisch vermittelt wäre, worin die Farben an ihrem [8] Orte ständen, kenne ich nicht. Und doch geschah an jener merkwürdigen Schicht der bürgerlichen Gemeinschaft, welche so viele der jetzigen Vierziger geliefert hat, also einen bedeutenden Beitrag zu dem eigentlichen Ernste und Grunde und Boden der Gesellschaft, das eine wie das andere: Aufbau und Zerstörung.

Auch ich vermesse mich nicht, eine vollständige Geschichte jener geistigen Erschütterung in offenen Seelen geben zu können. Dazu habe ich zuwenig selbst erfahren, und vieles weiß ich nur von Hörensagen oder durch Kombination. Aber einige Materialien bin ich zu liefern imstande, und warum sollte ich mit denen zurückhalten? Früh entwickelte sich bei mir ein aufmerkender Sinn und eine Neugier, welcher das unscheinbarste Detail der Dinge nie zu geringfügig war. Diese Kraft der Beobachtung, welche man Kälte genannt hat, ergriff einige sonderbare und gewaltige Ereignisse, welche meinem jungen Auge nahe traten, durchdrang sie und folgerte aus ihnen sich Nahes und Verwandtes zusammen, bis mir ein Bild entstand, was meinem Triebe nach Wahrheit genügte. Oft gab ich etwas wieder auf, aber nie für immer das, was meine Seele einmal wahrhaft berührt hatte, sondern nach Zwischenräumen des Vergessens sprang es von neuem hervor, meistenteils in gewandelter Umgebung, unter dem Strahle eines anderen Lichtes. Wahrhaft glücklich habe ich mich immer nur gefühlt in der Betrachtung, zu der ich mit dem Vorahnen eines ewigen und göttlichen Zusammenhangs kam, weshalb ich sie auch um so schärfer und scheinbar chemischer anstellen durfte. Ich wußte ja, daß diese Scheidekünste mir das Wirkliche nur klarmachen, nicht aber es auflösen würden.

Einer solchen betrachtenden Stimmung ist das Explodieren täglicher Vorsätze und Entschließungen, wie es zum Teil das charakteristische Zeichen jener Zeit war, weniger gemäß; ich habe nicht mitgeturnt und nach dem Freiheitskriege keine überschwenglichen Reden gehalten, aber ich fühlte als Knabe die Not der Alten und lernte von dem Kriege wenigstens so viel kennen, um den Geist des Krieges im ganzen erraten zu dürfen. Man muß vielleicht nicht zu tief in den Dingen gesteckt [9] haben, um die Dinge nachmals sanft und gerecht beurteilen zu können.

Ist es aber nicht vielleicht noch zu früh zu irgendeiner Geschichtsschreibung? Hat sich der Gewinn schon abgeklärt? Steht es schon fest, in welche Bahn Deutschland durch den Enthusiasmus der Kriegsjahre gekommen ist? – Ich will angeben, was mich zu der Hoffnung bewegte, daß wenigstens der Anfang ge macht werden könne, in einem anderen, als im Parteisinne über jene Periode zu reden. Wir feierten im vorigen Jahre das Fest der Erinnerung an den Aufruf; ich war bei dem Kölnischen und habe diesen Tag, als man es so von mir haben wollte, beschrieben. Überall in den einigermaßen bedeutenden Städten Norddeutschlands fanden, wie das Datum für jedes Land gekommen war, Feste statt. Hätte das Volk sich noch in den Moment, der gefeiert wurde, mit seinen Empfindungen verwickelt betrachtet, so wären die Städte die Festgeberinnen gewesen. Nicht die Freiwilligen unter sich wären in den geschmückten Sälen zusammengekommen, sondern das Volk hätte den Freiwilligen die Feste gegeben.

Allein dem war nicht so. Nur an äußerst wenigen Orten fand eine Verbreitung und Erweiterung des Festes durch das Gemeingefühl der übrigen Menschen statt. Hamburg ist hier beispielsweise zu nennen und unter den kleineren Städten später Dortmund und Westfalen. Regel blieb jene Absonderung der Feier, die sie zu einer Art von größerem Familienfeste machte, welches das Volk als durchaus wohlwollender aber untätiger Zuschauer umstand. Irgendwo soll selbst das jüngere Geschlecht, aufgefordert zur Teilnahme, diese abgelehnt haben.

Da die Sachen sich so verhielten, so leuchtete ein, daß dem Volke das, wovon es sich handelte, ein Abgetanes geworden war, und daß es mit keinem Affekte mehr an demselben, als an einem fortzeugenden, teilnahm. Gerade in einem solchen Momente aber soll die Betrachtung eines Ereignisses anheben. Die Gesamtheit lebt in den Folgen fort, ohne sich um die Ursache in Liebe oder Haß zu bekümmern; wenigstens insofern man beiden Empfindungen eine gewisse Energie beimessen [10] will. Nun legt aber jedes Faktum der modernen Geschichte zwei Stadien zurück, das mythische und das historische, worauf es in das dritte, in das der Geschichtsforschung eintritt. Das mythische wird durchmessen, wenn das Ereignis selbst erst noch zur vollen Evidenz gebracht werden soll. Da arbeiten alle Kräfte, die liebevollen wie die feindseligen; an Götter, Helden und Teufel knüpfen die Menschen ihre Vorstellungen, und selbst das Wunder wird nicht verschmäht, wenn es geeignet scheint, hinzureißen oder zu schrecken. Ist das Ereignis geboren und fangen die neuen Lebensformationen, die von ihm entsprangen, an, Bildung und Gestalt zu bekommen, dann wendet sich alle Kraft der Menschen auf diese und vernachlässigt, treu dem Gesetze, daß alle gesunde Tätigkeit sich nur in einer Richtung entladet, den Ursprung. Nun aber, und solange jene Lebensformationen noch unvermischt aus der Quelle ihre Nahrung empfangen, ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Geschichte ihr Werk beginnen darf über den Ursprung, nämlich auszusagen, wie dieser Ursprung war und was zu demselben gehörte. Noch ist die Erinnerung frisch, der Löwe, der durch die Welt ging, ist zwar dem Auge verschwunden, aber in jedem Körnlein des gelockerten Bodens, welcher seine Spur empfing, in jedem gebeugten oder zerknickten Gräslein ist doch der Abdruck noch scharf und vollkommen; die Erfolge reden noch ein unverworrenes Zeugnis. Aber nicht lange, so verschlingt sich das Leben wieder tausendfältig, andere Löwen laufen über die alten Spuren, und man weiß nun nicht mehr, welches die neue Fährte ist und welches die alte, die Erfolge metamorphosieren sich, oder was schlimmer, sie verstümmeln einander gegenseitig. Da ist es mit der eigentlichen Geschichte vorbei und das Stadium der Geschichtsforschung ward betreten. In diesem werden die sogenannten verschiedenen Standpunkte genommen, von deren einem z.B. Philipp der Zweite als ein blutdürstiger Tyrann, Elisabeth als eine neidische Kokette, von deren anderem dieselben als gerechte Regenten erscheinen; oder es trifft sich auch wohl, daß die ganze historische Arbeit nur Kritik, Urkunden und Zeugensichtung wird. – Möchte, um bei einem vaterländischen Gegenstande einen vaterländischen[11] Wunsch im Vorübergehen auszusprechen, bald ein eigentliches Werk über Friedrich den Zweiten erscheinen, nämlich ein historisches Kunstwerk, zu welchem sonst vielleicht schon bald die rechte Zeit entschwunden sein dürfte.

Das Ereignis, welches 1813 für uns in die Wirklichkeit treten wollte, war, daß die Deutschen, und zwar zuerst die Norddeutschen, eine Nötigung ausführten, ein Volk zu sein, nachdem sie lange nur ein Konglomerat von Haushaltern, Gelehrten, Dienenden oder Befehlenden gewesen waren. Sie empfanden diese Nötigung nicht in einem Anfalle von Verzweiflungskrämpfen, ähnlich denen der Numantiner oder der Karthager nach dem Zweiten Punischen Kriege. Sondern sie warteten eine über alle Maßen furchtbare Kalamität ab, welche einen nur etwas mittelmäßigeren Feind kaum noch zu besiegen übriggelassen haben würde und selbst einen so großen dergestalt gelähmt hatte, daß der ganze unglückliche Ausgang des Kampfes kaum denkbar war. Von dieser Seite hat man die Begebenheiten sogar herabzusetzen gesucht und mir scheinen sie doch deshalb eben erst recht menschlich und echt in unserem Sinne zu sein.

Denn an die Taten der Völker ist ein anderer Maßstab der Größe zu legen, als an die Handlungen einzelner. Es mag erhaben sein von dem einzelnen, sich mit einem Schiffe in die Luft zu sprengen, des Volkes erste Pflicht aber ist, wenn es zum Leben wieder erwacht, an sein Leben zu glauben, deshalb also überzeugt zu sein, daß keine Unterdrückung es austilgen könne, es für sein höchstes, ja für sein einziges Gut zu halten und in diesem Sinne es und sich zu bewahren. Ein Volk, welches diese Pflicht erkennt, wagt sich nicht in den sogenannten Kampf auf Tod und Leben, sondern weiß, bis der rechte Augenblick kommt, zu dulden. Nur zerrüttete Nationen spielen um ihr Dasein. Die Folgen belehren. Spanien hat an fanatischem Heldenmute Deutschland übertroffen, schwerlich möchte etwas aus unserer Kriegsgeschichte der Verteidigung von Saragossa an die Seite zu setzen sein, und dennoch hat das Land während eines Vierteljahrhunderts nach erlangtem sogenanntem Frieden nicht zur sozialen Gestaltung durchdringen können. – Den Polen wird man wohl den [12] Ruhm der Tapferkeit nicht bestreiten können, und dennoch sind sie Weit weniger dem Schwerte der Russen, als vielmehr dem Umstande erlegen, daß die alten Sünden des Reichstages von neuem wiederauftauchten, daß das Volk bei jedem Unfall an gar nichts anderes zu denken wußte, als an Verrat, und daß sie in neun Monaten zehn Diktatoren, Präsidenten, Oberfeldherren hatten. Wäre es den Polen verliehen gewesen, den Sinn ihres Nationalliedes sich tragisch-leidend ganz innerlich auszudeuten, so würden sie wenigstens ganz anders stehen, als wie sie jetzt zu stehen gekommen sind. Jedes Volk hat seinen Charakter und nach dem lebt es und stirbt es, deshalb sollen keinem schulmeisterliche Ratschläge insbesondere nach einem großen Unglück gegeben werden, nur ist auch der deutsche Sinn nicht herabzusetzen darum, weil er sich in anderer Weise als der anderer Völker zu dem wichtigsten Entschlusse ermannte.

Als dies geschehen war, fühlten die Deutschen sich in keiner Einheit durch einen großen Herrscher oder einen Feldherrn, gleich dem des Feindes. Sie empfanden, daß ein Zweck des Kampfes die Erhaltung oder Herstellung des germanischen Königtums sei, jedoch als Spitze und Gipfel des Volksdaseins, und sie wußten, daß sie zuletzt doch nur auf sich als Volk beruhten. Das Volk also regierte in jener Zeit, wie Niebuhr richtig in einem seiner Briefe gesagt hat, die Hingebung des einzelnen an das Ganze war grenzenlos, die Tat, welche alle folgenden einleitete, geschah ohne Befehl und auf eigne Verantwortung, ein stilles Gefühl großer gemeinsamer Verschuldung heiligte den Kampf, hielt hier Grausamkeiten gegen die überwundene Partei im eigenen Busen des Vaterlandes zurück (denn einzelnes, was dagegen vorfiel, kommt nicht in Betrachtung), brachte dort den Sinn hervor, daß es weniger darauf ankomme, immer zu siegen, sondern mehr darauf, immer zu sein, wo der Feind war, um sich mit ihm zu messen. So schienen selbst verlorene Schlachten Ehren, und so konnte, einig mit diesem Sinne und von ihm getragen, derjenige erstehen, welcher der eigentliche Held jener Tage geworden ist. Der Gewährsmann, den ich nannte, sagt in einem Briefe vom 16. Juni 1813: »Es ist lange nicht genug zu sagen, [13] daß unsere Armee mit beispiellosem Heldenmut gefochten hat, sondern um für sie die tiefe Achtung zu empfinden, welche sie verdient, muß man wissen, daß sie nicht allein unbedingt unter die Gewalt fremder Feldherrn, die ihren früheren Ruhm nicht behauptet haben, gegeben war, und also das Opfer ihrer Fehler und Ungeschicklichkeiten ward, sondern daß es ihr selbst an oberer, erfahrener und geschickter Leitung in ihrem eignen Umfange fehlte. Selbst weiter hinunter fehlte es den besten Offizieren bald an Erfahrung bald an kaltem Blute; sie haben ihr Leben verschwendet. Aber mit allem dem hat der verhältnismäßig kleine Haufen unserer Armee, immer nur teilweise von unseren Verbündeten unterstützt (doch ist gerecht zu sagen, daß wo russische Divisionen herankamen, sie immer äußerst gut geschlagen haben, nur nicht mit Begeisterung) gegen eine für uns ganz ungeheure Übermacht, weil jeder gefochten hat, als ob alles auf ihn ankäme, Dinge getan, die man für unmöglich halten möchte. – Bataillons, denen fast alle Offiziere erschossen oder verwundet waren, haben mit größter Ordnung fortgefochten. Dabei ist die Geduld, die stille Resignation, die Früchte ihrer Taten ohne Ursache vergehen zu sehen, die Sittlichkeit, die Ordnung der Armee – kein einziges Exempel von Exzessen wird erwähnt; kein Soldat hat auf dem Rückzuge marodiert – so erhebend, daß man vor dieser Armee Ehrfurcht haben muß.«

Dieser gerechte und mäßige Krieg, welcher dadurch groß war, daß er keiner eigentlichen Größe eines einzelnen bedurfte, sondern viele sonst geringe Menschen trieb, an ihrer Stelle groß zu handeln, hat nun folgende Gestalt der Dinge hervorgebracht. Zuvörderst läßt sich die Trennung, welche allerdings noch zwischen den deutschen Volksstämmen in manchen Dingen besteht, mit dem früheren Haß, Hader, Spott und Schimpf nicht vergleichen. Das Gefühl der germanischen Einheit ist ohne Zweifel größer geworden. Es würde z.B., wie ich glaube, keine Freude in Norddeutschland ausbrechen, wenn man dort vernähme, der Feind stehe in München oder in Wien, und so umgekehrt. Die häuslichen Beziehungen, welche die Deutschen über ihre lange Nichtigkeit hinüberlullten,[14] sind in einer großen Umbildung begriffen; vielfach ist ausgesprochen worden, daß auf der Familie der Staat beruhe und man fängt an zu merken, daß dieses Wort auch in die Tat schon einigermaßen überging. Ganz beschäftigt sich fast keiner mehr bloß mit sich und seinem Vergnügen, sondern etwas ein jeder mit dem öffentlichen und Allgemeinen. In der herrschenden Leidenschaft, Monumente zu setzen, selbst bis zu Hermann dem Cherusker hinauf, den Bauer und Bürger doch nur durch die Vermittlung der Gelehrten kennen, flammt der Drang des Volkes, mit seiner Geschichte wieder anzuknüpfen. In der nicht minderen Begier, Assoziationen aller Art zu knüpfen, ist der Lebenstrieb neuer gesellschaftlicher Bildungen tätig. Diese Assoziationen beschränken sich nicht auf das einzelne Land, sondern greifen vielfältig über die Grenzen hinüber, werden also ebenfalls zu einem Bindemittel. Die Gelehrten haben aufgehört, oder hören auf, eine vom Leben zurückgezogene Priesterkaste zu sein. Ganz antiquiert ist die Meinung, es könne jemand im Besitze von Zeichen und Wundern sein über Dinge, die allen not tun. Das Königtum wollen alle, die Republik nicht einer. Die Fremden wünscht niemand in das Land herein, selbst die Hambacher haben sich gegen die Unterstellung eines solchen Wunsches verwahrt. Man will aber die Majestät binnen der Schranken, binnen welcher sie, wie man glaubt, allein Majestät bleibt, und über welche hinaus (so glaubt man) sie eine Art erhabener Klopffechterei wird. Gewaltsam ist einigen Regenten ein veränderter öffentlicher Zustand abgedrungen worden, an anderen Orten hat der bestehende zu heftigen Reibungen zwischen Fürst und Volk geführt; das Schlimmste aber, was aus solchen Dingen entsprang, war etwa ein Aufruhr, der von einer Revolution auch keine Farbe trug. Das neueste Ereignis dieser Art bewegt sich bis jetzt ganz auf dem Boden des Rechts und Geistes. Politische Sympathien haben unter den Deutschen begonnen, zwar noch schwach aber doch regsam. Sie richten sich fast nie auf eine Schilderhebung, für die oder die Partei, sondern wie Recht ist, meistenteils auf einen einzelnen Akt, über den man sich freut oder entrüstet. Was endlich den Wehrstand betrifft, so ist dieser populärer geworden, [15] am populärsten im größten norddeutschen Kriegsstaate. Die Eifersucht auf diesen, auf Preußen, und der Haß gegen dasselbe – einige Zeitlang der fressende Krebs deutscher Verhältnisse, da jener Staat nun einmal durch die Geschicke bestimmt ist, nächster Schirmvogt der einen Hälfte unseres Vaterlandes zu sein – war eingeschlummert und hatte sich in Nord- und Mitteldeutschland zu Achtung und Wohlwollen umgewandelt, wie meine Erfahrung mich selbst auf einer Reise lehrte, die ich vor drei Jahren durch jene Gegenden machte. Neueste Ereignisse haben hierin etwas geändert, über sie urteile ich nicht, folgend meinem Grundsatze, von nichts zu reden, als was mir abgeschlossen zu sein scheint, und nicht wissend, ob sie und ihre Folgen zu den Zwischenfälligkeiten oder zu den Katastrophen gehören.

An den materiellen Tendenzen nimmt Deutschland, soweit es vermag, beeiferten Anteil. Von ihnen ist am schwersten zu sprechen. Gewiß wird kein tieferes Gemüt für die Eisenbahnen als solche und den Dampf, wenn er weiter nichts ist, und für die Maschinen, wenn sie nur klappern, den Säckel eines Gewerbsmannes zu füllen, sich erglühet fühlen. Gewiß ist ferner, daß durch jene Tendenzen in vielen Menschen eine gewisse Versandung entstand und eine Trocknis der Seelenkräfte. Gewiß ist aber auf der anderen Seite auch, daß sie hervorgehen nicht aus einer Täuschung, sondern aus einer Wirklichkeit, daß sie außer dem Geleite phantastischer Einbildung im strengsten Gefolge der Wissenschaft einherschreiten, und daß nicht einzelne Projektenmacher zu ihnen anführen, sondern daß die größere Hälfte der Gesamtheit in ihnen mehr oder minder lebt und webt. Sonach sind alle Kennzeichen vorhanden, daß eine der großen und notwendigen Evolutionen des menschlichen Geistes im Werke sei. An der Natur wird dieses Werk unternommen. Dem Altertume war sie ein Göttliches, dem Mittelalter ein Magisches, und der neueren Zeit scheint sie ein Menschliches werden zu sollen. Deshalb gebar sie dem Altertume die Schönheit, dem Mittelalter die Furcht Gottes und den christlichen Spiritualismus, und der neueren Zeit wird sie gewiß auch ein lebensfähiges, gliedmäßiges Kind gebären. Dessen Geschlecht und Gabe [16] zu bestimmen, mögen Traumdeuter und Astrologen sich abmühen, und diese können um so dreister reden, da die Furcht vermutlich noch lange im Schoße der Mutter bleibt und die Wahrsager daher bei eigenen Lebzeiten schwerlich Lügen gestraft werden. Ich für meine Person weiß davon ebensowenig zu sagen, als ich, wenn ich Gutenberg seine hölzernen Tafeln hätte schneiden sehen, imstande gewesen wäre, vorherzuverkündigen, daß die Presse dereinst den Thron der Bourbonen umstürzen würde, nachdem er durch ein historisches Wunder wiederaufgerichtet worden war. Gut aber ist es, daß auch Deutschland sich in die Strömung, da sie nun einmal in die Zeit sich ergießen sollte, mit seinen Kräften warf.

Dieser ist der Zustand der Dinge. Wie man ihn nennen will, gilt gleich; ich glaube aber nicht, daß man die Züge übertrieben oder in das fälschlich Schöne verzogen schelten kann. Mit Willen habe ich nur die gröbsten Linien entworfen, gleichsam mit Frakturschrift geschrieben, um eben nur das Unzweifelhafte auszusprechen, welches aufhört, sobald die feineren Nuancen beginnen.

Neben jenen Lichtern dunkeln freilich auch tiefe Schatten. Der trübste ist, daß Deutschland noch immer des rechten, vollen Selbstvertrauens entbehrt. – Dreißig Millionen Menschen fürchten! – Das allgemeine Selbstvertrauen fehlt aber, oder ist noch nicht so stark, wie es sein könnte, weil der einzelne sich nicht genugsam zu vertrauen weiß. Noch immer, wenn auch schwächer als früher regt sich die alte Wut, zu dienen, sich wegzuwerfen und ein abgeleitetes Dasein zu leben, statt eines eigenen. Der Deutsche hat aber recht eigentlich die Bestimmung, sich in seinem innersten Kerne zu begreifen, verstehen zu lernen, wozu ihn Gott und die Natur haben wollten und nur in dieser Gestalt anzuknüpfen mit einem fremden Willen. Das ist nach meiner Meinung der wahre Begriff germanischer Freiheit, welche nicht mit wütenden Rotten durch die Straßen läuft, sich selbst ausrufend, sondern der Gewalt eine unsichtbare und stumme Schranke entgegensetzt. Diese germanische Freiheit ist nur in England bis jetzt zum Vorschein gekommen und auch da unvollständig, gebrochen, anfangs [17] durch die normannische Eroberung, später durch den erwachten Merkantilismus. Es fehlt aber viel, daß sie bei uns im vollen und ganzen bestände. Würde sie einmal mehr durchdringen, so würde dann der wahrhaft germanische Staat erwachsen sein, der vollkommenste der neueren Zeit, weil wenigstens die Mehrzahl seiner Bürger ihm angehören würde nicht durch die niederen Triebe der Natur, sondern durch das Beste im Menschen, durch das, was man seine geistige Person nennen kann.

Daß der Zustand, wie er in seinen allgemeinsten Merkmalen angegeben worden ist, aus der Niederlage von 1806 und der Erhebung von 1813 entsprang, wird man nun leicht einsehen. Denn seine guten Seiten beziehen sich sämtlich auf das in den Zeiten der Not wiedererwachte Volksbewußtsein; die Verarmung und das materielle Unwohlsein während der Unterdrückung hatte die Sehnsucht nach einem reichlicheren Wesen geschärft, und dieses wird zunächst durch die materiellen Tendenzen angestrebt, so daß daher auch sie, wenigstens in der Gewalt, mit welcher sie herrschen, als Folgen der Vergangenheit erkannt werden dürfen. Der Schatten aber ist ebenfalls aus dem Schatten geboren, welcher über dem Freiheitskampfe lastete. Dieser war das historische Unglück, daß nicht Deutsche allein die Rettungsschlachten schlugen, sondern daß der Kampf eine gemischte Natur hatte.

Noch also ist die Spur des Löwen sichtbar; wenigstens wie die Sonne, wenn Wolken am Himmel sind, würde vielleicht Sancho Pansa hinzusetzen. – Aber wie bald kann sich das ändern, wie bald können neue Ereignisse unserem ganzen Sein durchaus neue Zutaten geben! Wer seine eigenen Augen nicht verschließen will, muß einsehen, daß das Schicksal Frankreichs auf zwei Augen steht und daß der junge Herzog von Orleans, wenn Ludwig Philipp nicht mehr ist, eine unlösbare Aufgabe hat. Man sagte noch vor kurzem, daß die Schüsse auf den König eben bewiesen, welche Festigkeit der Julithron gewonnen habe. Jetzt errichten vierhundert junge tollkühne Menschen Barrikaden in der Hauptstadt, das Volk sieht zu, die Nationalgarden kommen zögernd und in schwacher Zahl, die Aufrührer sterben, ohne zu beichten, [18] und noch in den Zügen der Toten prägt sich Trotz und Verachtung aus. Was wird man nun sagen? Welchen neuen Vorwand der Beschwichtigung wird man nun ersinnen? – Ist es denn überhaupt nach der Natur der menschlichen Dinge denkbar, daß das Volk, welches doch dort unleugbar einen König gemacht hat, in zwei Menschenaltern vergessen werde, es habe sich den König eigentlich nach seinem Bilde machen wollen?

Ich werde in meine Schilderungen viel Individuelles verweben, werde mich sogar nicht scheuen, mit Knabenerinnerungen zu beginnen. – »Memoiren also!« – Nicht so ganz. Mein Leben erscheint mir nicht wichtig genug, um es mit allen seinen Einzelheiten auf den Markt zu bringen, auch habe ich noch nicht lange genug gelebt, um mir den rechten Überblick zutrauen zu dürfen. Ich werde vielmehr nur erzählen, wo die Geschichte ihren Durchzug durch mich hielt. Da aber werde ich auch Kleines und anscheinend Geringfügiges nicht verschmähen, denn die großen Ereignisse entspringen zwar nicht selten in einem großen Haupte oder Herzen, ihren Leib aber bekommen sie immer nur aus den Elementen und deren Infinitesimalteilchen.

Daß der Rhapsode sich auf diese Weise zum Mittelpunkt seiner Erzählung mache, scheint mir erlaubt zu sein. Es wäre schon nicht übel, wenn der Darsteller einzelner historischer Tatsachen angäbe, durch welche persönlichen Motive er sich mit seinem Stoffe wahlverwandt gefühlt habe. Dadurch würde die Geschichtsschreibung offener den Charakter geistiger Konfessionen bekommen, und keine ist etwas anderes. Nur müßte dies freilich mit mehr Wahrheit und Freimut geschehen, als es Sallust getan hat. Eine objektive Darstellung im strengen Sinne des Worts gibt es gar nicht. Die Sache ist vielmehr die. Es gibt objektive und subjektive Zeiten d.h. solche, in welchen eine große Menge Menschen in gewissen Lebensveranstaltungen oder Überzeugungen übereinstimmen, und solche, worin das Gegenteil stattfindet, worin nur das Individuum für sich da ist. Goethe hat auf diesen Unterschied in den Gesprächen mit Eckermann scharfsinnig hingewiesen, und nur darin geirrt, daß er sich selbst für eine [19] objektive Natur hielt, während er doch nur die auf die Spitze getriebene Subjektivität des achtzehnten Jahrhunderts in sich zur höchsten Blüte zu bringen wußte, und alle Stoffe, die wie z.B. »Egmont«, in ihrer Großheit und Subjektivität nicht zusagten, umbrechen mußte, um sie behandeln zu können. Merkwürdig sind in dieser Beziehung die Geständnisse über seine Beschäftigungen während der großen Entscheidungen des Vaterlandes, aus welchen man ihm mit Unrecht einen Vorwurf erhoben hat. – Gegenwärtig leben wir in einem Übergange von der subjektiven zur objektiven Periode; die Zeit, von welcher geredet werden soll, gehört noch ganz der ersten Richtung an.

Bei einem allgemeinen Sitten- und Charakterbilde, wie ich es zu geben versuchen werde, ist es nun sogar notwendig, von der Person des Zeichners auszugehen, wenn es die rechte Wahrheit erhalten soll. Der Held, der Kriegeszug, die Friedensunterhandlung ist durch Abhörung von Zeugen oder Einsicht der Urkunden noch allenfalls herzustellen. Dagegen lernt man die Sitte, Stimmung und Strömung einer Zeit nur dadurch kennen, daß man mit ihr lebt, und auf die Weise lernt man sie kennen, wie man mit ihr zu leben wußte. Sie ist wie die Harmonie von Blättergesäusel, Blumennicken, Lüfteziehen, Nachtigallenschlag und Getön fernarbeitender Menschen an einem Frühlingstage; oder von Meereswogen, Möwenschrei und Vorüberfahren einsamgespannter Segel am Strande, etwas Unendliches, Zerrinnendes, ewig sich Wandelndes, welches nur in den Organen des Beschauers Abschluß und Umrahmung erhält. Hier ist also die subjektive Darstellung die beste, weil sie die ehrlichste ist.

[20] Knabenerinnerungen

Ich bin in einer Familie erwachsen, welcher von väterlicher Seite her zwei große Gestalten der Vergangenheit in höchstem Glanze vorgeführt wurden. Wie andere Kinder mit Märchen gespeiset werden, so wurde mein frühestes Denken und Fühlen durch das Gedächtnis an sie ernährt – vielleicht war es eine zu strenge Nahrung für das unreife Alter.

Die erste jener beiden Gestalten war Gustav Adolf, König von Schweden. Eine glaubwürdige Familientradition, die mein Vater in seinem Hausbuche aufgezeichnet hatte, besagte, daß Peter Immermann, Sergeant in der Armee des großen Schwedenkönigs, der erste des Namens in Deutschland gewesen sei. Er hatte bei Lützen mitgefochten »für teutsche Gewissensfreiheit« wie im Hausbuche steht, was da vor mir liegt, war in Deutschland geblieben, hatte eine durch den Dreißigjährigen Krieg wüst gewordene Bauerstelle im Dorfe Etgersleben unweit Magdeburg in Besitz genommen, eine Bäuerin, namens Ilse geheiratet, und war so der Stammvater der Familie geworden, welche sich dann durch Landleute, Handwerker, Schullehrer und Prediger verbreitete, bis sie in meinem Vater zu einem nach dem Maßstabe früherer bescheidener Zeiten hochgeschätzten Ansehen gelangte. Er war Königlicher Rat und stand bei der magdeburgischen Krieges- und Domänenkammer.

Es ist nicht wahr, daß nur der Adel sich etwas auf seine Ahnen einbilde. Bürgerfamilien sind ebenso stolz, wenn sie unter ihren Vorfahren jemand wissen, der den Stammbaum verherrlicht, sei es auch nur dadurch, daß sein Name mit irgendeiner großen oder gerühmten Begebenheit in Zusammenhang steht. Eine sehr natürliche und lobenswerte Neigung im Menschen; der Keim des Staats und alles politischen Lebens. Jener alte Schwede, von dem sonst nichts weiter bekannt war, erhielt sich in der Familienerinnerung als eine respektable [21] Figur, mein Vater erzählte mit Behagen, daß er einstmals jüngere Vettern mit nach Etgersleben hinausgenommen, ihnen das Stammgut der Familie gezeigt und sie veranlaßt habe, den Hut vor dieser Solstätte abzunehmen. Über die problematische Natur des Erwerbstitels wurde hinweggesehen, keine Kritik nagte an der Rechtfertigkeit des Besitzes. Das Gütchen war übrigens längst in andere Hände übergegangen, und ich habe es nie zu Gesicht bekommen.

Indessen bedurfte denn doch der schwedische Sergeant eines Heros, von dessen Strahlen er erst sein rechtes Licht zu empfangen hatte. Und dieser konnte kein anderer sein als Gustav Adolf. Mein Vater nannte ihn nie anders als den Erretter Deutschlands, viel wurde von ihm erzählt, der Dreißigjährige Krieg ging für uns eigentlich nur bis zur Schlacht von Lützen; über allen Zweifel erhaben war es, daß den König eine meuchelmörderische Kugel getroffen hatte, was denn unseren Haß gegen die Ligisten, der ohnehin schon nicht gering war, nur schärfen konnte. Wie die Leiche des Helden nach Weißenfels geschafft worden, wie die Königin sie dort mit Tränen benetzt habe, das und mehr dergleichen stand so vor mir, als wäre ich dabeigewesen. Die Oxenstiernas hörte ich erst weit später nennen und sie konnten mir nach einem solchen Vorgänger wenig Interesse abgewinnen.

Die andächtige Verehrung des großen Schwedenkönigs fand in meiner Vaterstadt außerdem einen fruchtbaren Boden, in dem sie nachhaltig treiben konnte. Eine Stadt verschmerzt ihre Zerstörung in anderthalb hundert Jahren nicht. Tilly und der Teufel galten in Magdeburg ungefähr gleich viel; Katholische und Kaiserliche kamen dicht hinterher. Rathmanns Geschichte von Magdeburg ist das erste Buch gewesen, welches ich gelesen habe. Kam ich nun da an die Stelle, wo es heißt, daß die Belagerer am 9. Mai 1631 zum Schein ihre Stücke aus den Schanzen, ihre Truppen von Krakau und Rothensee abziehen, daß die Belagerten sicher werden, glauben, die Schweden rückten zum Entsatz herbei, und die vom Wachen und Postenstehen ermüdeten Glieder dem Schlummer hingeben, so ergriff mich die heftigste Beklemmung, ich hätte ihnen aus Leibeskräften zurufen mögen: Wacht auf! [22] den Bösewichten ist nicht zu trauen! Es half aber nichts. Wenige Seiten weiter waren die Kroaten, die Wallonen und Lombarden zur Hohenpforte und zum Schrotdorfer Tor eingedrungen, mordeten und brannten. Dietrich von Falkenberg, der schwedische Kommandant, eilt fruchtlos dahin und dorthin, bis ihn eine Falkonettkugel niederstreckt. Nun beginnt der Greuel der Verwüstung, durch den sich die jugendliche Einbildungskraft hindurchwürgen mußte! – Tilly bekam es freilich darauf bei Leipzig, und im Dome sah ich noch seine angeblichen Stiefel hangen, mit Ketten umwunden, aber was konnte das helfen, da Magdeburg bis auf den Dom, einige Kirchen und eine Reihe dürftiger Häuserchen am Fischerufer in der Asche lag! wie ich jederzeit für mich, wenn ich diese grause Lektüre beendigt hatte, ergriffen und pathetisch sagte.

Blickte sich nun der Knabe in der Stadt um, so sah er den gewaltigen Dom mit seinen beiden majestätisch emporstrebenden Türmen und im übrigen lauter Häuser, die wie geschnörkelte Kommoden dagegen aussahen. Es war aber zu uns noch nichts gedrungen von gotischer, vorgotischer und späterer Baukunst aus den Zeiten des verderbten Geschmacks, wovon jetzt jedes Kind zu reden weiß. Wir dachten uns also bei jenem Kontraste auch weiter nichts, als daß die Kommodenhäuser nach dem Sturme aufgebaut seien, und daß der Dom in seiner Pracht und Festigkeit selbst den verruchten Stürmen widerstanden habe. An dem fiel uns besonders auf, daß der Knopf des einen Turmes fehlte, während der andere doch noch ganz stattlich mit seiner steinernen Blume da droben unter den scharfen, hohen Himmelslüften blühte. Wir mußten nun auch über den fehlenden Knopf, der uns so in Verwirrung setzte, wie Kanten einst der Defekt am Rocke des gegenübersitzenden Studenten, vernehmen, ebenfalls er sei von den Kaiserlichen in der Belagerung herabgeschossen worden.

Darauf bezog sich denn unser ganzes Interesse an magdeburgischen Geschichten. Denn ich wußte zwar wohl, daß Kaiser Otto der Große die Stadt gegründet habe, ich fand zwar einst in einem alten staubigen Wandschranke hinter dem Sofa in meines Vaters Stube, als dieses Möbel einer Reparatur [23] wegen abgerückt wurde, zwischen Müll und Moder eine Reihe weggestellter Folianten und Quartanten in Schweinsleder, unter den Quartanten einen, der ganz gelbbraun aussah und der »löblichen uralten Stadt Magdeburg Privilegia« enthielt, und in diesem gelbbraunen Quartanten den deutsch übersetzten Gründungs- und Freiheitsbrief Ottos vom siebenten Tage des Brachmondes Jahres 940, worin der Kaiser »den werten Sachsen, die ihm fürgeleget, wie sie sich in Gottes Frieden zusammenhalten und eine Stadt bevesten wollen«, erlaubt »zu bauen und zu bevesten, und einen Markt zu hegen nach alter Weise, als Marktrecht von alters gestanden hat, auch ewigen Frieden zu haben in der Stadt welche sie Magdeburgk genannt haben«; ich sah des Kaisers steinerne Bildsäule zu Pferde, Krone auf dem Haupte, Zepter in der Hand, Mantel um die Schultern unter ihrem Schirmdächlein auf dem Alten Markte stehen, hörte, daß von der Bildsäule aus alle Landstraßen gemessen würden, die in der Stadt zusammenstießen und wußte, daß die Fischhändlerinnen, die dort mit ihren großen Bütten und Mulden in reichlicher Zahl ausstanden, dem Kaiser als ihrem Patrone noch alljährlich am Sonnabend vor Pfingsten grüne Maien als Zoll der Verehrung an das Postament steckten und ihm ein Frühstück servierten, auch sah ich ihn mit seiner Editha in weißem Marmor hinter erzgetriebenem Geländer im Chore des Domes liegen, wenn wir uns, während der Gottesdienst zu Ende ging und die Gemeinde die Kirche verlassen wollte, dort einschlichen. Aber Privilegienbrief, Bildsäule und Grabmal blieben doch nur Papier, Erz und Stein, der weggeschossene Turmknopf, die Kommodenhäuser und Rathmanns Bericht von den Greueln der Zerstörung gehörten allein zu der Geschichte, die sich um den schwedischen Stammvater und seinen König drehte.

Die zweite große Gestalt, von der ich reden hörte, war Friedrich der Zweite. Mein Vater hatte im Jahre 1750 das Licht der Welt erblickt, sich erst als Fünfundvierzigjähriger verheiratet und so kam es, daß ich von jemand abstammen konnte, der mir aus eigenem Gedächtnisse erzählte, daß die französischen Husaren vor der Schlacht bei Roßbach in das [24] Magdeburgische gestreift und bei dem Anblick der großen Salinen werke um Salze gerufen hätten: »C'est dommage!« nämlich, daß so schöne Anlagen nun auch bald zerstört und dem Boden gleichgemacht werden müßten. Wenn der Vater das erzählte, so spielte ein satirisches Lächeln um seine fein und scharf geschnittenen Lippen. Da er aber von Natur höchst ernsthaft war, so unterblieb jeder weitere Spott und er fügte nur hinzu, jenes gutmütige Bedauern der französischen Husaren habe sich etwa Ende Oktober zugetragen, die Schlacht bei Roßbach sei aber am fünften November vorgefallen und durch Seydlitz in einer halben Stunde entschieden gewesen. Roßbach und die Franzosen und Seydlitz gehörten hiernach in der Vorstellung der Kinder untrennbar zusammen. Bei der Gelegenheit war auch von der Reichsarmee die Rede, auf welche jedoch nur die bekannte spöttische Bezeichnung verwendet wurde. Jedoch nicht von meinem Vater, der zwar wohl in Familienbeziehungen ungeachtet seines martialischen Ernstes heiter zu scherzen wußte, nie aber sich Späße über allgemeine und wichtige Dinge gestattete, sondern diese immer in einfachster Strenge abhandelte. Nur von Angehörigen, Mitzuhörern der Krieges- und Siegeserzählung, vernahmen wir das nun längst verschollene Witzwort.

Die kräftigsten männlichen Jahre hatte mein Vater im Dienste des preußischen Königshelden verlebt, nämlich als Auditeur bei dem General Saldern. Viele der großen jährlichen Manöver und Revuen unweit Körbelitz hatte er mitgemacht auf seinem »Braunen«, wie er ein besonders geliebtes Pferd nannte, dem auch, nachdem es untauglich geworden, von ihm aus Dankbarkeit auf die Tage des Lebens der Gnadenhafer und das Pensionsheu bei einem Verwandten auf dem Lande gestiftet worden war. Mein Vater hatte es nicht über das Herz bringen können, das treue Roß, welches die mutigen Tage des Reiters in so manchem fröhlichen Ritte gesehen, totstechen oder bei einem Kärrner zu Tode schinden zu lassen. Dieser Braune gehörte ebenfalls zu den mythischen Figuren meiner Kindheit. Es war fabelhaft, wie lange er noch bei dem Landwirte gelebt haben sollte. Steif, blind und zahnlos war er geworden, weshalb die Sage ging, er habe zuletzt [25] mit Mehlsuppe gefüttert werden müssen, weil das arme, greise Maul Rauh- und Hartfutter nicht mehr bewältigen können. Mein Vater gehörte aber zu den wenigen Menschen, die von dem, was sie einmal ausgesprochen haben, nicht wieder abgehen, und da der Vetter und Landwirt ein äußerst gutmütiger und sanfter Mann war (weshalb ihn auch der Vater wahrscheinlich zum Siechenpfleger des alten Braunen ernannt hatte), so verdient die Nachricht Glauben, daß das Pferd endlich wirklich eines natürlichen Todes verblichen sei. Freilich schlich neben dieser Nachricht im Hause die heimliche Sage um, man habe den Vater dennoch getäuscht, dem Vetter sei zuletzt der Faden der Geduld gerissen, das ganz stumpf gewordene Tier aber durch einen Genickschuß abgetan worden.

Erinnerte sich der Vater an die Revuen bei Körbelitz, so pflegte er zu sagen: »Wenn Friedrich die Front heraufgeritten gekommen, so sei es in lautloser Stille einem jeden gewesen, als komme der liebe Gott.« Ich konnte daher als Knabe zwischen dem großen Könige und dem lieben Gott auch eigentlich keinen Unterschied machen. Dabei war mein Vater nicht blind für die Fehler des gefeierten Herrschers und Herrn. Mit großer Erregung sprach er davon, wie Saldern, sein verehrter Chef, durch die Ungnade des Königs die verbittertsten letzten Lebenstage gehabt habe. Es war dies einer der Fälle gewesen, in welchen Friedrich seiner übeln Laune auf jemand durch herbes Spötteln oder kaltes Übersehen Luft zu machen geliebt hat. Glänzend hob sich dagegen hervor, was mein Vater selbst von der Achtung des Königs für eine unerschrockene Meinung erfahren hatte. Ein armer Soldat war, von einem unmenschlichen Vorgesetzten über alles Ertragen hinaus gereizt, unter dem Gewehr gegen diesen tätlich ausgefallen; der Tod schien ihm sonach gewiß zu sein. Mein Vater aber wußte es, mittelst einer Beweisführung, die freilich künstlich genug gewesen sein mag, dahin zu bringen, daß der Missetäter in dem Moment des Verbrechens allenfalls für wahnsinnig hatte gelten können, wußte in dem Kriegsgericht mit seiner Beredsamkeit zu siegen. Das Kriegsgericht sprach den Delinquenten frei. Als mein Vater Saldern [26] das Urteil überbrachte, sah dieser ihn mit großen Augen an, fragte ihn, ob er den Kopf verloren habe, eine solche Erkenntnis könne er nicht auf sich nehmen, über die Sache müsse er an den König schreiben. Der Gescholtene zeigte durch seine stumme militärische Haltung, daß er das erleiden wolle, worauf Saldern ihn heftig anließ und ihm augenblickliche Kassation, Festung und was sonst noch, verkündigte. Mein Vater versetzte, daß er in Eid und Pflicht stehe und seine Schuldigkeit getan zu haben glaube. Saldern schickte das Urteil wirklich an Friedrich ein, mit mancher Beschönigung für den Referenten, den er wie einen in den Militärrechten noch unerfahrenen Menschen dargestellt hatte, selbst aber wenig von dieser Verwendung hoffend. Die Sache war in der Tat keine Kleinigkeit, denn über Disziplin verstand Friedrich bekanntlich wenig Scherz. Aber alles nahm eine günstige, selbst eine epigrammatisch-witzige Wendung. Der König, das Ganze durchsehend, und der guten Absicht das Mittel vergebend, bestätigte wider Erwarten das Urteil und hatte dem Remissorial eine seiner wunderbaren Randverfügungen beigesetzt, ungefähr der Fassung: »Vor diesesmal möge es passieren, Saldern solle aber darauf acht haben, daß nicht mehr Kerls unter dem Gewehr solcherweise überschnappten.« – Der Offizier und Mißhändler wurde in eine Art von Strafbataillon versetzt und die Angelegenheit brachte meinem Vater Ehre und Beglückwünschung, am meisten von Saldern selbst, der ihn liebhatte. – Dieser Tat war er sich mit Freuden bewußt und durfte es auch sein, denn die Menschlichkeit mußte in jenen eisernen Zeiten Schleichwege gehen, wenn sie zum Ziel gelangen wollte. Ein Nebenzug in dem Ereignisse war folgender: Man hatte meinem Vater, als er seine Absicht, den Menschen zu retten, ausgesprochen, vorgestellt, der König werde ihn ja ohne Zweifel begnadigen. Darauf erwiderte mein Vater: die Gnade sei ungewiß, das Recht aber gewiß. Der Mensch brauche keine Gnade, sondern solle Recht bekommen. – Er ließ sich nicht träumen, daß seine Titular-Theorie von der Monomanie beinahe fünfzig Jahre später unter den Richtern und Ärzten wirklich spuken gehen werde.

[27] Ich habe den König Friedrich den Zweiten genannt. Ich muß aber hinzufügen, daß ich ihn nie so in meines Vaters Hause nennen hörte. Die anderen sprachen vom alten Fritz, meinem Vater aber hieß er der König schlechtweg. »Als der König zur Bayerischen Kampagne abreiste – als der König zum ersten Male das Podagra hatte – als der König dann und dann in Magdeburg war« – in solcher Art wurde geredet. Viel las mein Vater in Friedrichs Schriften, von welchen er die Ausgabe von 1788 bei Voß und Decker besaß, über deren schlechte Redaktion damals noch keine Klage geführt wurde. Wenn ich ihm nun einen Band derselben bringen sollte, so sagte er nur: »Hole mir den und den Band von des Königs Schriften.« – Ich schlage soeben den ersten Teil auf und darin finde ich unter neuerem Datum vermerkt, daß einige Bände »von des Königs Schriften« an einen Verwandten ausgeliehen worden seien. Wir lebten unter Friedrich Wilhelm dem Dritten, dem Vater aber war bei tiefster Anhänglichkeit an den regierenden Herrn Friedrich der Zweite der König ohne weiteren Beisatz geblieben. Sprach er von der Gegenwart, so sagte er: Unser jetziger König.

Unermeßlich war die Wirkung solcher Eindrücke auf das erste Erkennen. Durch den Vater, der selbst wie ein Wesen höherer Art und Ordnung vor den Kindern dastand, wurde der Gedanke an Persönlichkeiten vermittelt, zu welchen alles, was man sonst sah und hörte, nicht mehr zupaßte. Denn auch die Ungerechtigkeiten und Tücken des großen Königs, von welchen, wie ich beispielsweise angab, zuweilen die Rede war, minderten an dem Bilde seiner Gewaltigkeit nichts; weil mein Vater jedesmal hinzusetzte: »Wenn er sich dergleichen vorgenommen hatte, so konnte kein Mensch auf Erden dawider an.« – Und so wurde ein Heroenkultus gestiftet, der auch eine Art von Religion ist, nur muß er nicht aus dem Begriff entspringen, wenn er diesen Namen verdienen soll, sondern aus den frühesten und dunkelsten Gefühlen. Der Atem der Friederizianischen Aufklärung umwehte uns von allen Seiten und des Offenbarungsglaubens kam uns gar wenig zu, aber es fragt sich, ob, wie die Sachen wenigstens jetzt zu stehen gekommen sind, das religiöse Gefühl in Kindern [28] nicht am gründlichsten durch eine solche Hingebung an große Menschen vorzubereiten wäre?

Fahle, unheimliche Schatten strichen je zuweilen durch die uns aufgetane Lichtwelt, deren Schimmer nur noch heller hervorstellend. Wir hörten vom »Hochseligen« oder sogenannten »dicken Könige« reden, vernahmen, daß man ihm habe Geister erscheinen lassen, daß seine letzten Tage nur durch künstlich bereitete Lebensluft zu fristen gewesen seien; der Name Bischoffswerder wurde genannt und von Goldmacherei gesprochen. In der Nähe von Emden wurde nie verabsäumt, uns ein einsam und wüst liegendes Häuslein zu zeigen, in welchem die betrügliche, aber damals zu Ansehen gekommene Kunst getrieben sein sollte. Das hatte nun alles keinen rechten Zusammenhang, welcher sich auch bei der eigentümlichen Natur jener Geschichten vor Kindern nicht wohl herstellen ließ, aber es erweckte doch den Gedanken, daß mit dem Tode »des Königs« die Welt eine äußerst schiefe Richtung erhalten haben müsse. Als Söhne der Aufklärung verachteten wir alle Geisterseherei und Goldmacherei von Grund des Herzens und konnten in unserer Geringschätzung nicht begreifen, wie man dergleichen habe glauben und dulden können. Ich grübelte und grübelte über die dunkeln Geschichten, die wie Gespenster mir in der Seele lagen.

Im Jahre 1805 im Sommer bemerkte man plötzlich eine große Regsamkeit in der Stadt. Mehrere der alten Kommodenhäuser am Neuen Markte wurden abgeputzt, das Pflaster, was von da zum Fürstenwalle hinabführte, wurde ausgebessert, das Gouvernementsgebäude, dessen oberer Stock durch eine hölzerne Überbrücke mit dem Fürstenwalle zusammenhing, instand gesetzt, der Fürstenwall, von wo man die Aussicht auf einen bedeutenden Abschnitt der Elbe und ihrer Ufer hatte, mannigfaltig durch die strengen Linien der gegenüberliegenden Zitadelle und die Baumanlagen des Roten Horns, empfing an schicklichen Stellen einen Überzug von grünem Rasen, in den blühende Stauden und insbesondere blaue und rote Hortensien in unendlicher Anzahl eingesenkt wurden, endlich errichteten Werkleute und Tapezierer auf einem Vorsprunge des Walls ein russisches Zelt mit buntem [29] Dache. Der Sinn dieser Anstalten wurde bald klar, es hieß, der König und die Königin würden Magdeburg besuchen. Damals erinnere ich mich zum erstenmal von jener Fürstin reden gehört zu haben. Ich war von frühster Kindheit an sehr neugierig und horchte überall zu, wo ich Erwachsene redend zusammenstehen sah, wie ich denn überhaupt eher ein Verhältnis zu älteren Leuten gehabt habe, als zu meinesgleichen. Die Wirkung der annahenden Königin auf die Männerwelt war nun wirklich so, daß man jeden für einen Champion der schönen Majestät hätte halten dürfen. In der bürgerlichen Sphäre wurde damals weit weniger gereist als jetzt, viele hatten daher die Monarchin noch nicht gesehen und alle waren voll Erwartung des Wunders, oder Entzückens über die Wiederkehr hoher Freude voll. Man sprach nur von der Königin, sie wurde, wo auf sie die Rede kam, »die admirable Frau« genannt. –

Nicht lange währte es, so legte eines Morgens mein Vater mit ernstem Antlitz seine gestickte Uniform an, in der ich ihn noch nie gesehen hatte und in welcher er mir, Degen an der Seite, dreieckigen Hut auf dem Haupte, wunderbar und fremd vorkam. Ich drückte mich, nachdem ich den Glanz dieses Anblicks oben auf des Vaters Zimmer eingesogen, unten in eine Ecke des Hausflurs, um den Genuß noch einmal zu haben. Er schritt an mir vorüber, ohne mich wahrzunehmen, nachdenklich vor sich hinsehend, und ich war ganz erschüttert und betäubt, denn ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß ein solcher Prachtrock in der Welt, geschweige daß er im Hause sei.

Gleich nachher donnerten die Kanonen, läuteten die Glocken, sprengten die roten Kammerhusaren – eine Art von Verwaltungsmiliz, die ein in diesem Friedensdienste unmäßig korpulent gewordener Rittmeister kommandierte – durch die Straße, lärmte und schrie das Volk, und lief im wildesten Rennen nach dem Brücktore. Es war uns Kindern streng verboten worden, uns in das Getümmel zu wagen, aber wie wäre da Haltens gewesen! – Das Haus war von seinen Bewohnern geleert und nur der Hut einer alten Wärterin anvertraut. Der vorbeizukommen hielt nicht schwer. Rasch hatte [30] ich die Türe hinter mir und war mit den letzten Nachzüglern auch im vollen Rennen nach dem Brücktore. Aber in der Nähe desselben kamen uns glänzende Equipagen entgegengefahren, nachflutete der Volksstrom dem Fürstenwalle zu, von diesen Wogen wurde auch ich gefaßt, nun schwamm ich mit der Flut und wurde von ihr ruckweise auf die Stirn des Walls befördert.

Dort stand Kopf an Kopf und es schien fast unmöglich bis zum Gouvernementsgebäude vorzudringen, in welchem die Majestäten abgestiegen waren. Aber was wäre einem von Neugier brennenden Knaben in solchem Falle unausführbar? Gehend und kriechend, schiebend und geschoben, stoßend und gestoßen schrotete ich mich die schwarze Menschenmasse hindurch und gelangte endlich glücklich wenn auch etwas gequetscht an einen Ort, wo ich nun unter den Vordersten gerade der großen Salontüre gegenüberstand, in welcher die Herrscher erscheinen mußten, wenn sie sich, wie jedermann erwartete, dem Volke zeigen wollten.

Da stand ich denn also an der glücklichsten Stelle. Aber bald überfiel mich ein entsetzliches Bangen. Im Kampf und Ringen stürmt der Mensch sich bewußtlos auf die schmale Zinne eines Turms hinauf, aber wenn er die Zinne erobert hat und nun da droben steht, kann ihm schwindlig werden. Mir fiel plötzlich zentnerschwer aufs Herz, daß ich denn doch wider das ganz ausdrückliche Verbot meines Vaters da vorhanden sei, welches mir so viel gelten mußte, als ein Befehl Friedrichs seinen Offizieren gegolten hatte. Meinem Geiste trat eine furchtbare Phantasie nahe; ich dachte, der Vater könnte da statt des Königs oder der Königin in der Salontüre sich zeigen, sein Auge den Ungehorsamen entdecken. Zurückzuweichen war völlig unmöglich, die Menge hinter mir bildete eine undurchdringbare Mauer. Ich mußte also stehen bleiben, den Fügungen des Geschicks verfallen, und mich noch vor den beiden roten Kammerhusaren in acht nehmen, welche die Brücke nach dem Salon gegen den Andrang zu schützen hatten. Diese machten nicht viel Umstände mit dem Volke, und es ging hier zu wie allerorten bei solchen Gelegenheiten. Nicht die Drängenden erlitten unsanfte Behandlung, [31] sondern die Gedrängten, die unschuldigen Vordersten.

Aber bald löste ein reizendes Schauspiel alle Angst auf und jedes herbe Wesen. Die Königin trat in die Salontüre. Ich erinnere mich ihres Anzuges noch ganz deutlich; sie trug einen stahlgrün seidenen Überrock, und war übrigens ohne Schmuck, einfach gekleidet. Das Volk begrüßte sie jubelnd, Mützen und Hüte schwenkend. Sie verneigte sich mit holdseliger Freundlichkeit nach allen Seiten und nun wurde ich Zeuge eines Auftritts, der wohl verdient erzählt zu werden. Auf silbernem Plateau wurde ihr eine Tasse dargeboten, sie nahm sie und frühstückte. Ein Herr mit mehreren Sternen auf der Brust näherte sich ihr aus der Tiefe des Salons und schien des Augenblicks zu warten, wo er ihr nach beendetem Frühstück die Tasse abnehmen dürfte. Plötzlich aber sah die Königin empor, dann mit unglaublicher Freundlichkeit nach dem Volke. Ihr Blick fiel auf ein Kind, mit welchem die Wärterin sich auch unter den Vordersten befand. Die Schönheit des Kindes mochte ihr gefallen, und das lange, goldgelbe Lockenhaar des Kleinen. Sie winkte erst mit dem Finger, da aber niemand die liebenswürdige Natürlichkeit dieser Gebärde begriff, so sagte sie jemand, der hinter ihr stand, etwas, worauf der Diensttuende über die Brücke gegangen kam und der Wärtin befahl, ihm mit dem Kinde zur Königin zu folgen. Die arme Person wurde blutrot, gehorchte zitternden Schrittes, und sah sich dabei unterweilen nach der Menge um, als wollte sie sagen: Ich maße mir diese Ehre nicht an. Inzwischen wollte der Herr mit den Sternen der Königin die Tasse abnehmen; sie lehnte es aber ab, neigte sich dem Kinde, welches unbefangen umherlächelte, entgegen, faßte seine Händchen, streichelte ihm die Wangen und gab ihm dann aus ihrer Tasse in dem Teelöffel zu kosten. Sie fragte die Wärterin nach dem Alter des Kindes, nach seinen Eltern und was dergleichen mehr war. Alles dieses geschah in der Entfernung weniger Schritte von dem Platze, wo ich stand, so daß ich diese Einzelheiten genau merken konnte. Man begreift, welchen Eindruck der Vorgang im Volke machen mußte, bei dem eine Königin sich so lieblich mütterlich gegen ein fremdes Kind [32] bezeigte. Es wurde nicht gerufen oder sonst eine laute Freude an den Tag gelegt, aber rings um mich her hörte ich murmeln, daß das doch noch eine Königin sei, wie sie sein müsse.

Dieser Tag hatte für mich eine Belehrung unerwarteter Art in seinem Schoße. Ich wußte vom alten Fritze, konnte alle Schlachten des Siebenjährigen Krieges nach der Schnur her erzählen, es war mir bekannt, daß die Kaiserlichen Magdeburg zerstört hatten, und die Königin von Preußen hatte ich soeben gesehen. Aber wie das alles mit der Gegenwart zusammenhing, darüber fehlte mir jede Vorstellung und in betreff der aktuellen Regierung ging es mir, wie Götzens Karl, als er nach dem Herrn von Berlichingen befragt wird. Aus Rathmanns Geschichte waren mir die alten magdeburgischen Erzbischöfe als besonders kenntliche Figuren entgegengetreten und ich glaubte daher an deren Fortbestand so treuherzig, wie Campes Kinder daran glauben, daß ihr Freund Robinson noch am Leben sei. Der Tag aber, von dem ich rede, sollte mich enttäuschen.

Glücklich und unbemerkt war ich nach Hause zurückgelangt, und saß meinem Vater bei Tische gegenüber. Er hatte sofort nach der Rückkehr von der Cour die Gala abgelegt, war jedoch schweigsam und ernst und überhaupt herrschte eine gewisse feierliche Schwüle im Familienkreise. Mir wurde dabei im Bewußtsein des verbotenen Genusses, den ich gehabt, nicht ganz wohl, ich hielt es unter diesen Umständen für doppelt geraten, der Unterhaltung mich nach Kräften anzunehmen, damit sie nicht etwa in verfängliche Nachforschungen abspränge, und so fuhr ich plötzlich, als eine lange Stille im Gespräch entstanden war, mit der Frage heraus: wer jetzt Erzbischof von Magdeburg sei?

Hierauf sah mich mein Vater mit einem Blick an, den ich nie habe vergessen können. Er hatte hellblaue Augen, die eines blitzenden Ausdrucks fähig waren. Diese blitzenden blauen Augen auf mich werfend und auf mir ruhen lassend, sagte er ganz ruhig und gehalten, aber so, daß mir der Ton durch Mark und Bein ging: »Das Erzstift ist lange aufgehoben und zum Herzogtum Magdeburg gemacht. Der König von Preußen ist Herzog von Magdeburg.« –

[33] »Und du hast heute gegen meinen Befehl die Königin gesehen«, dachte ich, würde nachfolgen, glühend in meiner Sündenschuld. Indessen verblieb es bei jener Auseinandersetzung, die mir eine ganz neue Welt eröffnete, mich aber fast so traurig machte, wie Robinsons junge Freunde wurden, als sie vernahmen, ihr insularischer Einsiedler sei längst im Himmel. Ich hatte mich immer darauf gefreut, einmal einem lebendigen Erzbischofe in dem Ornate, den ich an ihren Stein- und Metallbildern im Dome sah, zu begegnen und mich lange im stillen verwundert, warum sich statt dessen nur Domprediger zeigten. Jetzt wußte ich freilich, woran ich war; der Herzog von Magdeburg wollte mir aber wenig behagen. – In einer so fabelhaften Welt leben Kinder, wenn ihnen die Geschichte und die Wirklichkeit auch noch so handgreiflich aufgerückt wird.

Die erste große Weltbegebenheit, welche meinem Sinne einging, war der Krieg der Österreicher im Jahre 1805. Die Dinge, welche ich davon vernahm, sind charakteristisch, um die damalige jetzt unglaublich aussehende Stimmung in Norddeutschland zu bezeichnen. Ich hörte nämlich eines Tages unter mehreren Bekannten des Hauses von dem nahen Ausbruche jenes Krieges reden, und es war nicht anders, als wenn es ein Unglück wäre, sollten die Österreicher siegen. An welche Schlußfolgerung diese Sorge geknüpft wurde, ist mir entfallen. Sie erschien um so verwunderlicher, als daneben her der Abscheu gegen den französischen Vergewaltiger ging. Ein alter Doktor, der Hausarzt, hatte sich besonders unter jenen Redenden hervorgetan, jedoch die Zweifelmütigen mit der Aussicht auf die gewisse Niederlage der Österreicher beruhigend. Dieser war es auch, der meinem Vater in seine Gartenstube die erste Nachricht von dem greulichen Unglücke bei Ulm brachte. »Was habe ich gesagt, Vetter!« rief er schon von draußen zwischen den Blumenbeeten meinen Vater an; »die Halters haben tüchtige Schmiere gekriegt.« – Ich saß mit meiner Rechentafel beschäftigt in einen schwierigen Bruch [34] vertieft und dachte, als ich nun Macks Kapitulation mit anzuhören bekam, im stillen: da habt ihr es für den Sturm von Magdeburg. – Wie erdichtet klingt es, es ist aber wahr, daß die demnächst erfolgte Auflösung des Reichs und die Niederlegung der Kaiserkrone bei uns nur Freude erregte. Es wurde darüber gewitzelt, gespöttelt und ein munteres lebhaftes Frauenzimmer, deren Zunge bei keiner Gelegenheit zu feiern pflegte, habe ich ausrufen hören: »Nun hat sich das Franzel selbst auf Pension gesetzt!« –

Ein großer illuminierter Kupferstich hing in einem Bilderladen aus, da sahen wir einen untersetzten Mann im bienenbesäten Mantel von einem alten Manne in Purpur etwas empfangen, was wir nicht recht unterscheiden konnten, und rings umher Damen und Herrn, prächtig gelb, rot, blau, grün angestrichen, und man sagte uns, das sei die Kaiserkrönung Bonapartes. Mit diesem verknüpften wir den Begriff, daß er eine Art von Tollem sei, der sich zu seinem Vergnügen überall in der Welt herumhaue und herumschieße, daß er uns etwas tun könne, fiel niemandem ein. Wenn von seinen Siegen 1805 die Rede war und nebenher noch manches andere zur Sprache kam, was er getan, so hieß es immer: »Laß ihn sich nur erst einmal gegen die Preußen versuchen.« Für uns Kinder hatte er durchaus etwas Lächerliches und das kam daher, weil seine einzige Verehrerin im Kreise der Bekanntschaft uns den Lachreiz durch ihre Person gab. Diese Bonapartistin war nämlich eine alte unvermählt gebliebene Jugendfreundin der Großmutter, die uns um so mehr auffiel, als wir sie nur in Gesellschaft der Großmutter sahen, und da allerdings ein starker Kontrast hervortrat. Die Großmutter, zu ihrer Zeit eine gepriesene Schönheit, war eine große, wohlerhaltene Frau in den Fünfzigen; die Freundin dagegen eine kleine, verwachsene Gestalt mit einem Gesichte, grau, faltenreich, alräunchenhaft. Die Großmutter sprach laut, daß man es im dritten Zimmer hören konnte, die Freundin hatte den asthmatischen piependen Ton, hüstelte zwischen jedem Satz und mengte in alles französische Phrasen, hinter deren jeder aber das Wörtlein: »Hé quoi?« angeflickt wurde, gleichsam als Ballast für das unter fremder Flagge fahrende Schiff. Da[35] sie nun überdies auch Tabak schnupfte und immer einen grünseidenen Hut trug mit roten Rosen, so war sie für uns eine entschieden komische Figur und hieß wegen ihrer Anhänglichkeit an den frisch Gekrönten, Rustan, denn von diesem Leibmamelucken war auch schon vielfache Rede gewesen.

Tante Rustan hatte sich also beizeiten für den Gewaltigen entschieden und verhehlte nicht, daß sie ihn für den ersten Helden und größten Mann aller Zeiten halte. Toulon, Ägypten, Montenotte, Millesimo, Dego, Arcole, Lodi, Marengo stäubten ihr nur so von den Lippen, und da sie nach der Art alter Jungfrauen sehr viel sprach, so erfuhren wir von diesen französischen Heldenwundern nicht seltener als von den Schlachten des Siebenjährigen Krieges durch den Vater. Es fehlte aber viel, daß sie auf uns einen ähnlichen Eindruck gemacht hätten, denn Tante Rustan piepte, hüstelte und näselte sie ab, wodurch alle Würde des Vortrags verlorenging. Es kam dazu der Umstand, daß sie in eigensinniger Verkehrtheit dem Namen ihres Helden einen ganz ungehörigen Pleonasmus gegeben hatte. Sie nannte ihn nämlich nie anders als Neapoleon. Vergebens korrigierte sie die Großmutter jedesmal, sooft diese sonderbare Verlängerung hörbar wurde, umsonst wurde sie auf gedruckte Dokumente verwiesen; sie blieb dabei, daß das Wort Napoleon eine neidisch verkleinernde Kontraktion sei und daß der Name in seiner wahren Fülle so klinge, wie sie ihn ausspreche. – Wir Kinder aber, die wir wohl wußten wie es darum stand, setzten bei uns in der Stille fest, daß an einem Manne, den seine eifrigsten Anhänger nicht einmal richtig zu benennen wüßten, unmöglich viel sein könne.

Was meinen Vater betrifft, so nannte ihn dieser nur Bonaparte, ist auch bei der Bezeichnung die ganze Zeit der Unterdrückung hindurch verblieben. Übrigens stimmte er weder in die Herabsetzungen der Österreicher ein, obgleich er auf dieselben vom »Könige« her, nicht gut zu sprechen war, noch ließ er sich zu übermütigen Dingen wider den französischen Kriegsfürsten verleiten, wie er denn der ernsteste und in sich gezogenste Charakter war, der mir je vorgekommen ist. Sein Vertrauen aber auf Friedrichs Staat und Heer sprach er bei [36] jeder Gelegenheit herzhaft aus. Dieses Gefühl steigerte sich noch, als auf einer großen Magdeburger Revue plötzlich französische Marschälle von Hannover aus als schlaue Ehrengäste erschienen. Der Herzog von Braunschweig stand jener Heerschau vor, und eine ganze Woche lang sahen wir alle Morgen die Regimenter im höchsten Staat mit den Fahnen vom Siebenjährigen Kriege her, die nur in Fetzen flatterten, aber wie wir wußten durch diesen Beweis des empfangenen Kugelsegens um so ehrwürdiger waren, ausrücken. Nicht genug konnte man sagen, wie die Marschälle, unter denen wir Bernadotte nennen hörten, des Lobens und Rühmens voll seien über die preußischen Truppen, und jeder der davon sprach, tat, als sei ihm etwas Schmeichelhaftes widerfahren.

Diese kindischen Geschichten lehren, daß damals der Traum sicherer Größe nicht bloß von einzelnen Verblendeten, und nicht von einer Klasse, sondern durch alle Stände und bis zu den Kindern hinab geträumt wurde. Es schien, als ob alle Welt einen Taumelkelch getrunken habe, denn es gab doch Landkarten und statistische Bücher und die sogenannte Rheinkampagne hatte doch endlich zu dem nicht sehr ehrenvollen Frieden von Basel geführt, aber keine Erinnerung schreckte. Ja es war, als ob der Mann, der sich andrer Orten so furchtbar erwiesen hatte, in diesem Falle den Schwindel mehren sollte, anstatt von ihm heilen. Die preußische Armee mit der Revolutionsmasse zusammengestoßen, schien da einem ihr nicht gemäßen Elemente begegnet zu sein, die Zweideutigkeit der Erfolge konnte aus einem gewissermaßen unanständigen Versuchen der Kriegsmeisterschaft wider rohes Naturalisieren abgeleitet werden. Wie nun aber Napoleon als unbezweifelbarer Virtuose des Metiers hervortrat, so entstand sofort die Vergleichung mit Friedrich, und da dieser dem Durchschnitte der Menschen noch immer als der Höchste galt, der überhaupt im Kriegswesen denkbar sei, so fiel das Prognostikon unbedingt ungünstig wider den französischen Helden aus. Man nahm an, daß Napoleon sich nach Regeln schlage, und die Regeln aus Friedrichs Schule, deren Tradition noch bei dem Kriegsstaate fortgepflanzt wurde, mußten natürlich die siegbringenden sein, wenn auch von noch so alten [37] und kraftlosen Händen ausgeführt. Möllendorf wurde mit der größten Ehrfurcht genannt, doch erinnere ich mich auch, daß Blücher schon damals in den Gesprächen stark hervorklang, und daß man wegen eines kühnen und gewaltigen Reiterangriffs (welcher? ist mir entfallen) an ihn die Aussicht knüpfte, vor ihm sei, wenn er zum Einhauen komme, kein Beistand, denn er reite alles nieder.

Indessen glaubte bei uns seit der Revue, welche die Marschälle besucht hatten, niemand mehr an den Krieg mit den Franzosen. Es hieß, daß sich nun die Obersten der fremden Armee selbst von der Vortrefflichkeit des preußischen Exerzitiums überzeugt hätten und daß der französische Kaiser daher wohl Bedenken tragen würde, eine schlimme Lektion in Empfang zu nehmen. Aber eines Tages sahen wir plötzlich in dem großen, gewaltigen Zeughause, welches zunächst dem Dome einem bedeutenden Teile des Neuen Marktes seine Front zukehrte (es ist nachmals abgebrannt), eine unruhige Bewegung. Die Flügelpforten des Gebäudes waren aufgetan, neugierig schauten wir in die geheimnisvollen schwarzen Räume, in welchen Geschütz an Geschütz, Kugelhaufen an Kugelhaufen sich befand. Ein Zufall begünstigte meine Forschbegier, ich drang in diese Werkstätte des Todes ein und gelangte selbst auf die oberen Böden. Dort sah ich mit schaurigem Vergnügen auf unabsehlichen Gerüsten den Feuergewehrbestand des Magazins. Soldaten schleppten sich mit Flinten und Pistolen, unten wurden Kanonen und Lafetten untersucht, hinausgefahren, und zwei Offiziere, hinter denen ich herging, hörte ich die charakteristischen Worte sprechen: »In vier Wochen wissen wir, woran wir sind.«

Bald nachher wurde die Stadt der Schauplatz eines fortgesetzten Heereszuges. Regimenter zu Fuß und zu Pferde, Batterien, Fahrkolonnen, Feldbäckereien, Pontons (die uns ganz besonders auffielen) marschierten und fuhren wochenlang zum Brücktore herein, zum Sudenburger Tore hinaus. Eine Kriegsschar in Bewegung hatte damals anderes Beiwerk als jetzt. Der Troß in seiner Sonderbarkeit prägte sich der kindlichen Vorstellung tief ein. Schon die Packpferde waren uns merkwürdig, welche den Regimentern die Zelte nachtrugen. [38] Ein weitläuftiges Geschnür von Leinwand und Stricken auf dem Rücken eines solchen Tieres und darüber hinaus die langen Zeltstangen balancierend! Pferd mußte hinter Pferd gehen, weil sich sonst die Stangen gestoßen hätten, man konnte also denken wie lang die Koppel wurde. Noch wunderlicher aber kamen uns die rotangestrichenen Küchenwagen der Generale und Obersten vor. Diese Wagen hatten nämlich zu beiden Seiten lange Gatter mit vorgehängten Freßtrögen und hinter den Stäben strobelte sich und gackerte das Federvieh – Hühner, Kapaunen, Truthennen, welches die Befehlshaber zur Sicherung ihrer Tafelfreuden mit in den Krieg nahmen. Eine solche Fürsorge kam selbst uns Kindern befremdlich vor, und ich erinnere mich, daß einmal einer meiner Spielkameraden bei dem Anblicke solcher beweglichen Hühnerhöfe ganz naiv fragte: ob es denn unterwegs in den Dörfern keine Hühner gäbe? Herrlich nahmen sich unter dieser schwerfälligen Feldökonomie die leichten bunten Bosniaken und Towarizys aus.

Tante Rustan war, sobald die verhängnisvollen Züge begonnen hatten, noch quecksilbriger geworden, und hatte die deutsche Mundart in ihren Reden immer spärlicher hören lassen. Sie gab uns sogar eines Tages mit Energie den Rat, uns nur fleißig auf das Französischlernen zu verlegen, welchen wir jedoch mit entschiedener Verachtung zurückwiesen. Am Siege wurde nicht gezweifelt. Es war eine seltsame Schlußfolgerung aufgekommen, welche ihn logisch darweisen sollte. Napoleon wurde nämlich mit Alexander von Mazedonien verglichen, hinzugesetzt aber wurde, Alexander habe auch nur über Perser seine Siege erfochten, da nun die Preußen keine Perser seien, so habe es mit ihm nicht viel zu sagen.


Die Armee war in Thüringen, und durch unsere niedersächsische Ebene breitete sich nun im September und in der ersten Hälfte des Oktobers die tiefe Stille aus, welche großen Dingen vorherzugehen pflegt. Diese erschienen dann vorgebildet [39] in der trügendsten Fata Morgana. Nämlich so. Am 14. Oktober 1806 war die Familie auf dem Neustädter Markte in einem verwandten Hause. Es war Herkommens, daß dieser Jahrmarktstag dort mit einem großen Essen gefeiert wurde; alle Freunde und nähere Bekannte nahmen daran teil und zuweilen drängten sich gegen fünfzig Personen in der kleinen Predigerwohnung zusammen. Für die Kinder war der Tag eine andere Weihnacht und monatelang vorher Gegenstand der ausgelassensten Erwartung, denn alle Strenge und Disziplin hörte dann auf und die wildesten Spiele durften ohne Scheu vor Nachahndung in Hof und Hausflur getrieben werden. Es gehörte zu der Eigenart meines Vaters, daß, so stramm er sonst die Zügel festester Ordnung hielt, er solchen Saturnalien alles nachzusehen wußte. Am Abend jenes Tages tollte denn also auch wieder ein großes Rudel von Knaben und Mädchen mit Haschen und Kämmerchenvermieten durch den Flur, als trotz des ungeheueren Lärmens ein Geschrei vom oberen Teile des Hauses sich hörbar machte. Ein Teil der Spielgenossen wurde dadurch nicht geirrt, mehrere aber ergriff doch die Neugier, sie liefen die Treppe hinauf, und unter diesen befand ich mich auch. Oben hatten wir folgenden Anblick: Die Stube war gedrängt voll von Basen, Vettern, Öhmen, Muhmen, Freunden und Zugehörigen. In dem kleinen offenen Raume in der Mitte befand sich ein Mensch, der verrückt zu sein schien. Er sprang in kurzen Sätzen empor, hielt sich den Kopf mit beiden Händen, kreischte, jauchzte, umarmte jetzt diesen und dann den. Man drang in ihn, er solle denn endlich sagen, was er wolle? und da gab er in abgebrochener, keuchender Rede, untermischt von unartikulierten Tönen von sich, daß soeben bei dem Gouvernement eine Stafette eingegangen sei, der Post und Überlieferung, Napoleon sei bei Schleitz total geschlagen und in voller Flucht nach dem Rheine. Hieran knüpften sich die glorreichsten Nachrichten von der Zahl der Toten, der Gefangenen, der eroberten Kanonen. Die Verluste gingen ins Unermeßliche.

Der freudigste Jubel brach aus. Man schüttelte einander die Hände, Tränen der Rührung wurden vergossen, die Seligkeit [40] des Glücks leuchtete aus den Augen der ältesten und trockensten Personen. Ich habe, wenn ich nachmals über diesen Vorfall in meiner Erinnerung kam, stets innig empfunden, wie tief die edeln Regungen, welche da erweckt wurden, in der menschlichen Brust gegründet sind. Man konnte wirklich zu jener Zeit vom Staate nicht viel mehr wissen, als daß er eine Anstalt sei, worin die Soldaten Spießruten liefen, worin der Adel empfange, der Bürger und Bauer aber zu geben habe, und dennoch jauchzten die Menschen über sein Glück, als hätten sie ein Vaterland, welches ihnen die köstlichsten Früchte der Freiheit und des Großsinns trage.

Die Nacht und der folgende Morgen ging im Schwelgen des befriedigten Patriotismus hin. Um Mittag kam aber der Vater mit einem ernsten Gesichte von der Kammer zurück und sagte: »Bei dem Gouverneur ist keine Stafette eingegangen und man weiß überhaupt nicht, woher die ganze Nachricht rührt. Prinz Louis soll bei Saalfeld angegriffen und schwer verwundet worden sein.« – Das klang nun freilich gar anders, und die unbestimmte Ahnung eines Unglücks, welche sogleich hervortrat, erhielt die tiefste tragische Wendung. Denn der Prinz war für Magdeburg, was Achill für das Lager in der Ebene von Ilium gewesen. Er war Chef eines der bei uns garnisonierenden Regimenter, Dompropst, aber über diese Prädikate hinaus lagen die Zauber, mit denen er auf die Menschen wirkte. Seine Tapferkeit, Bonhomie, seine große Begabung für Musik nicht minder als seine Waghalsigkeiten und forcierten Ritte nach Berlin und als selbst seine Schulden, Ausschweifungen und Liebeshändel hatten ihn in alle Lichter romantischer Beleuchtung gestellt.

Der Tag und der folgende verging still und gespannt und ich weiß noch, daß ich in meinem Knabenkopfe darüber nachdachte, wie es möglich sein könne, daß die Menschen in einem Abende entzückt und am Tage darauf niedergeschlagen wären. Ich wußte freilich keine Lösung zu finden, aber die erste Ahnung von der tiefen Zweideutigkeit und Tücke des Lebens entstand mir damals und knüpfte sich so an ein furchtbares allgemeines Geschick. –

[41] Niemand wußte, wie die Sachen sich verhielten. Ein Nachbar, von dem vielleicht noch öfter die Rede sein wird, trat aber im Dunkel unter das Fenster, zu dem der Vater hinaussah, und sprach von einer großen zweitägigen Schlacht bei Frankenhausen, die, als der Kurier abgegangen, noch unentschieden gewesen sei. Auf so umstellende Weise bildete der Dunstkreis des Ereignisses seine Doppelheit ab. – Der Vater seufzte tief und stieß den Schmerzensruf aus: »Gott, Friedrichs Soldaten werden denn doch wohl ihre Schuldigkeit tun!«

Der Morgen des 17. Oktobers (wenn ich nicht irre) brachte den Jammer der kläglichsten Gewißheit. Schon in der Frühe war ruchtbar geworden, die Nacht zuvor sei ein verwundeter Offizier vom Schlachtfelde angekommen, der dem Gouverneur die schlimmsten Dinge entdeckt habe. Der Tod des Prinzen wurde bekannt. Aber, was in gewöhnlichen oder nur nicht ganz entsetzlichen Verhältnissen wie ein Fall sondergleichen erschienen wäre, das verschwand hier fast unbeachtet vor dem Heranschreiten des unerhörtesten Elendes. Denn um neun Uhr morgens begann der Rückzug (wenn man ihn so nennen will) der geschlagenen Armee, welche in Magdeburg sich wieder sammeln sollte, und er hat ununterbrochen den ganzen Tag hindurch bis spät in die Nacht, sowie einen Teil des folgenden Tages fortgedauert. Aller Aufsicht entlassen, war ich als elfjähriger Knabe beständig auf der Straße, habe ihn daher mit meinen Augen gesehen, und kann mithin sagen, daß meine erste große Anschauung der grausenvollste Sturz und Ruin gewesen ist.

Um neun Uhr zogen die ersten Flüchtigen zum Sudenburger Tore herein. Haufen Fußvolks waren mit halben oder viertel Geschwadern Reiterei vermischt, dazwischen fuhren dann wohl einzelne Kanonen oder Pulverkarren. Durcheinander trieben Uniformen aller Regimenter und der verschiedensten Grade sich zur Stadt herein. Auch einzelne Packpferde mit den balancierenden Zeltstangen wurden wieder sichtbar, Feldequipagen folgten und selbst die erbärmlichen roten Küchenwagen blieben nicht aus. Zuweilen kam ein Stabsoffizier gesprengt, befahl etwas mit heftigen Schreiworten [42] an Leute, die nicht von seinem Regimente waren, und sprengte dann weiter, ohne darauf zu achten, ob sein Befehl ausgeführt wurde.

Das Volk hatte sich auf dem Breitenwege und am Neuen Markt in dichten Haufen versammelt und sah anfangs mit einer Art von dumpfer Hoffnung dieser Verwirrung zu. »Es sind die ersten Ausreißer«, hörte ich mehrere Leute sagen, »die halten sich nie in der Ordnung. Nur Geduld, bald werden reguläre Regimenter kommen.« – Aber es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, es ging gegen den Abend und noch hatte das Durcheinander nicht aufgehört, noch immer wälzte sich der verworrene Knäuel, zu welchem der Schlachtengott hier ein Heer zusammengeballt hatte, durch die Straßen. Endlich kamen einige geordnete Scharen, gleichsam zur Probe und um doch auch eine Ausnahme von der grausen Regel zu zeigen. Eingehüllt waren nun die Fahnen, die auf dem Hinzuge so lustig im Winde geflogen hatten. Meistens zog alles ohne Sang und Klang einher. Nur einmal tönte die Musik hell, gleichsam ein Lachen der Verzweiflung über das gramvollste Geschick. Das war, als das Trompeterkorps eines Kürassierregiments einpassierte. Sie hatten ihr Regiment nicht hinter sich, waren überhaupt ganz allein und für sich und bliesen so auf ihre eigene Hand den Dessauer Marsch, als sei alles in bester Ordnung. Sie sahen wohl aus, die Trompeter, und saßen auf feistgenährten Pferden. Überhaupt fiel es auf, daß die einzelnen abgerissen oder abgehungert, oder sonst zerstört sich ausnahmen; das Tiefste des Unglücks trat in diesem Kontraste persönlicher Wohlbehaltenheit mit allgemeiner Vernichtung zutage.

Am Nachmittage wußte jeder, daß es ein preußisches Heer eigentlich nicht mehr gebe. Eine marklose Trauer lag auf den Gesichtern der Menschen. Doch selbst in dieser regte sich noch der unbeschreibliche Geist, der jene Zeit charakterisierte. Ich hörte jemand zu seinem Nachbar sagen: »Das mag nun sein, wie es will, schlecht ist es allerdings hergegangen, aber wir haben mit Ehren verloren, denn ich hörte soeben, daß die Franzosen in der Schlacht nicht aus dem Schritt, die Preußen jedoch nicht einmal aus dem Tritt gekommen seien.« [43] Er wollte damit andeuten, wie vortrefflich unsere Armee bei Jena und Auerstedt exerziert habe.

Der König war angekommen und in der Dompropstei am Neuen Markte abgestiegen. Man wußte, daß er nach dem Fürstenwalle oder nach dem Gouvernementshause sich begeben hatte. Eine große Menge Menschen war, seine Rückkunft erwartend, in der hinabführenden Straße versammelt. Es dämmerte schon etwas, als der König die breiten Steine an der Seite der Straße zu Fuße heraufgeschritten kam, nur von einem Adjutanten begleitet. Bei seinem Anblick brach die Menge in ein lauthallendes Vivat aus. Dieser Ruf mochte ihm so unerwartet sein, der Augenblick ihn in dem Bewußtsein seiner Lage so ergreifen, daß ihn die ihm sonst eigene Fassung verließ. Er zog sein Taschentuch hervor, bedeckte damit das Antlitz und ging so verhüllt einige Schritte weiter auf seinem Wege. Dann nahm er das Tuch wieder hinweg und schritt nun ernstgrüßend nach seiner Wohnung den Menschen vorüber, welche, erschüttert von der Träne ihres Herrschers, den gewaltigen Moment durch das tiefste, ehrfürchtigste Schweigen feierten.


Die Stadt war von den Trümmern des Heeres überfüllt und an ein Einquartieren der Soldaten wurde in der allgemeinen Unordnung nicht gedacht. Die armen Menschen suchten sich gegen die Herbstkälte in den Vorhallen der öffentlichen Gebäude, unter Schwibbögen, ober wo sonst ein Schutzdach überhing, zu bergen, wie es eben gehen mochte. Viele Tausende aber, die zu spät gekommen waren, lagen auf dem nackten Pflaster, und um wenigstens im Rücken einen Widerhalt zu haben, hatten sie sich zu beiden Seiten der Gassen gegen die Häuser gesetzt. So bildeten sie lange Spaliere Frierender, Hungernder, Murmelnder. In der Klosterstraße, worin das Haus meiner Eltern stand, war ein solches hauptsächlich aus Überbleibseln von polnischen Regimentern zusammengesetzt. Der Hunger quälte sie, und zwang manchen zur Befriedigung durch den verachtetsten Wegwurf, da die Mildtätigkeit der Einwohner einer solchen Menge doch nur spärliche Kost darreichen konnte. Am ersten und zweiten [44] Tage mögen zwischen vierzig- und fünfzigtausend Mann in Magdeburg gewesen sein. Für einen Leckerbissen galt es jenen armen Polacken, wenn sie zu dem hin und wieder empfangenen Kommißbrote eines Töpfchens mit braunem Sirup habhaft werden konnten, in welches dann oft eine ganze Korporalschaft gierig die Brotschnitten eintauchte.

Indessen dauerte dieser Zustand nicht lange. Hohenlohe zog ab und etwa zweiundzwanzigtausend Mann blieben in der Stadt, die der alte Kleist zu verteidigen denn doch notgedrungen sich das Ansehen leihen mußte. Es wurde sogar ein Wort ausnehmenden Heldenmutes von ihm umgetragen. Er sollte gesagt haben, er werde die Stadt halten, bis das Schnupftuch in seiner Tasche brenne. Jedermann machte sich daher auf eine Belagerung gefaßt und richtete sich auch im Hause ein, wie in einer Festung. Die wertvollsten Sachen, das Silberzeug und was sonst einer wenig Raum einnehmenden Verpackung fähig war, wurde in Koffer und Kisten getan und darauf mit saurer Anstrengung in den Keller befördert, den jeder für sich und die Seinigen auch als Zufluchtsort im Falle eines Bombardements erlas und zurichtete. Namentlich galt es für ein Sicherungsmittel gegen Bomben und Granaten, die Zugänge mit großen Düngerhaufen zu verwahren, so daß die Häuser bald wie polyphemische Herdengrotten aussahen und dufteten. Aber dieses und anderes dergleichen wurde vor dem Antlitze der Gefahr nicht beachtet.

Am meisten Sorge machte den Hausvätern die Verproviantierung ihrer Angehörigen. Mein Vater hatte kurz zuvor einen einfältigen Bauernburschen in Dienst genommen, weil es seine Sitte war, sich die Bedienten aus dem Stande der Roheit zuzuziehen; diesen sendete er nun in die nahen Dörfer aus, mit dem Befehl, an Lebensmitteln zusammenzubringen, was er bekommen könne. Der Mensch war bis dahin völlig unbrauchbar gewesen, faul, nachlässig, langsam bis zur Widerwärtigkeit; bei diesem Verpflegungsgeschäfte aber nahm er sich, vermutlich aus dem Grunde, weil die Sache seinen Magen mit betraf, unglaublich diensteifrig. Als ein wahrer Eulenspiegel der Versorgung hatte er im Wortsinne der empfangenen Ordre an Lebensmitteln zusammengebracht, was[45] zu bekommen gewesen. Mit einem vierspännigen Wagen passierte er ein, hochbefrachtet durch Säcke voll Korn, Mehl, Erbsen, Bohnen, Linsen, Kartoffeln, hinterher ging ein Gehilfe und trieb einen Mastochsen, mehrere Hammel und Schweine nach. Den Eltern wurde bei dem Anblicke dieser gigantischen Vorräte, die für einen zweiten Trojanischen Krieg auszulangen schienen, doch bedenklich zumute. Man ließ von den Säcken und von der Herde die Hälfte an Befreundete ab, und hatte kaum für den Rest Platz im Hause.

So waren denn die Bürger wohlbereitet auf Erdulden und Ausharren, und es kam nun darauf an, was der Gouverneur tun würde. Ende Oktober hieß es eines Morgens plötzlich, man könne nicht mehr zum Tore hinaus, weil die Franzosen davorständen. Jetzt also war die Stadt belagert, und wir Kinder wurden mit in den Belagerungsstand erklärt. Der Vater ließ uns nämlich abends nicht mehr zu Bette gehen, sondern der Reihe nach in den Kleidern auf einem Strohlager niederlegen, damit wir gleich munter und marschfertig seien, wenn das Bombardement angehe und Feuer ausbreche.

Ney machte an einigen Abenden schwache Angriffe auf das Krökentor und die Hohe Pforte, damit denn doch die Sache den Schein von so einer Art von Kriegsbegebenheit gewinne. Generalmarsch wurde geschlagen, ein halbes Stündchen an beiden Toren geschossen und zwei oder drei Granaten fielen in die Stadt. Das war das Ganze. Der französische Marschall wußte, mit wem er zu tun hatte und wollte einem Platze nicht schaden, den er schon für das Eigentum seines Herrn ansah. Bei einer jener Gelegenheiten sollten wir zugleich erfahren, wie tief sich das Verderben in den Stand eingefressen hatte, von welchem alles Heil des Vaterlandes erwartet worden war. Zwei Offiziere lagen bei uns in Quartier; zwei junge Lieutenants. Als nun in einer Nacht das Schießen begann und die Trommel zum Generalmarsch gerührt wurde, verfügte sich mein Vater zu den beiden hinunter, um sie zu wecken, kam aber nach einigen Minuten blaß vor Entrüstung zurück. Denn als er den beiden gesagt, sie [46] möchten aufstehen, der Feind greife die Stadt an und es werde Generalmarsch geschlagen, hatten sie versetzt, sie würden liegen bleiben. Und als er mit Nachdruck seine Botschaft wiederholt, hinzufügend, sie würden ihn wohl nicht recht verstanden haben, war ihm der eine ungeduldig in die Rede gefallen und hatte gerufen: Ja doch! Er solle sich doch deswegen keine unnütze Sorge machen, die Sache draußen werde schon ohne sie vonstatten gehen, und wirklich waren beide nicht zum Aufstehen zu vermögen gewesen.

Nachdem wir etwa vierzehn Tage lang in einer stumpfen Erwartung hingelebt hatten, hörten wir von französischen Parlamentariern, die mit verbundenen Augen zur Stadt hereingeleitet worden seien und bald darauf geschah, was bekannt genug ist. Der Fall von Magdeburg war schlimmer als die verlorene Schlacht. Denn daß sich alte ermüdete Geister im offenen Felde wider Napoleon nicht zu helfen gewußt hatten, bewies doch eigentlich nur die Überlegenheit, die dem Genie immer beiwohnt. Allein ganz anders verhielt es sich hinter den Wällen einer mit zweiundzwanzigtausend Mann Garnison und Vorräten aller Art wohlversehenen Stadt einem Feinde gegenüber, der nicht einmal Belagerungsgeschütz mit sich führte. Hier hätte eine ganz gewöhnliche Pflichterfüllung zugelangt. Und wollte man auch diese zu schwer für einen halbkindisch gewordenen Greis finden, so war doch der Umstand einzig in der Kriegsgeschichte zu nennen, daß unter den achtzehn Generalen und höheren Offizieren, aus denen Kleist seinen Rat zusammengesetzt haben soll, nur einer der Kapitulation zu widersprechen wagte.

Beinahe hätte der Ehrgeiz der Gemeinen, welcher in diesem Falle da rege war, wo er die wenigsten Antriebe empfing, am Morgen der Übergabe gefährliche Auftritte erzeugt. Die Leute waren schwer gereizt durch die schmachvolle Überlieferung, welche ihrer vollen Kraft und Stärke feiges Erliegen zumutete. Schon am Abend des siebenten Novembers hatten sich einzelne Unruhige geäußert, man müsse dem Gouverneur die Fenster einwerfen. Nun hatte man am andern Morgen in der Frühe unvorsichtigerweise von den Branntweinvorräten, welche in den Gewölben der Festung lagerten, [47] den Soldaten reichlich zapfen lassen, weil man lieber diesen das Gute gönnte als den Franzosen. Dadurch aber waren die Köpfe entzündet worden und es bildeten sich, als die Stunde des schimpflichen Hinausmarsches herannahte und als man wußte, daß die Franzosen bereits auf dem Glacis aufmarschiert standen, große Haufen, welche wie wütend durch die Straßen liefen. Verschiedenartig war das rasende Beginnen, welches diese Meuterer androhten. Die einen schrien: sie wollten den alten Hund (womit sie den Anstifter des Elendes meinten) massakrieren, die anderen vermaßen sich, auf die Franzosen draußen losgehen zu wollen; mit Mord und Brand gegen die Stadt warfen wieder andere um sich. Wenn der Aufruhr größere Massen ergriffen hätte, so wäre ein schweres Unglück zu besorgen gewesen. Denn Neys Schar wartete wohl nur auf eine günstige Gelegenheit einzudringen und dann in der Stadt, als in einer erstürmten, zu plündern.

Indessen wußten einige der im besten Ansehen stehenden Offiziere, welche den Haufen nachgingen, diese durch Zureden, Güte und List zu beruhigen, auseinanderzubringen und unschädlich zu machen. Die Garnison wurde getrennt und zu verschiedenen Toren ausgeführt. Auf diese Weise nahm alles einen unschädlichen Verlauf, man erzählte aber, daß ein großer Teil der Soldaten unterwegs zornig die Gewehre auf dem Pflaster zerschmettert habe und ganz waffenlos, oder doch nur mit verstümmelten Waffen auf dem Platze angekommen sei, wo diese gestreckt werden sollten.

Französische Husaren mit dicken Haarzöpfen sprengten in die Stadt, Chasseure folgten, bald zogen auch Infanterieregimenter ein, die gegen unsere Truppen ein ziemlich bettelhaftes Ansehen hatten, denn Ney führte eigentlich nur Halbgesindel. Die sogenannte »Löffelbande« war für die Festungen genügend erschienen, und die besten Regimenter hatten den Zug zu dem ernsteren Kampfe in Polen und Ostpreußen angetreten. – Wir wußten jetzt wirklich, woran wir waren, wie jene Offiziere im Zeughause vorausgesagt hatten, und der eigentliche Stand der Sache sollte bald ganz klar werden. Die Franzosen benahmen sich nämlich durchaus nicht wie in einem durch Kapitulation übergebenen Orte, sondern eine[48] Menge von Exzessen bezeichneten den Tag ihres Einrückens. Nun hatte sich gleich aus den Notabeln der Stadt eine Kommission zum Verkehr mit dem französischen Heerführer und zur Versorgung der städtischen Angelegenheiten zusammengetan. Diese wandte sich an Ney, da bei den untergeordneten Befehlshabern nichts auszurichten war, und bat um Schutz. Ney empfing die Bittenden äußerst höflich, versetzte aber auf ihr Gesuch, daß er unmöglich glauben könne, was sie ihm vortrügen, er kommandiere zu disziplinierte Truppen, eine kleine Erholung sei dem Soldaten auf seine Strapazen wohl zu gönnen. In der Nacht aber und am folgenden Tage mehrten sich diese Erholungen. Schränke wurden erbrochen, Silbersachen geraubt, Mißhandlungen an den ersten Einwohnern, Gewalttätigkeiten an Frauenzimmern verübt, so daß der Zustand nahe an eine Plünderung streifte und in diese übergehen mußte, wenn nicht von Seiten des Macht habenden augenblicklich Einhalt geschah. Die arme Kommission begab sich daher wieder zu diesem, wurde anfangs gar nicht vorgelassen, nachher mit finsterem Gesicht empfangen und heftig angefahren: Er begreife nicht, wie ihn die Stadt Magdeburg immerfort behelligen könne, da sie sich noch gar nicht um ihn bekümmert habe! – Die Mitglieder sahen einander betroffen an, da sie wußten, daß keine Form verletzt worden war, die der Überwundene dem Überwinder schuldig ist. Ungnädig entlassen verweilten sie draußen im Vorgemache noch einen Augenblick, über den Sinn der dunkelen Rede nachdenkend. Den legte ihnen nun ein Commissaire-Ordonnateur aus, welcher mit ihnen in Neys Zimmer gewesen und ihnen gefolgt war, vermutlich abgesandt von dem Marschall, um der deutschen Beschränktheit zu helfen. Er sagte ihnen nämlich ganz freundlich, der Herr Marschall verstehe eigentlich unter dem Bekümmern das übliche Geldgeschenk, womit sich eine eroberte Stadt von der Einbuße ihrer Glocken loskaufen müsse, welche nach Kriegsrecht dem Eroberer angefallen seien. Nachdem die Kommission solchergestalt den Sinn des französischen Kunstausdrucks gefaßt hatte, fragte sie schüchtern den gefälligen Zahlmeister, der aber in diesem Falle zum Einnehmer werden sollte, auf wie hoch denn etwa das »Bekümmern« [49] zu veranschlagen sei, und erhielt den Bescheid, einhundertfünfzigtausend Taler würden wohl hoffentlich genügen. – Dem ersten Entsetzen über diese unmäßige Forderung folgte dann ein förmliches Dingen und Feilschen, und man handelte bis auf einhunderttausend Taler (wenn mir recht erinnerlich ist) herunter. Fünfundsiebenzigtausend Taler wurden nun in wenigen Stunden durch Beisteuern der reichsten Einwohner aufgebracht, über den Rest der Summe ließ sich Ney Wechsel gefallen. Es versteht sich, daß auch die Umgebung zu bedenken war, und daß namentlich der Dolmetsch des fremden Ausdrucks ansehnliche Übersetzungsgebühren empfing. Tante Rustan hatte als eine wohlhabende Dame gleichfalls ihren Scherf zur Bekümmerung zahlen müssen. Ihr Gesicht soll wunderbar ausgesehen haben, als sie nach dem Geldschränkchen ging, die Rolle voll Goldstücke zu holen. Sie wußte nun desgleichen, woran sie war mit ihrem Helden, wenigstens mit seinen Lieutenants.

Sobald Ney das Glockenlösegeld empfangen hatte, ergingen die geschärftesten Befehle, Mannszucht herzustellen, einige der Eroberer niederen Grades, welche sich noch beigehen ließen, auch zu ihrem Glockenanteile in den Kisten der Bürger zu gelangen, wurden mit strengster Strafe belegt und jedermann war nun seines Eigentums und seiner Gliedmaßen sicher. Alle diese Vorgänge, über welche die Biographien des Fürsten von der Moskwa schweigen, hörten wir vom Vater erzählen, der auch in die Kommission eingetreten war.

Die Zeiten, welche einem Schlage, wie er damals alle Verhältnisse zerschmetterte, folgen, sind eigentlich keine Zeit. Die Menschen leben nur vom Abend zum Morgen, ihre Vorstellungen schwärmen ohne Zusammenhang umher, den Entschlüssen fehlt jede Konsequenz, alles verzettelt sich, bröckelt auseinander und schnappt in den kurzatmigsten Anstößen nach Luft. Ein Land, eine Provinz, der jeder höhere Lebensatem solcherweise abgeschnürt wurde, bietet den Anblick eines niedergetretenen Ameisenhaufens dar. Die Tätigkeit der Herstellung ist groß, aber die Menschen wimmeln auch nur so durcheinander in tierischem Instinkt, die Eierchen [50] wegzutragen, dieses Gängelchen und jenes Kämmerlein wieder auszuteufen. Der Egoismus zeigt sich in seiner häßlichsten Gestalt und die Gemeinheit deckt ganz scheulos ihre Blöße auf. Eine Karikatur erschien, welche Kleisten mit Beziehung auf das erzählte renommistische Wort des faselnden Greises darstellte. Das Schnupftuch hing ihm lang aus der Tasche und ein französischer Soldat steckte es mit einem Fidibus hinterrücks in Brand. Und es gab Menschen, welche dieses Witzbild über die Schmach der eigenen Stadt kauften, auch darüber zu lachen imstande waren. Wir Kinder mußten von allen Seiten den großen Kaiser Napoleon nen nen hören und seine außerordentliche Familie; da setzten wir uns hinter unsere Tuschkästchen, illuminierten kleine Landschaften und schrieben Dedikation darunter »an Napoleon den Unüberwundenen und Unüberwindlichen«, an die Kaiserin Josephine, an Murat.

Eylau tönte nach einigen Monaten aus weiter Ferne herüber, und Kolberg, aber das war doch nur Schall und Rauch. Lange vor dem Tilsiter Frieden stand es in der Überzeugung eines jeden fest, daß das Vaterland für uns verloren sei. Die Franzosen übten eine Nachsicht gegen die Anregungen, die der Patriotismus hätte finden können, welche von ihrer Verachtung zeugte. Schills Bild wurde bald in den Läden ausgeboten, Blücher ebenfalls, wie er bei Lübeck sich tapfer durchhieb, Friedrich der Große stand trübsinnig an eine abgebrochene Säule gelehnt, welche die Inschrift: »Preußens Größe« führte. Der Debit dieser Darstellungen wurde nicht gehemmt; ein Widerspruch gegen die nachmaligen argwöhnischen Beaufsichtigungen.

Aus historischen Träumen erwacht, die für Wirklichkeit gegolten hatten, stießen sich nun die Menschen gegen eine Wirklichkeit, die fast wie ein grauser Traum aussah.

[51]

Zwischenbemerkung

Die Jugend wird, bis sie in das öffentliche Leben übertritt, erzogen durch die Familie, durch die Lehre, durch die Literatur. Als viertes Erziehungsmittel trat für die Generation, welche wir betrachten, der Despotismus hinzu. Die Familie hegt und pflegt sie, die Lehre isoliert sie, die Literatur wirft sie wieder in das Weite. Uns gab der Despotismus die Anfänge des Charakters. Ich werde in den folgenden Abhandlungen von diesen vier Erziehungsmitteln reden, mit der Familie aber den Anfang machen.

Bei der Charakteristik der älteren deutschen Familie werde ich nicht von vornehmen Häusern, oder von solchen Gemeinschaften, worin ausgezeichnete Eltern, Freunde und Hausgenossen einen gesteigerten geistigen Zustand hervorbrachten, die Züge entlehnen, sondern meine Absicht ist, den Mitteldurchschnitt der damaligen deutschen Häuslichkeit zu schildern. Wie die Familie aussah, wenn sie weder arm noch reich war, weder zu den Proletariern noch zu den Sommitäten gehörte, wenn die vier Wände des Hauses Verstand, Einsicht, Gesinnung umschlossen, ohne daß gleichwohl diese Eigenschaften sich zur Höhe der Berühmtheit emporbrachten, werde ich anzugeben versuchen. Denn gerade solche Umstände haben beides geliefert, einmal das Niveau der Jugend, welches beschrieben werden soll, und dann auch wieder die Mehrzahl unserer größten Denker und Dichter. Von diesen nenne ich, wie sie mir eben einfallen: Reinhold Forster, Leibniz, Lessing, Schiller, Goethe, Hegel, Fichte, Klopstock, denen noch viele beizugesellen wären.

Die mittlere Region welche ich im Auge habe, scheint also zur Hervorbringung des Volkes im besseren Sinne, und seiner geistigen Anführer die geeignetste zu sein und die vorzüglichere Aufmerksamkeit zu verdienen, wenn deutsches Leben im allgemeinen zu erläutern ist. Was namentlich die höheren Stände jener Zeit betrifft, so haben ihre Genossen nur insofern an der großen Bewegung teilgenommen, als sie nach dem Zusammenbrechen der Verhältnisse nicht eigentlich mehr aristokratisch-vornehm weiterleben zu können sich beschieden, [52] dadurch aber, bei manchen fortdauernden äußeren Verschiedenheiten, sich dem inneren Kerne nach den Mittelklassen anschlossen. Aus sogenannten geistreichen Häusern aber oder aus Häusern berühmter Männer geht selten eine Jugend hervor, die für sich Charakter besitzt und entschiedene Farbe.

[53] Die Familie

Lord Byron hat gesagt, eine Familie käme ihm vor wie ein italienischer Salat, worin die verschiedenartigsten Ingredienzien nur durch Öl und Essig miteinander zusammenhingen. – Fühlte sich ein Engländer gedrungen, so zu sprechen, der doch sehr feste Formen in seinem Lande vor sich sah, wie soll einem Deutschen zumute werden, wenn er unternimmt, das seltsame Chaos von Egoismus und Opfermut, Tätigkeit und weichlich-bequemem Wesen, Täuschung und Wahrheit, Blutgefühl, Verdruß, Widerwillen und anhänglichster Liebe, welches die deutsche Familie heißen muß, als organisches Gewächs nachzuweisen? In der Tat, ich halte es für eine der schwierigsten Aufgaben, unseren Familiengeist, diesen Proteus, zu bannen, daß er Rede steht. Und doch ist er da, sogar weit mehr da, als anderer Orten, denn die Familie bedeutet von jeher mehr bei uns, als bei den übrigen Völkern. Polen und Russen haben nur eine Art von Contubernium, Spanier und Italiener allenfalls den Instinkt, der sich der Kinder annimmt. Bei den Franzosen herrscht dagegen umgekehrt eine ehrfurchtsvolle Pflege des Alters, wie noch neuerdings Alletz in seinem Werke über die Sitten und die Macht der Mittelklassen in Frankreich bezeugt hat. Töchter insbesondere, die ihre Väter leidenschaftlich verehren, sind dort nicht selten; die Staël war in dieser Beziehung kein Phänomen, sondern nur ein eminentes Beispiel. Dagegen ist die Ehe, welche doch immer der eigentliche Pulsschlag des Hauses bleibt, dort auch ganz entzaubert, dürr und heruntergebracht. Grisetten und Freundinnen befriedigen – nicht die Wollust – sondern das Herz. Eine Liederlichkeit des Herzens nennt Alletz den Zustand. Es gibt eine Menge derartiger Verbindungen, an welchen die Sinne kaum einen Anteil haben, [54] wenigstens keinen entscheidenden. Ein scharfer Kontrast der Anomalie in den beiden Ländern, in Frankreich und Italien! Dort sucht der Mann seine Freuden außer dem Hause, hier ist es die Frau, welche sich denamico zu verschaffen weiß. Man kann nicht zweifelhaft sein, wo die Sitten einer Restauration näher stehen.

Blickt man nach England, so sieht die Sache sehr glänzend aus. Das behagliche Landleben der Gentry, die Gemeinschaftlichkeit der Familiengenüsse, der einfache Freimut der englischen Frauen scheinen den Rückschluß auf eine hohe Vollkommenheit des häuslichen Zustandes zu gestatten. Allein sieht man schärfer zu, so möchte sich doch alles zuletzt mehr auf das Gefühl des Comfort beschränken. Die englische Familie ist nur der englische Staat im kleinen. Der Hausvater ist der durch die Verfassung beschränkte König, der zwar innerhalb dieser Schranken des höchsten Ansehens sicher sein kann, aber auch nur sein Reich unter der Bedingung hat, daß er die Frau, Kinder, ja selbst das Gesinde als konstituierte Gewalten achtet. Der Atem politischer Rechte durchweht wie alles auch die Familie dort, und der Spruch, daß eines Engländers Haus seine Festung sei, ist bezeichnend, denn er deutet doch nur auf einen Wert der Sache nach außen, nicht auf eine Befriedigung im Inneren hin. Ihre neuesten Sittenschilderer Bulwer und Boz zeichnen nie, so reich sie an Bildern des häuslichen Zustandes sind, die feineren Zauber der ehelichen Liebe, die tieferen Konflikte, die im Hause nur entstehen können, wenn es den ganzen Menschen absorbiert, den Schmelz, der über dem Verhältnisse der Eltern zu den Kindern haucht, sofern es in seiner zartesten Gefühligkeit vorhanden ist. – Und die Romanschreiber, wenn sie so große Talente sind, wie die Genannten, geben über die Struktur der Sitte immer deshalb die beste Auskunft, weil man bei ihnen den Blick der Beobachtung gleichsam auf der Tat ertappt, während die absichtlichen Darsteller von Zuständen mehr befangenen Zeugen gleichen. – Wo es nun glücklich zugeht in den Geschichten jener Autoren und derer, die sich ihnen anreihen, da treten doch nur [55] gemeinsame fröhliche Mahle, Partien, Spiele als Exponenten des Glücks auf, ohne daß sich an diesen äußerlichen Dingen etwas tiefer Geistiges entwickelte. Wo das Unglück kommen soll, wird es durch Schulden, Banqueroute, Verführer, Entführer, heimliche Bösewichter vertreten. Eugen Aram ist im Grunde nichts weiter als ein gemeiner Mörder, und dennoch fähig ein schönes edles Mädchen zum Verderben zu fesseln. Eine solche Figur, nach Deutschland übertragen, würde uns kaum glaublich erscheinen. Boz läßt sogar seinen Narrn Snodgraß und seinen Feigling Winkle in den Hafen des häuslichen Glücks einlaufen, ohne daß eine Ironie über die Zukunft der Verhältnisse angedeutet würde. – Dagegen wird ein Engländer nicht vermögen, aus dem Zimmer eines Gastwirts und aus dem Munde eines Gastwirtssohnes so tüchtige und erhabene Worte tönen zu lassen, wie sie Hermann zu Dorotheen spricht, nachdem er die Geliebte erlangt hat; die Kasuistik der »Wahlverwandtschaften«, ganz erwachsen auf den feinsten und unlösbarsten Konflikten der Familie, wird ihnen immer verschlossen bleiben, und schwerlich imaginieren sie auch je ein Verhältnisdes romantischen Lichtes, wie das des Herzogs zu Eugenien ist. Ich habe meine Beispiele absichtlich nur von Goethe entlehnt, weil er der größte Dichter der deutschen Familienempfindungen ist, sie am klarsten widerspiegelt.

Ich glaube, daß die Familie nur in Deutschland zur höchsten Gestalt sich durchbildete. Und es wäre auch schlimm, wenn dem nicht so wäre, denn eine geraume Zeit hindurch war sie das einzige, was die Nation besaß, und noch zur Zeit ist sie wenigstens das einzige, was einer abgerundeten Bildung am nächsten blieb, während alles andere sich erst bei uns im Werden befindet. – Die Basis nun, über welcher sich das eigentümliche deutsche Familiengefühl erhob, ist das Urgefühl der Germanen, daß in dem Weibe etwas Heiliges sei. Aus diesem Urgefühle entsprang in späteren Zeiten eine durch Reflexion vermittelte Ahnung, daß auf das, was von dem Weibe in seiner innersten und ihm eigensten Tätigkeit [56] ausgeht, nämlich auf das Kind, auch etwas von dem Heiligen der Hervorbringenden übergehe.

Beides, das Urgefühl und die abgeleitete Empfindung, haben, wie ich glaube, die beiden unterscheidenden Kennzeichen der deutschen Familie hervorgebracht; Kennzeichen, die nur auf deutschem Boden selbst ungemischt blieben, weil die auswandernden germanischen Stämme in der Fremde störende Eindrücke empfingen. Beide Kennzeichen treten hervor an dem Manne und Weibe selbst, und sind auch nur an diesen zu suchen, weil nur sie die Faktoren der Familie bilden, welche als bestimmende Pole auf das übrige, was zu ihr gehört: Kinder, Hausgenossen, Dienende, einwirken.

Das erste jener Kennzeichen ist, daß, wie ich glaube, nur bei uns die Ehe als Sakrament geknüpft wird, nicht im Sinne der katholischen Kirche, sondern im menschlichen aber eben deshalb göttlicheren Sinne. Das Weib weiß, wenn das Gefühl nach ihm verlangt, daß in dem Manne, wenn auch in einem noch so späten und abgeblaßten Reflex die germanische Urempfindung rege sei, daß er in ihr, wo nicht mehr ein Heiliges, weil dies zu hoch für unsere Zeiten klingen möchte, doch ein Unbeschreibliches und Unaussprechliches suche und sehe. In dieser neuen Lage nun schlägt ihre Seele das Auge auf, sie war, bis die Liebe sie erfaßte, eigentlich noch nichts, in jener Empfindung des Mannes aber erkennt sie ihre höchste Würde und ihren vornehmsten Adel. Überströmend von Dankbarkeit erfährt sie nun in ihrem Bewußtsein, daß der, welcher sie so erhöhte, ja das Werk Gottes eigentlich an ihr erst ausschuf, notwendig Gleiches in sich trage, da nur das Gleiche das Gleiche erkennen kann.

Beide vereinigen daher in der Liebe nicht abgesonderte Geschmacksrichtungen, Neigungen, geistige oder gemütliche Sympathien, sondern die Personen, d.h. das ganze, ewige, unberechenbare Wesen des Menschen. Nur in dem Glauben an eine solche Vereinigung aber kann das Wort der Treue noch mit gutem Gewissen vor dem Altare ausgesprochen werden. Es sagt aber nicht etwa: Ich will dir eigensinnig anhangen, auch wenn ich erkennen sollte, daß du nicht zu mir gehörst, daß deine Schwächen und Fehler untragbar [57] sind; sondern es will sagen und bedeuten: Weil ich dich als ein ewiges und unberechenbares zu dem Ewigen und Unberechenbaren in mir gehöriges Wesen erkannt habe, so kann nie ein Fehler noch eine Schwäche an dir groß genug sein, um den Glauben zu zerstören, daß du aus dem unerschöpflichen Schatze deiner Person alles Schlimme vergüten könnest und werdest, entweder von dir selbst oder mit Hilfe meines Glaubens und meiner Liebe. – Dies ist das Wesen der deutschen Ehe, es folgt aber aus ihm, daß bei uns auch die Ehe zu der Liebe hinzutreten muß, soll sie von dem Zweifel, sie könne doch nur eine Grille, ein Anstoß, ein Irrtum, eine Leidenschaft sein, ausgeheilt werden. Denn niemand darf sich jenen durch nichts anderes willkürlich zu ersetzenden Prüfungsmoment vor dem Antlitze Gottes unterschlagen, will er im Strome deutschen Lebens verbleiben.

Das zweite unterscheidende Kennzeichen unserer Familie ist, daß die Eltern in dem Kinde gleichfalls die Person erkennen und es danach behandeln. Weil ihnen nämlich kein Rausch der Sinne die Verehrung ihrer Personen übertäuben konnte, so erkennen sie auch mit der Geburt des Kindes, daß eine Person geboren sei, und dadurch wird das neue Verhältnis sogleich über den tierischen Instinkt hinweggehoben. Es geschieht dies, da sie ja wissen, daß neben den sinnlichen Kräften die Personen ihm das Dasein gaben. Sie betrachten es daher, sobald sich nur der leiseste Anknüpfungspunkt für diese Überzeugung darbietet, als ein in die Fortsetzung der ideellen Menschheit eingeordnetes Wesen, als zur Zukunft des Menschengeschlechts gehörig und sich verpflichtet, es für diese Zukunft zu erziehen.

Zwischen beiden göttlichen Momenten, nämlich zwischen dem Sakramente der Treue und dem Sakramente der Hoffnung, wächst und quillt unsere Familie, denn mit Mann, Weib und Kind ist die Familie binnen ihrer notwendigen Grenzen vollendet. Es folgt daraus, daß während sie bei anderen Völkern mehr Mittel zum Zweck oder äußere Veranstaltung ist, sie bei uns selbst den Zweck bildet und alles Äußerliche in ihr dem Innerlichsten eingeschrieben und aufgetragen erscheint. Es folgt ferner, daß der Deutsche [58] über sie hinaus sich schwerlich einen Zweck setzen kann, denn zu allen Zeiten kam es dem Volke in seinen besten Repräsentanten nur darauf an, daß diese sich als Person hatten und besaßen und folglich auch andere als Personen erkannten, in dieser Erkenntnis aber sie hatten und besaßen. Mithin wird die deutsche Familie die unselbstische, erweiterte Person. Endlich folgt, daß, wenn gesagt worden ist, auf den Familien ruhe der Staat und solle darauf ruhen, dies für uns nur folgende Bedeutung haben kann: Staat und Familie sollen auch bei uns in das engste Bündnis geschlungen werden, so jedoch, daß der Staat das notwendige, ehrwürdige und heilige Mittel bildet, um das Familiendasein zu erschaffen, freilich nicht das abgelegene und kümmerliche, egoistische eines Pfahlbürgers, sondern das sich in reicher Liebe mitteilende, stattliche, selbstvergessene. Keinesweges aber kann jemals das Umgekehrte bei uns gelten. Nie kann die Familie das leblose Gerüst werden, auf welchem man in die luftige Region eines unter solchen Voraussetzungen auch gar nicht bei uns möglichen politischen Lebens emporklimmt.

Von den Beziehungen zum Staate aus soll die Familie entledigt werden aller Kleinlichkeit, in den Staat hinüber soll dagegen der Mann alle Wärme tragen, die er in seinem Hause empfing, und für alles, was er da draußen leistete, soll ihn wieder die Blüte des Hausgeistes belohnen. Diese wäre wohl die richtigste und schönste Wechselwirkung zwischen germanischem Staat und germanischem Hause, und auf solche Weise könnte sich ein modernes Rittertum erzeugen, weniger phantastisch und glänzend als das der Tafelrunde, aber tugendhafter, solider und vor allen Dingen aufrichtiger als jenes. Wenn die deutsche Hausfrau die Dame würde, um deren Dank der Mann im Turnier des öffentlichen Lebens seinen Speer verstäche, so wäre jenes Rittertum eingesetzt.

Das Grundwort der deutschen Familie bricht in folgenden Äußerungen hervor. Zuvörderst sind nur in Deutschland die Ehen möglich, welche man heilige nennen darf. Unter diesen verstehe ich solche, in welchen die Liebe bis zur Auflösung durch den Tod dieselbe bleibt, mag auch Gewohnheit, Krankheit, Alter allen Sinnenreiz zerstört haben. Ich unterscheide [59] von denselben die sogenannten zufriedenen oder glücklichen, in welchen sich, wie man anzugeben pflegt, die Liebe in Achtung oder Freundschaft umwandelt, und deren auch bei anderen Völkern viele vorkommen mögen. Sondern in den Ehen, welche ich meine, dauert bis in die spätesten Jahre die Hingebung des ganzen Menschen an den ganzen Menschen fort, frisch, wie am Hochzeitsmorgen, nur freilich, daß das Wesen eines Greisen und einer Greisin anders ist, als das von Jüngling und Jungfrau. Eben, weil nicht das Hinfällige und Vergängliche, sondern das Ewige und Dauernde sich miteinander vermählte, besteht das Gefühl in seiner Wesenheit, ohne Umstimmung und Verwandlung fort. Ich scheue mich nicht, unter den Paaren, von welchen zu reden erlaubt ist, weil öffentliche Schriften von ihrem Zustande Zeugnis abgelegt haben, Voß und seine Ernestine zu nennen; denn der alte Sauertopf geht euch nichts an, sondern die unbedingte Ergebung der beiden Personen aneinander bis in das hohe Alter. Will man Klopstock und Meta nicht gelten lassen, weil sie zu kurz verbunden waren, so werden doch Niebuhr und Solger erwähnt werden dürfen. Wie manches Beispiel ließe sich von ungenannteren Menschen anführen, wenn es schicklich wäre, Privatverhältnisse an das Licht des öffentlichen Tages zu ziehen!

Charakteristisch ist ferner das Verhalten der Eltern zu den Kindern. Man sorgt in andern Ländern auch für seine Nachkommenschaft, man erzieht sie, man gründet ihr Schicksal. Aber bemerklich bleibt dort, daß der Zustand der Alten als das Normale, wenigstens als das Positive angesehen wird, in welches das junge Geschlecht hineinzuwachsen habe, weshalb denn die Erziehung etwas von der Dressur behält und meistenteils durch Mietlinge ausgeführt wird, durch welche sie auch auszuführen ist, solange sie jener Region zugehört, oder mindestens angenähert verharrt. Dagegen ist bezeichnend für unsern Zustand, daß deutsche Eltern in den Kindern die Zukunft zu erblicken pflegen, und zwar die Segnungen derselben, welche ihnen versagt blieben. In unsere Familie haben sich alle Geister des Ahnungsvollen, ohne welches der Mensch nicht zu leben vermag, geflüchtet. Wie nun[60] die Ehe dem Deutschen das Ahnungsvolle in Gegenwart und Vergangenheit zuhaucht, so schimmern ihm ferne schöne Lichter vorwärts in der Kinderwelt. Ich werde später zeigen, auf welche Weise ein großer Mann dieses Zukunftgefühl von der Jugend im allgemeinen aussprach, für jetzt genügt mir zu sagen, daß bei uns der Vater im Sohne denjenigen zu sehen pflegt, der es, »da den Kindern jetzt alles viel leichter gemacht werde«, weiter bringen solle, als der Vater, daß die Mutter die Tochter vor den übeln Erfahrungen, die sie gemacht, bewahrt zu sehen wünscht. – Nirgendwo sind die Beispiele noch so häufig von Eltern, die sich auf das sorgfältigste selbst mit der Erziehung der Kinder beschäftigen, als bei uns, obgleich allerdings auch das Pensionswesen und die Abrichtung durch Fremde um sich gegriffen hat. Nirgendwo anders wurde mit Erziehungssystemen mehr hantiert, an der jungen Pflanze mehr experimentiert um ihre verborgene Gabe und Frucht durch Gärtnerkünste zu entdecken, als bei uns. Und so ist denn auch die echt deutsche Unart, daß die Eltern in den Kindern oft schon Genies sehen, wenn sie noch in den Windeln liegen, doch nur ein geiler Schuß und Trieb aus edler Wurzel. Endlich: Es gehört bei uns zu den Ausnahmen, wenn das Weib anders als durch Neigung, oder durch das, was sie wenigstens dafür hält, Mitgründerin der Familie wird, während bei den südlichen Völkern an das Mädchen überhaupt keine Frage über ihr Los ergeht, die Demoiselle aber durch den Ring sich nur zu allen Freiheiten der Sozietät beglaubigen und die Miß Regierungsrechte erwerben will. Das Weib ist nun aber das geborene Genie in der Liebe und in dem Verhalten der Menschen gegen alles, was sich auf Neigung, insbesondere auf weibliche bezieht, legen sie unwillkürlich Geständnis ab, wie sie von der Person und ihrem schrankenlosen Dürfen denken.

Fassen wir das Betrachtete zusammen, so ergibt sich folgendes. Die deutsche Familie ruht auf dem Gefühle von der Person; sie baut sich auf und zeugt sich fort durch die Darstellung von Personen, nur als Personen treten Freunde, Hausgenossen und selbst Dienstboten an sie hinan und sie verbindet sich mit ihnen nur als mit Personen. Durch diese [61] Tatsache wird auch nur die Figur des deutschen Hausfreundes möglich, oder der Freundin des Ehegatten, wie sie bei uns vorkommt. Während anderer Orten der Freund im Verhältnis zur Frau stets der zweideutigste Charakter ist, und die Freundin die Frau ersetzt, so werden bei uns nicht selten Freund und Freundin unschuldige Ergänzungen der Personen der Ehegatten, wenn denn doch der Blick der Erfahrung deren Mängel aufweiset. Die Fälle sind in Deutschland nicht selten, in welchen die Frau mit dem Geiste und Gemüte eines fremden Mannes eine innige Verbindung knüpft, ohne daß eine Verletzung der ehelichen Treue, weder der physischen, noch der moralischen stattfindet, und dasselbe läßt sich umgekehrt nach der anderen Seite hin behaupten. – Im allgemeinen ist das deutsche Haus ein beseeltes. Die Beseelung durchdringt es, welche überall auflebt, wo nicht Egoismen, Absichten und Berechnungen miteinander in Wechselbeziehungen treten, sondern die Personen. Der Ausdruck jener beseelten Wechselbeziehungen aber ist die Liebe. Die Liebe soll sich im Hause verkörpern und Fleisch gewinnen, oder mit andern Worten dasjenige, was Christus meinte, wenn er vom Himmelreiche sprach.

Man wird lachen und rufen: Wer übertreiben will, der übertreibe recht, damit der Übertreibung ihr Recht geschehe! – Geduld. – Meint ihr, daß ich die Kehrseite nicht kenne? – Ihr würdet mich mit dieser Meinung für gar zu unschuldig halten. Ich kenne den deutschen geblümten Schlafrock, das Landesprodukt, die gelben Pantoffeln, die weiße baumwollene Nachtmütze; den Born vaterländischen Tiefsinns, den Bierkrug und die Stütze des Charakters, die Tabakspfeife, kenne ich. Ich weiß von vielen zärtlichen Ehepaaren, die einander durch gegenseitiges Verhätscheln bis zur Nichtigkeit abschwächten, ich habe die Träne im Auge der gefühlvollen deutschen Frau gesehen, womit sie ihre kleinen Listen durchzusetzen wußte, und das Bewußtsein der höheren Mission blieb von mir nicht unbelauscht, in welchem sich der deutsche Mann zu Tische setzt, wenn ihm seine Gattin ein Leibgericht hat kochen lassen. Ich hörte die selbstgenügsamen langweiligen Ermahnungen der vortrefflichen Eltern an ihre[62] guten Kinder, ich sah die Tücke der Kleinen, die schon mit Empfindungen Komödie zu spielen wußten. Das Genie der Haussöhne im Schuldenmachen sah ich, und die edle Prüderie edler Töchter bei dem harmlosesten Scherze, woraus erhellte, daß ihre Keuschheit, von verständigen Müttern unterrichtet, gar wohl Bescheid wußte. Es ist mir auch bekannt, daß hier und da Sitte ward, der Braut an ihrem Ehrentage einen Witwenkassenschein in den Trousseau zu legen, damit doch ja auch dann die ersprießliche Prosa nicht fehlte. Den ganzen Zettel- und Bettelkram der deutschen Familie, ihren blühenden Jammer und die empfindsame Hausheuchelei kenne ich also auch so ziemlich und habe hin und wieder darüber selbst gespottet. Endlich weiß ich, daß auch bei uns viele Geld- und Vernunftheiraten geschlossen werden.

Aber um erst einmal bei diesen stehenzubleiben; so pflegen sie dann auswärts auch reine contrats de mariage zu bleiben; in Deutschland aber ist der Fall gar nicht selten, daß der Altvaterspruch wahr wird: die Liebe komme in der Ehe. – Die einander wie in einem doppelten Blindekuhspiel haschten, nehmen nachher die Binden ab, und erkennen ein menschlich-schönes Antlitz; plötzlich springen Brünnlein des Lebens hervor aus der sandigen Wüste und weil am Ende niemand bei uns ganz hart und herzlos die Ringe wechselt, weil das Bedürfnis und das Gefühl doch tief, wenn auch verborgen, in jedem wohnt, so taut das Eis, in dem man zusammenkam, auf und es wird noch Frühling, wenngleich nur der Nachfrühling, der uns zuweilen im Spätherbst mit einigen Blüten überrascht. Nichts anderes, als der Zug hoffender Ahnung, daß selbst kalte Verbindungen Geschick und Herz zu Ehren bringen können, hat die Stücke der Prinzessin von Sachsen, deren Thema die Vernunftheirat ist, so beliebt gemacht. Denn wahrlich, nicht die lauen Fabeln und die flauen Charaktere dieser Stücke konnten ihnen die Wirkung verschaffen, welche sonst nur die Interessen der Leidenschaft hervorbrachten. Aber jener Zug war es, den die Verfasserin mit Geschick und Konsequenz auszubeuten verstand, ihn würdigten die Deutschen, weil er ihrer Überzeugung gemäß war, und darum sind die Lügen und die [63] Wahrheiten, die Oheime, Fürstenbräute und Landwirte mit Recht auf unserer Bühne einheimisch geworden.

Und nun die Karikaturen der Familie! – Man muß erwägen, daß eben weil die Idee des deutschen Hauses eine sehr große und zarte ist, auch nur hochstehende Naturen sie rein auszuprägen imstande sind, und daß das, was in einem echten Charakter Wahrheit wird, in schwächeren Seelen zu Manier und Heuchelei umschlägt. Man findet zwar in der Manier und Heuchelei, von welcher ich die rohen Umrisse gab, einen Bestandteil von deutscher Bequemlichkeitsliebe und Charakterlosigkeit, aber über denselben hinaus geht doch die, wenngleich falsche Begeisterung für das süße Wohlsein in den engsten Banden, die feste Überzeugung von der souveränen Würde dieser Bande und die Zuversicht, daß außer denselben nichts Besseres und Höheres zu erstreben sei. Mithin also das, was auch die Grundlage der vollkommnen Familie bildet.

Das Komische läßt sich mit dem Moose vergleichen. Siehst du das kleine, dürre, gelbbräunliche, graue oder blaßgrüne Gewirr vom weiten an, so erscheint es dir wie ein alberneinfältiges Spiel der Pflanzenwelt. Betrachte es aber näher. Schau hier ein schlankes Stämmchen, welches sich oben in symmetrischen Blätterbüscheln auseinanderlegt, dort einen gedrungenen Stamm, von welchem verschränkte Zweige pyramidalisch aufsteigen, endlich da eine runde Krone, die durch anscheinend regelloses Geäst entsteht – und du wirst Palmen, Zedern und Eichen im kleinen sehen. Dasselbe Bildungsgesetz wirst du so in diesen Kleinigkeiten drunten am Boden tätig erblicken, wie wenn du um dich und emporsehend die hohen Stämme, die lüftegewiegten Wipfel betrachtest. So wird dir auch dasselbe Bildungsgesetz höherer Natur offenbar werden in den Palmen, Zedern und Eichen der deutschen Familie, und in ihrem Moose. Zwischen jenen Fürsten und diesem Pöbel aber wird dir ein mittleres Gewächs als das verbreitetste erscheinen, nicht erhaben wie jene, nicht verächtlich wie dieses, sondern mäßiger Größe, doch aber groß genug, um von den oberen Lüften noch angeweht zu werden, welche die Kronen der Fürsten umspielen.

[64] War nun aber die deutsche Familie während der Unterdrückung verschieden von der jetzigen? – Ich glaube, ja; nicht dem Wesen, aber der Beleuchtung, der Betonung, der Landschaft nach, in welcher die Gruppe jetzt steht und damals stand. Und diese drei Dinge sind für die Wirkung sehr wichtig, besonders auf ein junges und ungeübtes Auge, welches noch nicht gelernt hat, auch im schlechtesten Lichte, in der mißstimmigsten Landschaft die eigentliche Form der Gruppe zu erkennen.

Um mit zwei Worten anzugeben, wohin ich steure, sage ich, die norddeutsche Familie (denn mit dieser habe ich es immer nur zunächst zu tun, da Süddeutschland sanfter vom Despotismus berührt wurde) hatte während der Unterdrückung absoluten Wert und gegenwärtig nur relativen.

Zuerst von der Gegenwart. Ich habe, wenn ich von ihr rede, die Familien im Auge, welche seit etwa einem Dezennio (ein paar Jahre ab oder zu, tun nichts zur Sache) gegründet worden sind, weil an ihnen sich am unvermischtesten die Eindrücke der Jetztzeit ausprägen. Der Charakter des Friedens, in dem wir seit fünfundzwanzig Jahren leben, ist mehr, als es je in Friedenszeiten vorkam, der des Vermittelns, des Verschlingens des einzelnen in ein Weltganzes. Es gelingt sogar keinem, der aus früherer Zeit herübergekommen ist, mehr, sich rund für sich mit den Seinigen hinzustellen, sich zu isolieren, den Kontakt mit den wirkenden Potenzen abzuwehren; den hartnäckigsten Widerstand bricht endlich doch die Macht der Umstände. Wieviel mehr muß dies in Familien jüngeren Datums der Fall sein. Jene Macht der Umstände ist aus unzähligen Agenzien zusammengesetzt. Einige der bedeutendsten müssen wir angeben und wo es not tut, erörtern.

Mit den Fremden ward nicht alles Fremde vom deutschen Boden vertrieben, konnte nicht vertrieben werden. Aus der schmachvollsten Wirtschaft, aus dem Schleudersystem, welches eine Gewalt, die sich wenig um das Beste des Landes kümmerte, geübt hatte, waren dennoch für tausend und aber tausend Rechte entsprungen, die geschützt werden mußten. Wasgegen die Befreiung geliefert und gezahlt worden[65] war, das mußten die Befreiten, oder der befreiende Staat – ersetzen, für die Sache der westfälischen Domänenkäufer sprach nur eine Stimme, obschon man wußte, daß im Durchschnitt da Händel vorlagen, wie sie zwischen einem Bankrotteur und habsüchtigen Wucherern abgeschlossen zu werden pflegen, Einrichtungen der fremden Verwaltung blieben bestehen, oder wurden nur umgetauft, wie denn die verstärkte Federkraft der exekutiven Gewalt, die in einzelnen Zweigen des Regiments für nötig erachtet worden ist, nur auf dem französischen Prinzip beruht. In ganzen Landstrichen dauerten fremdes Recht und fremdes Gerichtsverfahren fort; in anderen wurde beides unter gewechselten Namen nachgeahmt. Endlich wurde in einigen Verfassungsurkunden der Hinblick auf Frankreich sichtbar. Ja, man kann sagen, daß der abstrakte Begriff des Staats, wie ihn die friderizianische Zeit nur erst als Luxus des Geistes gebildet, die französische Revolution aber unter dem Namen des souveränen Volks praktisch gemacht hatte, auch nur durch die Revolution nach Deutschland geschleudert worden ist. Also in vielen Beziehungen ein Mischzustand und gerade in denen, welche zu den Fundamenten der Gesellschaft gehören. Offenbar wäre das reine und ungetrübte Resultat des Sieges gewesen, wenn mit den Fremden auch alles, was von ihnen oder auf ihre Veranlassung gestiftet war, zur Niederlage kam. Ich sage nicht, daß diese möglich war, sondern ich will nur andeuten, welches die Folgen sind, wenn ein Volk so tief herabsank, um sieben Jahre lang unter der Herrschaft eines anderen stehen zu müssen. Die Natur kann sich in einem solchen Falle durch ein Fieber helfen, welches den gröbsten Krankheitsstoff auswirft, aber die Nachwehen des Fiebers bleiben lange: das Zittern der Nerven, die Schwäche, die Unsicherheit des ganzen Befindens; und in diesen Nachwehen schleichen doch noch die Reste des Übels umher. Die Nachwehen unserer Krankheit und des kritischen Fiebers sind nun in der hier bezeichneten Richtung eine gewisse Halbheit, ein Gespaltenes und Doppeltes im Bewußtsein von den öffentlichen Dingen, in den Begriffen von Recht, Eigentum und Besitz. In diesen Regionen sind die [66] Stifter der neueren deutschen Familie sämtlich entwickeltere oder unentwickeltere Hamlete. Und es kann nicht anders sein. Die um das Jahr 1830 Familien gründeten, waren damals durchschnittlich etwa in der Mitte oder gegen das Ende ihrer zwanziger Jahre, sie waren daher zur Zeit der Befreiung ungefähr Zwölfjährige. Ihren ersten Blicken erschien ein starker und mahnender Geist, dessen unzweideutiges Gebot ihnen jedoch in der Skepsis der nachher vor ihnen auftretenden Wirklichkeit problematisch werden mußte. Sie konnten keine Vergleichung der doch im Ganzen erträglichen Gegenwart mit dem früheren traurigen Zustande anstellen; sie verglichen nur die unbedingten Erwartungen einer vollen und großen Nationalität, welche ihre Jugend beflügelt hatten, mit der bedingteren und mäßigeren Erfüllung. Es kam dazu, daß der Kontrast der äußeren politischen Verhältnisse kaum größer gedacht werden konnte. Deutschland hatte seine Waffen bis in das Herz des feindlichen Landes getragen, und wenige Jahre später stand der besiegte Feind wieder tonangebend in den großen Angelegenheiten da, während Deutschland abermals bestimmt schien, in diesen Dingen die Rolle des Zuschauers oder wenigstens des zuletzt Befragten zu spielen.

Nun aber tragen alle Schöpfungen des Menschen das Gepräge der Stimmung an sich, in welcher er schafft. Die neuere und neueste Familie wurde von Zweifelnden, in dem Unbehagen eines kaum lösbar erscheinenden Zwiespalts Befangenen gegründet, und deshalb ist der Moment ihrer Gründung meist weit entfernt gewesen von dem altväterischen Genügen, von der naiven Zuversicht der früheren Zeit. Er erschien vielmehr den Gründern zwar wie ein heiliger, aber doch wie ein dunkeler, nicht wie eine Lösung, sondern wie eine Schürzung des Knotens. Beide Teile glaubten in ihm nicht ihr Geschick zu ordnen, sondern erst recht die kühnste Frage an das Geschick zu richten.

Man wende nicht ein, daß ich der Hamletstimmung so vieler Gegenwärtigen eine zu beschränkte Ursache gegeben habe. Ich werde nachher noch andere bestimmende Motive aufzählen, aber diese sind untergeordneter Art. Der Hauptgrund [67] des geistigen und gemütlichen Schwankens bleibt das Bewußtsein von der Größe der vorangegangenen Arbeit und von der scheinbaren Kleinheit oder unreinen Natur der Ausbeute. Man wende ferner nicht ein, daß ja doch gar manche durch die Fortdauer der fremden Nachwirkungen im Vaterlande, oder durch die politische Schwäche Deutschlands in ihrem Empfindungskreise kaum berührt zu sein scheinen. Die unbewußten Eindrücke sind im gesellschaftlichen Körper oft die mächtigsten, und er hat ein noch zärteres Gemeingefühl, als der Organismus des Leibes, in welchem an keiner Stelle eine Affektion sein kann, ohne daß nicht das Ganze irgendwie eine Umstimmung erfahren sollte.

Sonst sagten die Leute, die sich verbinden wollten, zueinander: Du bist mein alles, meine Welt, das Ziel jeglichen Wunsches. Jetzt pflegt der Mann von dem Mädchen seiner Wahl zu rühmen, daß sie ihn verstehe. Und so spricht umgekehrt das Mädchen auch. Dieses Merkwort gehört nun aber recht eigentlich der Freundschaft an, die sich immer auf Objekte bezieht. Denn man kann einander nur über Objekte, über einzelnes verstehen, wenn auch über noch so vieles; es ist durchaus unmöglich, daß der ganze Mensch den ganzen Menschen verstehe, vielmehr gibt es für das Verständnis da immer einen Bruch, nur aufzulösen durch die Sehnsucht quand même. Die Liebe hat eine leise Schattierung von der Freundschaft angenommen, die Ehe daher, der Keim und Ausgangspunkt der Familie, etwas von ihrem universellen Gehalte eingebüßt. Denn die Freundschaft läßt mancherlei, ja sogar oft sehr vieles neben sich zu, die wahre Liebe duldet eigentlich nichts Zweites in der Seele.

Die Journale! – Wer zählt sie, wer schälte nicht die meisten wegen ihrer Oberflächlichkeit, Perfidie, Petulanz? Und wer entzöge sich gleichwohl dem Einfluß des alles durchdringenden Elementes, welches von der Schnellpresse zu einem früher unglaublich gehaltenen Grade der Expansion gesteigert, einen jeden anweht und ihn zwingt, aus demselben einen Teil seiner Respiration zu nehmen? Dieses Element, eine neue Art von Gas, würde sich ungefähr so beschreiben lassen: Auf Treue und Glauben annehmen das, [68] was eigentlich erlebt und erschaut werden muß; Studien, die man selbst nicht zu machen imstande ist, durch andere für sich anstellen lassen. Ich zweifle, daß die eigentliche Natur öffentlicher Verhandlungen und Hergänge anders als durch den unmittelbarsten Anblick erkannt werden kann; gewiß ist, daß nur der mit der Wissenschaft, mit der Kunst, mit der Poesie in ein lebendiges Wechselverhältnis tritt, welcher zu den Quellen selbst schöpfen geht. Wie wenige haben zu jenem Anblicke die Gelegenheit, zu diesem Gange, der ein stiller, angestrengter, oft wiederholter sein muß, die Muße! Dennoch sind die Forderungen an jeden so gestellt, daß er über alles eine Meinung haben soll und bei Gelegenheit auch genötigt ist, sie zu äußern. Die wunderbarsten Ansprüche auf Polyhistorie sind rege geworden. Wer darf heutzutage nur im gewöhnlichen Sinne für unterrichtet gelten, wenn er nicht in mehreren Dingen zugleich Bescheid zu wissen wenigstens vorgibt, als die sonst im Kopfe eines Gelehrten beieinander Platz hatten? Der Heroismus aber, Ignoranz vielleicht noch größeren Ignoranten gegenüber einzugestehen, ist schon ein bedeutender; er darf nicht vielen zugemutet werden.

Das Bedürfnis universeller Scheinbildung, hervorgegangen aus dem Gären und Arbeiten der Zeit, befriedigen nun die Journale. Es läßt sich der Beweis führen, daß ein sogenannter gebildeter Mann der Gegenwart die Mehrzahl der Dinge, über welche er sich unterrichtet anstellt, nur aus Journalen, oder aus dem, was ihm andere aus Journalen erzählten, hat und haben kann. Freilich wird dies nicht leicht jemand Wort haben wollen, dennoch aber ist es so, und zwar ganz einfach deshalb, weil der Tag viel zu kurz sein würde, um die Kunden selbst dem sogenannten Wissenden darzureichen; den Mangel dessen, was erlebt werden muß, wenn gewußt, noch gar nicht in das Beweisverfahren mit hineingezogen.

Die Journale sind also eine gewaltig wirkende geistige Potenz. Man darf sie nicht schelten, denn sie haben sich nicht selbst gemacht, sondern die Zeit machte sie, man kann ihren Geist aber auch nicht loben. Sie bringen immer nur Surrogate der Wahrheit, des Erkennens, Erfahrens. Manche sind [69] gegründet worden in der redlichen Absicht, selbstständig, belehrend, frei zu sein, eine Zeitlang blieben sie diesem Vorsatz treu, endlich aber scheiterte er dennoch an der Unlösbarkeit der Aufgabe, das Schwere mundrecht zu machen, und selbst die Besten schlugen daher auch um in das Appretieren, in den Anschluß an gewisse Schulen oder Parteien.

Nun aber fühlt sich kein strebender Mensch (denn die ganz seichten Köpfe lasse ich aus der Rechnung hinweg) dauernd von Schemen und Klängen befriedigt, oder von Resultaten angesprochen, zu denen ihm die Vordersätze fehlen. Es ist ein unabweisliches Verlangen seiner Natur, den Dingen selbst in das Antlitz zu schauen, Ordnung und Zusammenhang in seinen Vorstellungen zu stiften. Jenes Nachsprechen auf Treue und Glauben ermüdet ihn bald, ekelt ihn nachher an. Gleichwohl bleibt er, wenn er im Strome sich oben halten will, außerstande, durch eigene Kraft zu schwimmen. Doch wieder muß er immer und immer des erborgten Korkgürtels sich bedienen. So entsteht dann ein ganz eigenes ödes Gefühl, welches die Unruhe in der Seele vermehrt. Der geheime Grund, weshalb viele gegenwärtig die Falte des Mißmuts noch vor der Runzel des Alters an der Stirne zeigen, ist, daß sie sich im stillen den geistigen Forderungen, die sie auch an sich ergangen glauben, nicht gewachsen halten, wissen, wie übel es um die Mittel stand, welche sie zur Ausfüllung der Kluft wählten, und verzweifeln, auf eine redliche Weise des Materials habhaft zu werden. Es existiert jetzt eine weitverbreitete Gesellschaft empor sich Schraubender und Emporgeschrobener, deren Zustand fast an den frevelhaften Rausch und an das ernüchterte Elend der Opiumesser erinnert.

Noch tiefer greift das Reisen in den Zustand der jetzigen Menschen ein. Sonst, nämlich vor etwa dreißig bis vierzig Jahren wurde zwar auch gereist, indessen gehörte es für die Mittelklassen zu den Ausnahmen, und wo es da stattfand, wurde es durch Geschäft, bestimmte Zwecke oder durch eine besondere Eleganz des Geistes und der Verhältnisse herbeigeführt. Jetzt ist das anders. Daß jemand zu Hause [70] bleibe, gehört zu den Ausnahmen; daß alles, was nur die Mittel erschwingen kann, welche die neueren Erfindungen so sehr herabgesetzt haben, sich jährlich oder in nicht viel längeren Zwischenräumen über hundert deutsche Meilen wenigstens fortbewege, bildet die Regel. Die Minderzahl unter diesen Reisenden sind Geschäfts- oder Zweckreisende, die große Mehrheit reist, um zu reisen. Die Figur des reinen Reisenden, oder des Reisenden schlechthin, welche sonst nur bei den Engländern vorkam, ist seit dem Beginn der Friedensperiode nun auch reichlich nach Deutschland übersiedelt worden.

Sie reisen um zu reisen. Sie wollen der Qual des Einerlei entfliehen, Neues sehen, gleichviel was? sich zerstreuen, obgleich sie eigentlich nicht gesammelt waren. Ist diese Wanderlust zu schelten? Auch nicht. Sie ist natürlich und zum Teil wenigstens Nachwirkung der politischen Stürme. Napoleon hat die Völker einst zueinander spazieren geführt, das mußte aufhören, die Reisen der einzelnen sind aber gewissermaßen die leisen äußersten Kreise der einst so gewaltig im Mittelpunkte erregten Flut. Ich muß überhaupt hier bemerken, was für viele Stellen meiner Schilderung gilt. Montaignes Spruch soll mir auch zustatten kommen: »Ich will nicht belehren, ich erzähle.«

Die Folgen der Reisemode erzähle ich denn so. Man hat wohl gesagt, daß in der Fremde das Heimische dem Menschen doppelt teuer werde; indessen ist dies doch nur für kurze Zeit der Fall, und die eigentliche Wirkung häufig gewechselten Bodens bleibt doch die in steigender Progression fortschreitende Neigung zum Wechsel. Reisen erweitern wohl den Sinn, aber sie erkälten ihn auch; sie sind wie ein starkes Reizmittel, welches für den Augenblick eine große Erschütterung hervorbringt, die dann eine nur um so tiefere Erschöpfung der Kräfte nach sich zu ziehen pflegt. Man sollte Reisen immer nur als Belohnungen sich verstatten, nur in der vollkommensten Harmonie mit sich und seinen Umgebungen darf der Scheidende ein Pfand der Versicherung sehen, daß den Rückkehrenden das Haus nicht unlustig ermüden werde. Sie als Mittel der Herstellung von Verstimmungen [71] und Zerwürfnissen zu betrachten, ist sehr bedenklich, meistenteils brechen die Schäden nachher nur noch gefährlicher auf.

Man muß sich wundern, daß noch keiner unserer Novellisten den Charakter des Reisenden schlechthin, des reinen Reisenden aufgefaßt, die Situationen, welche er veranlaßt, ergriffen hat. Der Reisende ist durchaus Egoist, die Begegnenden sind ihm Mittel zu seinen Zwecken. Weil nun aber die Selbstsucht, unverhüllt, einen gar zu schlechten Anblick gewährt, so wird unterwegs eine Art von Scheidemünze der Empfindung ausgegeben, es wird ein gewisser Anteil an den Zuständen, über welche der rasche Fuß hinstreift, ein Eingehen in die Verhältnisse der Gastfreunde dargelegt, wovon das Herz nichts weiß. Wer seinen Worten keine Konsequenz zu geben braucht, kann leicht zartsinnig, großmütig, die Billigkeit selbst sein. Deshalb stellen Reisende oft die gewöhnlichen Umgebungen in benachteiligenden Schatten, das hingeworfene Wort des Vorübergleitenden wird nicht selten zum stillen Samen der Verwirrung. Man sollte daher gegen niemand mit seinen Äußerungen vorsichtiger sein, als gegen den Wanderer, denn jedes Zutraun ist wie des Gärtners Werk. Soll die Pflanze grün aufgehen, so muß der Boden haften, in den ihr Keim gesenkt wurde.

Alle Nachteile des modernen Reisens verschwinden übrigens, wenn ein bestimmter Zweck sich damit verbindet. Dann wird es eine heitere Arbeit, die den Menschen in sich zusammenhält, und ihm die Ruhe der Häuslichkeit sogar süßer macht. Es kann auch eigentlich nicht wohl anders, denn so sein. Welche bessere Natur verträgt wochen- oder monatelang fortgesetztes Vergnügen? Die Menschen sollten daher, wenn sie ihr Bündel schnüren, irgendeine Richtung ihrer Natur befragen, und dieser zu genügen, den Wanderplan entwerfen. Ich für meine Person habe mich immer sehr wohl dabei befunden, daß ich nie gereist bin, nur um zu reisen, Erholung nur in einem bunten Allerlei zu suchen, sondern die Vollendung einer Arbeit, ein Studium, eine Erkundung im Auge zu haben pflegte. Man verliert dann zwischen den fremden Wänden nicht das Gefühl des Daheimseins,[72] Heimat und Fremde fallen nicht auseinander, sondern werden durch einen zarten Faden verknüpft.

Was soll ich noch von den Vereinen sagen, welche auch dazu beitragen, die Menschen über die Grenzen ihrer Privatinteressen hinüberzuführen? Irgendeinem Vereine gehört jetzt jedermann zu, sei es nun ein Kunstverein, eine Gefängnisgesellschaft, eine Aktienkompanie oder sonst so etwas. Die große Bedeutung dieser Assoziationen habe ich in der Einleitung anerkannt, für die Mehrheit der einzelnen geben aber auch sie ihren Beitrag der Beunruhigung. Denn wer das Innere solcher Vereine kennt, weiß, daß immer nur wenige darin die Arbeitenden, mit dem eigentlichen Mechanismus und den Arkanis der Sache Vertrauten sind, und daß an die übrigen nur gewisse allgemeine Resultate gebracht werden, welche sie hinnehmen, ohne bei ihrer Erzeugung tätig gewesen zu sein. Sie sind daher lediglich Konsumenten der Gesellschaft; wie alle Konsumenten aber zu übertriebenen Hoffnungen oder zu unmäßigen Befürchtungen, zu hohen Forderungen und bitteren Anklagen aufgelegt, weil nur die Arbeit das rechte Lot und Blei für das Fahrwasser der menschlichen Dinge in die Hand gibt. Es ist gewiß: Was einer sich nicht erarbeitet, das besitzt er auch nicht; der Verfall des Adels seit dem Untergange des Rittertums beweist diese Wahrheit. Es beweist sie das Einschlummern Spaniens nach dem Entdecken der amerikanischen Minen. – Man könnte sagen, daß wie die Lehre der Journale ein Surrogat des Wissens und der Wahrheit gibt, die Tätigkeit der Vereine vielen Menschen ein Surrogat des eigentlichen Handelns darbiete. Scheinwissen macht nun unsicher, Scheinhandeln aber tötet das Herz der Entschließungsfähigkeit ab. Woher kommt es, daß man sich jetzt zu so wenigen gesunder, gerader, einfacher, aus der vollen Brust kommender Taten versehen darf? Der allgemeine Egoismus, über den man klagt, ist nur die Äußerung der Sache selbst unter anderem Namen, nicht die Ursache. Auch ist das, was man den modernen Egoismus nennt, wenigstens etwas ganz anderes, als was man früher so bezeichnete. Die Güter, welche man allerdings sucht, werden nur zu einem Teile um ihrer selbst [73] willen erstrebt, zum anderen und vielleicht größeren Teile sieht man in ihnen Träger geistiger Früchte, die jeder brechen möchte. Es ist ja eine ebenso allgemeine Klage, wie jene über den vermeintlich herrschenden Egoismus, daß niemand seines Lebens und des Seinigen recht froh werde. Ebensowenig kann Sittenlosigkeit, welche zu anderen Zeiten die Tatkraft abschwächte, an der jetzigen Herzensmattigkeit schuld sein, denn die Sitten sind im allgemeinen keusch, wenigstens viel reiner als sonst. Das Geschlecht, welches da lebt, ist, wenn auch keine Heermannschaft blonder, blauäugiger Germanen, doch nicht ein entnervtes.

Wahrlich, die Zeit bietet ein sonderbares Schauspiel dar in Beziehung auf Energie. Man erinnert sich an ein allbekanntes Distichon von Schiller über den Geist der einzelnen und den ihrer Verbrüderungen. Man könnte jetzt in das Gegenteil hinüberparodierend sagen, daß wo viele zusammenhandelten, ein Riese erscheine, der, wenn man die Handelnden einzeln betrachte, sich in lauter Zwerglein zerkrümele. – Hierin erscheint aber recht eigentlich einer der Punkte, auf welchen der Übergang von der subjektiven zur objektiven Periode stattfindet.

Von diesen Potenzen, denen sich noch unzählige kleinere aus dem weitschichtigen Kulturzustande der Gegenwart anschließen, ist die heutige deutsche Familie gleichsam wie von einer Säure durchzogen und in ihrer festen Textur etwas gelöst. Das Haus hat gewissermaßen einen Gehalt in sich aufgenommen, der es in der Zukunft sicherlich zu einer ihm entsprechenden Form ausweiten wird, vorderhand aber freilich für die von früherer Zeit her gezogenen Grenzen zu groß erscheint und die Wände schüttern, die Balken krachen macht. Es fand übrigens wie in allen Wandlungen der Zustände eine generatio aequivoca statt. Die Verwandlungszeichen draußen, und die im Hause waren ziemlich zu gleicher Zeit da.

Zu den seltensten Ausnahmen möchten heutzutage Familien gehören, die, wenn sie sich auch nur ein weniges, ja nur ein äußerst weniges über die gemeine Meeresfläche erheben, nicht alle Anstrengungen machten, zu den sogenannten [74] geistreichen gezählt zu werden. Das Wort ist durch diese künstlichen Aufschwünge bei den Denkenden so in Verruf geraten, daß man es kaum noch ohne spöttischen Nebengedanken nennen hört. Die »Geistreichen« werden mich entschiedener Spießbürgerlichkeit bezichtigen, ich kann mir aber nicht helfen, zu sagen: So manches Haus, welches ich in ihrer Weise habe sich abmühen sehen, kam mir vor, wie eine Versammlung großer Kinder, welche allen Fleiß und Ernst daransetzten, Seifenblasen in die Luft zu treiben. – Sollte die Familie, wenn der alte beschränkte Standpunkt für sie nicht mehr zu halten ist, wenn die geistige Flut der Zeit in ihr Gefäß aufgenommen werden muß, dies nicht auf eine edlere und gründlichere Weise bewerkstelligen können, als leider häufig geschieht? Ich will zweierlei herausheben.

Unsere Mädchen werden zum Teil noch jämmerlich erzogen. Ihre Seele wird abgerichtet zu allerhand Scheinwesen und Flitter – eine Dressur, die durch die neuerdings erwachte Manie, sie fremde Sprachen lernen zu lassen, nur noch an Breite gewonnen hat – aber sie wird nicht erfüllt mit dem Marke des Wissenswürdigen, mit einigen großen Gestalten der Geschichte und Literatur. Leer bleiben daher so viele und der Ehestand kann, wie er sich meistenteils gestaltet, das Übel nicht heben, denn nun sollen sie repräsentieren, sollen Damen sein, sollen über alles zu sprechen imstande sein, ohne von etwas die Stellung und den Zusammenhang zu kennen. Wäre es denn nun da nicht schön, wenn der Mann dem Weibe noch nachhälfe, soweit dies möglich ist? Würden die Stunden, die sonst in Dumpfheit oder Zerstreuung hingehen, nicht würdig angewendet, wenn der Mann die Versäumnis der Lehrer einbrächte; und erhielte die moderne Häuslichkeit dadurch nicht eine neue, schöne, ihr gemäße Grundlage?

Es ist hier wahrlich nicht auf Hervorbringung gelehrter Karikaturen abgesehen, noch auf eine pedantische Didaskalie. Aber wenn zwei Menschen so eng verbunden sind, wie Ehegatten, so ergibt sich für wohlgeordnete Seelen das natürliche Bedürfnis, den Knoten durch gemeinsames Erkennen, durch Bewundern und Verehren des Trefflichen Hand [75] in Hand, immer fester zu schürzen. Gewiß ist, daß unsere Frauen dadurch nicht weniger Frauen würden, wenn sie, anstatt an elenden Romanen des Tages oder am Spülicht der Frömmelei sich Indigestionen zuzuziehen, ein wenig mehr die gesunden Gedanken großer Schriftsteller in sich aufnähmen, wenn sie für das Gewäsch, welches ihnen das letzte Zeitblatt zuträgt, erführen, wie es etwa auf unserer Erde aussieht, oder auf welche Weise dieser und jener erhabene Mensch sein Leben zu fassen wußte. Ich fechte hier nicht mit Windmühlen, sondern berufe mich auf das Zeugnis der Beobachtenden, ob man nicht und zwar vorzugsweise gerade aus dem Munde jüngerer Frauen jetzt eine Unzahl der oberflächlichsten, absurdesten, den Mangel jeder Grundlage der Bildung verratenden Urteile zu hören bekommt?

Ferner: Sollte es nicht endlich Zeit sein, eine wahrhaft deutsche Geselligkeit wieder zu versuchen, nicht in dem Sinne des Liedes, daß gestern abend Vetter Michel dagewesen sei, sondern in dem Gefühle und mit dem Bedürfnisse, daß es den Zusammenkünften der Deutschen wohl anstehe, wenn jeder aus ihnen eine erhöhte Stimmung und eine Bereicherung des Geistes mit nach Hause bringt? Wäre so viel daran verloren, wenn der deutsche Salon, welcher allerorten die Battants weit offen getan, allgemach wieder geschlossen würde? Ich kenne den französischen Salon nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus Beschreibungen; sind diese treu, so erbaut er sich auf Übereinkünften der Meinung, die in der noch immer leichtesten Konversation von der Welt ausströmen, und es durchweht ihn ein flüchtiges Etwas, der Äther des Pariser Daseins, welches alle Stockungen verflößt, alle Spannungen mildert, die Friktion nur gerade so weit zuläßt, als sie zur Erhöhung des Lebensreizes dient. Außerdem ist der Salon dort nicht selten Herd politischer oder literarischer Vorbereitungen, ein Analogon des englischen Meeting. Alles das ist französisch und national und von allem dem ist nichts deutsch. Wir haben keine vertragenen Meinungen, wir wissen nicht zu konversieren, am wenigsten leicht, selbst unsere Frauen sind darin keine Meisterinnen, und ganz fehlt unserem Salon das oben angedeutete flüchtige Etwas. Es [76] entspringt bei den Franzosen aus dem Bewußtsein, daß ihre Gesellschaft ihr höheres Lustspiel des Lebens sei, daß also alle Konflikte, die in ihr hervortraten, nur künstlerische Geltung haben dürfen und künstlerisch behandelt werden wollen. Zu einer solchen komödienhaften Behandlung sind wir aber viel zu schwerfällig. Wir wollen in unserem Salon auch belehren oder belehrt werden, überzeugen oder uns überzeugen lassen, wir nehmen unsere Antipathien zwischen die vier Wände mit, welche bei unseren Nachbaren die Stätte eines neuen Gottesfriedens umzirken, wir schmollen und grollen, wir haben Ambitionen, wo wir nur Vergnügen haben sollen.

Endlich gehen bei uns nie von den Salons Erfolge aus. Die Literatur treibt ihre Wurzel anderwärts, die öffentlichen Verhältnisse, wo dergleichen sind, entziehen sich ganz der Herrschaft der sogenannten guten Sozietät.

Auf diese Weise hat unser Salon eine ziemlich mißfarbige Gestalt bekommen. Die Präsidentschaft führt eigentlich ein stilles Unbehagen und eine gelinde Langeweile der meisten. Über diesem unfruchtbaren Lettenboden (um bei einer so disparaten Sache aus dem Bilde zu fallen) lagert sich nun eine dünne Schicht fruchtbareren Erdreiches, in welchem aber doch nur die kümmerliche Flora einiger Redensarten, Komplimente, Schmeicheleien, schwerer Dissertationen, die sich zu Gesprächen verdünnen und leichter Gespräche, die sich zu Dissertationen verdicken, verschiedener unterhaltungsbedürftiger, mehrerer flüsternder oder boudierender Damen fortzukommen vermag.

Ich glaube nicht, daß ich zu schwarz gesehen habe. Deutsche Salons habe ich vielfältig kennengelernt und an vielen Orten und von guter Fabrik. Ich muß nun gestehen, daß ich meine geselligen Freuden immer weit ab von dieser Geselligkeit angetroffen habe. Und da dasselbe mir von manchem andern, dessen Urteil ein unbestochenes war, gesagt worden ist, so wird wohl eine Wahrheit und nicht eine säuerliche Verstimmung ausgesprochen worden sein. – Im Gegensatz zu jener läßt sich nun wohl eine echt deutsche Geselligkeit denken, deren Beschreibung, als eines Dinges, welches erst werden soll, freilich schwer ist. Sie würde aber von einem [77] allgemeineren Bedürfnisse, wahlverwandte Naturen zu finden, verbunden mit der Scheu, ohne dieses Bedürfnis mit jemand zu verkehren, ausgehen.

Die Familie der Gegenwart hat also von dem schönen Grundschema der Liebe, welches ich früher aufzeichnete, eine Ausbeugung nach der Rechts- und Verstandessphäre hin genommen. Gewisse Normen treten in ihr markierter hervor und bringen sie einem kontraktlichen oder verfassungsartigen Verhältnisse näher. Alles ist einfacher im Hause geworden; wenn man will, vernünftiger, aber auch nüchterner, kälter. Skandalöse Geschichten hört man seltener als sonst, noch seltener sind die tiefeinschneidenden Zwiespalte der Pflicht und Neigung, die poetischen Irrsale des Herzens, an welchen eine abgewichene Periode reich war, aber dafür hat das eheliche Band selbst etwas Herbes und Phantasieloses bekommen. Die Eltern stellen sich früher als sonst zu ihren Kindern in das Verhältnis älterer Freunde, woraus denn folgt, daß die Kinder noch früher Gedanken der Emanzipation hegen und zwar nicht auf Schuldenmachen und Ausschweifungen, sondern auf alle Befugnisse der Kultur und Zivilisation gerichtete. Bezeichnend für den Geist der Gegenwart ist das häufig in den Familien vorkommende Verlangen nach einem Talente in ihr. Es hat seinen Ursprung in dem Widerwillen gegen die Einförmigkeit des gewöhnlichen Lebensganges, in dem Grauen vor den geheimen Schrecken der Zeit, und in dem richtigen Gedanken, daß das große Talent nicht allein für die Welt, sondern auch für das Individuum die glücklichste Himmelsgabe ist, weil es dasselbe am sichersten durch alle Stürme trägt; übersieht aber, daß es nichts Unglückseligeres gibt, als mühsam gepflegte Halbtalente.

Im ganzen fehlt es der deutschen Familie an dem früheren durchgehenden Genügen in sich selbst, sie wird eingeschränkter als sonst wie eine Freude empfunden, und steht wenigstens nahe daran, wie eine Notwendigkeit erkannt zu werden. Auf mannigfache Weise suchen sich die Frauen zu helfen. Ich schweige von den Schriftstellerinnen, auch von den an der Emanzipationsfrage sich Beteiligenden schweige ich[78] und bringe über diese berühmte Frage nur dahin meine Meinung bei, daß die Frauen dadurch weit weniger die ostensible Absicht, gleiche Rechte mit den Männern zu erlangen, verfolgen, als vielmehr wünschen, auf einem Umwege die Forderung an ein Wiedererwachen wärmerer Neigungen in den Männern geltend zu machen. Das Thema, welches Aristophanes in der Lysistrata zynisch, roh, frivol abhandelte, wird in der Gegenwart geistig, zart, verschämt wiederaufgenommen. Ziehen die Männer in den Krieg, sei es mit dem Speer oder mit Gedanken, so tun die Weiber, als könnten sie für sich bestehen. Sind die Männer verliebt oder nur galant, so denkt keine Frau an Emanzipation.

Nur über die Frauenvereine seien einige Worte vergönnt. Auch sie gehören zu den Symptomen, daß der Frau das Haus zu leer oder zu kalt geworden ist. Nur ehelos schließt in Zeiten, welche einen einfacheren Bildungstrieb haben, das Weib Vereinigung mit ihresgleichen: die Nonne, die Barmherzige Schwester beruht auf diesem Grundsatz. Wenn Mistreß Fry unerschrocken mit dem Evangelium in der Hand unter die Verworfenen ihres Geschlechts zu New-Gate tritt, so ist das der Heroismus einer einzelnen, der wie jede große Tat zur Nacheiferung fortreißen und zur Stiftung einer Komitee führen kann. Wenn im Kriege sich die Frauen verschwistert der Kranken und Wunden annahmen, so geschah es, weil unter so außerordentlichen Umständen eben nicht anders geholfen werden konnte, und wenn in England ein Magdalenenhospital der Prostitution entgegenwirkt, so läßt sich sagen, daß jeder Frau die nähere Berührung mit dieser Pest in ihren persönlichen Umgebungen verfänglich erscheinen mußte. – Wenn aber in ruhigen Friedensjahren allerorten Frauenvereine entstehen, um die Armut zu unterstützen, oder sich des verwaisten Alters anzunehmen, so läßt sich wenigstens eine aus der Sache hervorgehende Notwendigkeit nicht begreifen, welche die Frauen zwänge, auf solche Weise den reingezogenen Kreis weiblicher Individualität zu überschreiten. Vielmehr wird die Frau, in deren Gemüt wirklich alles an der rechten Stelle ist, in deren Seele ein vollkommen ungetrübter Friede wohnt, Werke der Mildtätigkeit [79] in der unscheinbarsten, verborgensten und vor allem in der personellsten Art verrichten, ohne Abkältung durch fremde Medien, weil sie auch solchen Werken ein mit der Liebesfähigkeit wenigstens verwandtes Mitleid, eine individuelle Teilnahme an dem Gegenstande der Fürsorge schenken zu müssen glaubt, weil die rechten Werke bei ihr nur aus solchen Empfindungen aufblühen. Nichts ist der Frau im Gleichgewicht fremder als die sogenannte allgemeine Menschenliebe, nichts steht ihr näher als ein warmes Interesse an dem besonderen Falle. Von ihr gilt in noch höherem Grade, was Pascals Schwester in seiner Lebensbeschreibung von ihm erzählt, wo sie über seine zärtliche Liebe zu jedem Armen, der ihm aufstieß, redet:

»Tous ces discours nous excitoient et nous portoient quelque fois à faire des préparations, pour trouver des moyens pour des réglemens généraux, qui pourvussent à toutes les nécessités; mais il ne trouvoit pas cela bon, et il disoit que nous n'étions pas appellés au général, mais au particulier, et qu'il croyoit, que la manière la plus agréable à Dieu étoit de servir les pauvres pauvrement, c'est à dire chacun selon son pouvoir, sans se remplir l'esprit de ces grands dessins, qui tiennent de cette excellence, dont il blâmoit la recherche en toute chose.«

Wenn also, wie jetzt der Fall ist, es zur allgemeinen Sitte wird, daß die Frauen Milde und Wohltätigkeit gleichsam als Geschäft treiben, so ist dieser Umstand eine Anomalie und läßt auf ein gestörtes Gleichgewicht zurückschließen, wobei wir natürlich die feinsten und der gestörten selbst vielleicht nicht bemerkbaren Irrungen im Auge behalten müssen.

[80] Überhaupt dürfen wir nie vergessen, daß in einer solchen Charakteristik, wie ich sie von der deutschen Familie der Gegenwart zu geben versuchte, die Züge nahe aneinandergerückt sind, zwischen welche des Lebens unerschöpfliche Fülle eine Menge versöhnender und tröstlicher Gestaltungen wirft. Sie ist nur wie ein Grundriß oder eine Charte zum Orientieren bestimmt. Trittst du an das Gebäude hinan, trägt dich das Segel zur Küste, so siehst du gefällige architektonische Linien, sanftes Vorland, romantische Klippen, bebüschte Zungen, wo du auf dem Papiere nur scharfe Winkel, trockene, unschöne Umrisse sahest. – Ich bin durchaus nicht der Meinung, daß unser Familienleben an einer hoffnungslosen Auszehrung deshalb leidet, weil es hin und wieder sich einer gewissen Müdigkeit nicht erwehren kann. Als ein gutes Zeichen, es sei nur in einem Zustande der Durchbildung begriffen, muß angesehen werden, daß der Mangel gefühlt wird ohne den Gedanken an schlimmen Ersatz. Eine heimliche Unruhe, gleichsam ein stilles Nachtwandeln bei Tage treibt die Menschen aus der Enge des Hauses in ferne und fremde Dinge. Diese genügen ihnen dann doch auch wieder nicht, sie fallen von ihnen ab und in das Haus zurück, wo aber die frühere Empfindung sich ihrer von neuem bemächtigt. Ein ziemlich schwindelhafter Kreislauf! das muß man einräumen. Aber die Umgetriebenen empfinden ihn mit schmerzlicher Bitterkeit, sie empfinden ihn als tragische Verlegenheit und wo es bei dem reinen Bewußtsein eines moralischen Übels bleibt, da ist noch Heilung zu erwarten. Noch suchen die Männer nicht fern von ihrem Herde häusliche Freuden, noch haben die Frauen von den Genüssen der Repräsentation und Sozietät, die ich anführte, kaum Genuß.

Der Hinblick auf zwei psychologische Phänomene der französischen und deutschen Frauenwelt schließe diese Betrachtung. Aurore Dudevant und Charlotte Stieglitz stellen [81] Extreme des verwundeten weiblichen Gefühls, des Leidens an unsäglich unerträglicher Häuslichkeit dar. Der tiefste Riß, der in Frankreich und der in Deutschland durch die Familie gehen konnte, ist in ihren Schicksalen abgebildet. Beide mögen unglücklich gewesen sein in einem Grade, den man vielleicht nicht zu ermessen, gewiß nicht zu schildern vermag. Aber Aurore entweicht dem furienwimmelnden Hause, Charlotte stirbt darin. Die Französin weiß sich zu trösten, sie legt Mannskleider an, raucht Zigarren, spekuliert in den Fonds, rächt sich durch Romane von unvergleichlicher Verve und wird eine berühmte Schriftstellerin. Die Deutsche versteht nur sich zu opfern, in einem erhabenen Wahnsinne, für ein Phantom, für ein Nichts allerdings, aber das nimmt dem Opfer seine rührende Größe nicht. Wir haben von dem Fatum unserer Landsmännin zwar keinen ergreifenden Roman als Frucht pflücken dürfen, aber in Charlottens Totenantlitz wie in einem magischen Spiegel, wenn auch etwas fremdartig, doch kenntlich aussehend, die Quelle der Jugend erblicken können, aus welcher sich deutsches Leben immerdar tränkt.


Mit diesem Bilde der modernen Familie in lauter Halbtönen sei nun die Gestalt der Familie verglichen, über deren Dach die Wucht der Weltereignisse stürzte. An ihr war alles noch winklig, barock, kurios; desto zusammengefaßter kann der Bericht von ihr sein.

Weil der öffentliche Zustand von Deutschland seit dem Westfälischen Frieden ein völlig nichtiger gewesen war und auch Friedrich die Kraft und Zuversicht der Menschen nur erst in eine Vorschule genommen hatte, von welcher sie nachher die hohe Schule der Selbsterkenntnis in Not und Trübsal beziehen sollten, so hatten sich alle echten Triebe des deutschen Gemüts in die Familie geflüchtet. In diesem engen Rahmen hatte sich das Gemüt zu jener Enge, Sentimentalität, Bequemlichkeit und zu der mit Isolierungen immer verknüpften wunden Strenge zusammengezogen und zersplittert, abgeflacht und zugespitzt, über die ich nicht weitläuftig werden will, weil man allbekannte Dinge nicht [82] immer von neuem erzählen soll. Ich verweise auf Iffland; er ist der getreueste Cicerone durch alle Schätze und Kuriositäten des damaligen deutschen Familienlebens. Meine Achtung für ihn als Dichter will ich niemandem aufreden; als Quellenschriftsteller wage ich ihn gegen jedermann zu vertreten. Da ist er von unschätzbarer Reichhaltigkeit. Er hat mit einem Auge, welches für die Wahrnehmung des Kleinen recht eigentlich organisiert zu sein schien, gesehen, mit der musterhaftesten Treue beschrieben. Es ist bekannt, wie er sich über die Genesis seiner Arbeiten selbst erklärt hat. »Ich mache«, sagte er, »bei meinen Stücken keinen Plan, sondern mir schwebt eine Figur vor, die mir gefällt, die mich interessiert, zu ihr gesellen sich andere Figuren, es bilden sich Beziehungen und Verhältnisse, ich lasse die Leute reden, wie es ihnen gemäß ist, und bin oft selbst neugierig, wohin die Sache führt, deren Entwicklungen ich im Anfange nicht vorhersehe.« – Diese scheinbar auf ein höchst tadelnswertes Arbeiten deutende Äußerung bezeichnet doch nur in unserem Falle die organische Entstehung jener sonderbaren Stücke, welche weiter nichts sind, als Studien der Beobachtung in dramatischer Form, und welche diesen Charakter nicht haben könnten, wenn der Verfasser den Reichtum seiner Wahrnehmungen durch eine schärfere Fabel geschmälert hätte. Es tut mir wohl, bei dieser Gelegenheit meinen Respekt vor einem viel getadelten Manne auszusprechen. Um ihn endlich im richtigen historischen Lichte zu sehen, muß man ihn nur mit seinem Rival vergleichen, mit Kotzebue. Bei dem ist alles schwammig, verblasen, liederlich; er verläuft sich, wenn nicht in der ganzen Anlage einer Arbeit, was auch oft genug vorkommt, doch jederzeit an irgendeinem Punkte in das völlig Dumme und Alberne, wie denn zum Beispiel einem seiner am besten geführten Stücke, dem »Taschenbuche«, ja doch das Schnupfen der alten Haushälterin als Plattitüde eingeimpft werden mußte. Von diesen Mängeln trifft man bei Iffland nichts an. Seine Region ist eine beschränkte, aber mit dem Durchblick auf eine weite Perspektive, nämlich auf die unzerstörbare Macht und Würde des Hauses; und in jener Beschränkung waltet er durchaus als Meister von der [83] Kanzelleigröße des alten Dallner, bis zu dem vor dem Geheimrat Wallenfeld stumm geigenden Jean hinunter. Jedes weiß er an seinen Ort zu stellen; fehlt ihm auch bei der Planlosigkeit der Fabel die eigentliche Strategie des dramatischen Feldherrn, so ist er dagegen in der Taktik der einzelnen Szenen desto vortrefflicher. Darin ist alles gescheit, ökonomisch, wirksam. Er ist, was Kotzebue nie war, nämlich auch für seine Person ein bedeutender Mensch. Seine kluge Führung der Berliner Bühne unter den schwierigsten Umständen, die Achtung, in welche er sich bei dem Hofe und den höchsten Personen in einer dieser Achtung noch gar nicht vorarbeitenden Zeit ohne niedere Künste zu setzen wußte, seine vornehme und imponierende Erscheinung daheim und auf Reisen – alles dieses rechtfertigt das Urteil, welches ich von mehreren Personen, die zu urteilen fähig waren, über ihn vernahm, und welches mit dem übereinstimmt, was Goethe von Schiller gesagt hat: er wäre überall an seinem Platze gewesen, auch im Staatsrate.

Das Ifflandische Hauswesen Norddeutschlands war nun, als der große Stoß von 1806 das Werk der Zerstörung vollendete, welches die Okkupation Hannovers begonnen hatte, zu einem Gipfelpunkte gediehen. In der Blüte von Gefühl und Empfindelei, von Schroffheit und Weiche, von tüchtigem Verstand und willkürlichster Einbildung, von Übersehen der wichtigsten Dinge und Wichtignehmen der kleinsten Kleinigkeiten erfuhr es jenen Stoß. Er erschütterte die Häuser bis zu den Grundfesten des materiellen Bestandes hinunter. Es ist doch eine Täuschung, daß man ein Vaterland entbehren, oder daß für dieses Vaterland ein Traumbild einstehen könne.

Die Entbehrung hatte niemand gefühlt, das Traumbild, was als Ersatz der Wirklichkeit gegolten, war zerstört, die Familien schwebten also gleichsam in der Luft. Die Not war nicht klein, jeder mußte sich einschränken, viele darbten; gegen diese Bedrängnisse der unermeßlichen Mehrheit verschwand das Wohlleben einzelner, was diese sich allerdings durch schlaues Benutzen des allgemeinen Ruins oder durch gefälliges Anschmiegen an die Fremden zu bereiten wußten.

[84] Die Einwohner des preußisch gebliebenen Staates hatten eigentlich gar keinen Zustand mehr, die neuen Westfalen, welche aus Niedersachsen, Hannoveranern, Braunschweigern, Hessen und einigen alten Westfalen koaguliert waren, hatten einen Halbzustand, ähnlich dem des Zusammenwohnens in einem teuren und dabei schlechten Gasthofe, sie machten zwar untereinander wohl Gasthofsbekanntschaften, aber immer mit dem Gedanken an baldiges Umziehen. Ihre Furcht empfand zwar, daß bei Sturm und Unwetter das löcherichtste Obdach immer noch besser sei, als keines, jedoch erzeugte dieses Gefühl des Einigermaßen-Geborgenseins keinesweges eine Neigung zu dem traurigen Schutzmittel. Am meisten mögen die Sachsen in der alten Weise sich fortgedacht haben, doch kam auch bei ihnen allgemach die Überzeugung zum Durchbruch, daß ein zu mächtiger Freund eine gar bedenkliche Gabe des Schicksals sei. – Die Städte, welche jetzt überall mit den Häusern zu den Toren hinauswandern, verödeten, in den Straßen begann Gras zu wachsen, ein eigenes Haus, wonach sonst jeder verlangt, wurde an vielen Orten wegen der Heereszüge ein Fluch. In meiner Vaterstadt kam einmal ein altes Mütterchen auf das Rathaus gegangen, überreichte der Serviskommission ganz froh, und erleichtert durch ihren Entschluß, die Schlüssel ihres Häusleins und sagte, die Herren möchten nun damit anfangen, was ihnen gut dünke, sie habe aufgegeben, was ihr doch nicht mehr gehört, sondern der Einquartierung.

So war das Gefühl und die Lage, als man sich von der ersten Betäubung erholt hatte, und wieder um sich zu blicken begann. Die Teilnahme an den öffentlichen Dingen, soweit sie sich nicht in Haß entlud, schränkte sich darauf ein, daß jeder in seinem Kreise einzelnes, wie Schulen, Stiftungen, Vermächtnisse, Anstalten, vor dem Angriff der Fremden zu erhalten suchte; der Patriotismus, wenn man das so nennen will, wurde durchaus lokal, korporativ; man sieht, wie die gewaltigste Zerschmetterung hier die ersten Keime des Verbindungsgeistes hervorrief, aus welchem naturgemäß ein erneutes öffentliches Leben der Deutschen nur emporwachsen kann.

[85] Aber die Familie hatte in ihrem innersten Wesen, welches ich in die Beseelung durch Liebe gesetzt habe, durch Napoleons Sieg nicht gelitten. Im Gegenteil, da ihr jede Neigung, sich nach außen zu wenden, nachdrücklich verleidet wurde, da für keinen Besseren in den Beute gewordenen Landstrichen irgendein Antrieb vorhanden war, im Gemüte mit dem Staate anzuknüpfen, so zog sie sich nur um so straffer, krampfartiger in sich zusammen. Was einer in seiner Frau, in seinen Kindern, in den Hausgenossen und nächsten Freunden hatte, das besaß er noch, und außerdem nichts. Das Gefühl dieses Zusammenhangs mit allen seinen Konsequenzen wurde daher noch gesteigert, jedes Haus war nur für sich da, und in dieser Isolierung und gesonderten Existenz tritt uns nun das Hauptunterscheidungszeichen der deutschen Familie während der Unterdrückung, von der jetzigen in ihrer Verflößung nach dem Allgemeinen hin, entgegen.

Man würde aber sehr irren, wenn man glaubte, der Familiengeist habe, durch die Not belehrt, seine Koboldstücken abgestreift. Im Gegenteile: das Wort von Tacitus kam abermals zu Ehren: Inter adversa gliscit superstitio. Alle Abenteuerlichkeiten und Velleitäten prägten sich nur noch schärfer in den gereizten Seelen, welche in diesem Gebiete allein noch ihre Selbstständigkeit fühlten, aus.

Sonderbar mag der Zustand in Preußen gewesen sein. Die Last der Tyrannis war dort noch schwerer, unter ihr aber bestand denn doch der wundgedrückte Staat mit seinem Königshause, seinen Gesetzen und älteren Einrichtungen fort. Dazu kamen die Arbeiten der Wiedergeburt, die bald nach dem Sturze begannen, sowie die Einflüsse Fichtes und Jahns auf ihre nicht kleinen Kreise. Es ist unwahrscheinlich, daß dort die Isolierung der Familie in sich so groß gewesen sei, wie links von der Elbe, der Blick mehrerer Menschen auch aus der Mittelschicht der Bildung mag sich in jenen Gegenden in das Öffentliche gesenkt haben, wenngleich die Städteverordnung, die hier scheinbar den größten Anreiz hätte geben müssen, als ein zu neues Institut in der Tat am wenigsten wirksam war, und nur von einem Teile der Städte als[86] willkommene Gabe empfangen, von einem anderen Teile aber als Mittel beargwöhnt wurde, drückende Lasten durch die Belasteten verteilen zu lassen, und sie dadurch scheinbar leichter zu machen. Jedenfalls aber war das Symptom, welches ich angegeben, dort nur ein schwächeres, und fehlte nicht. Denn die Hoffnungen, wo sie bis zu dem Bündnisse von 1812 bestanden hatten, waren gebrechlich, die Bürde aber war stark.

Eine besondere Äußerung des sich isolierenden Familiengefühls war der Nepotismus jener Zeit. Auch jetzt herrscht der Nepotismus; die Mehrzahl der einigermaßen wichtigeren Anstellungen geschieht in seinem Geiste, aber er wird sorgfältig verborgen und nur dem Kundigeren gelingt es, in jedem Falle seine geheimen Fäden aufzufinden. Damals aber war er etwas Eingestandenes, selten hatten die, welche das Geschick anderer zu gründen imstande waren, Hehl, daß sie vorzugsweise für ihre Angehörigen und Freunde sorgten, ja, es wurde wohl für einen Familienehrenpunkt gehalten, in dieser Weise zu verfahren. Sehr natürlich, wenn man die Lage der Dinge, wie sie war, in das Auge faßt.

Auf das heranwachsende Geschlecht wirkte daher die Familie nicht als Teil eines Ganzen, sondern als rundes Ganzes. Sie erschien ihm als eine Theokratie des Gefühls, als eine ehrwürdige Usurpation. Der Sohn sieht jetzt den Vater in Verwicklung mit so manchem Übermächtigen und dabei Vernünftigen. Früh fängt er daher an den Vater mit Dingen und Personen zu vergleichen. Ein solcher Seitenblick war der damaligen Zeit sehr fremd. Womit der Vater nicht fertig werden konnte, das war das Unvernünftige, Schlechte, durch keine Niederlage ging die Autorität verloren. Die Alten taten und verlangten allerhand, was der erwachende Verstand der Jungen nicht billigen konnte; das erweckte aber nur den stillen Wunsch der Jungen, auch dereinst so selbstständig zu werden, um dergleichen ebenfalls tun und verlangen zu dürfen. Man vergönne mir die Erzählung einer lächerlichen Kindergeschichte. Das Oberhaupt einer Familie hielt Rührei für eine der Jugend schädliche Speise. Sooft sie daher im Hause bereitet wurde, erhielten die Kinder von [87] derselben nur eine äußerst geringe Spende, während der Vater zu sich nahm, so viel ein Mann in seinen Jahren bewältigen konnte. Der Älteste, in dessen lebhaftem Geiste ein frühes Freiheitsgefühl spukte, hatte diese ungleiche Verteilung der Güter auf Erden lange still gekränkt erdulden müssen. Endlich machte sich die Empfindung unter seinen Kameraden Luft. Wir saßen an einem Sonntagnachmittag zusammen und unterhielten uns, vom Spiel ausruhend, von dem, was jeder vornehmen wolle, wenn er erwachsen sein werde. Die Reihe kam auch an jenen Frondeur und dieser rief: »Ich lasse mir dann alle Abende noch einmal soviel Rührei machen, als mein Vater jetzt ißt!« – Ein brennender Durst nach den Studentenjahren, von welchen man den Himmel aller Freiheit sich verhoffte, war ebenfalls der Ausdruck jener Wünsche. Die jetzige Stimmung junger Leute in Beziehung auf diese Periode läßt sich mit dem damaligen leidenschaftlichen Begehren nicht vergleichen.

Aber die geheimen Leiden, Bitterkeiten und Anklagen jenes jugendlichen Alters raubten dem kindlichen Gefühle nichts. Die Eltern standen als der Mittelpunkt der ganzen kleinen Welt da und eine einfache Pietät, eine schlichte Unterwerfung machte sich daher von selbst. Was aber in dieser durch Willkür und Unrecht hätte erschüttert werden können, wurde wieder befestigt durch den Anblick der Not, die jene litten. Die Kinder sahen die Eltern Not leiden, wenigstens Bedrängnis und Verdruß mancher Art, und deshalb wurden sie ihnen Gegenstand eines ehrfurchtsvollen Mitleids. Die Jugend kommt meistenteils gut aus der Hand der Natur, deshalb ist ihr eine zärtliche Teilnahme an den Leiden älterer Personen gar nicht so fremd, wie die Liebhaber der Erbsünde meinen. Nur verschwindet das Mitleid rasch aus der Erinnerung, wenn das Leiden aufhört. Hier aber waren dauernde Bekümmernisse und deshalb bildete sich auch die sympathetische Empfindung stationär aus und gab dem ganzen Verhältnisse eine eigene warme Färbung.

Patriarchalischer, als jetzt, war mithin die Gewalt in der ecclesia pressa des damaligen deutschen Hauses. Auch nach außen machte sich dieser patriarchalische Charakter geltend. [88] War gleich von einer früheren noch größeren Herbigkeit des Regiments schon viel abgeschliffen, so standen doch noch manche Ecken und Kanten da, die jetzt sonderbar auffallen würden. Im allgemeinen galt der Grundsatz, daß die Kinder der Eltern Eigentum seien, und daß ein jeder mit seinem Eigentume schalten dürfe, ohne daß andere Einspruch zu erheben, das Recht besäßen. Nichts Seltenes war es, daß die Eltern, gleichsam um ihr Eigentumsrecht durch untrügliche Zeichen abzustaben, die Kinder durch seltsame Kleidung oder andere Auffälligkeiten auszeichneten. Varnhagen erzählt, daß ihn sein Vater als Türke habe gehen lassen. Dieser Zug gehört nun allerdings einer älteren Periode an. Aber auch ich erinnere mich noch mancher Dinge ähnlicher Art. So wohnten zwei Familienväter als nächste Nachbarn nebeneinander, deren Eigentumseifer gleich groß war, sich aber verschieden äußerte. Der eine hatte fünf rasch aufeinander gefolgte Knaben. Diese ließ er eines Tages plötzlich völlig uniformiert in rote Jacken mit blauen Samtkragen und Silberstickerei und in gelbe Nankinghöschen stecken, in welchem schreienden Putze sie dann wie Jockeis verjüngten Maßstabes auf der Straße umherwandelten. Der andere gestattete an dem Haupthaare seiner Kinder nicht Schere noch Schermesser. Sie mußten ihre Mähnen bis auf die Mitte des Rückens hinabwallend tragen, obgleich keines etwa besonders schönes Gelock führte, sondern alle nur sogenannte Lichtspieße, an denen nichts zu schonen war. Dergleichen würde nun jetzt manche Verwunderung erregen, damals aber unterlag es keiner Zensur.

Freilich gab es auch manches Haus, in welchem die weichliche Erziehung herrschte, über die Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« zürnt, und Tieck in der »Verkehrten Welt« spottet. Es fehlte nicht an diesem und jenem Ehepaare Rabe, welches die »verehrungswürdigen Kleinen« zu den Gebietern des Hauses erhob. Aber auch diese Abirrungen verloren sich nicht aus dem patriarchalischen Gebiete, dessen Kennzeichen darin bestehen, daß der Untergebene etwas tun muß, oder sich erlauben darf, weil der Vorgesetzte, bloß durch sich und seinen Willen bestimmt, [89] ihm gebietet oder verstattet. Es waren schwächliche Despoten, solche Eltern, wie sie aber in größeren Verhältnissen auch vorkommen, wo dann Weiber oder Eunuchen herrschen, ohne daß gleichwohl dadurch der Despotismus in das Repräsentativsystem oder in den Liberalismus umschlüge. Unter solchen Einflüssen entstehen Ungezogenheiten, die Widerstandslust wird genährt, und es kann bis zum offenen Aufruhr kommen; aber alles bleibt in der Sphäre Absaloms und Davids. Der moderne Geist, der die Familie zu durchziehen angefangen hat und dem jetzigen jungen Geschlechte zeitig die Ahnung gibt, daß ihm gegen das ältere Rechte zustehen, daß beide sich unter der Herrschaft eines gemeinsamen Begriffs befinden, war jener verkehrten Welt fremd.

[90] Pädagogische Anekdoten

Ich für meine Person bin in der allerstrengsten Weise auferzogen worden, und da das, was ich erfahren, wie eine Spitze des alten Systems sich ausnimmt, so will ich einige Erinnerungen mitteilen. Die eine gehört noch fast dem Kinder- die andere dem Knabenalter an. Die dritte fällt in meine akademische Zeit.

Seit meinem zehnten Jahre entbrannte in mir ein Lesehunger, der sich lange fortsetzte und den ich jetzt mir hin und wieder wünschen möchte. Diese Krankheit erscheint fast in allen Kindern, welche mit einigem Talent ausgestattet wurden. Der bloße Anblick eines Buches versetzt das damit behaftete Kind in eine Art von zitternder Begierde, die weniger die Stillung einer eigentlichen Neugier sucht, sondern aus der ersten Ahnung von dem unermeßlichen Reiche des Wissens entspringt. Nur im Gedruckten, was es auch sei, lebt und webt das junge Geschöpf, die entlegensten Winkel werden aufgesucht, um die geliebte Speise in Muße verzehren zu dürfen, frühe Morgen- oder späte Abendstunden bringen keinen Schlaf in das nach den Lettern verlangende Auge.

Ich las, wessen ich nur habhaft werden konnte und genoß die seligsten Stunden bei dem, was ich verstand und – nicht verstand. Reisebeschreibungen, Biographien, Romane, Schauspiele wurden verschlungen. Aber auch das, was für meine Jahre von keinem Interesse sein konnte, war mir eine genehme Kost; ich arbeitete mich durch den ganzen weitschichtigen Abbé de la Pluche hindurch und sogar durch drei Bände von schlesischer Landwirtschaft, die ich mir aus des Vaters Bibliothek zu verschaffen gewußt hatte. Ich war unglaublich fertig im Schnellesen und ein nicht gar zu dicker Band kostete mich selten mehr als einen Tag.

Mein Vater aber, dem diese Wut gefährlich für die Sinne und Phantasie seines Sohnes vorkommen mochte, erließ [91] plötzlich das geschärfteste Edikt, daß ich nichts mehr lesen solle, als was er mir in die Hand gebe, worauf mir denn von ihm schmale Portionen zugingen, wöchentlich etwa ein Buch, meistenteils Reisen.

Daß eine solche Untersagung, die in den vollen Wachstum des Naturtriebes einschnitt, nichts verfing, war natürlich. Ich befriedigte meine Gelüste nun heimlich, wie es nur immer angehen wollte, nur noch glücklicher im verbotenen Genuß. Eines Tages saß ich denn auch im stillen Hinterstübchen, hingenommen von einer alten Schwarte und meines Wähnens völlig sicher. Die Lektüre war eine völlig unschuldige; ich las in einer Wiener Übersetzung vom Jahre 1720 oder da so herum »des christlichen Märtyrers Polyeukt aus dem Französischen des Herrn Peter Corneille«. – Polyeukt will sich taufen lassen, dann will er doch wieder nicht, weil seine Gemahlin schlechte Träume gehabt hat, und dann geht er doch mit Nearch ab, sich taufen zu lassen. Paulina, die Gemahlin, erzählt Stratonicen, daß sie Severen geliebt habe; aber:


Bei aller großen Brunst, die er und ich auch hatten,
Von meinem Vater nur erwartet ich den Gatten,
Wen er mir geben möcht, zu freien stets bereit ...

Auch sie sagt, wie schlecht sie die Nacht geschlafen habe. Felix, der Landpfleger, kommt und meldet seiner Tochter, Sever, der alte, totgeglaubte Galan, lebe und sei vor den Toren von Melitene; sie müsse ihn durchaus mit Höflichkeit empfangen, da er ein großes Tier bei Hofe geworden sei. Paulina will nicht. Da sie aber eine Komposition von Tugend und Gehorsam ist, so wirkt der Vater mit seinem Ansehen auf die letzteren Spezies; und Paulina ruft:


Ja denn! Ich muß von neu'm bezähmen mein Gefühl,
Bin Eures Machtgebots ergebnes Opferspiel!

Bei diesen verhängnisvollen Worten ergriff mich die Nemesis. Ich hörte meinen Namen mit dem bekannten erschütternden Tone hinter mir rufen, erschrak, der christliche Märtyrer flog, wie sein Kopf im späteren Verlauf der Tragödie, [92] blitzschnell unter den Tisch; ich wandte mich, mein Vater stand in der Kammer. Er sagte nichts, deutete nur mit dem Finger nach dem Buche, ich erhob es, reichte es ihm dar, ungefähr mit der Empfindung im Herzen, die ich nachmals, da ich den Polyeukt ohne Furcht lesen durfte, an Nearchen kennenlernte, als er nicht so rasch, wie der Held, in jene Ewigkeit einzugehen wünscht. Mein Vater sah das Titelblatt an, steckte das Buch zu sich, unbeweglich blieb sein Antlitz, kein Vorwurf überschritt die Lippen, schweigend verließ er die Kammer. Ich wußte aber, was es an der Zeit sei, noch ehe ein Dritter kam, der mir ankündigte, der Vater habe als Strafe festgesetzt, daß ich heute und morgen und übermorgen für mich bleiben solle und nicht am Tische der Eltern essen dürfe. Diese Ehrenbuße war mir die empfindlichste; aber weder meine Tränenklage noch die fürbittende Vorstellung des wohlwollenden Dritten, daß jener armenische Blutzeuge unter Kaiser Decius wohl unmöglich meine Einbildungskraft habe vergiften können, vermochte sie zu wenden. Es blieb bei der Sentenz und sie kam ohne Milderung zur Vollstreckung, denn mein Vater dachte, wie der große Kurfürst:


Ich will, daß dem Gesetz Gehorsam sei.


Mehrere Jahre waren vergangen, aber eine zweite heftige Neigung, die mich von früh an peinigte, hatte sich nicht besänftigt. Alles Dunkle, Geheimnisvolle, Umhüllte reizte mich über die Maßen. Schon als Kind zerlegte ich Spielzeug, um die Maschinerie zu erkunden, welche da draußen hüpfende Lämmer, hackende Bauern, tanzende Schäfer hervorbrachte. Pflanzen, die mir auffielen, wurden mit dem anhangenden Erdreich aus dem Boden gehoben, um das Wurzelgeflecht und die dazwischen wimmelnde Würmerwelt anzuschauen. Versiegelte Pakete alter Skripturen, die ich irgendwo gesehen, kamen mir nicht aus dem Sinn und galten mir für die Bewahrer merkwürdigster Geschicke, hinter jeder zugeschlossen gehaltenen Türe witterte ich in Gelassen, die mein Fuß noch nicht betreten hatte, die größten Entdeckungen. Genährt wurde dieser Drang durch das düstre winklichte [93] Haus, in dem wir wohnten, und durch das Alter des Vaters, hinter dem eine so lange Vergangenheit sich ausbreitete.

Besonders war der finstere Oberboden des Hauses der Schauplatz meiner Spürwanderungen. Es stand allerhand Gerät und Gerüll dort umher, das Sparrenwerk sah so sonderbar aus, mein Vergnügen war, die verblichenen Schirme und Tapeten, die sich dort befanden, zu mustern, ich durchkroch ihn häufig in allen Richtungen und ließ keinen Winkel unbesucht, wobei ich mich an manchen Balken stieß.

Nun brachte mich aber eine Bodenkammer, welche nie aufgetan wurde, fast zur Verzweiflung. Es hieß, daß der Vater darin allerhand Sachen aus der Zeit vor seiner Verheiratung aufbewahre. Was hätte ich darum gegeben, in die Kammer einzudringen! Ich suchte die Öffnung mit klugen Redeweisen zu veranlassen; es war aber umsonst. Oft lag ich mit dem Auge am Schlüsselloche, konnte aber nichts erspähen, als eine unmäßig große Vache, welche von der Decke herabhing und die Aussicht versperrte.

Wir wollten ins Mansfeldsche zum Oheim reisen. Im Hause wurde gepackt; ich trieb mich im ersten Stock in der Nähe der Bodentreppe umher. Eine Magd stieg diese empor, ich hörte oben aufschließen, nicht wieder zuschließen, die Magd kam herunter, einen Koffer mühselig hinter sich herzerrend, dem vermutlich ein anderes Reiseerfordernis aus der Kammer nachgeholt werden sollte. Nun war der lang ersehnte Augenblick gekommen, der denn auch atemlos benutzt wurde. Ich war im Nu oben und in der Kammer. Die Zeit war kostbar, ich hielt mich daher bei der Vache nicht auf, die wie der Schlauch des Aeolus geschwollen da schwebte, noch bei den Billiardqueuen, der eingelegten Armbrust, der Windbüchse, den Jagdtaschen und einer purpurroten Wildschur, sondern schoß auf ein Repositorium zu, welches in der dunkelsten Ecke des spinnenvollen Raums stand. Da lagen in den Gefachen umschnürte Pakete über Paketen, buntes Gequäst und Getroddel, Glaskästen und Wachsfiguren drinnen, ausrangierte Dosen und schadhaft gewordene [94] Perlemutterfutterale. Aber von einem unteren Brette strahlte mir in mattem Glanze etwas entgegen; danach streckte sich meine Hand aus, denn ich war überzeugt, daß das der eigentliche Hort dieser Zauberhöhle sei. Ich hielt einen zinnernen Becher von mäßigem Umfange mit Fuß und bauchiger Wölbung zwischen den Fingern und entfernte mich eiligst mit meiner Beute. Auch im Hause hielt ich mich noch nicht für sicher, suchte mir vielmehr vor dem Tore einen abgelegenen Platz zwischen den Elbweiden, um die Art des Talismans zu erprüfen.

In der Tat war derselbe von einer Beschaffenheit, die auch wohl die Aufmerksamkeit eines anderen als eines Knaben rege machen konnte. Ringsherum nämlich und von oben bis unten sah ich in gleichmäßig abgeteilten Quadraten über fünfzig Schildereien eingegraben, und dem Auge kaum lesbar französische, lateinische, deutsche Verse darunter. Die Gegenstände derselben waren zwar äußerst verschiedenartig; ein Mann mit der Krone auf dem Haupte in Fesseln, ein Schiff, von den Wellen umhergeworfen, ein in die Höhe gewachsener Kürbis, ein Baum, an dessen Wurzel der Fäller hockte, Prometheus mit dem Geier, Tantalus, Ixyon, die Furien, Hunde, die den Hirsch verfolgten, und noch vielerlei mehr aus der Natur, der Geschichte, dem Fabelkreise. Aber nachdem ich einige Unterschriften entziffert, und die Darstellungen untereinander verglichen hatte, erkannte ich, daß ihr Zweck nur einer und derselbe sei, nämlich in wechselnden Bildern das traurigste Geschick zu versinnlichen.

Diese Konjektur fand in einigen vergilbten Blättern, die in dem Becher lagen, Bestätigung. Sie waren ganz mürbe. Mit ausgeblaßter Tinte bekannte darin jemand, der sich aber nicht nannte, daß er die Arbeit zur Erheiterung seiner jammervollen Stunden vorgenommen habe. Jede Schilderei wurde nummerweis beschrieben, die Unterschriften hatte der Unglückliche auf dem Papiere wiederholt. Da war er gekrümmt in schweren eisernen Banden und hatte keine Ruhe, wie Manasse, der König von Juda, als er gefangen saß zu Babel; seines Lebens Schiff war hin und her gestürmt worden und endlich untergegangen. Stolz und verwegene Wünsche [95] hatten in ihm getrieben, wie die Ranken am Kürbis des Propheten Jonas, auch an seine Wurzel war die Axt gelegt, auch an seiner Leber nagte der Geier, die Qualen der Unterwelt, welche der Verfertiger abgebildet hatte, die Furien, waren ihm nicht fremd, tausend Sorgen verfolgten ihn wie Hunde den Hirsch.

Die Arbeit war äußerst fein aber nur sehr flach eingegraben, sie ließ auf ein Instrument wie eine Radiernadel schließen. Auch darüber belehrte das alte mürbe Papier. Mit einem spitz abgeschliffenen Nagel war, so sagte der Unbekannte, das Leidenswerk vollbracht worden.

Da saß ich nun mit meinem Zauberbecher zwischen den grauen Weiden und zerbrach mir den Kopf. Daß er eine Kerkerarbeit sein mochte, konnte ich aus dem Könige in Ketten, sowie aus manchen andern Anspielungen schließen, auch daß der Gefangene eine Person von Stand und Bildung gewesen war, verrieten die Bilder und ihre Unterschriften. Aber wer in aller Welt war er gewesen? Welches entsetzliche Schicksal hatte ihn in den Abgrund solches Elends hinuntergestoßen? Und wie kam mein Vater zum Besitze dieses Schmerzensdenkmals? – Ich rieb an ihm, wie Aladdin an der Lampe; es erschien aber kein Geist, das Geheimnis zu offenbaren; endlich ergriff mich, als die Sonne sank, unter den einsamen, traurig flüsternden Stämmen, den Wellen der Elbe gegenüber, die auf dem nassen Sande zu meinen Füßen andringlich ihre Schaumkreise absetzten, ein Grauen; ich schüttelte mich und eilte mit dem gefährlichen Kleinode unter dem Tuche nach Hause.

Die Reise in das Mansfeldische, sonst eine Jubelfahrt für die Kinder, konnte nun meine grübelnden Gedanken nicht zerstreuen; ich schlich mich, sooft es unbemerkt geschehen konnte, beiseite, und dachte über meinen Becher nach, der mir allmählich der Kern einer romanhaften Geschichte zu werden begann. Wir kehrten zurück und meine geheimen Aufregungen dauerten fort. Niemandem sagte ich etwas von der Sache, weder meinen Geschwistern, noch meinen vertrautesten Schulkameraden. Sie blieb mein teuerstes aber auch mein quälendstes Eigentum. Ich war etwa vierzehn [96] Jahre alt, also schon fähig, zu kombinieren. Eine Erzählung von der Eisernen Maske fiel mir in die Hand, hier fand meine Entdeckung Grund und Boden in einem rätselhaften Geschicke anderer Zeiten; ich meinte, der Becher möge wohl von einem ähnlichen Staatsgefangenen herrühren, und hatte nicht übel Lust, meinem Vater in einer uns verborgenen Periode seines Lebens die Rolle des Gouverneurs von der Insel St. Margareta zuzuteilen.

Es wäre nun wohl das kürzeste gewesen, ihm meinen unschuldigen Raub zu gestehen und ihn um den Zusammenhang zu befragen. Denn unschuldig war der Frevel im höchsten Grade gewesen; ich hatte den Becher bei der ersten günstigen Gelegenheit wieder an seinen Ort zu bringen mich beeifert, da mir nichts im Sinne gelegen, als die Stillung meiner Wißbegier. Aber keine menschliche Macht hätte mich zu einem solchen Wagnis bewogen. Ich wußte, daß mein Vater mir nichts tun würde, da er nur mit Blicken und kurzen Worten zu wirken pflegte. Die Gewalt dieser Blicke und Worte war aber für uns so mächtig, daß wir uns mehr davor fürchteten, als andere Kinder vor den härtesten Strafen. Ich blieb also lieber gepeinigt und unaufgeklärt. Erst weit später, in fremdem Lande, durch einen launischen Zufall, erfuhr ich, was ich damals so vergeblich forschend betrachtet hatte.

Im April 1813 bezog ich die Universität Halle. Mein Vater hatte, in dem sehr richtigen Gefühle, daß Lebensabschnitte die besten Früchte tragen, wenn der neue Boden unvermischt gelassen wird, festgesetzt, daß ich ein ganzes Jahr lang nicht nach Hause kommen und die ersten Ferien zu einer Reise nach Thüringen und Franken benutzen solle.

Die Honigmonate meiner jungen Freiheit, welche mit den blutigen Rosenmonaten der deutschen Freiheit zusammentrafen, waren süß. Nach Giebichenstein und Crellwitz wurde allabendlich gepilgert, die Saale in Kähnen, die nicht viel breiter und sicherer waren als die Canots der Wilden, bis zur Höltybank befahren: zwischen den grünen Büschen des Giebichensteiner Gartens oder unter den Felsen von Crellwitz lagerte sich die junge Horde, seelenvergnügt bei der [97] schmalsten Kost, und dort ging uns Tiecks Gestirn auf, welches wir eben kennengelernt hatten und das uns mit unsäglicher Freude erfüllte. Wirklich stieg da die wundervolle Märchenwelt uns auf in der alten Pracht und wie oft stürmten wir jauchzend über den Jäger im »Runenberg«, über den Kater, die Studenten Löwe und Tiger, das Rotkäppchen und den König Gottlieb in mondbeglänzter Zaubernacht, die den Sinn gefangenhielt, heim! Über diese Anregungen hinaus ragte noch eine andere Erscheinung der edelsten Schönheit. Die weimarische Gesellschaft, damals in der höchsten Blüte, spielte in Halle und so erlebte ich etwas, was unschätzbar in eines Menschen Geschick ist; nämlich, der völlig offene und unentweihte Sinn wurde gleich von einem Höchsten in seiner Art entzündet.

Ich fühlte mich seit meinen ersten Kinderjahren leidenschaftlich zum Dramatischen hingezogen, man kann aber nach dem bisher Erzählten sich wohl vorstellen, daß mir der Besuch des Schauspiels eben nicht reichlich verstattet wurde. Ich war bis zu meinem siebzehnten Jahre vielleicht drei- oder viermal im Theater gewesen, und nun wurde mir, der ich durch etwas Falsches noch nicht geirrt worden war, diese Offenbarung des Feinen, Würdigen, diese Musik des Vortrags, dieser Reigentanz des Gangs und der Gebärden, dieser Äther der Poesie, wodurch der große Dichter seine Anstalt zum Abdruck der eigenen harmonischen Brust gemacht hatte. Von Vergnügen war da nicht die Rede, sondern entzückt war ich und verzückt, die alte Kirche, worin man die Bühne eingerichtet hatte, war mir eine geweihte Halle und die Andacht zum Gottesdienste des Wortes, welcher darin seine Stätte fand, flammte vermutlich brünstiger, als die frühere des Orts. Formgebend für meine ganze spätere Zeit sind diese Eindrücke gewesen, was ich an einem anderen Orte näher darlegen werde.

Für jetzt muß ich sagen, daß der Student denn doch auch studierenshalber sich auf der Universität befindet. Und so waren Logik, Metaphysik, Institutionen, Naturrecht sehr gewissenhaft angenommen und bezahlt worden, wurden auch nach Gelegenheit besucht. Regelmäßig hörte ich dagegen [98] Schütz über Horazens »Episteln« und die »Frösche« des Aristophanes. In diesem Collegio stellte sich gleichfalls zu jeder Stunde ein feiner, blasser Mann im erbsengelben Oberrock, das Buch, wie wir anderen Schüler unter dem Arme, ein, der uns am Abend als Posa, Don Manuel, Wiburg, Klingsberg hinriß oder zu lachen machte. Es war Wolff. – Zu Hause las ich daneben fleißig im Tacitus, der mir immer der Nächste unter den römischen Schriftstellern war und geblieben ist.

Aber zwischen alle diese Freuden und Lustigkeiten, zwischen den Ernst und Jubel einer sich zum ersten Male fühlenden Kraft trat plötzlich der Mann, welcher damals den Königen wie dem letzten Bauer zu schaffen machte. Der Aufstand der Jugend in den Landstrichen links der Elbe fand zwar in Masse erst nach der Schlacht bei Leipzig statt; aber dennoch war von Halle schon vor dem Schlusse der Kollegien im März 1813, angefeuert durch geheime Sendboten aus Berlin, eine beträchtliche Schar zu den preußischen Fahnen aufgebrochen; meistenteils zu dem Lützowschen Freikorps. Nach dem Sturme durch Kleist im April waren die siegenden Preußen von den Einwohnern mit Jubel empfangen worden. Man wußte, daß Napoleon das eine, wie das andere wisse, und es schwebte daher in den ersten Sommermonaten eine Gewitterluft über der Universität, die freilich uns junge Leute wenig angriff. Auch hofften die Vorstände und Behörden noch durch Mittelspersonen von Einfluß den Schlag abwenden zu können.

Auf einmal verkündeten während des Waffenstillstandes und, wenn ich nicht irre, noch im Juli die Zeitungen, der Kaiser werde in den nächsten Tagen von Dresden abreisen und Niedersachsen, besonders Magdeburg in Augenschein nehmen. Wir Studenten achteten dessen wenig, denen aber, die etwas zu verantworten hatten, mag übel zumute geworden sein, denn Halle mußte von dem Strahle dieser Reise berührt werden.

Ich wollte eines Vormittags mir aus den Institutionen das [99] Nötige über die Falcidische Quart holen, fand aber statt eines gesammelten Auditoriums nur einen Haufen unruhiger Kommilitonen, denen der Fiskal eben angekündigt hatte, daß nicht gelesen werde. Auf ferneres Befragen eröffnete er uns, daß der Kaiser soeben der Universität eine andere und zwar eine tödliche Quart versetzt habe. Die Universität war nämlich aufgehoben, oder hatte, wie der damalige Kurialstil lautete, aufgehört zu sein. Napoleon war in der Nacht an Halle durchpassiert, hatte draußen vor dem Tore umspannen lassen, die akademischen Behörden, die ihm ihre Aufwartung machen wollen, heftig angelassen und ihnen unter schweren Drohworten für ihre Personen kurzweg erklärt, er brauche keine Studenten, sondern nur Soldaten und Bauern. Er war darauf, wie der Dämon, in das Dunkel entschwunden, in der Frühe aber hatte ein offizieller Aufhebungsbefehl aller Ungewißheit ein Ende gemacht.

Die Professoren hingen die Köpfe, die Logik kam nicht bis zu den Schlüssen, die Metaphysik blieb in der Ontologie stehen, Professor Hoffbauer konnte sich, ungestört vom Naturrechte, der alleinigen Beobachtung seiner Hunde widmen, die Scherze des alten Schütz gerieten unter Schloß und Riegel. Die Studenten bezahlten ihre Wirte, oder bezahlten sie auch nicht, und reisten ab, die Weimaraner gingen nach Weimar zurück, die Fridericiana wurde wüst und leer. Ich glaubte, für so außerordentliche Umstände sei der Befehl meines Vaters nicht gegeben worden, und da ich überdies nicht wußte, was ich an einem Orte ferner solle, wo es keine Vorträge mehr gebe, so machte ich mich auf den Weg, und wanderte zu Fuß im stärksten Sonnenbrande die staubige Chaussee nach der Heimat hinunter. Sobald ich aber unser Haus betreten hatte, überfiel mich die Ahnung, daß ich auf gefährlichem Boden stehe. Beklommen erwartete ich die Rückkunft meines Vaters, der sich in seinen Geschäften auf der Präfektur befand. Als er kam, trat ich ihm begrüßend entgegen. Er maß mich mit seinen Augen, lehnte die Annäherung ab und sagte mit festem Akzent: »Ich habe dir verboten, während des ersten Jahres nach Hause zu kommen. Du wirst dich hier ausruhen; wenn das geschehen, aber [100] zurückkehren, wohin du gehörst und für dich studieren, bis ich über dich anderweitig bestimmt habe.«

Dabei blieb es denn auch. Ich verweilte zwei Tage in Magdeburg, bestand vor meinem Vater ein juristisches Tentamen und kehrte dann in die Lücke zurück, welche eine Hochschule früher ausgefüllt hatte. Die Einsamkeit, in welcher ich nun gegen zwei Monate leben mußte, ohne Verwandte, Freunde, Ratgeber an einem fremden Orte in so jungen Jahren, hatte etwas von manchem Callotschen Bilde, auf welchem sich Hexen, Teufel und Fratzen umherjagen. Fouqués »Zauberring« hatte ich zu lesen bekommen, Arnims »Gräfin Dolores« und »Ahasver«, Brentanos »Ponce de Leon« und noch anderes, was dieser hyperromantischen Richtung angehörte. Ich fing an, mich bei hellem Tageslicht vor Gespenstern zu fürchten. Die wimmelnden, spukhaften Gestalten huschten durch mein weites ödes Zimmer in dem stillen Klügelschen Hause, dazu goß der Regen im August in Strömen herab und bannte mich vollends in jene phantasmagorische Stubenatmosphäre. Ich weiß nicht, wohin diese Eremitenlage mich noch gebracht haben würde, wenn nicht die Tage vor der Leipziger Schlacht dem ganzen Wesen ein Ende gemacht hätten. Die allgemeine Bewegung, welche nun unsere Gegenden ergriff, riß mich auch fort und trieb mich in die Wege, welche so viele andere gingen. Ich machte eine größere Reise, als mein Vater sie für mich im Sinne gehabt hatte. Und auch nach dem von ihm gesetzten Probejahre sollte ich ihn nicht wieder erblicken. Er starb in der durch Tauentzien belagerten Festung, während ich im Felde war.

Jene Strenge, nur noch um einiges gesteigert, würde an Titus Manlius im Latinerkriege erinnern können. Dennoch habe ich mich nicht gescheut, von ihr zu erzählen, denn meine Worte sollten dem ehrwürdigen Schatten, den ich in meinem Gedächtnisse heraufbeschworen, ein frommes Opfer darbringen.

Es ist ein Gemeinplatz, womit man eine straffe Behandlung junger Personen rechtfertigen will, daß man sagt, wer dereinst das Befehlen verstehen solle, müsse erst haben gehorchen lernen. Man reicht damit nicht weit. Denn nicht [101] jeden bestimmte sein Schicksal zum Befehl, auch machen sich die meisten und die wichtigsten Dinge in der Welt ohne Heischen und Gehorchen.

Aber leben soll ein jeder lernen, und am Leben sich orientieren. – Wie nun nichts schwerer ist, als durch die platte, gegenstandslose Ebene den Weg zu finden, dagegen im Gebirg, Fels, Kuppe und Waldwasser dem geübten Auge bald Richtung und Richtsteg zeigen, so geht es auch im Geistigen und Sittlichen zu. Der Mensch lernt nur von Gegensatz und Schranke, die ihm entgegentreten. Je schroffer und kantiger diese sind, desto früher bildet er sich, nachgebend oder sich widersetzend, ein festes Knochengerüst des Lebens aus, welches dann doch kein dürres Skelett bleibt, sondern die Umkleidung mit weichem Fleische, die Verhüllung unter schönen Formen wohl verträgt. Die unbestimmte Denkungsweise, welche vermitteln will, wo es nichts zu vermitteln gibt, die uneinbarsten Gegensätze in ein und dasselbe Netz der Begriffe einzufangen trachtet, alles halb anfaßt, weil sie alles nur halb sieht, diese Denkungsweise, aus der wir im öffentlichen, wie im Privatleben so unzählige Mißgriffe haben entspringen sehen, bequem der natürlichen Trägheit des Menschen, wird von dem ferngehalten, dessen Bewußtsein sich entwickelte am Gewahrwerden einer unbesieglichen Duplizität, der früh lernte, daß es ein Widerhaltiges und Übermächtiges gebe, welches keinem Begriffe sich fügt, und der beizeiten scharf um sich sehen mußte, um einer fremden Willensgewalt gegenüber an den Dingen eine Stütze zu finden.

Strenge Erziehung ist daher ein Segen und eine Ausstattung für alle Tage. Der, dem sie wurde, erlebt in sich die Erziehung des Menschengeschlechts, in welcher das Geheiß, Isaak zu opfern, und der Gesetzesdonner vom Sinai auch frühere Stufen waren, als das sanfte Joch des Menschensohnes. Sie richtet ihm sein Lebensgebiet zu einem Gebirge mit festen Umrissen zu und macht ihn selbst zum Gebirgsmanne, während ein weiches und breiartiges Element leicht in die Ebene verlaufen macht, darin die stumpferen und langsameren Stämme wohnen.

[102] Freilich muß die Strenge, wenn sie wie etwas Heiliges auf die Jugend wirken soll, durchdrungen sein von der Reinheit, die an sich selbst auch keinen Flecken duldet, von der Liebe, die wie ein milder Quell aus den schroffen Felsen des Charakters bricht, und von der Kraft, sein Dasein für die der Zucht Unterworfenen opfern zu können. Alles das hatte ich neben und über allem Zwange anzuschauen, und deshalb darf ich sagen, daß durch jene altrömische Art mir vorbereitet worden ist, später von manchen Irrstegen mich wieder in die Straße zu finden. Sie mag der Gegenwart allerdings fremd und schauerlich genug vorkommen.

[103] Der Oheim

Ich habe die früheren Abschnitte mit Federn geschrieben, welche kurze Spalten hatten und vorn mehr breit als spitz abgekappt waren, gegenwärtig schnitt ich mir ein halbes Dutzend mit langen Spalten und nachgiebigen Spitzen. Einige darunter haben auch Zähne.

»Wozu diese kleinliche Bemerkung?«

Dazu, Herr Doktor, um Ihnen zu erklären, warum »Mein Oheim« anders geschrieben wird, als der »Avisbrief« und auch anders als die Knabenerinnerungen und die Familie.

»Sie hangen also von Ihrer Feder ab?«

Jawohl, Herr Doktor, sie ist ja mein Handwerkszeug. Der Jäger hängt von seinem Gewehr ab, der Fischer von seiner Angel, der Kaufmann von seinem Gelde, der Schneider von seiner Schere, der Philosoph von seinem System, der Aristokrat von seinem Rittertum, der Offizier vom Exerzierreglement, der Pietist von seinem Herrgott. Es hängt alles in der Welt von seinem Handwerkszeuge ab und die rechte Kunst besteht nur darin, das Handwerkszeug immer in gutem Stande zu erhalten, oder vielmehr in dem Stande, wie er sich für das gerade vorliegende Geschäft schickt.

Manches Handwerkszeug ist einfacher Art, zum Beispiel das des Philosophen, des Aristokraten, des Pietisten. Wird das System, das Rittertum, der Herrgott nur jeden Samstag blank gescheuert, so können damit jene Ouvriers schon wieder eine Woche lang zurechtkommen, der Philosoph kann das Leben in seiner Mausefalle einfangen, der Aristokrat sich blähen und bei Gelegenheit Speichel lecken, der Pietist Engelchen greifen, die Komödie verdammen und mit Gottes Hilfe Rehbraten essen. Beschwerlicher schon hat es der Schneider, er braucht große und kleine Scheren, der Jäger gar ist Büchsen benötigt und leichter Flinten, auch Schrotes [104] von verschiedenen Nummern, am meisten aber ist ein Sittenschilderer mit seinem Handwerkszeuge geschoren. Er muß Schwanenfedern haben, Rabenfedern, Stahlfedern, harte, weiche, stumpfe, spitze Federn, zuweilen auch Federn mit Zähnen, wenn die Sitten danach sind.

»Mein Geist regiert meine Feder.«

Deshalb wächst auch auf Ihren Domänen nur Windhafer.

»Sie scheinen des trockenen Tones satt, und der großen Verheißungen in der Einleitung müde zu sein.«

Nein, Herr Doktor. Aber der Weltgeist stimmt keinen trockenen Ton an, er schlägt zu gleicher Zeit alle Töne an, von dem Brummbaß der Kanonen bis zum Diskant der Pickelflöten hinauf, er stellt in demselben Salon Schlachtstücke und Farcen aus, er ist der moderne Tragiker, der auch in den ernstesten Katastrophen dem Grazioso seine Mission erteilt.

Ein Mann, der im Begriff ist, de bonne foi an seinen Schreibtisch zu treten, setzt sich weiter gar nichts vor, als die Feder gerade so zu schneiden, daß sie den Ton ungefähr treffen kann, den der Weltgeist bei der und der Passage anschlug. Die in der Dämonologie Erfahrenen wollen aber behaupten, in die Hand führen bei dieser Aktion allerhand Geisterlein, magnetisierten das Messer und von diesem aus den Kiel.

Zuweilen steckt der Weltgeist die Könige in das bunte Kleid. Karl der Zehnte hatte es an, als er bei schönem Abendwetter im Juli 1830 auf den Balkon seines Schlosses trat, sich des sanften Windes erfreute und sprach: der ist gut für meine Flotte von Algier. – Er gemahnt uns, wie Falstaff, da er im Garten des Friedensrichters Schaal war, von Pistol die fröhliche Botschaft empfing und ausrief: »Laßt uns Pferde nehmen, wessen sie auch sind; die Gesetze Englands stehen mir zu Gebote!« – Ich habe es nicht mit einem Grazioso so vornehmen Rangs, auch mit keinem, der Ordonnanzen brütete, oder nach fremden Pferden verlangte. Mein Grazioso war ein Bürgerlicher und ein Unschuldiger, aber ein Grazioso war er doch inmitten der großen Welttragödie und des ernsten Familiendramas.

[105] Er gehörte zu den Artikeln, die auf dem Lager nachgerade ganz eingegangen sind. Jede einigermaßen wohlassortierte Familie vor dreißig, vierzig Jahren besaß mindestens ein solches Exemplar, winklicht, in allerhand Spinnweben verfangen, kunterbunt. Wo sind sie geblieben? Wo ist die Komik des Lebens geblieben? Der Teufel hat sie nicht geholt. Der Verstand entführte sie. Das Lächerliche ist nach der noch immer brauchbarsten Definition ein Kampf mit dem Verstande; lange stand das Treffen im Gleichgewicht, endlich hat der Verstand gesiegt und die Triebe, Neigungen, Gedanken, die ihm das Widerspiel hielten, in den Sack gesteckt.

Es wurde sonst einem armen Teufel, wenn er auch mehr als gewöhnlichen Mutterwitz besaß, so schwer gemacht. Ein Poet, ein Nichtphilister war ein Familienunglück. Was sollten sie beginnen, wenn sie nicht geradezu Genies waren? Sie gingen unter die lächerlichen Figuren, wurden Sonderlinge, zuletzt komische Alte. Wo ist die Wiese, das Feld, der Wald für den Nachwuchs heutzutage? – Den ärmsten Teufeln wird es jetzt so leicht gemacht. Meistenteils sind komische Figuren verdorbene Talente. Woher sollen sie sich rekrutieren in einer Zeit, die nicht einmal ein Talentchen umkommen läßt, sondern bei jedem Quentlein Witz, Phantasie, Wissen gefällige Hebammendienste leistet? Seht die Legion junger Doktoren der Philosophie, auf einige Schulbrocken etabliert, von denen doch jeder noch sein Auditorium findet, den Froschlaich der Versemacher mit dem adäquaten Verleger ***, die großen Farbenkasten, Akademien geheißen, voll mittelmäßiger Maler, die nichts vermögen, als ihre Modelle abschreiben und doch diese Munda als Bilder verkaufen, die Herde abgerichteter Virtuosen, die – die – ich würde außer Atem kommen, wenn ich alle jetzt zur Blüte gebrachte Keimlein vom Ysops-Range aufzählte!

Herr Doktor, Sie, dessen Geist seine Feder regiert, erzählen Sie mir bei Gelegenheit Ihre Lebens- und Bildungsgeschichte. Ich will Ihnen von meinem Oheim Yorick erzählen. Sie wissen aus Ihrem Hamlet, welches Amt Yorick bei dem alten Könige von Dänemark bekleidete. Ich versichere Sie, [106] daß Sie kein Oheim Yorick werden, auch wenn Ihre Fräulein Schwester heiraten sollte.


Mein Oheim Yorick wäre, hätte ihn ein Graf oder ein reicher Patrizier erzeugt, ihm die besten Lehrer gehalten, und ihn nachher mit Wechseln und einem Führer versehen, durch Europa reisen lassen, wahrscheinlich ein bedeutender Mann, gewiß wenigstens ein geistreicher Mäzen geworden. Da aber nur ein armer Schulrektor sein Vater war, den er noch als Knabe verlor, da er auf dem Hallischen Waisenhause über Tertia nicht hinausgelangen konnte, weil er sich sein Stückchen Brot suchen mußte, und da er dann in Europa nichts weiter zu suchen hatte, als dieses Stückchen Brot, so wurde er eben nur mein Oheim Yorick.

Ich will es machen, wie Tristram Shandy es mit seinem Onkel Toby machte, ich will ihn beschreiben, dadurch daß ich sein Steckenpferd beschreibe.

Die Art der Schilderung, welche darin besteht, daß man sagt, was ein Ding nicht sei, scheint mir eine ganz vortreffliche zu sein. Der Zuhörer hat immer ein gewisses Vakuum in der Seele, von einigen Erwartungen umrandet, und indem man nun von diesen Erwartungen eine nach der anderen absticht; etwa wie der Gärtner auf seinem Beete das Loch erweitert, darin ein Baum treiben soll, desto größer wird das Vakuum, desto heißer die Begierde, es ausgefüllt zu empfinden, desto zufriedener später das Gemüt über jede noch so mäßige Füllung.

Ich will deshalb, Herr Doktor, zuvörderst Ihr Vakuum erweitern, und Ihnen vertrauen, was meines Oheims Steckenpferd nicht war.

Mein Oheim Yorick pflegte uns Kindern, nachmaligen jungen Leuten (denn seine Erzählungen blieben verschiedene Perioden hindurch dieselben) in seiner energischen Manier zu erzählen, er habe, als er Anno 1777 aus der Pforte des Hallischen Waisenhauses in die Welt getreten sei um Ökonom zu werden, acht ostensible Stücke in seiner Ökonomie besessen und mehr nicht, nämlich 1) einen runden groben [107] Hut; 2) einen Rock von schwarzem Kommißtuch; 3) eine Weste von demselben Stoff mit zinnernen Knöpfen; 4) ein Paar kurzer, gelber, lederner Inexpressibles; (der Oheim nannte dieses Stück deutsch;) 5) ein Paar schwarzer wollener Strümpfe; 6) ein Paar Hackenschuhe mit Zinnschnallen; 7) das Hallische Gesangbuch; 8) einen Kamm. – Von diesen acht Stücken habe er aber Nummer 7, das Gesangbuch, im ersten Wirtshause liegenlassen, denn er sei sich noch mit Schauder bewußt gewesen, wie oft er daraus unter freiem Himmel bei Winterfrost, wenn ein Missionar vom Waisenhause entlassen worden, mit den anderen Knaben, halbverklommen habe singen müssen.

Der Ideenkreis, auf den sich diese Erzählung bezog, gehörte nicht zu seinem Steckenpferde, denn er trug sie jederzeit ganz grimmig und giftig vor und spuckte dabei aus.

Er hatte sich während seiner kümmerlichen Jugend durch Fleiß und Rechtlichkeit so empfohlen, daß die Sterne ihm auf einmal günstig zu schimmern begannen. Ihm wurde, als er noch in seinen besten Jahren war, die Pachtung eines großen Staatsgutes zuteil, welches unter der französischen Herrschaft in das Los des Herzogs von Dalmatien fiel. Sowohl der König von Preußen als der Herzog von Dalmatien waren ihm gelinde Pachtherrn; man sah auf den sicheren Mann und nicht auf tausend Taler Pachtschillinge mehr. Er lebte daher wie ein Farmer von Old-England bequem und aus dem vollen, sah seinen Weizen vom fettesten Boden mit Vergnügen einfahren, fuhr selbst in seinem Landauer spazieren, und legte, wenn er einhundert Taler auf die Pacht einrollte, eine ebenso große Rolle für sich zurück.

Dies war der Beruf meines Oheims, aber nicht sein Steckenpferd.

Er war ein sehr korpulenter Mann und trug in der Regel einen kornblumfarbigen Leibrock mit Messingknöpfen.

Weder der Rock, noch seine Korpulenz machte ihm aber besondere Freude. Als Steckenpferd war also keines von beiden anzusehen.

Er war der Tourist der Familie. Nach Leipzig zur Messe reiste er wenigstens alle zwei Jahre. Tief in Thüringen war [108] er eingedrungen, ja sogar einmal bis nach dem Fränkischen hin geschweift, nach Bad Liebenstein. Dort hatte er einen innerlich illuminierten Berg gesehen, wie er sich ausdrückte. Auch zum Kongresse von Erfurt im Jahre 1808 war er gereist, und mit den beiden Kaisern im Theater gewesen; obgleich er zu dieser Freude sich in seidene Strümpfe bequemen müssen, das erstemal in seinem Leben. Napoleon, sagte er, habe aus seinem Fauteuil nicht ein Auge von der Darstellung abgewendet, wovon die gleiche Aufmerksamkeit aller Zuschauer die Folge gewesen. »Wie Talma spielte«, sagte er, »das war was Krasses«; er wollte damit die Erhabenheit des Spiels bezeichnen. Wir bekamen eine Nachahmung des berühmten Tragikers von ihm zu schauen, worüber uns vor Verwunderung die Haare zu Berg standen. In diesem wiederholenden Abbilde stach besonders der mit weit geöffneten Augen, zitternden Gesichtsmuskeln, donnernder Stimme vorgetragene Ausruf: »O mon père!« hervor.

Allein er setzte seinen Reiseberichten hinzu: der Wein sei in den Gasthöfen geschwefelt, man bekomme darin nur enge und schlechte Betten, müsse von dem unausstehlichen Gedränge bei festlichen Anlässen leiden und freue sich, wenn man sein Haus wieder erblicke. Er reiste aus Pflicht, um der Gefahr des Versauerns zu entgehen, auf seinem Steckenpferde ritt er aber unterwegs nicht.

Er liebte, seinen jugendlichen Zuhörern die ungeheuerlichsten Geschichten zu erzählen von ausgetretenen Bächen, von Wolkenbrüchen, von fremdartigem Getier, welches ihm in den Wäldern um sein Pachtgut aufgestoßen. Die alte Holzzelle, so hieß das Amt, war vor der Säkularisation ein Jungfrauenkloster gewesen; der Oheim hatte bei seinem Antritt ein zugeschüttetes Verlies aufnehmen lassen und darin wenigstens ein Dutzend Skelette von eingemauerten Nonnen gefunden. Schade, daß auch kein Knöchlein aufbewahrt geblieben war, da wir so gern etwas von diesen Schlachtopfern der Klosterzucht gesehen hätten! Er besaß einen Brunnen, über dem ein eigenes Haus sich erhob, in den Felsen gehöhlt, nur mittelst eines großen Tretrades zu benutzen, von wirklich [109] schauerlicher Tiefe, aber dem Oheim genügte diese Tiefe nicht, er behauptete, es gehe da unten von dem abgründlichen schwarzen Wasserspiegel ein Kanal nach dem süßen und salzigen See bei Seeburg. Von Jahr zu Jahr versprach er, sich mit uns in den Abgrund hinunterzulassen und unter den Bergen weg nach den Seen zu kahnen. Es ist aber nie etwas daraus geworden. Endlich trug der Oheim zu öfterem außerordentliche Dinge von seiner Brautfahrt und Anwerbung vor, bei welcher Romanze jedoch die Tante, die eine sehr ernste und gehaltene Frau war, das Zimmer zu verlassen pflegte.

Diese historisch-poetischen Übungen waren ein Splitter von des Oheims Steckenpferde; aber nicht der ganze Gaul.

Mich will bedünken, Herr Doktor, Ihr Vakuum sei jetzt groß genug geworden, Sie seien beinahe ganz leer. In diese Grube senke ich meines Oheims Steckenpferd.

Das Steckenpferd meines Oheims Yorick war, Steckenpferde zu haben. Ich will mich darüber deutlicher machen.

Ein jeder Mensch sollte billigerweise eine Jugend haben und seine Jugend genießen. Es ist einer der seltsamsten Mängel in einem Lebenslaufe, wenn der rechte Schimmer der ersten Tage fehlt, man kann sagen, daß alle späteren Bewegungen des Lebens dann etwas von den Zuckungen haben, die der Galvanismus hervorruft. Was für eine Jugend nun die hatte sein müssen, welcher die Ausstattung durch die acht beschriebenen Stücke zuteil geworden war, läßt sich unschwer erraten. Und gleichwohl hatte der arme Schelm im schwarzen Waisenhäuserrock empfunden, er habe Witz, Munterkeit, Sinne, Lust zu genießen, Drang zu lernen und zu erfahren. Glückliche Menschen hatten es sich vor seinen Augen an den wohlbesetzten Tafeln des Lebens schmecken lassen, er aber war genötigt gewesen, immer seitwärts vorbeizuschleichen und sich den Mund zu wischen. Ein ärgerlichlustiger Humor, ein verdrießliches Lachen bemächtigte sich seiner Seele. Das Leben rumorte ihm in den Gliedern und warf sich ihm, da es keinen rechten Ausbruch tun durfte, auf die Nerven.

Als er daher in Fülle und Wohlleben kam, setzte er sich [110] vor, das Versäumte nachzuholen. Nicht, daß er ausgerufen hätte: Jetzt will ich jung sein! sondern es machte sich ganz natürlich. Die versetzte Kindheit und Jugend trat an ihm gleichsam wie ein Ausschlag hervor. Alle Possen, Abenteuerlichkeiten, Gelüste, Schwabenstreiche, welche andere Menschen in ihren frühen Jahren abschäumen, drangen unserem Vierziger über die Haut und waren noch nicht erschöpft, als meine Erinnerung begann, wo der Oheim denn doch sein halbes Jahrhundert hinter sich hatte. Wir lebten in protestantischen Landen und deshalb hatte er kein wunderlicher Heiliger werden können, aber ein wunderlicher Kauz war er geworden, so wunderlich, wie Natur, die Enkelin Gottes, welche vom Großvater den Ernst, von sich selbst aber die Launen hat, nur je einen zu formieren imstande gewesen ist.


Er war der Puck, der Prospero, der Graf Hoditz unserer Jugend. Wenn wir als Kinder vom Anhaltschen aus in die Mansfeldschen Berge hineinfuhren an ausgewaschenen Stellen vorbei, die uns Abgründe bedünkten, wenn wir später als Studenten die Straße von Halle her über den salzigen und süßen See hinaus gewandert waren und nun in die grüne Hügelspalte eindrangen, an deren oberem Saume Holzzelle lag, so wehte es uns aus den Wipfeln der Waldbäume, von den engen und tiefen Seitenpfaden des Forstes an wie lauter Ahnung, Lust, Freiheit. Darauf zeigte sich das weiß und rote, weite, mauerumgebene Amt mit seinen Gärten, Höfen, Scheuern und Stallungen. Das geräumige Wohnhaus, worin eine Familie mit zwanzig Kindern vollaus Platz gehabt hätte, der Oheim aber mit der Tante kinderlos horstete, tat seine gastliche Pforte auf, gab uns bunte Erinnerungen, buntere Hoffnungen. Das Amt lag ganz einsam, die nächsten Menschenwohnungen waren über eine halbe Stunde entfernt, nach Eisleben hatte man eine starke Meile. Als Fouqué Mode geworden war und wir die »Fahrten Thiodolfs des Isländers« gelesen, nein! nicht gelesen, verschlungen hatten, nannten wir im Winter das durch unwegsame Schneelager von der Welt geschiedene Paar: Oheim Nefiolf und Base Gunhild.

[111] Aber im Sommer war es schön und lustig im alten Nonnenkloster, dem schon seit einem Säculo alle drei Gelübde fehlten. Nach der einen Seite liefen vom Amte die herrlichsten Kirschplantagen aus, die von weißschimmernden hellgrün-zitternden Birkenhölzchen umstanden waren; nach der andern Seite trat man aus dem Garten unmittelbar in die fettesten Wiesen. Sie senkten sich einige hundert Schritte weit zu Tale und der Eichen- und Buchenwald bot seine Schatten. In dem stach da und dort spitzes Geklipp hervor, Steinbrüche rissen sich dicht am Wege senkrecht abgeschnitten auf, hohe Mauern standen an einer einsamen Stelle wie Fingerzeige in verschollene Zeiten da, unten im Grunde aber rieselte zwischen Waldblumen ein Wässerlein, welches aus einer übermauerten Grotte, eiskalt und perlenklar entsprang, und der Nonnenbrunnen hieß. Man legte dieser Quellflut besondere heilende Kräfte bei; ich weiß nicht, wie es sich damit verhielt, gewiß aber war es, daß ihr Duft und Schaum das Erwachen zärtlicher Triebe förderte. In den Buchen umher fand sich mancher verschlungene Namenszug eingeschnitten, von einem Herzen umgeben, mancher Knabe und manches Mädchen liebten dorthin spazierenzugehen, und der Oheim, obgleich er an Liebessachen gern sein heiseres Schrauben und seinen schwerschrötigen Spott übte, störte doch eigentlich jene Baumbelustigungen und Promenaden nie, sondern führte eher, wenn er jemand dort unten im Nonnengrunde sah, seine übrige Gesellschaft andere Wege. »Denn«, pflegte er zu sagen, »es ist zum Verwundern, wieviel Heiraten schon bei mir gestiftet worden sind! Muß wohl am Boden liegen. Mag die Sache ihren Fortgang haben!«

Dort war also das Terrain, auf welchem der Oheim seine Steckenpferde tummelte. Er hatte eine außerordentliche Freude daran, allerhand Anlagen und Bauwerke zu machen. So waren nach und nach eine Festung, eine Eremitage, ein Tempel der Diana, ein Theater im Freien, ein Rittersaal, eine Rennbahn, und ein Belvedere entstanden. Von einer Teufelsbrücke wurde viel gesprochen, sie kam aber nicht zustande. Eine Neptunsgrotte, die im weiteren Verfluß des Nonnenbrunnens errichtet worden war und eigentlich mit[112] einer Fontäne hatte verbunden werden sollen, geriet in Vernachlässigung. Ich habe sie daher nur noch wenig kenntlich gesehen. – Wer nach diesen Andeutungen für des Oheims Kasse besorgt sein möchte, dem kann ich den Trost geben, daß mein Oheim Yorick von seiner Jugend her wußte, wie schlecht trocken Brot schmecke und das Wörtlein Armut mehr scheute als Gift und Pestilenz. Er hielt daher seine architektonischen Steckenpferde am Zügel des Etats, und befolgte aus Sparsamkeit das große Gesetz der Kunst, alles symbolisch zu nehmen, nach der Figur: pars pro toto zu verfahren und mit Andeutungen zu wirken.

Am vollständigsten ausgebaut war die Festung, d.h. sein Schlafgemach, welches er gegen Überfälle von Räubern verwahrt hatte. Auch sie war eine reine Phantasiefestung, ohne militärisches Bedürfnis entstanden. Er schützte zwar die einsame Lage des Amtes, als Grund dieser Fortifikation vor, allein ich glaube nicht daran. Denn er war ein starker Mann, der keine Furcht kannte, überdies hielt die Landespolizei die Augen auf und man hörte nichts von Banden oder gefährlichen Einbrüchen. Ich meine daher, daß Oheim Yorick mit der Festung nur seiner Laune ein Fest gegeben hatte. Mancher Räuberroman war in den Stunden der Muße sein Tröster gewesen, seine Einbildungskraft hatte alle die Szenen durchgespielt, in welchen der Haufen durch die Türen eindringt, an den Fenstern emporklimmt, Schüsse fallen, Säbel klirren, Pechfackeln die düstere und entsetzliche Gruppe beleuchten. Er wollte den Genuß haben, abends, wenn er sich zur Ruhe gelegt, diese Auftritte vor dem Einschlummern seiner Seele im süßen Gefühle vollkommener Sicherheit auszumalen. Zu dem Ende hatte er das Gemach mit einer doppelten, eisenbeschlagenen Türe, welche inwendig noch ein vorgeschobener Querbalken verteidigte, und die Fenster mit zollstarken Traillen rüsten lassen. In die Decke war eine Öffnung gebrochen, um, wenn die Festung dennoch aller Verteidigung ungeachtet erstürmt worden, mittelst einer Leiter, die immer in der Nähe stand, einen Abzug nach dem Boden zu haben. Es versteht sich, daß es nicht an Waffen in diesen Umwallungen fehlte. Ein Paar geladener Pistolen [113] hing über dem Bette des Oheims, eine Jagdflinte und ein Pallasch dienten als Verstärkung jener Schutz- und Trutzmittel.

Die ehemaligen Nonnen seiner Domäne hatten den Oheim in das Mittelalter verlockt. Er war durch sie auf die Ritter gekommen, kannte Hasper a Spada, Brömser von Rüdesheim und Adolf, Raugrafen von Dassel. Durch den größten Teil des oberen Stockwerks dehnte sich ein großer Saal aus, der ehemalige Rempter. Mein Oheim wollte seinen Rittersaal besitzen. Er ließ einen Maler von Eisleben kommen und trug diesem auf, ihm einen Rittersaal zu malen. Der Meister machte ein bedenkliches Gesicht, denn das deutsche Altertum war damals noch nicht so recht bis zu dem Volke durchgedrungen, ersetzte aber durch kühnen Mut, was ihm an Wissenschaft gebrach, strich den Saal graugelb an, machte unten einen grüngekollerten Wandfuß und malte oben verteufelte Schnörkel hin. Der Oheim war mit der Arbeit zufrieden, ließ vom Zimmermann einen einzigen Pfeiler zuhauen, diesen weiß in Leimfarbe anstreichen, in der Mitte des Saales unter die Decke stoßen und ihn durch ein Wappen von des Malers eigener Erfindung auszieren. Dieses künstlerische Streben brachte einen recht ehrwürdigen Rittersaal zustande, in dessen weitem, hallendem Raume wir oft seelenfroh gewesen sind.

Mein Oheim wollte aber nicht einseitig sein. Der heiteren Welt der Griechen ließ er ebenfalls ihr Recht widerfahren. Sein Dianentempel stand am Ende der Kirschplantagen, vor einem der Birkenhölzchen. Der Oheim wußte sich viel damit, wie wohlfeil ihm dieses klassische Altertum aus alten Latten und Pfosten zu stehen gekommen sei. Die Göttin fehlte darin, weil sie, sagte er, aus Pappe gegen den Regenschlag nicht halte, aus Holz aber zu teuer werde. Desto besser schmeckten die Kirschen darin, die in unendlicher Fülle und Güte umher wuchsen.

Nach diesen Proben wird man sich auch ohne meine Hilfe die Eremitage, das Theater im Freien, die Rennbahn und das [114] Belvedere vorstellen können. Es war alles, wenn auch nicht groß gedacht, doch wohlgemeint, und ich sage daher von der Eremitage nur, daß an ihr nichts einsam war, als ihr Name. Denn sie war ein Mooshäuschen mit Borke bekleidet mitten im geselligen Baum- und Küchengarten. Und vom Belvedere sage ich, daß man von dort die köstlichste Aussicht bis weit in die güldene Aue hatte, die nichts verloren haben würde, auch wenn das Belvedere gefehlt hätte.


Im Rittersaale tummelte sich der junge Schwarm, oder bremsete in den weiten grünen Räumen zwischen Dianentempel, Eremitage und Belvedere hin und her. Die Familie, die Freunde, die näheren Bekannten waren reichlich mit Nachkommenschaft gesegnet, zuweilen trieben da droben an dreißig junge Leute ihr Wesen, die natürlich nicht alle in Betten untergebracht werden konnten, sondern zu Nacht Streulager empfingen. Mit den Studenten hatte der Oheim ein besonders nahes Verhältnis. Es studierte fast alles aus der Familie in Halle, und da dieser akademischen Jugend die Vorratskammern des Amtes werter waren, als den Israeliten die Fleischtöpfe Ägyptens, so fehlte es jahraus jahrein nie an Zuspruch von der Hochschule. Auf diese Weise hatte der Oheim sechs bis sieben der kurzlebigen akademischen Generationen an sich ab- und heruntergelebt und wußte die verschiedenen Epochen genau zu charakterisieren. In seinen Schilderungen war jedoch weniger von Fleiß und Wissen, sondern mehr vom »flotten« Wesen die Rede. Der Oheim unterschied die flottesten von den flotteren, flotten und nicht flotten Jahrgängen des studierenden Wachstums. Letztere nannte er »Teekessel«. Mit denen wollte er nichts zu tun haben, sie kamen auch späterhin, wenn sie gemachte Männer waren, nie ohne Seitenhiebe bei ihm durch. Denn er begehrte Spaß von den jungen Leuten, ihr übriges ging ihn so viel nicht an.

Man findet viele ältere Personen, die zu den Schalkspossen der Jugend nicht sauer sehen, man trifft da und dort auch wohl einen muntern Alten, der sich in einen Schwank gefällig einläßt, selten aber wird einer, der in den Ruhestand [115] gehört, sein, welcher den Anführer der Jugend zu allen Schwänken macht. Mein Oheim Yorick ließ sich dieses Kommando nicht nehmen. Er stiftete Sackhüpfen in der Rennbahn, er ließ mit verbundenen Augen nach dem Topfe schlagen, und ging mit gutem Beispiele voran, er munterte zum Klettern in die Bäume auf und arbeitete unermüdlich, vom Schweiße seines Antlitzes betrieft, im Fache der Attrappen, deren Zweck und Ziel denn war, daß einer, der die Sache noch nicht kannte, Schläge von unsichtbarer Hand erhielt, oder einen mehlweißen Mund bekam, oder mit Wasser bespritzt wurde. Letzteres geschah, wenn der Oheim »Zauberer« spielte. Er hatte dann ein großes Bettlaken um sich hangen, ließ den zu Mystifizierenden mit trügerischkabbalistischen Worten in ein Becken voll Wasser schauen, worin ein fernes Bild erscheinen sollte, und patschte ihm, wenn jener sich tief über das Gefäß bückte, das Wasser in das Gesicht. Das Resultat dieser Zauberei war gewöhnlich, daß der Magus nasser wurde, als sein Opfer, was aber die Lust daran nicht verdarb. Vielmehr wiederholte der Oheim bei jedem Besuche sein täuschendes Wasserbeschwören, denn es gab immer deren, die noch nicht naß gemacht worden waren. Zuweilen richtete er die sogenannte ägyptische Finsternis an. Diese bestand darin, daß er abends, wenn das Haus ganz voll war, plötzlich sämtliche Lichter auslöschte, die Küche verschloß, damit niemand zu dem Feuer auf dem Herde gelangen konnte, und nun in dem Dunkel durch gewaltiges Läuten mit der großen Hausglocke das Signal zu einem allgemeinen Getümmel, zum wildesten Tasten, Tappen und Spektakulieren gab. Er selbst pflegte sich aber, um seine Glieder sicherzustellen, bei dieser Belustigung zeitig einen wohlverwahrten Versteck zu erkiesen, aus dem wir ihn dann, wenn endlich wieder Licht ward, sich schüttelnd vor Lachen, hervorzogen. Daß ein solcher Anreiz unter lauter grüner Zuzucht wie der Funke in einer Pulverkammer war, läßt sich begreifen. Wir suchten auf das beste seinem Vertrauen zu entsprechen, die durch den Zauberspiegel Genäßten wußten ihm reichlich zu vergelten; man legte ihm die Schlüssel weg und tat äußerst unschuldig bei seinem [116] Suchen, man ließ ihn, wenn er gegen Mittag in der Festung aus dem Morgenhabit in den kornblumfarbigen Frack gleiten wollte, lange nicht dazu kommen, weil die Räuberbande unaufhörlich die Festung stürmte, sich in den Besitz der Falltüre vom Boden aus gesetzt hatte und die Leiter hinuntersenkte, um in das Innere einzudringen. Einmal hatten wir vor Tagesanbruch aus den Wagen, Pflügen, Eggen, Walzen und allem sonstigen Ackergeräte des Gutes im Hofe eine ungeheure Konfiguration errichtet, welche ihm, als er am Morgen das Fenster öffnete, einer in Knittelversen als ein Symbol seines Standes auslegte. Der Redner war ganz in Stroh gekleidet, trug einen Kranz von Klatschrosen und nannte sich die blonde Demeter, wir andern aber hingen malerisch verteilt, in entsprechenden vegetabilischen Masken als die Repräsentanten der Getreidearten, der Rappsaat und des Turnips zwischen den Stockwerken des Gerüstes. Anfangs ging die Sache gut, nachher aber bekam sie ihr Schlimmes und wäre beinah zu Unfrieden ausgeschlagen. Denn wir hatten in unserem Eifer die Allegorie des Landbaus so fest mit Stricken und Ketten verschnürt, daß ein halber Tag darüber hinging, bevor der Verwalter und die Knechte sie wieder in ihre sinnlichen Bestandteile zerlegt hatten. Der Oheim, dessen Wirtschaft hierdurch und zwar gerade in der drangvollsten Erntezeit unersetzliche Stunden verlor, sah jener Analyse mit grimmigen Zornesworten zu. Ceres aber und sämtliche Cerealien hielten es für gut, Waldeinsamkeit zu suchen. Wir saßen wie die Ebräer im Exil auf Belvedere zusammen und sahen nach der güldenen Aue, als in der Mittagsstunde unser verstimmtes Oberhaupt in unsern Kreis trat, uns eine derbe Strafrede hielt und mit der Weisung schloß, in Zukunft mit unserer Laune ihm Wagen und Pflug zu verschonen. – Das Gewitter hatte mit diesem Schlage sich zwar entladen, es folgte ihm aber ein grauer Regenhimmel, denn es ging einige Tage nun sehr nüchtern und scherzlos auf Prosperos Insel zu. Das war einer der Fälle, in welchen der Oheim sich plötzlich erinnerte, daß er denn doch ein alter, verständiger Mann sei. Sie kamen zuweilen vor und dann ließ sich schlimm mit ihm verkehren.

[117] Er gab Bälle, veranstaltete Musiken im Freien, ließ, wenn das Wetter besonders schön war, am Dianentempel oder bei dem Nonnenbrunnen speisen. Aber alles das wäre noch nichts gewesen ohne seine Kunstliebe. Diese führte zu den höchsten Entfaltungen des dortigen Lebens.

Der Oheim besaß eine ausnehmende Kunstliebe. Sie richtete sich jedoch, wie es damals noch allgemein stattzufinden pflegte, hauptsächlich auf das Schauspiel. Er ließ kein Theater, welches ihm abreichbar war, unbesucht. Ich erinnere mich, daß er einstmals, als Iffland in Magdeburg Gastrollen gab, um vier Uhr nachmittags in das Parterre ging, um einen Platz zu bekommen. Er hatte aber doch schon nur einen Stand gewinnen können, und war nun bis zehn Uhr abends die sechs Stunden hindurch auf seinen alten, müden Füßen verblieben. Halbtot und fast aufgelöst von Hitze und Gedränge kam er zurück, seine Züge waren schlaff geworden, übrigens aber fühlte er sich froh und begeistert von dem Friedländer, den Iffland an jenem Abende gegeben hatte.

Es war Herkommens in der Familie, ihre Feste mit allerhand Theatralischem zu feiern. Der Oheim hatte sich bei solchen Gelegenheiten vielfältig versucht. Für die Krone seiner Leistungen erklärte er selbst einen Genius, den er zu einer Hochzeit geliefert hatte. Dieser Genius war der Liebesgöttin aus einem Rosenbusche vorangeschwebt und hatte dem Paare verblümt zu erkennen gegeben, was für Gaben die Göttin, die selbst nicht sprach, dem neuen Bunde zudenke. Der Oheim war damals schon über dreißig; »das tat aber nichts«, sagte er, »ich war dennoch der einzige, der den Genius mit Würde sprechen konnte. Zum Überfluß hatte ich in meiner Rolle einige Worte angebracht, worin ich sagte, heute sei ein Tag, ein Tag so schön, ein Tag so ernsthaft und wichtig, daß kein dummer Junge von Genius an einem solchen Tage seine Sache hätte machen können.«

Die meiste Schwierigkeit hatte ihm das Kostüm verursacht. Niemand konnte ihm sagen, wie ein Genius sich eigentlich zu Hause trage. »Endlich«, rief der Oheim, »gab mir die Rolle Aufschluß!

[118] Von der Milchstraße herab komme ich an diesem schönen Tage –

Halt, dachte ich. Milchstraße! Milch – Milchflor. In Milchflor will ich gehen, weil der überhaupt so eine unschuldige Tracht ist, die für ein höheres Wesen paßt. Ich kaufte mir also zwölf Ellen Milchflor und der Schneider mußte mich ganz darin einnähen vom Kopf bis zu den Füßen. Meinen Zopf ließ ich mir aufbinden, das Haar flog mir lang um die Schultern und ich sah ganz ›pompös‹ aus, machte auch einen großen Eindruck.« – An letzterem war nicht zu zweifeln. Denn der Oheim besaß rötliches Haar, welches einen herrlichen Abstich gegen den weißen Milchflor gegeben haben muß.

Als wir heranwuchsen, gingen die artistischen Bestrebungen der Jugend bei dem Oheim teils den älteren Gang, teils bogen sie auch schon in die neuere Literatur- oder Kunststraße ein. Zu den Darstellungen älteren Stempels gehörten verschiedene Schäferspiele; ein Genre, welches er besonders liebte. Er ließ nicht leicht einen Geburtstag vorüber, ohne auf dem Theater im Freien oder im Rittersaale einen Myrtill mit seiner Daphne, einen Menalk und eine Chloe zu produzieren. Diese Stücke entstanden, wie die Poesie der Urzeit; ein bestimmter Verfasser war selten ermittelbar, das dichtende Volk brachte sie hervor. Außerordentlich war besonders eins, dessen Darstellung in die Olympiade des Jahres 1810 oder 1811 fiel. Es traten darin mehrere herkömmliche Arkadier auf, dann die Göttin Hygiea, als eine völlig neue Figur aber ein junger Mensch in abgeschabtem grauem Rock, der sich sehr kläglich gebärdete, weil seine Eltern zu nahe dem Schlachtfelde von Aspern gewohnt hatten und total abgebrannt waren. Hygiea hatte eine Beziehung auf den Gefeierten, denn er war kürzlich von einer schweren Krankheit erstanden, wie sich aber der junge Mensch mit seinen abgebrannten Eltern in die Fabel verflocht, ist mir entfallen.

Bei den Vorbereitungen zu diesem Stücke wurde mir eine Aufklärung niederschlagender Art. Der Geschäftsträger des Herzogs von Dalmatien, Monsieur d'Imbert, ein feiner, [119] schöner Franzose, war gerade, wie alljährlich mehrere Wochen geschah, zum Besuche auf dem Amte. Er hatte schon früher einige unserer Darstellungen gesehen, und sich dabei leidend verhalten. Diesmal aber griff er tätig ein. Das Stück sollte im Rittersaale gegeben werden, bedurfte also der Lampen. Da sah ich des Abends kurz vor dem Beginn, als ich schon mein arkadisches Gewand trug, Monsieur d'Imbert still umhergehen und die angezündeten Lampendochte herabschrauben, so daß der Schauplatz fast von des Oheims ägyptischer Finsternis erfüllt wurde. Man achtete nicht auf die Sache und das Stück nahm seinen halbunsichtbaren Verlauf. Ich fragte am andern Morgen Monsieur d'Imbert um den Grund seines Verfahrens und erhielt zur Antwort, daß man immer zwischen den Darstellungen durch Künstler und denen durch Dilettanten unterscheiden müsse. Bei den ersteren könne es nicht hell genug sein, bei den letzteren aber liege es im wohlverstandenen Interesse aller, wenn man so wenig als möglich sehe. Monsieur d'Imbert gab diese Erklärung ohne alle Satire in der größten Höflichkeit; mich aber verletzte sie doch sehr, denn ich hatte mit allen übrigen gemeint, daß wir unsere Sachen so meisterhaft machten, um den großen Kronleuchter des Théâtre français nicht scheuen zu dürfen. – Nachmals, wenn ich die Gesellschaftsbühnen bei hoch und niedrig sah, mußte ich oft an Monsieur d'Imbert und seine Lampenlöschungs-Theorie denken.

Der neueren Kunstentwicklung gehörten dagegen mimisch-plastische Darstellungen an. Wir beschränkten uns nicht, wie die Händel-Schütz, auf einzelne Sphinxe, Karyatiden, Madonnen und Magdalenen, sondern führten ganze Gedichte in dieser Manier auf. Lichtwehrs


Tier und Menschen schliefen feste,
Selbst der Hausprophete schwieg,
Als ein Schwarm geschwänzter Gäste
Von den nächsten Dächern stieg ...

bot einen Reichtum von Katzenmotiven dar; Schillers Handschuh gab Gelegenheit, höhere Richtungen höherer Tierwelt vorzuführen. Im ersten dieser Gemälde spielte der [120] Oheim den vom Katzenlärmen erwachten Hausherrn, der mit einem Prügel im finstern Saale umherspringt; im letzten saß er als König Franz vor seinem Löwengarten, und winkte voll ruhiger Hoheit mit dem Finger. Zu keiner anderen Rolle wollte er sich in diesem Gedichte bequemen. »Wenn ich eine von den Bestien machte, so verlöre ich ganz den Respekt bei euch«, sagte er.


Alles in der Welt lebt sich einmal zu seinem Gipfel hinan, und so fand denn auch dieses Schnurrenwesen zuletzt eine Höhe, auf der es zum Abschluß kam und stehenblieb. –

Der erste Feldzug war vorüber, alle Glieder unserer Verbrüderung hatten gedient, der eine mehr, der andere minder. Wir lagen wieder unsern Studien ob, die Geister waren aber noch unruhig und schweiften in willkürlichen Bildern umher. Es war im Februar 1815. Plötzlich fiel es einem von uns ein, daß des Oheims Geburtstag bevorstehe, und einem andern, daß derselbe noch nie eigentlich recht feierlich begangen worden sei, und uns allen, daß wir die bisher übersehene Pflicht auf das ausbündigste nachleisten müßten.

Wir lebten nun ganz in den Vorbereitungen zu dieser Festesfeier. Stillschweigend war angenommen worden, daß nur etwas Ungemeines derselben würdig sei. Mir hatten die übrigen die Wahl des Stücks übertragen, ich stöberte in den Bibliotheken umher, fand ein Heft Possen von Julius von Voß für »lebende Marionetten« geschrieben, und darin: »Rinaldo und Armida«, die mir das Ungemeine, was Zeit und Gelegenheit verlangte, zu sein schien. Als ich es vorlas, gewann es sich auch den Beifall des ganzen Kreises. Das Ding war überschrecklich genug. Gottfried von Bouillon, der das Glas liebte und immer etwas aus der Fassung auftrat, rief an einer Stelle, wo er sich zum Ausruhen niederlegen wollte:


»Ihr Wagen Heu, fahrt mir aus dem Wege,
Dieweil ich hier mich schlafen lege!«
Armida apostrophierte den Abtrünnigen zum Schluß einer herzbrechenden Rede mit den Worten:
[121]
»Bleib hier
Bei mir
Du Tigertier!«

Kurz, es war alles schon gehörig gesalzen und gepfeffert darin. Allein den Spielern in diesem großen Drama genügte die Würze noch nicht, jeder setzte sich in seiner Rolle zu, was ihm an Kraftworten und Geistesblüten aufging. Mir wurde hierbei etwas bedenklich zumute, ich dachte an Ceres und die Cerealien. Deshalb schrieb ich einen Prolog, worin ich höchst ernsthaft auseinandersetzte, die Lehre unserer Tragödie gehe dahin, daß der weise Mann sich unter allen Umständen zu fassen wisse. Auch der Oheim habe sich unter schwierigen Umständen zu fassen gewußt, und das Stück sei daher vorzüglich geeignet, sein Wiegenfest zu verherrlichen. Es herrschte eine solche Begeisterung für die Rollen, daß ich leicht aus dem Gedichte fortbleiben konnte; man war sehr zufrieden mit meiner Genügsamkeit, die nur den Prolog für sich in Anspruch nahm.


In der Frühe eines rotklaren Wintermorgens machte sich die abenteuerliche Rotte auf den Weg. Es waren vierzehn Studenten im ganzen, welche sich neben und in den Gärten Armidens hören lassen wollten. Die meisten ritten, aber nicht in der Tracht vernünftiger Menschen, sondern in dem damaligen sogenannten »Wichs« d.h. in buntfarbigen schnürebesetzten Kolletten, weißgekollerten Lederbeinkleidern, Kanonenstiefeln, Stürmer auf dem Haupte. Ein großer Rumpelkasten von Wagen folgte mit den zusammengerollten Kulissen, dem Kostüm, mit kalten Braten, sauereingekochten Fischen, Kuchen, Gelees. Denn alles war auf die vollkommenste Überraschung berechnet, und selbst mit der Gesellschaft sollte der Oheim unvermutet angebunden werden. Um aber diese in der Eile von morgen bis abend zusammentrommeln zu können, um der Tante die Bewirtung möglich zu machen, hatten wir jene Festspeisen in Halle bereiten lassen, versteht sich auf Rechnungen, die neben den Gerichten im Wagen lagen, und dem Oheim [122] am Lendemain als nachträgliche Freude dargereicht werden sollten.

Wir waren trotz der Februarkälte warm durchheizt von Lust und Vergnügen und schon unterwegs brach die Posse aus.

Vor Langenbogen, einem Dorfe auf der Hälfte der Straße, sahen wir mehrere Bauern stehen, verwundert über den herannahenden bunten Zug. »Halt!« rief einer von uns; »wir wollen dem Volke weismachen, es sei der König von Sachsen, der in sein Land zurückkehre.« Wirklich war damals schon vielfältig davon die Rede, daß Friedrich August bald aus seiner Gefangenschaft entlassen sein werde. Gesagt, getan! Einer, den wir den Alten nannten, weil er der Verständigste unter uns war, hing sich Gottfried von Bouillons Purpurmantel um die Schultern, setzte die Goldflitterkrone des Mohrenkönigs auf, nahm Zepter und Reichsapfel in die Hand, und ließ sein Pferd von zweien zu Fuß führen. Ein anderer, ein stämmiger, praller Lockenkopf sprengte als Reisestallmeister voran. Dieser hieß der Marquis. Er war bei Montmirail unter die französischen Kürassiere geraten, hatte bis zum Frieden in Limoges Kriegsgefangenschaft erduldet und jene Ehrenwürde von den Franzosen, ich weiß nicht durch welches Mißverständnis, empfangen. – Der Marquis rief den Bauern zu: »Hüte abgenommen! Der König von Sachsen kommt.« – Die Bauern nahmen wirklich ganz verdutzt ihre Hüte ab bis auf einen, der vor Erstaunen nicht dazu kommen konnte, sondern mit offenem Munde und starren Augen den im Purpurmantel angaffte. Als dieser neben ihm vorbeiritt, gab er dem Gaffenden einen leichten Schlag mit dem Zepter. »Kann Er nicht den Hut abnehmen, wenn eine Majestät durchpassiert?« sagte er mit einer solchen Würde, daß der Bauer nun nicht allein sein Haupt entblößte, sondern die Bedeckung zu Boden fallen ließ.

Als der Oheim von seinem Luginsland unsere Kavalkade ansichtig wurde, hätte er wohl nicht übel Lust gehabt, die Pforten schließen zu lassen, denn die Ahnung mochte ihm sagen, daß seinem Hause ein arger Wirrwarr bevorstehe. [123] Indessen drangen wir denn doch ein und brachten in gesetzter Fassung unsern Glückwunsch vor. Oheim und Tante musterten den Anzug der Reiter, der etwas vom Reitknecht, etwas vom Husaren hatte und in den übrigen Stücken nur sich selber glich. – »Was soll denn nun eigentlich heute losgehn?« fragte er nach einer Pause. – »Das ist eine Überraschung«, versetzten wir. Die Tante wurde beiseite genommen und durch den Anblick des Speisevorrates dem Komplotte zugeneigt. Sie fertigte auf der Stelle mehrere reitende Boten ab und lud aus dem Stegreife die ganze Nachbarschaft auf den Abend ein. Es war in ihr ein wundersames Talent, keinen Scherz zu verderben und dennoch das Uhrwerk des Hauses im regelmäßigsten Gange zu erhalten. – Ich machte mich mit einigen Arbeitsleuten an das Werk und richtete im Rittersaale die Bühne zu, womit ich bald fertig wurde, denn ich hatte bei einem früheren rekognoszierenden Besuche alle Dimensionen gehörig ausgemessen und jegliches in Schnüren, Rollen, Latten vorbereitet.

»Ich will wissen«, sagte der Oheim, als ich in das Zimmer zurückkehrte, »woran ich bin.« Er ging mit großen Schritten auf und nieder; die andern saßen oder standen stumm umher und ihre Verlegenheit kontrastierte mit den lächerlichen Jacken. – »Was spielt ihr heute abend? Hoffentlich ist es doch etwas Vernünftiges«, fuhr er fort, und sein Blick bezeugte, daß die Hoffnung auf Vernunft in ihm schwach war.

»Es ist ein Schäferstück«, versetzte einer kleinlaut, »und heißt ›Rinaldo und Armida‹.«

»Wenn es ein Schäferstück ist, so bin ich zufrieden«, versetzte er einigermaßen beruhigt. »Narrenpossen verbitte ich mir zu meinem Geburtstage. Übrigens habe ich nie von Schäfern gehört, die Rinaldo und Armida hießen.«

»Es ist ein Schäferpaar aus dem Morgenlande«, antworteten wir.

Wagen über Wagen rollten gegen die Dämmerung in den Hof. Die Bühne, diesmal nicht von Monsieur d'Imbert im wohlverstandenen Interesse aller verdunkelt, strahlte im blendendsten Lichte, so daß man jedes Fädchen an der dünn-grün-bemalten Leinwand sah, welche die berauschenden [124] Zaubergärten der schönen Verführerin darstellen sollte. Der Marquis hatte seiner Locken wegen diese übernommen und stand im blauen Taffentrock, rotem Spenzer, Schnabelschuhen da; würdig einer solchen Geliebten zeigte sich Rinaldo als gepuderter Chevalier mit Taubenflügeln, Haarbeutel, Galanteriedegen; Gottfried von Bouillon, der nicht viel vertragen konnte, hatte sich mittags auch noch so eine Art von Haarbeutel als Ergänzung der Maske zugelegt. Alle anderen waren ebenfalls auf das barockste ausstaffiert. – Auf einmal sah des Oheims Gesicht neben dem Vorhange durch. »Nie in meinem Leben werden daraus Schäfer«, sagte er, indem er zurückging.

Der ganze Rittersaal war voll von Mansfeldischen Nachbarn und Freunden. Väter, Mütter, Söhne, Töchter; ein höchst gespanntes Auditorium. Der Oheim nahm mit verlegener Würde in seinem Lehnsessel mitten vor den übrigen Zuschauern Platz und bereitete sich, das Rührende, was seiner Meinung nach kommen mußte, in Empfang zu nehmen. Die Musik begann.

Nach den letzten Tönen trat ich vor und sprach meinen Prolog mit dem größten Ernste, indem ich besonders auf die Stellen, die von des Oheims Fassung unter schwierigen Umständen handelten, die empfundensten Akzente legte. Ich bemerkte während meiner Rede, daß alles in das gehörige Fahrwasser kam. Der Oheim hörte mit Sammlung zu, im Saale vernahm ich schon ein leises Schluchzen da und dort.

Ich bin überzeugt, daß wenn die andern sich in ihrem Spiele etwas zu mäßigen verstanden hätten, das ganze Stück diesem Kreise als ein rührendes Drama vorübergegangen sein würde, denn die Stimmung war durchaus günstig für einen solchen Eindruck. Aber sie taten, wie es zu geschehen pflegt, des Guten zuviel, übertrieben und versetzten dadurch den König des Festes und seine Gesellschaft in die eigenste Lage.

Ich hatte mich, da es für mich hinter dem Vorhange nichts mehr zu tun gab, unter die Zuschauer gemischt. Den Oheim sah ich bei den Renommistereien Gottfrieds in seinem Sessel unruhig werden, ich hörte ihn, als Rinaldos Seelenqual begann, [125] laut murren, endlich als das Tigertier aus Armidens Lippen sprang, versteinerte er, sozusagen, und hielt sich in dieser starren Fassung unter schwierigen Umständen bis zum Schluß. Die Gesellschaft dagegen war durchaus in einem gespaltenen Zustande. Daß der Spaß nicht verstanden wurde, konnte hingehen, denn sie machten ihn zu toll. Nun aber wollten die einen fortschluchzen zur Ehre des Tages, ein innerliches Erschrecken aber hemmte sie in ihren Veranstaltungen. Die andern hätten wohl hin und wieder lachen mögen, hielten dies aber für unpassend und zwangen sich zu seufzen, wo möglich etwas zu weinen. Endlich lösten sich diese künstlichen Bestrebungen in ein allgemeines Ermatten auf, welches immer größer wurde, je mehr sich die Spielenden angriffen, und fast zur Lethargie gediehen war, als der Vorhang vor der unglückseligen Farce niederrollte.


Flöten und Geigen spielten lustige Weisen. Der Ball hatte angefangen, wir wurden aber von den Mansfeldern mit einigem Abscheu betrachtet und mancher empfing von den Mädchen einen Korb, wenn er zum Walzen aufforderte. Der Oheim zeigte sonderbar-verdrießliche Mienen, und sah uns nicht an, ausgenommen mich, dem er gleich nach dem Spiele die Hand drückte und sagte: »Du kannst nichts dafür, du hast deine Sachen gemacht, wie sich gehört.« – Nur der Pastor eines benachbarten Dorfes war unser Freund und Sachwalter geblieben. Dieser Mann machte die einzige Wintergesellschaft des Oheims aus, er kam im wildesten Eis- und Schneewetter zu ihm, um mit ihm Deutsch-Solo zu spielen, was des Pastors alleinige Lebensfreude war. Von den Schnee- und Eisgängen hatte er eine rote Nase bekommen, die auch im Sommer wie erfroren aussah, und von welcher der Oheim behauptete, der Pastor poliere sie sich mit einem Falzbeine, um eine glänzende Naturmerkwürdigkeit aufzuweisen, denn sie glänzte wirklich über die Maßen, diese Nase, in ihrer Blaurötlichkeit. – Er hatte der Darstellung mit ununterbrochener Andacht beigewohnt, als höre er die Gastpredigt eines Amtsbruders.

Der Pastor mit der Glanz- und Frostnase ging dem Oheim [126] nach und sagte begütigend: »Herr Oberamtmann, das war ein schönes Stück.« – »Herr Pastor, was soll ich von Ihnen denken?« erwiderte der Oheim. – »Ich versichere Ihnen«, fuhr der unerschrockene Begütiger fort, »das Stück war sehr schön, und wenn es an einigen Orten nicht so aussah, so war das Ungeschick der jungen Leute daran schuld, sie werden es das nächste Mal schon besser spielen.« – »Nichts als Ränke und Schwänke waren es!« fuhr der Oheim heraus. »Die Wiederholung schenke ich Ihnen.« – Der Pastor war unser Freund, weil er ohne uns heute seine Partie nicht gehabt hätte.

Es hatte eins geschlagen, die Gäste hatten sich entfernt. Wir standen im Rittersaale, wie ein zusammengeschossenes Bataillon auf dem Felde der verlorenen Schlacht. Der Oheim saß im Lehnstuhl, in dem er eine so unerwartete Feier erlebt hatte, und rauchte seine Nachtpfeife. Niemand hatte den Mut zu sprechen. Er zürnte, das war offenbar.

Dergleichen Momente höchster Spannungen bringen aber oft urplötzlich ihr Gegenteil hervor. Denn auf einmal nahm einer aus bloßer Verlegenheit, aber wie durch einen Gott unterwiesen, aus seiner Tasche Papiere, näherte sich dem Oheim und fragte schüchtern: »Lieber Onkel, wollen Sie die Rechnungen heute oder morgen haben?« – Der Oheim sah groß auf, nahm die Braten- und Küchenrechnungen, blickte hinein, blickte den Schüchternen an, der eine Kammerzofe der Armida gespielt hatte und in der Rolle steckengeblieben war, blickte auf unsere stumme und verlegene Schar – er wollte noch zorniger werden – es ging aber nicht, denn er war schon so zornig gewesen, als ein Mensch überhaupt sein konnte – er mußte also etwas anderes werden, nämlich lustig – ein gewaltiger Kampf arbeitete in seinen Gesichtsmuskeln, wir halfen den Wehen der Fröhlichkeit nach, brachen in Lachen aus; der Oheim stimmte ein, stand auf, zupfte mehrere am Ohre, was ein Zeichen seines besonderen Wohlwollens war, rief zwischen Lachen und Poltern: »Ihr seid doch ein nichtswürdiges Volk!« und ging mit den Rechnungen in seine Festung, um sich schlafen zu legen.

Am andern Morgen war das heiterste Wetter im Hause; [127] ungeachtet der Oheim verschiedene Strafreden hielt. – »Mußte denn die Person im blauen Taffentrock so brüllen? Mußte der Liebhaber sich gebärden wie ein Hanswurst? War das ein ordentlicher Held, ein Feldherr, der Gottfried?« sagte er. »Der allein«, fuhr er fort, indem er auf mich wies, »war vernünftig, nach dem hättet ihr anderen euch richten sollen.« – Die Geschichte dieses Tages trat in den Kreis seiner ungeheuerlichen Erzählungen. Er sagte es anfangs und glaubte es späterhin, an dem Stücke »Rinaldo und Armida« hätten vierzehn Studenten gearbeitet und umwechselnd einen Vers nach dem andern geschrieben. »Sie können also denken, was für Zeug das war!« fügte der Oheim hinzu. »Und damit wollten sie einen Geburtstag feiern.« – Er vermied seitdem derartige Festlichkeiten.

So waren ihm die Schnurren, die er selbst genährt, endlich über den Kopf gewachsen. Wir aber erfuhren vierzehn Tage später, daß in den Stunden, wo wir unsere Eulenspiegeleien getrieben, Napoleon von Elba entkommen sei. Das war wohl eine Konstellation tragischer und komischer Sterne zu nennen. Denn einige Monate später standen die meisten von uns bei Ligny.


Alter Oheim Yorick! Wenn man dich jetzt suchen will, so muß man durch einen Kreuzgang gehen auf den stillen Platz, von Spitzbögen und Pfeilern umschlossen, auf dem der Wind den Grashalm und die Staude dem Schlummer der Toten zubeugt. Du schläfst fest, und schwerlich kommen in deine Träume deine Steckenpferde und Schäferstücke. Rinald und Armiden hast du vergessen.

»Wo sind nun deine Schwänke? Deine Sprünge? Deine Lieder? Deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Ist jetzt keiner da, der sich über dein eigenes Grinsen aufhielte? Alle weggeschrumpft« – –

[128] Lehre und Literatur

Ich habe früher gesagt, die Lehre isoliere die Jugend.

Wenigstens war die damalige Lehre geschaffen, die Jugend jener Zeit zu isolieren.

Die Lehre ist, wenn man von ihr im strengsten Sinne reden darf, etwas Fixes, sie gibt den Niederschlag der Forschung in einem gewissen Stadio der geistigen Gärung. In diesem Sinne existiert jetzt kaum eine Lehre. Das zweifelnde Jahrhundert, welches aus den Scherzen, die Voltaire und Wieland zu ihrer Zeit trieben, eine ernste Arbeit gemacht hat, läßt nirgends einen eigentlichen Abschluß zu. Altertumswissenschaft, Geschichte, Mythologie, Sprachkunde sind in ganz neue Bahnen eingetreten, worin der Auslaufpunkt zwar bestimmt ist, der Siegespfahl aber noch nicht erblickt wird und denen daher die Umgrenzung fehlt. Diese Doktrinen werden auch nicht wie früher von gelehrten Idioten betrieben, sondern elegante Geister sind in ihnen tätig, solche, die eine ästhetische Form besitzen. Unsere große Literatur ist endlich zu allen hindurchgedrungen; an ihr haben sich die frischesten Kräfte heraufgebildet, diese Bildung hat nun wieder jeden auf irgendeine Weise auch zu den Literaturen der anderen Nationen hinübergeführt. Jeder geht auf einem Markte der Geister umher und besieht sich die Ware, anstatt daß sonst mehr im Laden eingekauft wurde. Es gibt keine barbarische Archäologen, Historiker, Philologen mehr, wie sonst, deshalb wird die Forschung der Zeit von einem Elemente des Schönen durchdrungen, oder dieses steht vielmehr über ihr wie ein Morgenrot, welches vielleicht am sichersten den Anfang der Sonne verkündet, der Sonne, die in der Wissenschaft einen neuen Tag schaffen wird. Noch ist es Dämmerung und die Gestalten des Erkennens fließen kritisch ineinander; von dem Lichte jenes Tages beleuchtet, werden sie, eine jede auf ihrem Orte, sich scharf umrissen sondern.

[129] Je beschränkter die Lehre, desto selbstzufriedner der Lehrling. Denn desto gewisser gibt sie ihm den Glauben, daß er in ihr das wahre Wissen für sich und seines Geistes Kraft erobert habe. Desto weiter entfernt sie ihn von dem Zusammenhange mit dem Fortschritt oder mit den Nachbargebieten. Er rundet sich in der Lehre und mit ihr ab, er wird durch sie isoliert.

Die Lehre in jener Drang- und Kriegesperiode war eine zugeschnittene. Große Arbeiten waren zwar geschehen auf dem Boden der Wissenschaften, welche den Geist am meisten erregen, aber sie hatten den gangbaren Lehrbegriff noch wenig berührt, in den sie erst jetzt eingebrochen sind. Die jungen Leute wandelten daher in einer Art von wachem wissenschaftlichem Traume umher, zu vergleichen mit dem praktischen Traume von politischer Größe, dessen Einbildungen so rauh entscheucht worden waren. In den Disziplinen, die vorgetragen wurden, war alles für einen guten Kopf bezwingbar, über den Verhack der Lehrsätze hinaus wurde sein Blick nicht gelockt, er durfte daher meinen, wenn er den Vortrag gefaßt, die Sache zu besitzen. Ich wünschte, das Gefühl, welches damals ein strebsamer Anfänger hatte, schildern zu können. Er glaubte immer zu wissen, woran er war in der Wissenschaft, jedes abgemachte Kompendium wies ihm in seiner Meinung die Rangstufe im Reiche der Geister an. Schwerlich möchte dem jetzigen Geschlechte diese bornierte Unschuld des Erkennens eigen sein.

Zwischen der Schule und der Universität ist eine große Kluft. Den Sprung vom erzwungenen zum freien Lernen macht niemand, ohne daß eine Entwicklungskrankheit ihn befiele. Diese bestand in jenen Zeiten für die meisten, nämlich für diejenigen, welche nicht berufen waren, dereinst als Lehrer der Nation zu glänzen, in dem sogenannten Burschenleben. Es ist untergegangen, weil die Freiheit, deren Surrogat es war, begonnen hat selbst in das deutsche Leben einzusickern. Die Studenten sind auch jetzt noch vergnügt oder dissolut, sie glauben aber nicht mehr, daß ihre Possen und Ausschweifungen in ein System gebracht werden müßten. Das Burschenleben war ein ausgebildetes Nichtstun, eine Tabulatur phantastischer Gesetze von Müßiggängern für Müßiggänger gegeben, [130] ein problematischer Staat, in welchem kindische Tätigkeit, kindische Ehre, kindische Tapferkeit regierten, nebst einiger wahren Freundschaft, Hingebung und Brüderlichkeit. Es war die deutsche Komödie, der nationale Schwank. Die mittleren Köpfe füllten damit ihre Zeit aus, bis das Gespenst des Examens herandrohte und sie zu den Studien scheuchte, zu dem Studium, welches damals für die Mehrzahl noch keinen verächtlichen Nebenbegriff hatte.

Dies war das Brotstudium. Es ist jetzt mit Recht verrufen und wird nur gleichsam illegitim geliebt. Damals galt es als das ganz ehrenvolle, es war schon ein besonderer Luxus, wenn der Jurist, der Theologe, der Philologe sich noch mit Lehrvorträgen außer seinem »Fache« befaßte. Die meisten blieben in der Trainkolonne, die unmittelbar zum Amte fuhr, und empfingen, was auf diesem Wege ihnen als Proviant zugemessen wurde.

Allerdings gab es zwischen den künftigen Lehrern der Nation und den Handwerksköpfen auch noch eine zahlreiche Klasse, welche durch die eigentlich bildenden Disziplinen erregt blieb. Diese Klasse hat einen höchst achtbaren Bestandteil der nachherigen Männer geliefert, sie erhielt aber ihre Impulse auf eine von der jetzigen Art verschiedene Weise.

Die Disziplin, welche dem Geiste vorzugsweise Form und Gehalt geben, sind die Kunde vom klassischen Altertum, die Geschichte und die Philosophie. Über Fichte, den Philosophen, der zu jener Zeit in Norddeutschland der wirkendste war, werde ich später reden. Jetzt einige Worte von der Beschäftigung mit den Alten und von der Geschichte, wie beide damals einfluenzieren mußten.

Faßt man das, was jetzt in vielfältigster Zusammenstellung, Kombination, Konjektur für die Erkenntnis der Alten geschieht, unter einem einfachen Gesichtspunkte auf, so wird man, glaube ich, finden, daß das Forschen sie als Gewächse eigener Struktur auf eigenem Boden ersprossen, verstehen lernen will. Offenbar ist die Überzeugung vorhanden, daß jede Meinung, Auffassung, Form, ja jede Konstruktion, jedes Wort und jeder Akzent der Alten etwas sei, was aus irgendeinem politischen, religiösen, Kultur- oder Lokalmomente [131] ihres Lebens entsprang, und daß gerade die hohe Vortrefflichkeit der uns gebliebenen Denkmäler in dem innigen Zusammenhange derselben mit dem Realismus des antiken Zustandes bestehe. Die Alten wollen uns werden etwas im größten Sinne Abgetanes, in der Zeit Untergegangenes, von uns Grundverschiedenes, eben deshalb aber nun einer ewigen und reinen Betrachtung Gewonnenes. In dieser Überzeugung ist der deutsche Geist den anderen Nationen vorgesprungen; bei den Engländern und Franzosen herrscht noch die ältere Behandlung.

Die erste Stufe derselben war die grammatische Taglöhnerarbeit. In ihr waren die Deutschen stark, und viele kamen darüber nicht hinaus. Meldete sich ein Bedürfnis nach stofflicher Ausbeute, so stillte es der bekannte oder verschwiegene Irrtum, daß modernes Wissen, Denken, Sein eigentlich nur eine Fortsetzung des Altertums sei. Insbesondere gehörte er dem achtzehnten Jahrhundert an, dem alle Belebung durch die Potenzen des Mittelalters ausgegangen war, er wirkte aber auch noch stark hinüber in das erste Dezennium des neunzehnten und in die nächstfolgenden Jahre. Er veranlaßte das Bestreben, unter jenen ehrwürdigen Falten unsere Gestalt, unsere Züge, nur in idealer Verklärung zu erblicken. Ihre Sentenzen sollten für unsere Verhältnisse die leitendsten Normen abgeben; ihre Tugenden waren der unsrigen Vorbilder, ein Gleiches galt von ihren Formen, obgleich sie die Verzweiflung aller Nachbildenden waren. Und da denn doch eine Herstellung ihrer Volks- und Staatseinrichtungen durchaus nicht mehr gelingen wollte, so begegnete man sich wenigstens mit ihnen auf einem allgemeinen Gebiete, welches von ihren Vortrefflichkeiten bevölkert war, denen nur leider die eigentliche Spitze und das, was sie gerade zu ihren Vortrefflichkeiten gemacht, hatte abgebrochen werden müssen.

Es ist zwar richtig, daß Männer, wie Wolf, Schleiermacher, Hermann, welche auf die Erkenntnis des Altertums, als eines in sich abgeschlossenen und nur durch sich zu verstehenden Ganzen mächtig hingewirkt haben, Koryphäen der älteren Periode sind. Allein ihre Erfolge waren doch eine geraume Zeit nur in den Schulen der näheren Anhänger beschlossen, [132] der allgemeinere Durchbruch der realistisch-kontemplativen Behandlungsweise des Altertums ist weit später erfolgt. Man muß Goethe als den Repräsentanten der abgewichenen Zeit in den meisten ihrer Richtungen anerkennen, es kam so ziemlich ihm alles zu, was die Zeit meinte und wähnte; und wo hat er anders über die Alten als in dem ideell-vermittelnden Sinne geredet, den ich für den Ausdruck der früheren Anschauungsweise halte? Wo spricht sich in ihm je die Neigung aus, Probleme, die sie ihm vorlegen, durch realistische Gründe aufzulösen oder mit ihrer Poesie sich auf historische Weise in Zusammenhang zu setzen? –

Nun aber ist freilich klar, daß, sosehr die neuere Betrachtung die wahrere Erkenntnis zeugt, sie doch auch wieder die betrachteten Muster uns ferner stellt. Auf gewisse Weise hatte man von den Alten sonst mehr als jetzt. In allem, was ein Menschengeschlecht zu seiner besten Zeit hervorbrachte, ist nämlich ein allgemeiner Gehalt, der freilich nicht das Höchste der Sache gibt, dagegen den Betrachtenden rascher er wärmt, als die historische Beobachtung. Der allgemeine Gehalt der Alten besteht in dem Festen, Palpabeln ihrer Taten und Gedanken, erkennbar auch ohne das speziellste Wissen von den einstigen Bedingungen dieser Tugenden. Diesen allgemeinen Gehalt brachte nun die ältere Lehre rascher und erwärmender herzu.

In der Geschichte werden immer zwei Methoden einander ablösen: die biographische und die Deduktion aus Zuständen. Denn alles, was geschieht, geschieht durch den Helden und durch das Volk. In dem Volke gärt eine Unzahl vorbereitender Umstände, die der Held durch die Energie seines Wesens zusammenfaßt, sie mit einem Teile von sich selbst vermischt, und sie dann zur Tat macht. Der Held ist nichts ohne das Volk, das Volk nichts ohne den Helden, beide leben in der unlösbarsten Ehe. Christus, der größte Held aller Zeiten, den man hin und wieder als Beispiel angeführt hat, daß eine große Tat ohne irdischen Boden wachsen könne, fand gerade für sein Werk die reichste Gunst der Umstände vor, wenn man, wie billig, nicht auf das augenblickliche Triumphieren des jüdischen Synedriums über ihn ein besonderes Gewicht [133] legt, sondern darauf, daß die beiden entgegengesetzten Gestalten der alten Religion, der Paganismus und das mosaische Gesetz, sich geistig abgelebt hatten, ohne politisch indifferent und streitunfähig geworden zu sein.

Das sind allgemeine Sätze, die zu finden nicht schwerfällt. Das Schwierige aber ist, bei den einzelnen Ereignissen auszufinden und darzustellen, welchen Anteil an ihnen der Held, welchen das Volk gehabt habe? Betrachtet man die Geschichte der Geschichtschreibung, so sollte man fast sagen, eine vollkommene Lösung der Aufgabe übersteige die Grenzen der menschlichen Kraft. Lange galten die Alten auch für vollkommene Muster in diesem Gebiete, in ihren Historikern schien die glücklichste Würdigung der einzelnen und des Ganzen vorgebildet zu sein. Nun aber hat Niebuhr schon ganze Strecken der römischen Geschichte aufgelöset und dem Volke, den Zuständen weit mehr übertragen, als Livius, er hat von der attischen Demokratie, von welcher die Quellen so ungerechte Ostrazismen berichten, ausgesagt, daß Plato unrecht und der Demos recht gehabt habe, und welchen Aufklärungen gehen wir nicht wahrscheinlich noch über andere Geschichtträume entgegen?

Gegenwärtig herrscht unleugbar in der Geschichtschreibung die Deduktion aus Zuständen vor. Man sieht den Helden oft nur schwer vor den Dingen, die ihn gemacht haben sollen, wenigstens wird ihm so viel als möglich abgenommen, um ihn gleichen Maßes mit seiner Zeit zu halten. Hiebei ist nicht die kleinliche Sucht rege, unsterbliche Taten aus erbärmlichen Anlässen abzuleiten, sondern die Überzeugung, daß in der Gemeinschaft ein Verstand und eine Kraft rege sei, die den Eigenschaften der größten einzelnen wenigstens das Gleichgewicht halte. Ranke, unser bester Historiker, zeigt schon durch den Titel, noch mehr aber durch die Art der Abfassung seines bisherigen Hauptwerks, daß ihm in den Zeiten, welche der Reformation folgten, kein über alle hervorragender Charakter vorgekommen sei. Er weiß zwar sich nach der Seite der Individuen zu wenden, am besten gelingen ihm aber doch die Porträts von solchen, welche abwartender oder retardierender Art waren oder an Geschicksverwickelungen untergingen. [134] Ich erinnere an seine Schilderungen von Karl dem Fünften, Philipp dem Zweiten, Johann von Österreich.

Der Hegelianismus ist dieser historischen Manipulation günstig, es scheint aber in ihr auch die Erinnerung an den außerordentlichen Mann sich zu regen, dem keiner seiner Feinde für die Person gewachsen war, und der dennoch dem Volksgeiste erlag. Denn die Geschichte nimmt mehr als jede andere Wissenschaft ihre Stimmung von der Zeit an, in der sie ihr Zeugnis niederschreibt. Dagegen war ihre Lehre früher mehr biographischer Art. Trocken genug verfuhr sie, das ist wahr, wenn sie auf die Entschließungen des Feldherrn, des Ministers, des Königs das Gewicht legte, aus ihnen den Erfolg entspringen ließ, und die Masse fast nur als den Stoff darstellte, in dem oder durch den gewirkt wurde, oder der zu einem unvernünftigen Siege über die glücklose Größe gelangte. Aber sie regte dadurch eben den Trieb an, diesen dürren Rahmen mit freilich oft falsch-lebendigen Vorstellungen auszufüllen. Hin und wieder wurde auch jene atomistische Ansicht laut, die von den Franzosen herübergekommen war, und derer ich vorhin beiläufig gedachte. Die, welche einen Krieg Ludwigs sich an dem schiefen Fenster von Klein-Trianon entzünden läßt, und einem Paar Handschuhe eine große Rolle in der Geschichte der Königin Anna und ihres Feldherrn zuteilt. Aber weit entfernt, daß diese Anekdoten das biographische Element zerstört hätten, hoben sie vielmehr dasselbe nur noch mehr hervor, da sie zeigten, daß selbst von den Launen der großen Weltgestalten die Welt häufig aus den Angeln gehoben worden sei. – Charakteristisch in der Geschichtslehre der damaligen Zeit war auch noch, daß über der ganzen christlichen Zeit der protestantische Blick schwebte. Das Mittelalter wurde als Barbarei, die Reformation als das schlechthin gute Werk, das Papsttum als eine Ausgeburt der Unvernunft und Heuchelei tradiert. Alles dieses versteht sich natürlich nur vom Durchschnitt der Lehre, denn die Nibelungen waren freilich schon früher genannt, die romantische Schule hatte ihre Werke bereits gestiftet, aber populär konnten die Ergebnisse der freien Bestrebungen nicht genannt werden.

[135] In den beiden Hauptnahrungsmitteln des Geistes war es daher leicht, zur Selbstbefriedigung zu gelangen. Die Lehre war eng, von ihrer Enge aber führte die große deutsche Literatur die Jugend in die Weite. Der Anstoß wirkte von ihr aus noch in seiner frischesten Kraft. Lessing war zwar etwas verschollen, auch gehört sein Kultus mehr einem reiferen Alter an. Aber Klopstock war noch keinesweges so in den Hintergrund getreten, daß es nicht für eine heilige Pflicht gegolten hätte, den »Messias« zur Hand zu nehmen und womöglich wenigstens die ersten zehn Gesänge zu bewältigen; seine Oden an die Freunde und Geliebten kosteten uns dagegen keine Mühe, sondern erfüllten das Gemüt mit einem sich von selbst darbietenden Entzücken; Wielands zierliches Spötteln galt uns für die Blüte der Weisheit; Vossens »Luise« stand in hoher Achtung, vor allen jedoch entzündeten Schiller und Goethe, der erste, ein Jahr vor dem Nationalunglück abgeschieden und im vollsten Nachglanz der untergegangenen Sonne leuchtend, der zweite, lebend und die reifsten Schöpfungen, »Wahlverwandtschaften« und Biographie, in die Furchen der traurigen Zeit aussäend. – Herder war der wenigst Zugängliche. Wir wußten mit diesen weichen, wollenen Wort- und Denkgespinsten etwas Rechtes nicht anzufangen.

Die deutsche Poesie hat eine Entstehung gehabt, welche von dem Ursprunge der anderen europäischen Dichtungen ganz verschieden war. Diese brachten ihre höchsten Gestalten hervor teils im Mittelalter, teils in den Zeiten, welche wenigstens noch den Reflex des Mittelalters aufwiesen. Bei den Italienern folgen einander binnen dieser Grenzen in einem wunderbar schönen Reigen Dante, Boccaccio, Petrarca, Ariost, Tasso; bei den Portugiesen tritt Camoens auf unter dem ritterlich-religiösen Sebastian. Bei den Spaniern blühen Cervantes und Lope unter Philipp dem Zweiten, der noch einmal mit ganzer Kraft die Würde der alten Kirche und des gotischen Königtumes aufrechtzuhalten unternimmt, hierin seinem Volke nicht wie eine Singularität vorkommt, sondern den Spaniern der Kluge, der Gerechte heißt. Calderon glänzt unter dem dritten und vierten Philipp, unter welchen jene Richtungen, wenn auch mit weit geringeren Gaben verfolgt [136] wurden. Bei den Engländern hat Shakespeare noch alle Nachklänge des alten »lustigen« Landes und der Feudalkriege im Ohr; bei den Franzosen endlich erscheinen Corneille und Racine unter Ludwig dem Vierzehnten, dem geistigen elften Ludwig. Der elfte Ludwig hatte die großen Vasallen gedemütigt oder vernichtet, der vierzehnte schlug die idealen Befugnisse des spanisch-französischen Rittertums, Galanterie und Bigotterie, zur Krone. Wie die ser König sich den Staat nannte, so repräsentierte er dessen einzigen tapfern, devoten, verliebten Ritter. Ludwigs Hof war das Mittelalter in einer Abbreviatur, welche die Züge der alten Schrift freilich schon etwas verstümmelt hatte. Den Sinn dieser Abbreviatur gaben die großen französischen Dichter wieder, wenn sie auch ihren Helden französische oder griechische Namen beilegten. Und so waren auch sie wenigstens mittelalterlicher Nachfärbung.

Ich glaube, daß vor einem richtig würdigenden Auge die späteren Führer jener Literaturen, soweit sie nämlich ein Eigenes haben anstreben wollen, über oder auch nur neben den genannten Ahnherren nicht Stich halten. Spanier und Portugiesen sind auf ihren Lorbeeren eingeschlafen, von denen kann also nicht einmal die Rede sein. Voltaire nennt sich mit kluger Bescheidenheit selbst den Soldaten Corneilles. In dem, was er eigen hat, in dem kaustischen Witze seiner Romane, in dem Deismus des »Mahomet« ist da aber etwas, von dem organisch gestaltenden Leben der großen Meister des Siècle? Ist's in der Laszivität, in dem Atheismus Diderots, oder in der Ungebundenheit Rousseaus? Alle diese Schriftsteller waren doch nur von der Negation begeistert, der ein abstrakter Begriff, die unbedingte Freiheit des Geistes und Gemütes zur trügerischen Unterlage dienen mußte. Und die Neusten? Spielt nicht Victor Hugo nur mit abgeborgten Klängen? Einzig und allein in der Dudevant will sich etwas Originell-Plastisches Luft machen, aber es ist unentwickelt, läßt sich also noch nicht abschätzen. Ein bedeutungsvoller Zufall muß es heißen, daß sie Aurore heißt, vielleicht kündigt sich in ihr die poetische Zukunft der Franzosen an. Chateaubriand hat dagegen seine besten Schwünge von dem Gefühle der Vergangenheit. Er ist der letzte Troubadour mit längerem Atem, [137] weiterem Blick als Arnaud de Marveil und Pierre Vidal von Toulouse. An Shakespeare reicht niemand hinan, also auch kein späterer Engländer. Durch das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch blühte auf der britischen Insel nur das Lehrgedicht, die deskriptive Poesie, der Familienroman, die Satire, die Sittenschilderung, an und für sich schon niedere oder gemischte Genres. In der neusten Zeit haben zwar Byron, Walter Scott, Thomas Moore wieder einen höheren Ton der Dichtung angeschlagen. Aber Thomas Moore luxuriert zu sehr, um als ein eigentlich großer Dichter dem Neide der Zeiten stehen zu können, Byron ist in dem, worin er Größe besitzt, durchaus Anklage, also Vernichtung, nicht plastisch-aufbauend, Walter Scott dagegen hatte sich ganz in die älteren Motive versenkt nur mit neuerem Geschäfts-und materialistischem Blicke. – Endlich: Sollen wir in Goldoni, Gozzi, Alfieri, Manzoni so große formgebende nationale Geister verehren, wie die Stammväter der italienischen Poesie waren und geblieben sind?

Findet man diese Schätzung richtig, so ergibt sich, daß die Literaturen aller übrigen tonangebenden europäischen Völker romantischen Ursprungs sind, aus romantischem Boden ihre edelsten Säfte zogen, in ihm zu einer noch nicht wieder erreichten Blüte aufwuchsen. Dort hatte sich bei ihnen der Begriff der Klassizität festgestellt. Die romantischen Motive sind aber aus dem Leben verschwunden. Die Dichter jener Völker empfinden daher den Zwang, entweder zurückzugreifen auf abgeschlossene Muster ohne Anfrischung durch einen fortquellenden Strom der wirklichen Dinge, oder sich zu versuchen in neuen Gebieten mit dem niederschlagenden Bewußtsein, daß unleugbar der Nation früher schon einmal ein Allerbestes geboten worden sei. Unmöglich ist nun zwar nichts in der Welt, bis jetzt aber scheinen die späteren Meister nicht den Beweis geliefert zu haben, daß jenes Bewußtsein ohne eine gewisse Abkältung der zeugenden Kraft, wie groß sie auch gewesen, bleiben könne.

Ganz verschieden lautet nun das Taufzeugnis der deutschen Literatur. Wir haben zwar auch eine Poesie des Mittelalters, und seiner Nachzeiten: »Nibelungen«, »Tristan«, »Parzival«, [138] Minnegesang, dann die Meistersänger, Hans Sachs, die scharfen Satiriker der Reformationszeiten, endlich die schlesische Schule und Fleming. Ich teile die Verehrung für diese alten Denkmale, allein wer möchte behaupten, daß sie unter Umständen entstanden seien, unter welchen Klassiker möglich sind? Diese entstehen nur, wenn ein Volk den Kern seines Wesens in seinen Zuständen empfunden hatte und die Sprache so weit gebracht worden war, daß sie für bevorzugte Geister zum Instrument mustergültigen Ausdrucks werden konnte. Italien besaß Eleganz des Wissens und Lebens, die Durchbildung der Einzelverhältnisse, welche für die Entwicklung der Eigenschaften so günstig ist, Spanien seinen insularischen grandiosen Fanatismus, Portugal berühmte Seefahrer und fabelhafte Küstenfernen, England ein reiches Volkswesen und die mannigfachste Gliederung der öffentlichen Verhältnisse, Frankreich die hohe Komödie der Repräsentation, als die Klassiker dieser Nation erschienen. Das deutsche Volk aber war weder im Mittelalter noch in den Zeiten, die diesem folgten, eines solchen Kernes sich bewußt geworden, auch hatte ein entsprechendes Idiom sich nicht hinreichend vorbereitet. Die romantischen Elemente waren wohl alle vorhanden in Deutschland, aber teils waren sie mehr angeeignet, wie das Rittertum, was selbst nur wieder im südlichen und westlichen Deutschland zu einer gewissen Zierlichkeit der Existenz kam, teils aber und hauptsächlich fehlte das Etwas verbreiteter Bildung, durch welches alle jene Elemente erst für den großen Schriftsteller zubereitet werden müssen. Der große Schriftsteller ist wie der große Feldherr, der sich auch nicht in das Handgemenge begibt, sondern dem sich das Heer, die Tapferkeit der einzelnen, der Verstand der Untergebenen zu feinen Abstraktionen klären müssen, wenn er seine beste Kraft zeigen soll. Die Verfasser der »Nibelungen«, des »Narrenschiffes«, des »Leo Armenius« standen gleichsam im Handgemenge rüder Vorstellungen, und deshalb konnten sie den nachwachsenden Geschlechtern der Deutschen nicht das werden, was Dante, Cervantes, Corneille ihren Nationen geworden sind. Die deutsche Literatur des Mittelalters blieb ein großer Ansatz, ein kühner Handstreich, sie konnte nicht für [139] den Sieg des deutschen Geistes in einer Hauptschlacht gelten. Man lobe und preise jene älteren Werke, wie man will, man wird aber den Flecken der Barbarei nicht von ihnen hinwegpreisen.

Dem achtzehnten Jahrhundert mußte es vorbehalten bleiben, das Geburtsjahr der eigentlich großen Literatur der Deutschen, derjenigen, welcher eine nationale Nachwirkung von langer Dauer vorherzusagen ist, zu werden. Über den politischen und patriotischen Unwert dieser deutschen Zeit sind wir einverstanden. Aber gerade in dem Unwerte konnte nur eine eigenste Seite der Deutschen erst zum Vorschein kommen, von welcher in meinen Betrachtungen schon mehrfach die Rede gewesen ist: ihre Subjektivität. In dem Chaos des aufgelösten Staates, der verwesten Kirche, der zerrütteten leitenden Begriffe entsprang eine Unzahl von Individualitäten, deren Gemeinsames nur war, daß eben das Individuum sich mit allen seinen Berechtigungen und Launen voll in die Wirklichkeit hinausleben wollte. Diesen Stoff subjektiver Ansprüche ergriff nun der Geist großer Männer durch eine Sprache, welche gerade so weit mannbar geworden war, um unter dem Kusse der Meister Mutter werden zu können. Alle unsere großen Schriftsteller gehen von Standpunkten aus, die nur ihnen, nicht einem Vaterlande, einem Kirchendogma, einer stabilen öffentlichen Meinung angehören. Klopstocks lyrische Gedichte sind der Ausdruck individuellster Empfindungen, im »Messias« muß er zwar einigermaßen an den protestantischen Lehrbegriff sich anschließen, er gibt sich aber dafür durch Abbadonna Genugtuung, den sentimentalen Teufel, und träumt das imaginäre Vaterland Hermanns; Lessing will so wenig etwas Festes, außer ihm Stehendes, daß er einmal sagt, er würde, ließe ihm Gott die Wahl, der Schale voll Wahrheit unermüdliches Forschen, mit beständigem Irren verbunden, vorziehen. Herder ist mit seinem schweifenden, weiblichen Geiste überall und nirgends, die Humanität, als deren Priester er genannt wird, hat wenigstens an keinem Orte einen greiflichen Kultus; Schillern ist alles Wirkliche das Gemeine, seine etwas hektische personelle Sehnsucht das Ideal; Goethe endlich will mit seiner universellen Begabung[140] nur sich und noch einmal sich und ohne Ende sich in den Dingen. Da aber ein solcher Wille nur mit Maß und Weisheit zum Ziele gelangen kann, so wird er gewissermaßen ein gelinder Tyrann der Dinge, ein Despot, unter dem es den Dingen wohl geht, ihm aber ergeht es über oder in ihnen doch am besten.

Sonach ist unsere große Literatur entstanden aus völlig antiromantischen Stimmungen, nach dem Verschwinden des letzten Widerscheins des Mittelalters; sie ist die vorzugsweise moderne. Das moderne Leben ist mit seinen feinsten Nuancen, mit seiner Anatomie der Seele, mit allem Zauber und Elend der Gegenwart nur in ihr zu seinem vollen Ausdrucke gelangt. Während die anderen Nationen nach genuinen Schöpfungen aus der Fülle ihres modernen Lebens heraus umhertasten, und nur zu solchen mittleren Maßes gelangt sind, besitzen wir in Symbolen des modernen Geistes (der nicht immer an einem Stoff aus der jüngsten Zeit sich abzudrücken braucht; ich erinnere an »Nathan« –) unsere Hauptwerke.

Mit dieser ganz subjektiven Poesie trat nun die Mehrzahl der Empfangenden von jeher in ein subjektives Verhältnis. Während bei den andern Völkern sich rasch das Gefühl erzeugte, daß die Dichtkunst eine Kunst, ein heiteres Spiel, eine Form sei, blieb bei uns vorwiegend der stoffartige Anteil, hervorgegangen aus dem Glauben, daß Dichten eigentlich ein Handeln in Versen vorstelle. Vielfältig hat man sich über dieses unzarte und schwerfällige Interesse geärgert, und doch war es nur eine deutsche Notwendigkeit. Die ausgestattetsten Individuen bei uns wollten ja, von keinem äußeren Gesetze bestimmt, nur den innersten stofflichen Gehalt ihres Busens entladen, dieser Gehalt, zwar durch eine Form gefaßt – denn sonst hätte er nicht Poesie werden können –, aber doch immer über die Form hinausschwellend, wurde von den Empfangenden entgegengenommen, wie nun eines jeden Individualität die Wahlverwandtschaft bildete. Goethe gesteht selbst, daß seine Werke nur Bruchstücke einer großen Konfession seien; wie konnte er sich also darüber formalisieren, daß »Werther« die Deutschen nicht als Kunstwerk, sondern als Wirklichkeit entflammte?

[141] In neuster Zeit hat sich der stoffartige Anteil bis zur Karikatur gesteigert. Meistens macht er sich leider als Haß Luft. Es darf in einem Werke nur diese oder jene Stelle vorkommen, welche dem Sinne einiger Menschen nicht behagt, so wird darum das Werk und der Autor verworfen ohne Untersuchung, ob die Stellen nach den Gesetzen der Komposition nicht gerade so lauten müssen, wie sie lauten. Ich selbst habe davon noch neuerdings an vielen Urteilen über die »Epigonen« eine Erfahrung gemacht. Während das Werk in seinem Schlusse gerade lehrt, daß die schrecklichsten Zerstörungen die in der Zeit schlummernden Heilungskräfte nicht vernichten können, sahen viele nur die abgelebten Figuren, durch welche sich das Thema seiner Natur nach auch freilich hindurcharbeiten muß, und verwarfen die Arbeit als eine nihilistische. Sie bedachten nicht, daß, wenn ich einen Schritt weiter gegangen wäre, ich das Gebiet des Staatsmanns, des Philosophen oder des Predigers betreten hätte. Es war mir merkwürdig, daß gerade den frischesten und gesündesten Lesern der Atem der Hoffnung aus den »Epigonen« entgegenwehte, so daß mir daher die Vermutung kam, die anderen, welche von Verwesungsduft schwatzten, möchten sich wohl selbst gewittert haben.

Ein stoffartiger Anteil solches Gepräges ist nun freilich etwas gar Schlimmes. Jener Ältere aber, der mehr aus dem Vollen auf das Volle ging, wird so lange immer wieder emportauchen, bis die deutsche Poesie die Form findet, die sie bei ihrem subjektiven Ursprünge noch nicht rein erlangen konnte. Ich meine nicht die äußere grammatische Form, für die Platen lebte und starb, sondern eine innere, geistige, eine, wie sie mir aus Shakespeare, Dante, Cervantes deutlicher entgegentritt, als aus Goethe. Die deutsche Poesie als Kunst will mir als eine zweite Möglichkeit unserer großen Literatur erscheinen.


Gerade wegen ihres Stofflichen und Subjektiven war aber die Literatur besonders geeignet die Trösterin eines zerdrückten Volkes zu sein. Die Form wird genossen und zum Genuß taugen nur glückliche Zeiten, der Gehalt spornt in [142] der Not an, regt auf, hält den Menschen zusammen. Die Form tritt als ein Medium zwischen Dichter und Publikum, am Subjekt klammert sich das Subjekt unmittelbar an. Es ist wahr und muß immer wiederholt werden, die Deutschen hatten in jenen Leidensjahren nur in ihrer großen Dichtung das Evangelium, welches sie zur Gemeine machte, sie über der materiellen Not, über dem Verlieren in eine wüste Verzweiflung emporhielt. Namentlich sind Goethe und Schiller die beiden Apostel gewesen, an deren Predigt sich das deutsche Volk zu Mut und Hoffnung auferbaute. Es ist mehr als sündlich, wenn dieses unsterbliche Verdienst nachmals hin und wieder in stumpfsinniger oder heuchlerischer Mäkelei hat vergessen werden wollen. Die »Evangelische Kirchenzeitung« und die mit ihr trollende Lämmleinsbrüderschaft hat den beiden ihr Heidentum aufgestochen und mancher meint etwas recht Kluges gesagt zu haben, wenn er von sich gibt, daß Goethe doch keine Religion habe. Er hatte die Religion, ein großer Mann zu sein und den Ausländern Bewunderung abzuzwingen, während wir anderen vor ihnen im Staube knirschten: Ich sage euch, diese zwei Heiden haben uns mehr genützt, als ihr guten Christen jemals uns nütztet, nützet und nützen werdet! –

Das Verhältnis, in welches sich die Jugend zu den großen Schriftstellern setzte, war ein leidenschaftlicher Liebesbund. Das junge Alter pflegt eine richtige Ahnung von dem Höchsten zu haben, was gerade in der Zeit da ist. Die Ersten lebten noch zum Teil und das tat auch viel, denn das Tote ist abgeschlossen und fällt der Betrachtung anheim, das Lebendige weist aber immer in eine unendliche Zukunft hin; der Nerv der Bewegung wird von ihm affiziert. Sie kamen uns wie Heilige vor, deren leuchtende Fußtapfen zu sehen, schon das höchste Glück gewesen wäre. Von Kritik war unter diesen Jünglingen nicht die Rede. Eine beschränkte Lehre machte die Seele nur um so lechzender, am Quell der Poesie sich zu berauschen, wenn sie einmal zu ihm hinangeleitet worden war. Auch war der Blick nicht zerstreut, die Literatur bot dem geistigen Auge die einzige Weide. Von der bildenden Kunst, welche jetzt viele ableitet, sprach niemand.

[143] Am gewaltigsten unter allen wirkte aber doch Schiller, während Goethe uns mehr ein Gott in unendlichem Abstande blieb. »Faust«, der jetzt das Haupt-und Grundbuch der Jugend geworden ist, regte uns eher Schreck als Freude an. Ich erinnere mich noch des eigenen Fröstelns, mit dem ich Mephistopheles und die Meerkatzen zum ersten Male gedruckt las. Einer unserer Lehrer sagte, es solle das größte Werk Goethes sein, man könne es nur leider nicht verstehen. – Schiller hat das ganz eigentümliche Genie besessen, scheinbar die Gestalten der Welt heranzubeschwören, und sie doch so im Feuer des Begriffs wieder aufzulösen, daß sie Schatten glichen, die nun ein jeder erst mit seinem wärmsten Herzensblute tränken mußte, um die edeln bleichen Lippen für sich zum Reden zu bringen. Schillern ist die Welt dunkel und in dieser Dunkelheit läßt er einige Figuren ohne individuelle Züge aber von glänzender Durchsichtigkeit erscheinen. Gerade diese erhabene Transparentmalerei war es aber, was dem Sinne der damaligen Jugend am mächtigsten zusprechen mußte. Das frische Gefühl der Menschheit verlangt nach Gestalten, es mag aber nicht gern seine noch große Reizbarkeit durch ihren Realismus belästigen lassen. Damals nun bedurfte der auf allen Seiten von der kolossalsten Wirklichkeit umdrängte Sinn nur noch mehr des poetischen Widerhalts, den ihm diese großen und doch leichtfaßlichen Transparente gaben. Obgleich die Empfindsamkeit noch nicht der Jugend verschwunden war, so konnte doch die Poesie jener Stimmung unter so historischen Umständen in uns nur die zweite Stelle einnehmen, und deshalb ist erklärlich, weshalb »Werther« uns nur in geringerem Grade berührte, selbst hinter Klopstocks tönenderen Freundes- und Liebesworten zurückstand und erst unsere reifere Zeit entzücken sollte. In Schiller traf nun aber alles zusammen, was wir begehrten, gleichsam historische Sentimentalität wehte uns aus ihm entgegen. Seine voll hinrauschenden Worte prägten sich fast ohne Absicht, sie zu behalten, dem Gedächtnisse ein; das Gedächtnis ist aber die erste Kraft, welche im Menschen sich ausbildet. Wird man mich mißverstehen, wenn ich sage, ich halte es für das Hauptverdienst Schillers, der größte Jugendschriftsteller [144] der Nation geworden zu sein? – Meine Verehrung für ihn habe ich hoffentlich deutlich genug ausgedrückt, allein dieser unbeschadet darf ich wohl gestehen, daß die Zeit mir ziemlich nahe zu sein scheint, in welcher er dem männlichen Alter ebensowenig mehr bieten wird, als ihm z.B. schon jetzt Herder noch bietet.

Unsere Begeisterung für ihn ging aber bis zur Andacht. Es war uns wunderbar, daß ein solcher Mann hatte sterben können; das Bewußtsein, daß sein Tod erst vor wenigen Jahren erfolgt sei, schärfte noch die mythische Empfindung, von welcher jeder in seinem Privatgeschicke ein Analoges erlebt, wenn nun ein Geliebtester soeben abgeschieden ist, und die an den Verlust noch nicht gewöhnte Seele aus ihren Tränen und aus ihrer Sehnsucht, aus den Kleidern des Dahingegangenen, aus den Spuren seines Wirkens, aus allem, was seine Hand berührte, noch eine Zeitlang die teure Schattengestalt sich zusammenwebt. So schritt uns Schiller als Schatten noch umher, denn er war ja in der Mitte seiner Laufbahn hinweggerafft worden, und wir sagten uns, daß wir, wenn er das gewöhnliche Lebensalter erreicht hätte, ihn dereinst vielleicht von weitem gesehen haben würden. In einer unserer Zusammenkünfte, es mochte sieben Jahre nach seinem Tode sein, als wir wieder einmal über ihn sprachen, rief einer plötzlich aus: »Wenn er noch lebte, wollte ich gern einen Finger meiner rechten Hand darum geben!« – Dieser Eifer blieb nicht ohne Nachahmung. Ein zweiter setzte die Hand, ein dritter beide Hände daran. Der Enthusiasmus wuchs und sprach sich in immer größerem Erbieten zu Verstümmelungen aus, so daß, wenn man die Gliedmaßen, welche aufgegeben werden sollten, zusammensummiert hätte, der ganze Kreis zum wenigsten einen vollständigen Menschen eingebüßt haben würde. Man kann diese Szene lächerlich finden und zweifeln, ob der Opfermut stark genug gewesen wäre, sich beim Worte nehmen zu lassen, indessen ist es doch immer schön, wenn die Jugend ihre ersten Aufregungen von starken, positiven Geistern empfängt.


Ich habe die Literatur, welche durch Goethe, Schiller, Herder, Klopstock, Wieland, Lessing, Voß, und die dieser [145] Reihe Nachfolgenden repräsentiert wird, unsere große genannt, weil sie ganz aus der vollen Nationalität und aus einer der ausgesprochensten Seiten in ihr erwuchs, in jenen Männern die begabtesten Organe fand und also auch voll in das Volk zurücktönte. Aber die Meister selbst drückte doch ein stilles Ungenügen, welches dem Poeten nicht ausbleiben kann, wenn er, wie hier geschehen, nur geschaffen hat, um eines Stoffes quitt zu werden. Man erinnere sich an die Mühe, die sich Goethe und Schiller gaben, Regeln zu erfinden, die Motive in eine Theorie zu bringen, den Dienst der Muse, sozusagen, reglementsmäßig zu versehen, man erinnere sich an die Urkunde dieser Mühe, an den Briefwechsel.

Der Grund jenes Ungenügens war das Bewußtsein unserer Heroen, daß die Kunst fehle, welche doch immer das Alpha und Omega des Poeten ist. Sie konnte aber von ihnen mit allem Experimentieren nicht entdeckt werden, weil jene großen Männer sonst an sich und ihrer Art zu Selbstmördern hätten werden müssen. Es ist merkwürdig, daß Schiller auf diesem Wege zum Chore gelangte, der ohne alle organische Vermittlung mit seiner Tragödie von Messina blieb, Goethe aber zu »Hermann und Dorothea« und zu den »Wahlverwandtschaften«, zu einem Epos und einem Roman, welche dramatischer sind, als irgendeins seiner Dramen. Das Resultat ihres Suchens war also, abgesehen von dem Gedankengehalt jener Werke, ein totales Mißverständnis über die Form, eine Entmischung der Form.

Ein zweiter praktischer Versuch, der deutschen Poesie die Form zu erobern, war die romantische Schule. Sie gehört zu den am seltensten in der Literatur vorgekommenen Beispielen, daß sich bei voller Blüte der einen Richtung schon ein Gegensatz auftut und zwar nicht der Eifersucht, der Kleinmeisterei, sondern ein tiefer, gründlicher; ein Gegensatz des Prinzips. Man war in dieser revolutionären Schule freilich in einiger Verlegenheit, da man sich vielfältig kritisch äußerte und die Kritik doch ein Objekt behalten mußte, das Objekt aber wegfiel, wenn die ganze deutsche Literatur negiert wurde. Man ließ daher vorbereitende oder untergeordnete Gestalten, wie Lessing oder Bürger, stehen, oder lobte in [146] einschränkender Weise, gegen den zweiten aber unter den ersten, gegen Schiller, tat sich ein entschiedenes Mißwollen kund, wodurch die Schärfe des Gegensatzes enthüllt wurde. Mit Goethe gab es ein eigenes Verhältnis. Er hatte jeden zu mächtig berührt, als daß das nicht hätte eingestanden werden müssen, man zollte ihm daher leidenschaftliche Verehrung, während man selbst produktiv oder didaktisch auf diametral entgegengesetzten Mustern und Methoden sich gründete. Goethe hat dieses zweideutige Verhältnis gefühlt und sich darüber so ausgesprochen, als habe er den Weihrauch einer klugen Politik zu danken gehabt. Daran glaube ich nicht, denn die Urteile über ihn, die aus der Schule hervorgingen, sind, wenn sie gleich seine eigentliche Grundnatur nicht berühren, doch der Art, um als Worte ehrlicher Überzeugung gelten zu können. Vielmehr war es eines der Verhältnisse, in welchen jemand das Große anerkennt und doch das Gefühl in sich trägt, daß dadurch das Allergrößte nicht habe erreicht werden können.

Die Schule griff unleugbar die Sache praktischer an, als Goethe und Schiller, sie stellte sich bei einem Gegenstande höherer Empirie auf den empirischen Standpunkt und wies nach den romantischen Literaturen hin, die eine Form besaßen; denn nicht um Rittertum, Andacht, Vergangenheit selbst war es ihren Stimmführern zu tun, sondern um die Dichter dieser Dinge. Sie brachten die Dichter in voller Rüstung herüber, welche die Poesie als Kunst getrieben hatten: Shakespeare, Calderon, Cervantes. Sie redeten von Dante, von Boccaccio, Petrarca geistreicher, als es je geschehen war. Von wie vielen anderen, was in das System ihrer Vorstellungen paßte, redete die Schule nicht außerdem noch! In ihren eigenen Schöpfungen verließ sie den subjektiven Weg der älteren Meister; sie trank aus dem Borne der der Gegenwart entlegenen Ideen, und vermied selbst in unwesentlichen Nebensachen die Reminiszenz an die fremden Muster nicht.

Die produktiven Geister in ihr waren Friedrich Schlegel, Novalis, Tieck; denn August Wilhelm ist, obgleich er viele Verse gemacht, doch nie etwas anderes gewesen als Kritiker, Gelehrter, Metriker.

[147] Friedrich Schlegels Geist beherbergte manches. Seinem innersten Sinne stand aber doch wohl Calderon am nächsten. »Alarcos« bleibt sein bedeutendstes Gedicht und dieser ist ganz calderonisch gedacht. Auch in seinen lyrischen Sachen sind Nachklänge jener pomphaften runden Kategorienwelt des Spaniers vernehmbar.

Novalis vertieft sich in die Mystik des Mittelalters, insofern sie ihm durch das Mittel seiner Naturwissenschaft und der Naturphilosophie erscheint. In »Heinrich von Ofterdingen« konsolidiert sich diese Mystik selbst wieder zum Begriff, der an dem Dienstmanne des Herzogs Leopold von Österreich eine gelegenheitliche Entwicklung findet. In den Fragmenten und geistlichen Liedern wird die Richtung hin und wieder getrübt durch protestantischen Pietismus. Novalis hat allerdings einen Drang Eigenes zu offenbaren, aber man fühlt doch in den wunderbaren Kristallisationen seines Geistes etwas Fremdes, ihm nur Angeeignetes wirkend.

Tieck ist am schwersten zu fassen. Das steht fest, daß er der größte Dichter der Schule war. Zu selbstständig, um in fremden Kleidern volles Behagen zu empfinden, und doch zurückgestoßen von der Gegenwart, von der Stimmung, wie sie war, erschafft er sich zwischen zwei Welten eine eigene, dritte, phantastische, in welcher eine fortwährende Magie operiert. In dieser Welt ist nichts wirklich als die Phantasie des Magus. Aber in dem Zauberer selbst geht nach und nach ein Märchen der Verwandlung vor. Die holden, leichten Gestalten der Jugend weichen zurück und wollen dem beschwörenden Worte nicht mehr gehorchen. Die realistische Welt bleibt stehen und wird von ihm in den Novellen seines Alters von den individuellsten Gesichtspunkten aus betrachtet. Nur selten sind in ihnen die Figuren, die durch sich da sind, eine epische Milde und Rundung besitzen, meistens redet der Dichter durch die Personen nur das Thema seiner Abneigung oder Vorliebe aus. Und so erlebt die Schule in ihrem poetischen Haupte schon wieder den Rückschlag in die alte, subjektive Art, die aber hier einseitiger und schärfer auftreten muß, als bei den Meistern der reinen anderen Richtung, [148] weil dem Poeten unterwegs eine Saite seiner Leier gesprungen ist.

Die romantische Schule war von dem größten Einflusse auf Koterien und poetische Köpfe. Kein wahrhaft Strebender konnte sich ihrem Reize entziehen, weil sie einen notwendigen Punkt in der Entwicklung der deutschen Literatur angab.

Aber populär konnte die Schule nicht sein. Denn sie ruhte nicht auf der Breite des wirklich Vorhandenen, sondern sie ging aus der Sehnsucht nach einem Nichtdaseienden hervor, und zwar aus einer Sehnsucht, die nur ein feines ästhetisches Bedürfnis zum Ursprung hatte. Gerade Rittertum, Katholizismus, Märchenwelt, Mystik waren es, die das aufgeklärte Jahrhundert perhorreszierte, so perhorreszierte, daß es nicht einmal das Spiegelbild dieser Lebensgestalten sehen wollte. Die Dichter der großen Literatur hatten zwar an alle jene Gebiete auch gestreift, aber in ihrem Sinne, nicht im Sinne der Ursprungszeiten. Sie brachen den Acker um, wie ihr ökonomisches Bedürfnis es erforderte.

Am wenigsten konnte die Schule bei der Masse der Jugend rasch populär werden. Die Jugend von 1806 und 1813 verlangte nach starken, auf Energie und Praxis hinleitenden Anreizen. Die schönen fremdartigen Klänge und Schatten gaben dergleichen nicht. Im Frieden hat sich das geändert. Sonderbar war es, daß das Romantische zuerst durch die Schüler am heftigsten aufregte und wieder am frühesten durch den manieriertesten unter den Schülern, durch Fouqué. Er war rasch allgemein bekannt und brachte in den ersten Jahren der Restauration eine Wirkung hervor, die man wohl mit der des »Werther« und der »Räuber« einigermaßen vergleichen durfte. Traurig, daß dieses große Talent sich so gar nicht besinnen zu lernen vermocht hat, und deshalb auf seinem gelben Streitroß mit verhängtem Zügel in die Wüste galoppiert ist. – Später ist Uhland an seine Stelle getreten. Über ihn werde ich an einem anderen Orte reden.

Das Ziel der Entwicklung, von welcher die romantische Schule einen Punkt bildete, scheint noch vorwärts zu liegen. Wir müssen durch das Romantische, welches der Ausdruck [149] eines objektiven Gültigen sein sollte, aber nicht ward, weil seine Muster und Themen ganz anderen Zeitlagen angehörten, hindurch in das realistisch-pragmatische Element. An diesem kann sich, wenn die Musen günstig sein werden, eineKunst der deutschen Poesie entwickeln. Es ist ein großes Verdienst, welches sich einige Schriftsteller der jüngsten Gegenwart erworben haben, daß sie auf dieses Element zuerst hinwiesen, sich selbst in ihm hervorbringend versuchten.

[150] Jahn

Die Zeitungen meldeten uns kürzlich von einem französischen Sonderling, der noch vor wenigen Jahren alle Vergnügungen von Paris genoß, und nun einsam in einem Bergschlosse am Atlas hauset. Er hat sich zum Moslem gemacht, hält sich eine bewaffnete Schar von Arabern, rächt empfangene Beleidigungen oder ihm widerfahrene Räubereien mit Flinte und Säbel, gibt den Nachbarhäuptlingen Feste, hegt öffentliche Gerichte in seiner Burg, jagt, den Haikh um das Haupt gebunden, im Burnus, den Jatagan an der Seite auf dem Wüstenrosse durch die Metidschah. So spielt er die doppelte Rolle des Scheichs und eines mittelalterlichen Raubgrafen. Die dritte kommt hinzu, wenn er der beiden ersten müde ward. Dann geht er auf ein paar Tage nach Algier, wird Franzose unter Franzosen, liest Journale, trinkt Gascognerwein und lacht in Gesellschaft seiner Landsleute über seine eigenen Phantastereien.

Der französische Sonderling ist selten. Er hat immer etwas Theatralisches, er wäre unglücklich, wenn niemand den Narren bemerkte.

Der englische Sonderling will durch seine Whims nur die Souveränitätsrechte persönlicher Freiheit ausüben; es liegt ihm nichts daran, ob man auf ihn achte. Lord Gordon wurde Jude mit allen Formalitäten, ging nur mit Juden und ließ sich nur von Juden bedienen, ohne dadurch Aufsehen erregen zu wollen. Gleich verborgen hielt sich der Gentleman in Sohosquare, der ein Serail von einer Frau und sechs Odalisken in vollkommener Ordnung und Einigkeit zu besitzen verstand. Auch der Mann, der jahraus, jahrein auf einem Boote in der Themse lebte, um den Taxen zu entgehen, der Squire, welcher seinen Wohnsitz in einem eisernen Wagen aufgeschlagen hatte, und der Lord, dessen einziges Vergnügen darin bestand, sich von Mädchen, die einander bei diesem [151] Geschäfte ablösen mußten, in den Haaren wühlen zu lassen, machten sonst nicht viel Wesens von sich. Der Klub der schmutzigen Hemden in London, der am Eingang des Versammlungszimmers das Gesetz publizierte, »daß kein besuchender Freund ohne Hemd zugelassen werde«, residierte unter der Erde in der Heimlichkeit. – Den Satz: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, praktisch zu machen, das und sonst nichts weiter ist des englischen Sonderlings Absicht. Beide, der französische und der englische treffen darin überein, daß sie für sich oder höchstens nur mit einigen Bundesbrüdern Originale sein wollen; größere Gesellschaft würde sie genieren.

Der deutsche Sonderlingsgeist nistet sich am liebsten unter den Gelehrten ein und zeigt sich meistens immer reformatorisch. Unsere Sonderlinge sind Apostel ihrer Launen und möchten alle Heiden zu ihnen bekehren. Weil nun aber das Leben an vielen Punkten ein gar harter und widerstehender Block ist, so werden die weichsten Stellen ausgesucht, an denen die Bearbeitung noch am ehesten gelingen mag. Diese sind Erziehung, Sprache, Schreibung, allenfalls Gebräuche. Basedow oder ein Basedowianer buk die Wissenschaften den Kindern in Semmelteig und ließ die Kenntnisse aufessen. Der andere schrieb fon statt: von. Ein dritter spricht und schreibt plötzlich, als sei die Sprache seine Magd, die sich alles von ihm gefallen lassen müsse. Ein vierter findet Titulaturen lästig und fordert jedermann auf, ihn und jeden beim Namen zu nennen; das andere sei vom Übel.

Auch das Geschlecht der Sonderlinge ist im Absterben, wie das der komischen Figuren. Einer unserer größten war Jahn. Er hatte sich nicht bloß auf Erziehung und Sprache versessen, sondern wollte die Welt überhaupt in die Gestalt bringen, wie sie etwa ein gescheiter altmärkischer Bauer, der zugleich zufällig zehn Jahre lang studiert hat, erblicken mag. Ich habe gesagt, er war. Man muß von ihm in der vergangenen Zeit reden. Er verscholl. Ohne die Nachricht, daß bei der Einweihung des Schwedensteines unweit Lützen plötzlich auf dem Weißenfelser Markte ein Alter in weißem Bart erschienen sei, wäre wohl kaum noch von ihm einmal die [152] Rede gewesen. Jahn war der reformatorische Sonderling par excellence; er wollte alles umkehren. Berlin lag ihm nicht an der rechten Stelle, an der Elbe sollte ein Preußenheim erstehen. Eine Volkstracht empfahl er an, worin jeder bei allen öffentlichen Gelegenheiten zu erscheinen habe, der Frack war ihm eine Todsünde, Volksfeste begehrte er mit dreiabendlichen Feuern, an Tagen, deren Gedächtnis erst durch die Gelehrten im Volke hätte wieder erschaffen werden müssen. Handarbeiten müsse jeder lernen, der Sinn für das Schöne sei zu wecken, nur solle nichts Nackt-Griechisches öffentlich aufgestellt werden. Selbst den Mädchen legte er Leibesübungen auf, und sogar schießen sollten sie lernen, »um nicht kunstgerecht wehrlos zu sein, und beim Knall des Gewehres zusammenzufahren, wie Gänse beim Donner«. – Über den Staat müsse jeder unterrichtet sein. Niemand solle Staatsbürger werden, der nicht vorher ein Examen über Pflichten und Rechte des Staatsbürgers bestanden habe. Die eigentlichen volkstümlichen Bücher müßten noch erst geschrieben werden, provisorisch mögen einige Stücke von Schiller dafür gelten. Insbesondere verlangt er nach einer »Alruna«, einem »Faust« und »Eulenspiegel«, nach einem »Denkbuch für Deutsche«, er verlangt das alles wie der Bauer, der in dem bekannten Liede bei dem Maler das Bild bestellt. Goethes »Faust« läßt er zwar Gerechtigkeit widerfahren, indessen genügt er ihm doch nicht, denn er will einen zweiten haben. »Für diesen zweiten«, sagt er, »wünsche ich eine Geistervereinigung: Knigges Alle-Schulen-mit-durchgemacht-Haben; Lichtenbergs Niefehlen; Richters Unerschöpflichkeit; Wielands Honigbereitungskunst; Meyerns hohen Volkssinn und Kaiserbergs und Luthers lebendige Rede.«

Zwischen solchen Grillen, welche die deutsche Gelehrtenstubenluft nicht verleugnen können, obgleich ihr Fänger viel im Freien verweilte und rüstig wanderte, finden sich im »Volksthum« helle Blicke über Regierungseinrichtungen, allgemeine Bewaffnung, Assoziationen.

Jahns Stärke ist altmärkischer derber Bauerverstand. Mit diesem Bauerverstand trifft er, soweit ein solcher reicht, nicht selten den Nagel auf den Kopf. Die Anschauung eines Nächsten, [153] eines Details ist sehr klar; auch zwei nahe Punkte weiß er mit rascher Vergleichung und hausbacknem Witz in Einigung zu setzen; Sprichwörter sind nach Volksmanier seine Beweisstellen. Charakteristisch ist auch der Ortssinn, mit dem er in weiten Landgebieten sich so orientiert zeigt, wie ein tüchtiger Bauer in der Feldmark seines Dorfes. Das Streichen der Berge, die Wendung der Wälder, das Stromnetz, die Lage der Städte – alles dieses lebt vor ihm in handgreiflichen Bildern. Aber darüber hinaus geht es auch nicht bei ihm. Die schadhaften Verhältnisse sieht er sehr richtig ein. Aber will er sie besser gestalten, so läuft es immer auf eine Verbauerung hinaus. In den »Merken zum Volksthum« wirft er an einer Stelle einen Seitenblick auf Preußens wehrlose Lage zwischen Frankreich und Rußland. Sie ist unstreitig, so wie die Sache jetzt steht, bis dem Staate die Geschicke bescheren, eine wahrhaft nationale Hegemonie über Nord- und Mitteldeutschland zu gewinnen, dessen größtes Unglück; sie erhält ihn in einer beständigen nervösen Spannung, die ihn nicht zu Atem kommen läßt und treibt ihn oft ohne Schuld eines einzelnen zu antigermanischen Sympathien hin. Aber nur ein Weltverhängnis kann den Fehler bessern. Würde man ihn bessern dadurch, daß man, wie Jahn andeutet, Hammen – Grenz- und Schirmwälder – in Rheinpreußen und Litauen anlegte und dies mit Grenzern besetzte? Wie soll man in Westen die Pflänzlinge zu dem halbwilden Geschlechte unter den Fabrikarbeitern finden, und würde im Osten der Wald eher, als der Feind im Lande stehen?

Von diesen und mehreren dergleichen Vorschlägen muß es heißen, wie in dem Vaudeville: Es ginge wohl, aber es geht nicht. – Etwas ist für Jahn nie vorhanden gewesen: das Gefühl von der Kultur der Gegenwart und dem Kontakte, in dem die europäischen Völker stehen und immer stehen werden.

Wie ist es nun gekommen, daß ein gar nicht gewöhnlich begabter Mensch ein so abschmeckendes Original hat werden können? denn so nenne ich ihn mit vollem Rechte, weil seine Ideen nichts Organisches haben, weil seine Tugend eine geistlose ist und nur die Erzeugung einer unsterblichen Langeweile [154] ihr Endziel sein würde. – Zuvörderst war es sein Unglück, daß er neben dem Mutterwitze auch Gedächtnis von weiter Kapazität und bleierne Zähigkeit erhalten hatte, dadurch aber die Anlage zum Wissen und zur Gelehrsamkeit. Die feine Aura seminalis, welche im echten Gelehrten erst die Kraft hervorbringt, lebendige Früchte der Intelligenz zu zeugen, fehlte jedoch, oder wurde von dem plumpen Bestandteil seines Wesens überwuchert, es kam daher nur zu Windeiern und Mißgeburten, weil er zu praktisch war, es bei kahlen Notizen bewenden zu lassen. Er hat unendlich viel zusammengelesen, aber alles wird roh in die dürftigste Gesichtsweite geschoben. Fichte bricht auch, wie wir gesehen haben, Geschichte und die Phänomene des Geistes nach seinen Zwecken um, aber es geschieht mit großem Sinn und mannigfaltiger Bildung. Jahn trägt eigentlich nichts im Kopfe als sein Ideal eichelfressender Germanen, versetzt mit etwas starrem Protestantismus, und dann eine Theorie des Drauf- und Dreinhauens, und auf diese Leisten schlägt er Kaiser und Könige, Schulen und Universitäten, Sitte, Gesetz, Jesuiten und Hussiten. Über die höheren Regionen des Menschenlebens: Kirche und Literatur, bringt er daher immer nur das Trivialste bei. Eine Ausnahme macht jedoch seine Betrachtung des Dreißigjährigen Krieges, in welcher er für diesen merkwürdigen Kampf die verschiedenartigsten und freiesten Augenpunkte genommen hat. Mit jener Periode hatte er sich am nachhaltigsten beschäftigt; es ist daher zu beklagen, wenn ihm das letzte Unglück, das er erlitten, die Mittel geraubt hätte, ihre Geschichte zu schreiben.

Die Zeit war schlaff geworden, die Bildung krankte. Eine Erscheinung war daher indiziert, ähnlich dem, was die Franzosen fünfzig Jahre früher in Rousseau empfangen hatten. Wir waren kaum noch ein Volk, wollten wieder eines werden, nicht ein theoretisch konstruiertes, sondern ein historisches auf unseren Wurzeln; dieser Punkt wurde so tief von allen gefühlt, wie die Zeitgenossen Rousseaus den Haß gegen das abgelebte Feudalwesen, die Anmaßungen eines heuchlerischen Klerus, die Schwätzereien der Sophisten und die spanischen Stiefeln einer zur Zeremonie gewordenen Sitte fühlten. [155] Jahn traf den Punkt des Gemeingefühls, wie Rousseau ihn getroffen hatte. Wie kam es, daß Rousseau im »Contrat social« den Kodex der Revolution zustande brachte, und in der »Neuen Héloise«, in der Schrift über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, im »Emile«, in der Abhandlung über den verderblichen Einfluß der Bildung die Zerstörung aller geltenden Begriffe vorbereiten konnte, während Jahn nur eine Handvoll junger Menschen eine Zeitlang beherrschte, dann vom Schauplatze abtrat gleich einem Kapuziner, von dessen Rede nichts nachbleibt, als das Gellen im Ohr? – Wenn man antworten wollte: Eben weil dieser nicht jener war, so täte man unserem Landsmann unrecht. Denn auch Rousseau hat keine Tiefe der Ideen, keinen umfassenden Geist, er weiß auch nur zu deklamieren, gewagte Sätze durcheinanderzuwerfen, es fehlt auch ihm jede gründliche Spekulation oder geschichtliche Anschauung, seine Prospekte sind ebenfalls nichts weiter als brillant beleuchtete Theaterdekorationen. Die Begabung beider möchte daher nicht so verschieden sein. Und die Sache, die der Deutsche verficht, war besser, denn er hatte etwas Reelles im Sinne, während der Genfer nur auf Zerstörung und nihilistische Träume ausging.

Der Grund liegt darin, weil bei den Franzosen selbst das Falsche in einem allverbreiteten Fluidum schwebt, wodurch es eine Zeitlang Gemeingut werden kann. Dieses Fluidum, mag man es Geist der Nation, öffentliche Meinung, gesellschaftliche Bildung oder wie sonst nennen, umspült jeden Franzosen oder Französierten. Auch Rousseau wurde davon in seiner Einsamkeit, unter seinen Kräutern und Notenblättern angeweht. Mochte er sich in seine Dachstube, nach Savoyen oder Motiers Travers zurückziehen, die Luft folgte ihm, in der alles, was er sagte, so klingen mußte, als habe er nur Millionen aus ihrem Herzen gesprochen. Die Zeiten der heuschrecken- und honigessenden Prediger sind längst vorüber; in der modernen Welt muß selbst der Hypochondrist, der Reformator in einer gewissen wilden Eleganz auftreten, die ihn den eleganten Geistern annähert. Es ist damit wie mit dem Naturzustande in den alten Schäferspielen, [156] der auch nur der verkleidete Zustand der Ducs und Duchessen war. Jene wilde Eleganz besaß Rousseau, er mochte sich noch so sehr anstellen, als sei das Gehen auf allen vieren nach seiner Meinung das Normalziel der Menschheit.

Dagegen ist in Deutschland selbst die Wahrheit einsiedlerisch. Es fehlt die Luft für rasch sich fortleitende Schallstrahlen. Die Deutschen sind maulfaul, oder es herrscht unter ihnen eine Nachgiebigkeit gegen das gesprochene Wort, welche die freie Verhandlung selten zuläßt. Daher treten die Meinungen, wenn sie nicht aus dem Schachte des tiefsten Geistes entspringen, ohne Schliff hervor, bekommen leicht den Rost barocker Geschmacklosigkeit. Jahn brachte es mit allem guten Willen für eine gute Sache nur bis zu Sätzen und Vorschlägen, welche den gebildeten Teil des Volks nicht affizieren konnten, weil das Gepräge der Bildung ihnen fehlte, jenen Teil wohl gar anwiderten, obgleich dessen Interessen mit denen des Redners sympathisierten.

Das Gefühl des Mißstandes, welches aus solcher Entfernung entsteht, bleibt aber dem, der sich vor der übrigen Welt in den altdeutschen Rock einhüllt, und dieses sucht er sich zu verbergen dadurch, daß er sich immer mehr in seiner Manier versteift. Jahn pflegte zu sagen, daß um auf die Menschen zu wirken, man nicht aufhören dürfe zu reden. In seinen Schriften wiederholt er wenigstens unaufhörlich dieselben Gedanken. Und, als sei er auch in dieser Verschanzung noch nicht sicher, so schafft er sich eine Sprache ähnlich dem Gürtelpanzer des Armadills, in welcher Alliterationen, der Numerus gleichklingender Worte, Parallelismen und neualte Schallungeheuer die einzelnen Schilder und Schuppen darstellen. Man begreift sonst nicht, wie, wer die Menschen überreden wollte, nicht die Töne wählte, an die ihr Ohr gewöhnt war.


Fichte hatte in einer seiner Reden auf einen geschlossenen Jugendstaat hingewiesen, als auf eines der Mittel, wodurch die Erziehung des zukünftigen Geschlechts möglich werden könne. Jahn, der sich häufig wie der unbewußte Affe Fichtes [157] gebärdet, machte diesen phantastischen Staat eine Zeitlang wirklich. In demselben herrschte eine Aristokratie des Ringens, Schwingens, Rennens und Reckens.

Die Turnkunst ist ein Musterbeispiel, wie man eine ganz einfache Sache verderben und konfus machen kann. Jahn sagt, er sei 1809 nach Berlin gekommen, schon 1810 haben die Anfänge der Turnkunst sich gezeigt, aus einfachen Jugendspielen habe sich die Sache entwickelt, 1811 sei der erste Turnplatz eingerichtet gewesen. Gemeinsam entstanden nennt er den Komplex der Übungen durch Lehren und Lernen der Lernenden und Lehrenden. – Sieht man das einzelne durch, so erblickt man eine zweckmäßige Steigerung vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten.

Was konnte planer sein? Was lag näher, als den Körper des Menschen auch einmal ins Auge zu fassen, nachdem so viele an Leib und Seele dadurch vermüfft worden waren, daß sie nie erfahren hatten, sie besäßen Arme, Füße, Schenkel, Muskeln, Sehnen? Hatten die Alten nicht recht gehabt mit ihrer Gymnastik, und war das nicht längst von allen Gescheiten eingesehen worden? Wieder also lag vor Jahn eine Aufgabe, vorbereitet, überschaulich, greifbar, schon hin und her von Basedow, Guthsmuths, Salzmann und andern gewendet. Sein guter Stern wollte, daß der Stoff ihm appretiert genug und doch auch noch roh genug unter die derb zugreifende Faust geriet. Er hätte daraus viel machen können.

Er aber verdarb auch diesen Stoff, wie den des Volkstums. Daß er das Ganze zu einem System abzurunden suchte, war gut, daß er Kampfspiele anreihte, ging aus dem Drange der Zeit hervor, welche in den Knaben ihre Kämpfer vorzuüben hatte. Auch das mag hingehen, daß er seine Turner Lieder singen ließ, Feste unter ihnen stiftete, daß er ihnen vorsprach von dem hohen Werte des Lebens unter ihresgleichen, und davon, daß die Turnkunst die verlorene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen solle; wenn es gleich besser gewesen wäre, solche Gedanken nicht als stolze Reflexion in der Jugend wachsen zu machen, sondern abzuwarten, daß dergleichen sich als unausgesprochenes [158] Gefühl zeitigte und an dem nachherigen Leben der Zöglinge zum Blühen kam.

Warum nun aber den unverständlichen Jargon der Schule stiften, durch den seine Schar gewöhnt wurde, sich in ihren leinenen Jacken schon für etwas Apartes anzusehen? Warum dem jungen Stolze Dinge sagen, aus denen unreife Menschen abnehmen mußten, sie würden zwischen Kletterbaum und Springpferd Kerle von ganz besonderem Korn und Schrot, aus denen sie die Einbildung schöpften, nur an Ger und Reck werde die echte Selbstständigkeit herangepflegt? Wie läßt sich endlich das siebente Turngesetz entschuldigen, welches den Fanatismus zum Verteidiger des Instituts aufrief?

Die Sache konnte nicht anspruchslos genug angefaßt werden, wenn sie heilsame Dauer erlangen sollte. Aber zu einer so anspruchslosen Behandlung war Jahn der Mann nicht. Er mußte immer rumoren; der Exzeß, die Verwirrung war recht eigentlich sein Element, darin waltete er auch, wie Augenzeugen versichert haben, später während des Krieges. Er machte aus einem harmlosen Tummeln in der Hasenheide, dem nachher schon von selbst Mut, Zuversicht, Gesundheit der Seele im Leben gefolgt wären, eine Propaganda, einen Staat im Staate.

In etwas müssen ihn freilich die damaligen Umstände entschuldigen. Die Lage war so kritisch, daß das verzweifelnde Gefühl nach jedem Strohhalme griff. Die Alten waren mannigfach verwickelt und geplagt, sie konnten allzumal Sünder heißen und hatten in einem Atem zu zweien Götzen gebetet. Auf der unbeschriebenen Tafel der Jugend war eher noch Platz für ein starkes Wort zu finden. Dennoch würde sich ein reiner und klarer Geist anders zu fassen gewußt haben.

Dem guten Jahn spielte seine Eitelkeit und Herrschsucht einen Streich. Er gehörte zu den liberalen Despoten, die immer das Wort der Freiheit im Munde führen und wenn sie das Heft in die Hand bekommen, ebenso sind, wie die anderen. Es genügte ihm nicht am Werke, das Werk sollte auch schillern und glänzen. Im großen zu herrschen war ihm versagt, so wollte er sich denn ein kleines Reich gründen, [159] dessen Patriarch oder Alter vom Berge er hätte werden mögen.

Nicht, daß er dergleichen sich absichtlich vorgesetzt hätte. Er war überhaupt kein Held der Absicht, er war, wenn er wirken wollte, ein von dunkeln Anstößen Getriebener. Eine innere Geschichte der Turnkunst würde interessant sein, besonders in der Beziehung, um zu erkennen, wann sie ihre Naivität verlor, in der sie gut war, und zum bewußten Eifermute überging, der sie zu etwas Bedenklichem machte und ihren Untergang herbeiführte.

Dieser hat abermals eine Lücke im Dasein der Jugend gerissen. Manche hohle Einbildung, manche leere Aufspannung wäre gewiß unterblieben, welche nun während der Unruhe des Friedens jene Lücke hat ausfüllen sollen.

Grabbe

Erstes Kapitel

Mit *s so frühzeitigem Rücktritte von der Bühne war für mich eigentlich schon die Blüte von dem Unternehmen abgestreift, ehe seine Knospen noch hatten aufbrechen können. Was für Freuden Publikum und Schauspieler dem Führer des Schiffs bei heiterem und schlechtem Wetter bereiten, wußte ich teils aus glaubwürdigen Berichten anderer, teils hätte ich es auch schon selbst an den früheren Versuchen, die von mir geschildert worden sind, verspüren können, obgleich mir so manche besondere Erfahrung noch bevorstand. Der Sache wegen hatte ich mich ihr gewidmet, ich sah ganz neue eigentümliche Resultate, Bestätigungen längst im stillen gehegter Ahnungen voraus; dennoch konnte mir die Besorgnis nicht fehlen, daß auch das Erreichte mit vielfachen Mängeln behaftet erscheinen, und daß über den Wegen, die ich angebahnt, denn doch immer bald wieder Gras wachsen würde. Aber das geistig-künstlerische Zusammenwirken mit einem befreundeten Talente war mir lieb und reizend erschienen, auf dieses gemeinsame Ringen und Schaffen hatte ich mich gefreut. Statt der Freude wurde mir nun die Sorge, mich um ein mir ganz fremdes Gebiet bekümmern zu müssen, damit nur das Gebäude nicht schon während des Aufbaues zusammenstürze. Zur Direktion des Schauspiels hatte ich mich anheischig gemacht, die der Oper fiel als herrenloses Gut mir daneben zu, mir, der ich auf solche Erwerbung durchaus nicht gefaßt war.

Indes hatte ich keine Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen. Der Tag drängte den Tag, ja die Minute die Minute; ein solches Geschäft hat, zumal im Beginn einer Anstalt, eigentlich kein Ende; es würde immer noch zu tun geben, auch wenn die Stunden ihre Dauer verdoppelten. Bald lag [161] die Zweideutigkeit des Geschiedenen abgetan hinter mir, und zugleich trat eine neue Bekanntschaft in die Lücke, wodurch ich mannigfach beschäftigt und angeregt wurde, der Düsseldorfer Bühne aber ein Anteil zuwuchs, frisch, herb, seltsam, wie ihre Jugend selbst damals war.

Unerwartet empfing ich nämlich an einem Tage, der abwechselnd Sturm, Sonnenblicke und Schneegestöber brachte, sich also zur Einleitung der nachfolgenden Verhältnisse wohl eignete, einen Brief, dessen Verfasser, nachdem er mir die übliche Titulatur gegeben hatte, sich so vernehmen ließ:

»Verzeihen Sie, wenn ich mich im Titel irre. Sie sind bekannt genug, und die Adresse wird jedenfalls an ihren Mann kommen.

Ich habe Zutraun zu Ihnen und hoffe auf Sie. Ich glaube nämlich, ich und eine alte Mutter sind verloren, wenn Sie mir nicht zu helfen suchen.«

Nun folgte die Erzählung unglücklicher persönlicher Verhältnisse, über denen der Schleier ruhen bleiben mag.

Dann lautete der Brief weiter:

»An Buchhändler wende ich mich nicht, denn ich verstehe den Schacher zu schlecht. Helfen Sie also mir, und könnten Sie mir auch nur ein Stübchen schaffen und etwas (was Ihnen nicht schwerfallen kann) juristische oder nicht juristische Abschreibereien gegen ein billiges. Auch hätte ich etwas für einen Buchhändler, wovon so recht noch niemand weiß: mein ›Hannibal‹ ist fast vollendet. Wenn Sie mir zu so einem auch hülfen, hätt ich wohl was Winterkost für meine unglückliche Mutter beizu. – Daß mich die Zeit drängt und ich umgehends Antwort wünsche, bitte und erwarte, brauch ich wohl nicht zu sagen. Wer weiß, wo Ihr Brief mich sonst träfe, denn hier in Frankfurt kann ich nicht lange mehr existieren. Meine Adresse ist: An den Auditeur Grabbe, im 5ten Quartier, Lit. E., Nr. 108, auf der großen Bockenheimer Gasse, 3 Stiegen hoch.

Da ich jedoch spüre, wie's oft mit Briefbestellung geht, so bitt ich in ein besonderes Couvert ein paar leere Worte zu schreiben, und dieses sub titulo: ›An den Auditeur Grabbe‹, an die Hermannsche Buchhandlung abzugeben.

[162] Wenn in dem Couvert anfangs steht: ›Herr Grabbe‹, so soll mir das Zeichen sein, den rechten Brief auf der Post zu finden.


Frankfurt am Main
1834.18. Nov. ej. anni.
Ich

Ihr Grabbe«


Mich erschreckten diese Zeilen. Ich wußte, daß Grabbe in Detmold zwar nicht in glänzenden, aber doch in festen auskömmlichen Verhältnissen gelebt hatte; diese waren von ihm aufgegeben, und was das schlimmste war, Haß und Widerwille gegen die nächsten Bande, die er geknüpft, schienen ihn gestachelt zu haben, sich so vermessen in die Luft auf unsichere Spitze zu stellen.

Auch muß ich frei gestehen, daß ich einige Scheu empfand, mich mit einer so exzentrischen Natur in die nächste Gemeinschaft, die von ihm begehrt ward, einzulassen. Meine Obliegenheiten überwältigten mich fast schon; es konnte geraten scheinen, keine neue Verwicklungen heranzuziehen, welche immer das Gefolge des Heimatlosen, Unsteten zu sein pflegen. Ein Verhältnis bestand zwischen uns nicht; unsers flüchtigen halbstündigen Zusammentreffens in Westfalen im Jahre 1831 ist in meinem Reisejournale Erwähnung geschehen; dort und sonst noch, wo es die Gelegenheit gab, hatte ich von ihm mit der Achtung, die ich für dieses sonderbare Naturell empfand, geredet, übrigens war zwischen uns bisher weder Wort noch Brief gewechselt worden.

Alle Zweifel und Bedenklichkeiten mußten jedoch vor der Betrachtung der Not weichen, in welcher sich ein Talent, und eins von den wahrhaften befand. Ich antwortete ihm daher, bot ihm, was ich ihm bieten konnte, und verschaffte ihm einen Verleger unter den Düsseldorfer Buchhändlern, so daß seine Existenz, wenigstens für die nächste Zeit, gesichert war. Bald darauf erhielt ich nachstehendes zweite Schreiben von ihm:


[163] Hochgeehrter Freund!

Ich komme. Binnen wenigen Tagen bin ich da. Meine Menschenkenntnis betrog mich nicht. Ich hielt Sie für ernst, fest und treu, nach Ihren Werken, nach Ihrem Gesicht. Hinter solchen Mauern wohnt grade der Edelsinn. Mit dem Stübchen und 6–7 Taler monatlich bin ich zufrieden. Nein, ich bin mehr als das, ich bin erfreut, und da entstehen jedesmal neue Ideen bei mir, fast Blumen unterm Maischauer. Nämlich: Sie, Uechtritz und ich, sollten wir nicht nach Art der alten Engländer und der neuen Franzosen (Shakespeare und Johnson, Fletcher und Beaumont, Scribe und Konsorten) gemeinschaftlich eine Komödie, oder gar Tragödie bilden können, worin jeder seine Partien und Charaktere ausmalte, jedoch unter der Bedingung, uns wechselseitig zu kritisieren und auszubessern? Dieses Triumvirat würde gefallen, auch von Verlegern und vom Theater belohnt werden. – Dem Ernsten, was jeder für sich behalten will, oder ebenso dem Komischen (was auch oft eine Maske, wohinter ein trauriges Gesicht steckt, ist) schadet's nicht. Es wird in der Stille desto besser ausgearbeitet, um zum Wetteifer mit dem Gemeinschaftlichen verglichen zu werden.

Der Buchhändler Schreiner wird wohl mit meinem »Hannibal« zufrieden sein. Ich kann ihm denselben aber nicht überschicken, weil ich keine Zeit habe, ihn abschreiben zu lassen. Ich bringe ihn mit. Schlecht muß er nicht sein, quia mir zwei Szenen daraus gestohlen sind, und man stiehlt doch keine Kröten, sondern eher Gold.


Frankfurt am Main
28. Nov. 1834
Ihr

Grabbe


Einige Tage später, an einem Abende, da ich zwischen den Kulissen stand, wurde mir folgender Zettel zugesteckt:

»Ich bin hier im * abgestiegen, aber nicht so hilflos, als daß wir uns nicht ruhig besprechen könnten, ohne des Pekuniären zu gedenken.

Achten Sie mich! Wann und wo sprech ich Sie? Und zwar so bald als möglich!

[164] Ich habe mancherlei mitzuteilen, und halte beim Wort, nach welchem Sie sich für mich interessieren.

Ihr ergebenster etc.

und doch guter Grabbe

N.S. Dieser Klecks kommt von ungewohnter Tinte.«


So war denn in unser elegantes, aristokratisches, gradliniges Düsseldorf jemand eingeschwärzt worden, der wohl in allen diesen drei Beziehungen der guten Stadt für Contrebande gelten konnte. Im eigentlichen Sinne fand hier Schmuggelei statt, denn ich hatte jedermann ein Geheimnis aus der Ankunft des Dichters gemacht, um das Aufsehen nicht zu steigern, welches, wie ich ahnte, ohnehin seine Persönlichkeit bald erregen mußte.

Zweites Kapitel

Am folgenden Morgen ging ich nach dem mir bezeichneten Gasthofe und fragte den Oberkellner nach der Zimmernummer meines Ankömmlings. An dem Lächeln des Menschen konnte ich abnehmen, daß der Gast ihm wundersam bedeuchte, auch schien er zu Erläuterungen nicht abgeneigt, denen ich mich indessen entzog. Ich stieg die Treppe hinauf, klopfte an und vernahm von drinnen ein heftiges: »Herein!«

Eintretend sah ich eine hagere, kümmerliche Gestalt im Hemd auf dem Bette liegen, obgleich es schon elf geschlagen hatte. Das Zimmer war ungeheizt, auch kein Ofen in demselben, die Dezemberkälte groß. Man hatte ihn wegen Überfüllung des Hauses mit Besuch, oder aus, was weiß ich welchem Grunde, in dieses dürftige Gemach eingespündet. Er reichte mir die vor Frost zitternden Hände; seine Zähne klapperten. Er versicherte mich zu wiederholten Malen: er sei gut, sehr gut, woran ich noch keinen Zweifel geäußert hatte, und forderte mich auf, ihn zu achten und zu lieben, was ich ihm gern zusagte.

Vorderhand lag mir nun freilich hauptsächlich daran, ihn entweder unter die Decke (denn er lag trotz des Frostes auf [165] derselben) oder in die Beinkleider zu bringen, damit die grimmige Kälte ihm nicht ein Übel zuziehe. Allein er verweigerte anfangs beides standhaft, und behauptete, nur der mittlere Grad des Erkaltens, das Ziehen oder Frösteln, sei unangenehm; der heftige zähneschüttelnde Frost dagegen setze sich wieder in eine Empfindung um, behaglich, wie die Wärme.

Ich war schon über diese unnützen Reden, die mit einer Kolik endigen konnten, einigermaßen verdrießlich geworden, als er rasch aufsprang, und, die Stube in seiner Bekleidung, unter welcher es für den menschlichen Körper keine mehr gibt, durchschreitend, zornig ausrief: »Die Hunde! Denken sie, sie dürfen mir ein ungeheiztes Zimmer bieten? Ich bin Auditeur gewesen und habe meinen ehrenvollen Abschied bekommen, man muß mich in jeder Gesellschaft: Herr Auditeur, nennen. So muß man. Da hängt meine Uniform, und da steht mein Degen! Sie lachen? Da hängt sie und da steht er!« Endlich hatte ich ihn denn doch durch Zureden dahin gebracht, daß er in die notwendigsten Kleider fuhr und sich zu einigen ruhigen und geordneten Reden herbeiließ, als ihm plötzlich wieder der Gedanke durch den Kopf schwirrte, wir müßten zur Feier seiner Ankunft auf den Abend ein Punschfest mit einigen Gleichgestimmten veranlassen. Ich konnte nun keineswegs wünschen, daß die »Düsseldorfer Zustände« von ihrem Beginnen an einen so hohen Schwung nehmen möchten, worauf er, nach dem ich ihn von jenem Vorsatze abgebracht, mich aufforderte, wenigstens mit ihm zu frühstücken.

Der Kellner brachte auf sein Geheiß Brot und kalte Küche, wurde aber grimmig angefahren, warum das Brot nicht mit Butter bedeckt sei? Der Bursche versetzte gelassen: »Sie haben bloß Brot befohlen und kein Butterbrot.« – »Was?« rief Grabbe ereifert: »Soll ich, wenn ich ein Pferd miete, auch noch ausdrücklich den Schwanz dazu mieten? Butter gehört zum Brote, und Brot zur Butter, wie der Schwanz zum Pferde, und das Pferd zum Schwanze!«

Ich sagte: »Wir wollen jetzt Butter Butter, Brot Brot, Schwanz Schwanz und Pferd Pferd sein lassen, und in das [166] Quartier einziehen«, befahl dem Kellner, die fahrende Habe zusammenzupacken, und hielt dem andern Rock und Weste zum Anziehen hin. Er sah mich mit den wunderbaren, erschrockenen Augen groß an und brach dann in ein ruckweises Lachen über sich, über mich, über den emsigen Kellner, endlich über die ganze Welt aus, indem er vor sich hinmurmelte: »Das soll wohl hier eine Suppe werden!«

Langsam setzte sich nun unser Don Quijotischer Zug aus dem Gasthofe nach seinem Quartier in Bewegung. Voran der Karren mit dem Koffer und Mantelsack, auf dem der Auditeurdegen, lose angebunden, hin und her schwankte; hinterher Grabbe an meiner Seite mit hohen und wankenden Schritten das Pflaster tretend. Ich hatte ihn bei einer alten, verständigen Witwe untergebracht. Diese versprach, für ihn in alle Wege zu sorgen, denn es ließ sich auf den ersten Blick erkennen, daß er mit den Bräuchen des Lebens unbekannt war, wie ein Kind.

Verwundert hatte uns der Wirt nebst seinen Kellnern und einigen neugierigen Gästen nachgesehen. Und in der Tat, sie hatten recht. Wenn ein Bewohner des Mondes auf die Erde fiele, er würde sich zu uns anderen nur ungefähr so fremd verhalten, wie mein irrender Ritter der Poesie. Nichts stimmte in diesem Körper zusammen. Fein und zart – Hände und Füße von solcher Kleinheit, daß sie mir wie unentwickelt vorkamen – regte er sich in eckichten, rohen und ungeschlachten Bewegungen; die Arme wußten nicht, was die Hände taten, Oberkörper und Füße standen nicht selten im Widerstreite. Diese Kontraste erreichten in seinem Gesichte ihren Gipfel. Eine Stirn, hoch, oval, gewölbt, wie ich sie nur in Shakespeares (freilich ganz unhistorischem) Bildnisse von ähnlicher Pracht gesehen habe, darunter große, geisterhaft weite Augenhöhlen und Augen von tiefer, seelenvoller Bläue, eine zierlich gebildete Nase; bis dahin – das dünne, fahle Haar, welches nur einzelne Stellen des Schädels spärlich bedeckte, abgerechnet – alles schön. Und von da hinunter alles häßlich, verworren, ungereimt! Ein schlaffer Mund, verdrossen über dem Kinn hängend, das Kinn kaum vom Halse sich lösend, der ganze untere Teil des Gesichts überhaupt [167] so scheu zurückkriechend, wie der obere sich frei und stolz hervorbaute.

Jenes Märchen dichtet von dem gemischten Metallkönige, aus welchem die Irrlichter die haltenden Goldadern lecken, so daß er zwischen Form und Unform zusammensinkt. An dieses Märchengleichnis konnte man erinnert werden, wenn man solche Widersprüche der Organisation sah.

Drittes Kapitel

Lassen wir ihn nun sich einrichten, Papierschnitzel mit wunderlichen Einfällen beschreiben, auf Wirtin und Magd zanken, daß sie ihm Bücher und Sachen abhanden bringen, und gleich nach seinen Scheltreden das von ihm selbst in einen Winkel Verlegte wiederfinden, die Nacht zum Tage, den Tag zur Nacht machen! – Wir erinnern uns unterdessen, bis dieses Rumoren, zum Teil wohl die Nachwirkung der Reiseaufregung, sich einigermaßen stillt, an die Phasen, welche das von uns zu beobachtende Meteor bisher am literarischen Himmel durchlaufen hatte.

Selten hat sich wohl ein Schriftsteller in den begleitenden Worten zu seinen ersten Versuchen so sonderbar bei dem Publikum eingeführt, als Grabbe. Er gab im Jahre 1827 zwei Bände dramatischer Dichtungen heraus, welchen er, wie er in der Vorrede versicherte, durch Geschäftsleben und wissenschaftliche Studien längst fremd geworden sei. Der poetische Ruhm, sagte er, ziehe ihn nicht an, dennoch soll nach einer späteren Äußerung in derselben Vorrede sein ferneres literarisches Wirken von der Aufnahme abhängig bleiben, welche diese Jugendprodukte finden.

Der Verleger setzte in einer Anmerkung hinzu, er habe mit Einwilligung des Verfassers die anstößigsten Stellen teils leiser ausgedrückt, teils gestrichen, wodurch aber freilich oft die kräftigsten Sachen verlorengegangen seien. Ein Brief Tiecks über das Hauptwerk der Sammlung, für die öffentliche Bekanntmachung gewiß nicht geschrieben, war dem Buche, antikritisch vom Dichter glossiert, vorgedruckt.

[168] Noch auffallender aber als dieses Beiwerk, war der Gehalt der Sammlung selbst, mit welcher der Autor urplötzlich, wie ein Dämon, aus der Erde auftauchte. Niemand hatte ihn angekündigt, niemand ihn empfohlen. Von keiner literarischen Koterie war für ihn gewirkt worden. So war er plötzlich da; er hatte nicht um Erlaubnis gefragt, ob er kommen dürfe, und alle Welt verwunderte sich. Sagen und Mären, wie sie sich traditionell durch die literarischen Zirkel Deutschlands zu ziehen pflegen, waren zwar früher von einem gewissen Grabbe erklungen, der den Zusammenkünften Uechtritzens, Heines, Köchys u.a., die um 1821–1822 in Berlin ihr poetisches Wesen trieben, beigewohnt; man hatte die Sagen aber bereits wieder vergessen, als ihr Held erschien. Mir ist der Zug aus jener mythischen Zeit noch erinnerlich, daß nach seinem ersten Auftreten in dem Berliner Dichterkreise ernsthafter Streit gewaltet haben soll über die Frage: ob dieser Mensch verrückt oder ein Genie sei?

»Herzog Theodor von Gothland« heißt das erste Stück der Sammlung. Es ist ein Trauerspiel. Wenn ich aber den Inhalt näher bezeichnen soll, so kann ich nur sagen: es ist das Trauerspiel der menschlichen Natur überhaupt. Zwar treten darin ein König von Schweden, ein Feldherr der Schweden, ein Neger, schwedische und finnische Große auf; aber, wie es nicht möglich ist, die Zeit der Handlung zu erkennen, so entzieht sich auch der Ort und überhaupt alles Historisch-Individuelle unter den düstern Schwaden, welche durch die Dichtung streichen, dem Blicke. Es ist ein Konzert der Verzweiflung, jeder Person ist ein Notenblatt in die Hand gegeben, aus welchem sie ihre Separatstimme zu der grausen Gesamtharmonie zu singen hat, für sich selbst bedeutet sie sonst nichts.

Ein tugendhafter, großgesinnter Held und Feldherr, der Herzog Theodor von Gothland, wird von einem verruchten Neger mit dem Argwohn angesteckt, sein älterer Bruder, der Kanzler, habe den jüngern, Manfred, den Theodor zärtlich liebte, heimlich ermordet. Durch ein abscheuliches Blendwerk, in der Gruft des Toten, welches der Neger veranstaltet, [169] gewinnt der Verdacht Stärke, und der Held wird aus Bruderliebe zum Brudermörder am Kanzler.

Nach dieser Tat sinkt er bis zu dem tiefsten Pfuhle der Schlechtigkeit hinab. Er wird Feind des Vaterlandes, Verräter, Kronenräuber, Gottesleugner, Völkervertilger; er wird noch mehr als das, er wird gemein. Alles Scheußliche, was jemals ein verderbtes Herz in seinen schmutzigsten Winkeln beherbergt hat, reißt der unbarmherzige Dichter an das Licht; ja, es genügt ihm nicht, die Zerstörung des gewordenen Mannes vorzuführen, auch die Jugend verwelkt unter den schrillenden Tönen dieser infernalischen Leier. Der Neger verführt den unschuldigen Knaben Gustav, den Sohn Theodors, zu gemeiner Wollust, alle Laster, die in dem Vater Früchte abgesetzt haben, brechen in der jungen, entweihten Seele zu Blüten auf.

Die Fabel – wenn man eine Reihe unmotivierter Ereignisse so nennen will – rollt unter Blut, Mord und Greueln sich ab. Das Glück, welches den Gothland zum Throne emporhob, wirft ihn bis auf das Strohlager eines zum Tode verurteilten Verbrechers. Da wachen noch einmal in ihm alle wilden Kräfte zur Berserkerwut auf; er zersprengt die Fesseln, welche seine Überwältiger ihm angelegt hatten, und tötet den Neger. Dann schläft er, gelangweilt von Leben und Tod, ein, und fällt, im Halbschlummer, bei fast erloschener Persönlichkeit, von der Hand eines beleidigten Großen.

Es ist ein ähnliches Gefühl der Ermüdung, mit dem wir von diesem Nachtstücke scheiden. Der Dichter hat nicht gewußt, oder nicht wissen wollen, daß es der Seele geht, wie dem Körper: zu lange fortgesetzte Schmerzen stumpfen das Gefühl ab, und hören auf, Schmerzen zu sein. Wir empfinden, es sei ihm ernst mit dem Hasse des Daseins, aus dem seine finstern Gestalten, wie Schierling und Nachtschatten, emporwachsen; nie führt er uns in die Versuchung, ihn für einen jener modernen Gecken, die sich selbst »zerrissen« nennen, eigentlich aber nur abgerissene Betteljungen sind, zu halten; er weiß sein grauenvolles Thema mit ungeheurer Energie zu behandeln und die paar Töne, die in dieser lugubren Region dem Tragöden zu Gebote stehen, als echter [170] Virtuos zu variieren, und doch! man empfindet, wenn man kaum über die Hälfte des weitschichtigen Gedichts hinausgediehen ist, Langeweile und sehnt sich nach dem Schlusse.

Denn die Lüge will hier geradezu für die Wahrheit gelten und das Nichtige sich als die Existenz geltend machen. Der Dichter hat in Noten und Verwahrungen gut versichern, das Bessere siege ja doch bei ihm, sein Zynismus habe es nur mit der Empfindelei zu tun, wahre Empfindung sei nie von ihm angetastet worden usw. Wir glauben ihm nicht. Denn alles Lichte, Freudige, Gerade im »Gothland« ist leer, allgemein, schwächlich gehalten; bei dem Schatten, bei dem Verworfenen weilt der Autor mit seiner Kraft, da ist er selbst.

Tieck glaubte, wie er an Grabbe schrieb, »Titus Andronikus« habe auf ihn Einfluß gehabt. Die Vergleichung mit dieser blutigen Jugendarbeit Shakespeares ist sehr interessant. Auch in dem alten Stücke geht es entsetzlich her: Mord, Notzucht, Ehebruch, Wahnsinn, gräßliche Verstümmelungen des Leibes, endlich eine thyestische Mahlzeit drängen einander, und doch kann man von dem Geiste, der hindurchweht, sagen, er sei gegen den des »Gothland« sanft und süß. Schon die große Mannigfaltigkeit der äußerst bunten Fabel dämpft das Schreckliche ab, während die nur in den dürftigsten Umrissen hingeworfene, ziemlich trockene Handlung der neuen Dichtung diesem Elemente kein Gegengewicht gibt. Und welche Kontraste bieten sich dar zwischen dem an allem Himmlischen und Irdischen verzweifelnden Theodor und dem durch nichts vermenschlichten Berdoa auf der einen Seite, dem Titus Andronikus, der seine Pfeile mit Briefen an die Götter abschießt, Gerechtigkeit vor ihren luftigen Thronen zu suchen, dem Mohren, Aaron, der sein Kind mit sich umherträgt, es zum großen Kriegsmann zu erziehen, auf der andern Seite! Bei dem Briten sind schon in diesen frühesten Tönen Schmerz und Klage – wie wild sie rasen – melodisch, phantasievoll gestaltet; bei Grabbe tritt das Elend rauh, felsicht, kaum geformt auf.

Dennoch wird der »Gothland« immer eine merkwürdige Urkunde unsrer Poesie bleiben. Man ist es schon gewohnt, [171] daß die deutschen Dichter unmäßig oder übermäßig beginnen. Die Mängel der Form werden in ihren Erstlingen überdeckt von dem gärenden, kochenden Gehalte, der seine Stelle erst unter den Formationen der bewohnten Welt sucht. So war es, so ist es und so wird es noch eine Zeitlang bleiben, denn unsere Literatur ist, die alten und jungen Greise mögen sagen, was sie wollen, noch nicht am Ende, noch nicht akademisch geworden, sondern sie steht noch im Werden. Aber mit ähnlicher Kühnheit hatte sich noch nie das Chaos, welches in jedem jungen deutschen Dichtergeiste über Geburten brütet, hervorgemacht, als in dieser neuesten Erscheinung. Was sind alle Exzesse der »Räuber« dagegen? Man könnte auf die Vermutung kommen, daß Grabbe von manchen Produkten der neusten französischen Schule nicht unangeregt geblieben sei; ich glaube aber versichern zu dürfen, daß er die Sachen, an welche man hier zunächst denken müßte, gar nicht gekannt hat.

Einiges darin ist von ungemeiner pathetischer Schönheit, so die Szene auf dem Kiölgebirge, wo die beiden Alten den Helden schlachten wollen, und dieser im Entsetzen des Augenblicks vom Manne zum Greise verwittert.

Einen großen Gegensatz zu diesem Werke bildet das Fragment: »Marius und Sulla«. Der Verfasser hat es auf nichts Geringeres angelegt, als auf die Schilderung der damaligen aufgelösten römischen Welt, um welche die beiden Gewaltherrscher, der eine ein wilder demagogischer Held, der andere ein hochstehender tiefblickender Staatsmann, bis zur Vernichtung kämpfen. Alle Verzweigungen dieses Kampfes, das krause Wühlen untergeordneter Leidenschaften und Menschen auf beiden Seiten, die Marianische Soldatenwelt, die List der Volkstribunen, das wirre Getreibe des Pöbels, die hohlen Entzweiungen des Senats – alles dieses ist dem Dichter klargeworden, sein Blick schwebt über Afrika, Griechenland und Italien. Nicht ein einzelnes Faktum, dem sich das übrige beugen mußte, nicht ein Charakter für sich, zu dessen Füßen sich die Gruppe der anderen lagert, hat ihn angeregt; nein, der Geist der Geschichte selbst ist ihm erschienen und hat ihm manches Wort zugeflüstert.

[172] Wie er im »Gothland« lyrisch versinkt in ein eintöniges Lamentoso, so verliert er sich in der römischen Tragödie in die maßloseste epische Weite. Auch die Behandlung ist grundverschieden. Zwar der Hang des Dichters zu gewaltigen und entlegenen Bildern spricht aus beiden Gedichten. Am liebsten wählt er zu seinen Vergleichungen das Inkommensurable oder die reinen Kategorien des Seins; die Donnerschläge sind rumorende Ohrwürmer, die Himmelsbogen gekrümmte Würmer, unter den Gestirnen wird es Herbst; die Zeit ist eine Krankheit, der Mensch eine Grille des Schicksals, die es bei Gelegenheit auch wieder vergißt usw. Aber im »Gothland« erliegen die Personen beinahe an der Last des ihnen aufgebürdeten Redegepäcks, und vieles wird Schwulst und Phrase; dagegen ist die Sprache in »Marius und Sulla« mehrenteils gedrungen und körnig, und hat selbst schon eine gewisse Hinneigung zu dem spätern Lakonismus des »Hannibal«.

Das Werk beginnt mit dem geächteten Marius auf Karthagos Trümmern und sollte mit dem freiwilligen Rücktritte Sullas in den Privatstand, nachdem er Rom und die Welt bezwungen, schließen. Leider ist nur der erste und etwa die Hälfte des zweiten Akts vollendet; von dem übrigen sind jedoch die Intentionen vollständig angegeben, die zum Teil das Bedeutendste hoffen ließen. Ich habe immer bedauert, daß Grabbe nicht gerade zur Fortsetzung dieser Arbeit Sinn und Stimmung wiedergewinnen mochte.

Viertes Kapitel

»Gothland« und »Marius« bezeichnen für alle fernern Hervorbringungen Grabbes die beiden Pole, zwischen denen sein Geist vibriert, wo er in seiner Stärke waltet. Zwar gab er gleich zu Anfang seiner Laufbahn auch ein Lustspiel: »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« heraus, worin der Teufel eine lustige Rolle spielte und mancher gesunde, derbe Spaß vorkam, besonders über schwächliche Literaturerzeugnisse; aber es fehlte seiner Seele die freie Lieblichkeit,[173] wodurch das Komische erst durchsichtig wird, und die Grazie des Gemüts, welche es in die Sphäre der Poesie rückt.

Der Gothlandischen Richtung angehörig und ihr Nachklang war die Tragödie: »Don Juan und Faust«, welche 1829 erschien. Der Gedanke, die beiden Extreme des Männlichen nach der sinnlichen und geistigen Seite zu, in tragischer Verknüpfung zu produzieren, kann fruchtbar erscheinen, jedenfalls aber erforderte er einen Moment der glücklichsten Erfindung und die reifste Durchbildung. Beides hat hier gefehlt. Die Handlung ist roh und ungelenk; alles hätte in einer solchen mythischen Dichtung kühn, phantastisch, witzig sein müssen. Die beiden bekannten Gestalten weisen in jeder Szene zu sehr das Taufzeugnis leiblicher Abkunft von Goethe und Mozart auf, ohne sich als geistige Söhne dieser Väter zu bewähren. Der breiten historischen Anschauung gab sich dagegen Grabbe in allen seinen übrigen spätern Arbeiten hin, und wahrscheinlich würde er ihr auch treu geblieben sein, wenn ihm das Schicksal ein längeres Leben gegönnt hätte. Aus derselben gingen zuerst die »Hohenstaufen«: »Barbarossa« (1829) und »Heinrich der Sechste« (1830) hervor. Seitdem Raumers Buch die Aufmerksamkeit wieder lebendiger nach dem schwäbischen Kaisergeschlechte wandte, ist es Mode geworden, jene Herrscher für dankbare dramatische Figuren zu halten; man hat bei ihnen an die Möglichkeit der so heiß ersehnten deutschen Nationaltragödie gedacht, und in Erwartung, daß diese erscheine, ist wenigstens, wie bekannt, eine große Bühne unseres Vaterlandes mit Waiblingischen Kaisern und Königen übersäet worden.

Ich habe selbst einmal vor Jahren einen »Friedrich den Zweiten« geschrieben, und will auf die Gefahr hin, daß man mir eine Kinderfabel von zu hoch hangenden Trauben erzähle, meine Zweifel gegen das legitim-dramatische Blut der Hohenstaufen beibringen. Sie schweben alle in einer unglücklichen Mitte zwischen Sagen- und historischen Gestalten, vertragen daher weder eine mythische, noch eine historische Behandlung. Ihre Kämpfe und Nöte gehen fast sämtlich, nicht aus den allgemein verständlichen, ewig haltbaren Motiven des Hasses, Zorns, der Rache, Eifersucht, Liebe usw., sondern aus [174] politisch-religiösen Kombinationen hervor, die mit unserem Ideenkreise, mit unseren Interessen und den Zuständen, welche dieselben verbreitet haben, gar keinen unmittelbaren Zusammenhang mehr haben, vielmehr längst verschollen sind, an denen wir daher nur noch einen gelehrten, theoretischen Anteil nehmen können. Ein deutscher Kaiser des Mittelalters, mit seinen wechselnden Hoflagen, ist an und für sich schon nur ein erlauchter Nomade. Wieviel schattenähnlicher und dünner verflüchtigt sich aber das Dasein jener ausheimischen, undeutschen Regenten, die nirgends Haus und Hof hatten, weder bei uns, wo die ekelhafte Widerhaarigkeit der Fürsten ihnen die Krone verleidete, noch in der Lombardei, noch in Apulien, wo sie gern sich die Stätte gegründet hätten. Mit einem französischen, einem englischen Könige ist es anders. Denen geben ihr Paris, ihr London und Windsor feste Knochen und rundes Fleisch; darum dürfen die Dichter der beiden Nachbarvölker in ihre Geschichte auch nur hineingreifen, um einen brauchbaren Stoff herauszuziehen. Die deutsche Geschichte ist in dieser Beziehung höchst mager und bietet, was den Zeitraum angeht, von dem hier geredet wird, eigentlich nur ein einziges brauchbares Faktum dar, welches Babo schon vor fünfundfünfzig Jahren fand und ausbeutete.

Den theatralischen Kredit, in den die Hohenstaufen gekommen sind, haben sie einem Mißverständnisse über den Begriff des historischen Trauerspiels zu danken. Dieses Mißverständnis, durch weltkluge, gewissen herrschenden Stimmungen sich anschmiegende Insinuationen anempfohlen, kann sich in der Gegenwart eine Zeitlang aufrechterhalten, weil die Leute durch Industrie, Politik und Eisenbahnen ganz dumm und stöckisch geworden, jetzt gar keinen Sinn mehr für wahre Poesie haben, dagegen einer Art von Wissenschaftlichkeit nicht abgeneigt sind, besonders wenn ihre Früchte im Fluge abgeerntet werden können. Einer solchen Disposition liegt es nun nahe, sich überreden zu lassen, historisch-dramatische Poesie sei dort schon vorhanden, wo nur irgendein Kapitel der Geschichte (gleichviel, welches) treu und unverfälscht, in Dialog und Versen auf den Brettern verhandelt werde.

An diesem Gerede ist kein Wort wahr. Ein historisches [175] Trauerspiel (wenn man daraus im Gegensatze zu der bürgerlichen und mythischen Tragödie eine besondere Gattung machen will) entsteht, und kann nur entstehen, wenn der Dichter einen Stoff der Geschichte ergreift, welche für das Volk Geschichte ist, wenn er von den Ereignissen der Vergangenheit begeistert wird, die in den Freuden und Schmerzen der Gegen wart, in ihren Gedanken und Gefühlen, in ihren Festen, in ihren Verwickelungen und Schulden noch nachklingen. Dann wird der Dichter jenes warme, unmittelbare Gefühl haben, wodurch sich das diesem Stile der dramatischen Konzeption notwendige Detail belebt, dann, aber auch nur dann wird er ein solches Gefühl mitzuteilen imstande sein. So entstanden die »Perser« des Äschylus aus der unmittelbarsten Reminiszenz. So konnte Shakespeare seine Bürgerkriege dichten, weil die Blutflecken kaum gebleicht waren von den Steinen, an denen die Häupter der Parteien ihr Leben veratmet hatten, weil die Teppiche noch hingen, hinter denen der Mord an sein Geschäft gegangen war, weil die Wappen und Devisen, die Namen und Standeserhöhungen oder Erniedrigungen, noch die Chronik jener Zeiten in der grandiosesten Fraktur schrieben. Ich werde zum Schlusse dieses Buches angeben, was bei uns dem glücklichen Anbau des historischen Trauerspiels überhaupt entgegensteht, und sage jetzt nur noch, daß die Geschichte, welche unsern Dichtern möglicherweise vorteilhafte Stoffe darbieten kann, erst mit der Reformation und den ihr mittelbar vorangegangenen Zeiten beginnen möchte. Der Dichter hat die Mission, nicht etwa die Menschen mit dem Unbekannten bekannt zu machen (dazu ist die Wissenschaft vorhanden); sondern ihnen das Bekannte in ein Geheimnis zu verwandeln. Jetzt aber verhält sich die Sache oft umgekehrt: die Gelehrten poetisieren, und die Poesie tut gelehrt.

Dem sei nun, wie ihm wolle; Grabben ist es wenigstens auch nicht gelungen, den Schatten des zwölften Jahrhunderts Blut und Lebenswärme zu geben. Diese Kaiser und Könige, Fürsten und Herren reden, als hätten sie sich erst aus einem Kompendium kennengelernt; es ist da nichts Ursprüngliches, Angeschautes; die historische Reflexion herrscht durchaus [176] vor. Doch sind im »Barbarossa« schöne und große Einzelheiten. Das Gespräch der beiden Landsknechte im Beginn des Stücks habe ich immer mit Bewegung gelesen; die Nachtwache der Fürsten um des Kaisers Zelt hat etwas Erhaben-Symbolisches; Christian von Mainz ist mit gesunder Laune gezeichnet, und die Szenen Heinrich des Löwen am Harz sind voll von kräftigem Leben. – »Heinrich der Sechste« dagegen ist ganz verblasen und gemacht.

Muß sich unser Urteil über diese Dramen so stellen, so hat man dagegen an den »Hundert Tagen« fast nur zu loben. In diesem Wagstücke hat der Dichter das Beste, was ihm seine historische Begeisterung zuführte, gegeben, er hat darin vielleicht das Höchste, wozu sein Talent überhaupt bestimmt war, erreicht. Zwar müssen wir uns auch hier gefallen lassen, mit ihm in eine künstliche, übertriebene Welt einzutreten; aber er weiß uns hineinzunötigen, wir können, haben wir einmal das Gebäude ins Auge gefaßt, nicht draußen bleiben, und sind wir darin, so überkommt uns bald das Gefühl der Sicherheit, des Zuhauseseins, welches immer das Merkzeichen echter Dichtungen ist. Es will gewiß etwas sagen, das ungeheure Weltereignis, welches in der Erinnerung eines jeden noch mit solcher Schwere lastet, vom Boden der Wirklichkeit abzulösen und in diesen Traum der Einbildungskraft zu verwandeln. Vielleicht war, um dies überhaupt möglich zu machen, nötig, jenen Zwang in die Behandlung einzuführen, von dem ich soeben redete. Die Personen sprechen zuweilen so schwülstig miteinander, daß man bei aller Bewunderung des Werks über diese geschraubten Phrasen lächeln muß. Aber hätte der Dichter gemeinere und natürlichere Worte gewählt, so wären ihm diese der Realität mit Riesenkräften abgerungenen Gestalten unter den Händen wieder zu Realismen erstarrt.

Von wundersamer Originalität sind die Schlachten im »Napoleon«. Dergleichen Bataillenstücke waren vor Grabbe in der deutschen Poesie noch nicht da. Die Schlacht ist eigentlich epischer Natur. Um sie zu dramatisieren, läßt man kämpfende Heldenpaare die Honneurs des allgemeinen Kampfes machen. Grabbe hat es dagegen verstanden, die Taktik und [177] Strategie selbst zu poetisieren; er belebt die trockensten Märsche, Manœuvres, Evolutionen, Chargen zu drastischen Momenten. Dabei verfährt er mit einer solchen genialen Leichtigkeit, daß man ihn einen Blücher der Poesie nennen kann, gedenkt man des Wortes, welches in den Kriegsjahren über den alten Helden umhergetragen ward: Er habe mit dem schlesischen Heere manövriert, wie mit einer Husarenschwadron.

Fünftes Kapitel

Die Phantasie macht den Dichter. Ihre individuelle Beschaffenheit, ihre besondere Färbung ist es daher, was zunächst der poetischen Physiognomie Schattierung und Betonung gibt.

Wo die Phantasie in hervorstehender Stärke vorhanden ist, da offenbart sich dieselbe durch liebevolle Energie und unendliche Expansionsfähigkeit. Glücklich, wo beides sich vereinigt zeigt. Goethe und Shakespeare sind Beispiele eines so begünstigten Bundes. In der Regel aber hat eine der beiden Potenzen das Übergewicht. In Novalis zeigt sich die erste, in Ariost die zweite vorherrschend wirksam.

Dieser zweiten Reihe poetischer Naturen gehörte auch Grabbe entschieden an. Er hatte auf dem Felde, welches seinem Geiste vorzugsweise angewiesen worden war, auf dem Felde der geschichtlichen Betrachtung, einen großen und weiten Gesichtskreis. Innerhalb desselben fuhr nun seine Phantasie unermüdlich hin und her, schaute, verknüpfte, erriet mit seltener Sagazität, aber wenn es an das energische Bilden gehen sollte, so fehlte ihr der Atem. Aus diesem Mangel, nicht aus einer Überfülle, ist die Ungeheuerlichkeit seiner Figuren zu erklären. Ich will damit nicht behaupten, daß ihm das plastische Vermögen ganz gebrochen habe. Ohne dieses ist ja kein Dichter gedenkbar. Aber es war nicht in voller Stärke vorhanden, es war nicht so mächtig, um runde, naive, sich selbst aussprechende Menschen zu schaffen, immer mußte, wenn die Charakteristik zum Schluß kommen sollte, eine [178] Phrase, eine Reflexion als Surrogat aushelfen. Daher konnte er auch nie eine Handlung abgrenzen, daher das Genre- und Tableauartige seiner Arbeiten und innerhalb dieser charakteristischen Sphäre wieder die lakonisch-aphoristische Behandlungsweise, welche immer mehr bei ihm zunahm. Er fühlte wohl, daß längeres Verweilen bei einer Anschauung ihm nur zum Nachteil gereiche. Daher endlich seine Vorliebe für große, weitläufige Vorgänge der Menschenwelt, in denen der einzelne in den Massen auslöscht, namentlich für Schlachten, die fast in jedem seiner Werke vorkommen. Es war ihm unmöglich, und es wäre ihm vermutlich auch bei längerem Leben unmöglich geblieben, zu motivieren, einen Charakter nach und nach aus seinen verborgenen Tiefen hervorzuspinnen, Tat und Geschick naturgemäß anschwellen und reifen zu lassen. Wie er im Leben alles auf die Spitze stellen mochte, so tat er es auch in der Poesie. Werden und Wachsen konnte er nicht zeichnen; das Fertige und Gewordene war seine Domäne. Auf dieser hat er die Literatur mit neuen Anpflanzungen bereichert und ist nicht selten mit wahrem Kunstgefühl verfahren, so daß sich vieles von ihm lernen läßt, wie roh seine Sachen an der Oberfläche auch aussehen mögen.

Mit mancher untragbaren Bürde war diese Phantasie belastet, gegen harte Schranken hatte sie anzurennen. Das ist nun sein Geschick, der zweite Faktor in dem Lebensexempel eines Dichters. Unerträgliche und widrige Erinnerungen waren die ersten seiner Kindheit gewesen; die frühesten Blicke hatten den Abschaum der menschlichen Gesellschaft gesehen. Aus diesem Schmutze mußte sich die jugendliche Psyche erst losringen; es konnte nicht fehlen, daß die Richtung der Vorstellungen gegen das Gemeine und Abscheuliche, welche seine ersten Versuche entstellt, eine Zeitlang als krankhafte Nachwirkung blieb. Mit richtigem Instinkte wählte seine Natur das einzige Heilungsmittel, welches sich hier darbot: die Geschichte. Der Ekel, den der Anblick der Elenden macht, der Schwindel, mit dem das Wühlen bestialischer Kräfte im Pfuhle der Sozietät das Haupt befängt, kann nur von dem Bilde der Helden und großen Männer, von der Betrachtung der harmonischen Schwingungen, in denen das Menschengeschlecht [179] sein Los erfüllt, verdrängt werden. – Redlich hat Grabbe in dieser Beziehung seiner Herstellung obgelegen, das Zeugnis läßt sich ihm nicht versagen. Immer fester wandte er sein Auge, wenigstens das poetische, dem Positiven, Ewigbestehenden zu, und hielt dieses gerade in der letzten Periode seines Lebens für das allein der Beobachtung Würdige.

Aber einen zweiten Einfluß seiner Weltstellung konnte er nicht so aus eignem Mute abschütteln; das Glück hätte ihm helfen müssen. Sohn eines Zuchthausverwalters in Detmold, hatte er sein Leben hindurch die Armut und die Einsamkeit zu treuen Gefährtinnen. Ein würdiger Stolz, ein begründetes Selbstbewußtsein war ihm eingeboren, was aber unter so ungünstigen Sternen, so wenig von den allgemeingültigen Empfehlungen des Standes, der Geburt, des Vermögens unterstützt, ihn nur um so abstoßender erscheinen ließ, und eine Mauer mehr zwischen ihm und den ergiebigen Verhältnissen des Lebens aufrichtete. Gerade ihm hätte die Wirklichkeit durch Reisen, bedeutende Bekanntschaften und Verbindungen die reichsten und erfrischendsten Quellen öffnen müssen, um den von mir angedeuteten Mangel an eigentlich schöpferisch-bildender Kraft durch sittliche und sinnliche Erfahrung zu ersetzen, und gerade ihm blieben diese Hilfen streng versagt. Er war zwar nacheinander in Leipzig, Berlin, Braunschweig, Dresden; jedoch an jedem dieser Orte nur auf kurze Zeit, und ohne daß er irgendwo den Boden gefunden, in dem er hätte wurzeln können.

Nachmals erhielt er den Posten in seiner Vaterstadt. Nun war er auf sich, die Akten und seine Bücher zurückgewiesen. In so kümmerlicher, dürrer Lage, wo ihm keine Persönlichkeit imponieren, ihn zur Besinnung, zu einer wohltätigen Erschütterung seines Wesens nötigen konnte, mochte er sich zwar noch sprung- und punktweise mit dem Kerne der Welt in Sympathie erhalten, die Besitznahme aus dem ganzen und vollen, wie sie seinen nun begonnenen männlichen Jahren eignete und gebührte, wurde aber unmöglich.

Endlich verheiratete er sich auch noch. Vielleicht der größte Mißgriff, den er je begangen hat! Wie hätte er, der sich selbst nicht vorzustehen vermochte, einer Familie vorstehen können? [180] – Seine Tage wurden immer betrübter und für andere betrübender. Die Dinge, anstatt ihm näher zu treten, zogen sich vor seiner leidenschaftlichen Hast scheu in die Ferne zurück; dort schwebten sie der geängstigten Seele als kalter, blasser Traum vor, aus dessen beklemmenden Schrecken zu erwachen, vielleicht schon die Kraft verlorengegangen war.

Sechstes Kapitel

Nach dem »Napoleon«, welcher 1831 erschienen war, schwieg er einige Jahre. Inzwischen hatten seine Arbeiten großes Aufsehen erregt, selbst die Gelehrten und Philosophen nahmen von ihm Notiz, was jetzt bei uns viel sagen will. Auch in ausländischen Blättern rühmte man ihn; besonders priesen ihn die Engländer, die in ihm einen Geistesverwandten Shakespeares zu erblicken glaubten. Charakteristisch ist es, daß der so vielfach, diesseits und jenseits des Kanals Erhobene, der »zweite Shakespeare«, inzwischen unbemerkte Tage in einer kleinen westfälischen Stadt ableben mußte.

Aus seiner ersten Periode ist auch noch der Aufsatz »Über die Shakespeareomanie« zu erwähnen, welcher mannigfachen Anstoß gegeben hat. Shakespeare wird darin ziemlich herab und unter die Franzosen gesetzt, die begeisterte Liebe zu ihm meistens aus unlautern Quellen abgeleitet. Die Widerlegung ist nicht schwer, wenn man sich einfach daran hält, wie dieser Dichter seit einem halben Jahrhundert den innern Sinn der Deutschen ausgeweitet und bereichert hat, wie selbst manche Entwicklungen der Spekulation bei uns durch den Geist des Briten vermittelt und bedingt worden sind. Aber man würde Grabbe unrecht tun, wenn man seine Meinung, die er um eines besondern Zweckes willen äußerte, mit Beziehung auf diesen verwürfe.

Er dachte an die reale deutsche Bühne, und hielt der Erschaffung eines nationalen Theaters Shakespeare eher schädlich als fördersam. Ich muß gestehen, daß ich, durch Erfahrung belehrt, mich dieser Meinung nur anschließen kann. Das Ziel, nach dem unser Drama, wenn es noch eine neue Entwicklung [181] erleben sollte, zu streben hat, ist ein anderes, leider ein ärmeres und beschränkteres, als welches die englische Bühne in den Zeiten ihrer Vollkommenheit erreichte. Die Kräfte vergeuden sich also eigentlich, ohne Früchte anzusetzen, wenn sie einem Stile und einer Auffassung nachjagen, von deren Schönheit niemand inniger überzeugt sein kann, als ich es bin, welche uns aber gänzlich fremd sind. Shakespeare arbeitete für ein phantasievolles, eben von der Brust des Mittelalters entlassenes, märchentrunkenes See- und Inselvolk, dessen Erinnerung und Auge ganz voll war von seltsamen Bildern, und dessen innerer Blick daher sah, wovon der Dichter wollte, daß es gesehen werde. Und wir? – Ich will die Vergleichung nicht ausspinnen, gewiß ist es aber, daß bei uns die Leute kaum sehen, was ihnen sichtlich vor Augen gelegt wird. Man muß einer Bühne einige Jahre lang vorgestanden und eine Reihe Shakespeareischer Dramen mit Liebe und Sorgfalt in die Szene gesetzt haben, um zu wissen, wie diesen Dichtungen unter dem Zwange unserer Einrichtungen, auch bei der achtsamsten Behandlung, der feinste Duft doch abgestreift wird, und wie auch das, was von ihrem geheimen Zauber zwischen den Kulissen übrigbleibt, nur wenigen Ohren erklingt. Sei daher Shakespeare auch fernerhin der Liebling der Besten, aber gebe man endlich den Gedanken auf, ihn im eigentlichen Sinne des Worts bei uns auf den Brettern einheimisch zu machen oder gar eine der seinigen verwandte Herrlichkeit in unsern Tagen dichtend hervorzurufen.

Grabbe, dem endlich alle Detmolder Verhältnisse unleidlich geworden waren, brach dieselben mit einem raschen Schritte, jedoch so, daß seine Dienstverbindungen sich in ehrenvoller Weise lösten. Er flüchtete nach Düsseldorf, wo er Freiheit zu finden, Ruhe und Heiterkeit wiederzuerobern hoffte. Er meinte, von seiner Feder leben zu können. Will man dieses Handeln auch gewagt heißen, so läßt es sich doch nicht anders als natürlich nennen. Nur hätte er eins bedenken sollen. Wer ein Bad besucht, um seine Gesundheit herzustellen, muß die Diät des Orts beobachten, und wer sich einem neuen Lebenskreise anschließt, um ihn gleichsam als ein geistiges Bad zu gebrauchen, tut wohl, sich den Forderungen dieses[182] Kreises zu bequemen, und darf nicht mit Haut und Haar nach der Weise, durch die er eben sein Glück eingebüßt, fortleben wollen.

An die ersten Zeiten unseres Umgangs, den Winter 1834 und Frühling 1835, werde ich mich immer mit Vergnügen erinnern. Nachdem sich die Reisewellen bei ihm gelegt hatten, und er in einen einfachen Tagesgang gefördert war, ließ sich mit ihm fertigwerden, obgleich er auch in dieser ruhigen Verfassung noch anders war, als alle übrigen Menschen, die ich kenne. Wir sahen uns fast täglich. Meistens besuchte ich ihn in seinem stillen Hinterstübchen, wo ich ihn dann in der Regel halbangekleidet unter Büchern, Papieren, Schnitzeln aller Art vergraben, oder auf dem Bette liegend, antraf und er dann mit einem polternden: »O Herr Gott! O Herr Gott!« aufsprang, mich zu begrüßen. Zuweilen kam er aber auch zu mir, wenn die verdrossenen Füße ihm den Gang nach meiner entlegenen Wohnung erlauben wollten. Da gab es denn den lächerlichsten Anblick. Weil er sich nämlich nie in den Wegen finden lernte, so mußte ihn seine Magd jederzeit zu mir begleiten. Auf diese Weise aber langte das Paar in meinem Garten an: Grabbe mit ernsthaftem Gesichte hinter der Magd unsicher einherschreitend, die Magd aber ihr errötendes Antlitz halb in der Schürze verborgen, sich schämend, »daß sie einen so großen Herrn bei Tage über die Straße führen müsse«.

Indessen, wo und wie wir uns trafen, es war immer gleich das lebhafteste Gespräch im Gange. Wenn er bei guter Laune war, so jagte ein toller Witz den andern, die barocken Einfälle überstürzten sich. Doch auch in ersterer Weise fühlte ich mich angezogen. Er gehörte zu den Menschen, die über nichts gleichgültig die Lippen bewegen können. Die unbedeutendsten Dinge, die gewöhnlichste Tagesrede, eine Wetterbemerkung setzten sich ihm in sein eigenstes Leben, in Fleisch und Blut um. Am tiefsten aber zeigte sich diese Mitleidenschaft des ganzen Menschen bei dem, was die Hauptnahrung seines Geistes ausmachte, bei der Geschichte. Sehr genau mit ihr bekannt, streckenweise selbst mit ihren einzelsten Dingen vertraut, lebte und litt er mit den historischen Personen, auf welche eben sein Blick fallen mochte.

[183] Sein Mitteilungsbedürfnis war grenzenlos. Trotz unserer häufigen Zusammenkünfte schrieb er mir täglich einmal, auch wohl zweimal über seine Arbeiten, seine Lektüre, aber auch über das Geringfügigste: über einen Zank mit der Wirtin, oder was ihm sonst gerade einfiel. Ich bewahre diese Zettel und Briefe, auf welche er nie eine Antwort erwartete, noch sämtlich. Sie machen einen starken Folioband aus.

Ebenso gewaltsam brach sich die lange verhaltene Arbeitslust Bahn. Seine Tragödie: »Hannibal«, lag ihm besonders am Herzen. Das Manuskript brachte er fast vollendet mit und zeigte es mir in den ersten Tagen nach seiner Ankunft. Die Dichtung hält sich im ganzen der Manier des »Marius und Sulla« nahe, nur ist die Behandlung noch weit knapper. Der Gedanke, einen tatkräftigen, weitblickenden Helden zum Opfer des Krämergeistes in einem Handelsstaate zu machen, gehört zu den glücklichsten. Es ist schade, daß sich Grabbe auch hier, durch die Grenzen seiner Natur genötigt, mehr auf die Darstellung der äußerlichen Konflikte beschränken mußte; die Idee hätte verdient, aus den tiefsten Gründen hervorgearbeitet zu werden. Kaum aber, daß wir Hannibal in unmittelbare Berührung mit den punischen Kaufherren treten sehen. Die beiden Potenzen des Stückes sind durch Länder und Meere, Armeen, Flotten und Gesandte auseinandergehalten. Die Rückkehr des Helden nach Afrika und die Vorbereitungen zur Schlacht von Zama boten sich zu jener engeren Schürzung des Knotens wie von selbst dar. – Dennoch weht durch die Dichtung ein Atem der Größe. Manches darin ist hinreißend schön, so unter andern die Todesszene Hannibals. Auch in der Schlußszene der ersten Abteilung fühle ich mich vom Hauche des wahrsten poetisch-historischen Geistes umwittert. Hannibal muß von Rom abziehen und sich nach Capua wenden. Er sagt zu seinem getreuen Negerhäuptlinge Turnu:


Und fragen dich deine Landsleute, warum wir aufbrechen, so sage ihnen, weil der Winter nahe sei und es sich in Capua wärmer lagere.


[184] Turnu

Ich verstehe.

Hannibal

Der versteht mehr als ich.


Da ich den Vers auf eine Weise gehandhabt fand, gegen welche die Lizenzen des »Gothland« noch für Formenstrenge gelten konnten, oder da, richtiger zu reden, das, was er als Jamben hingeschrieben hatte, gar kein Vers, ja nicht einmal rhythmische Prosa war, so riet ich ihm, diese Unform aufzulösen und das Stück in wahre Prosa, welche mir überhaupt für ihn das gemäßeste Ausdrucksmittel zu sein schien, umzuschreiben. Er folgte diesem Rate und hatte bald das Werk in der neuen Gestalt fertig. Auch die Abteilungen und ihre Überschriften rühren von mir her. Ich schlug sie ihm vor, um von der Arbeit selbst den Schein eines sogenannten regelmäßigen Dramas zu entfernen und sie auch äußerlich als das zu bezeichnen, was sie ist: eine Reihe bedeutender Bilder aus jenem großen Kampfe.

Gleichzeitig mit »Hannibal« vollendete er sein Märchen: »Aschenbrödel«. Die Feenszenen sind nicht ohne Anmut; an dem komischen Ingrediens habe ich mich aber nicht erfreuen können. Diese Späße mit dem verschuldeten Baron, dem Juden, mit der zum Kutscher metamorphosierten Ratte und der Kammerjungferkatze schienen mir absichtlich und gequält zu sein. Er hatte auch vor, ein Lustspiel: »Eulenspiegel«, zu schreiben, und ich glaube, daß, hätte ihm die scherzende Muse einmal ihren Besuch gönnen mögen, dieser hausbackene, lustige, niederdeutsche Gesell sie noch am ehesten zu ihm geführt haben würde. Überhaupt summten ihm die mannigfaltigsten Pläne durch den Kopf. Den Entwurf zu seiner »Hermannsschlacht« hatte er neben allen jenen Dingen schon durchdacht. Auf diesen Plan gab er sehr viel. Er hielt es für einen Umstand günstiger Vorbedeutung für das Gedicht, daß er auf dem Boden des Teutoburger Waldes geboren und erwachsen sei, und hoffte, daß ihm die individuellsten Lokaltöne bei der Ausführung zu Gebote stehen würden. Es bedurfte damals nur eines hingeworfenen Wortes, ja nur eines [185] Winkes, um ihn produktiv zu machen, wenn ihm sonst die Anregung behagte. So sprachen wir eines Tages über den alten, bei Fleischer herausgekommenen »Hamlet« vom Jahre 1603, und ich äußerte gelegentlich, daß eine Übersetzung dieses ersten Textes mit historisch-kritischen Noten und Vergleichungen gegen die letzte Gestalt, von Interesse sein müsse. Er wurde still, und schickte mir bald darauf die Übertragung mehrerer Szenen, nebst Andeutungen über den räsonierenden Teil der Arbeit, an welcher er auch nachmals noch eine Zeitlang fortschrieb.

Um ihm eine tägliche Unterhaltung zu sichern, war ihm ein für allemal sein Platz im Theater gegeben worden. Er gehörte zu den ersten, welche die Eigentümlichkeit der werdenden Bühne erkannten und begriffen, worauf es mir ankam, welche Mittel ich wählte, meine Überzeugungen durchzuführen. Er mäkelte nicht an dem Gelungenen, und sah er auch zuweilen mehr, als ich wirklich bereits erreicht hatte, so war doch dieser Glaube und ein solches Vertrauen, welches in der Knospe schon die aufgeschlossene Blüte erblickt, gerade das, was ich bedurfte und was jeder bedarf, der an einem schwierigen Werke nicht erlahmen soll. Es währte nicht lange, so fühlte er sich auch durch das Theater zu einer Arbeit bestimmt. Anfangs wollte er über dasselbe nur einen kurzen Aufsatz ausgehen lassen; der Stoff schwoll ihm aber unter den Händen an und so erwuchs die Abhandlung: »Das Theater zu Düsseldorf« genannt, welche im Sommer 1835 herauskam. Sehr abweichend von diesem war ein anderes, zwar auch theatralisches Werk, welches er in jener Zeit lieferte. Er fühlte sich ein paar Tage hindurch unmustern und unaufgelegt zu freier Tätigkeit und sagte mir, daß ihn aus solchen Verfassungen eine ganz mechanische Arbeit am ehesten herstelle. Er bat mich, ihm etwas zum Abschreiben zu geben. Da er nicht abließ, so gab ich ihm Töpfers »Hermann und Dorothea«, wovon er dann auch binnen kurzem eine saubere und getreue Kopie gefertigt hatte.

Ich erwähne dieser Schreiberei, einmal, weil der Töpfersche »Hermann«, von Grabbes Hand kopiert, unleugbar eine Kuriosität ist, und dann, weil jener Umstand Gelegenheit gegeben [186] hat, das Märchen, selbst durch öffentliche Blätter, zu verbreiten, ich habe Grabbe zum Rollenschreiben gebraucht. Er hat nie etwas anderes für die Bühne abgeschrieben, als das genannte Buch, und das auf die erzählte Veranlassung.

Ich habe mich dessen, was ich für ihn getan, nicht gerühmt, und tue es auch jetzt nicht. Es war wenig, was mir meine Lage gestattete, und dieses wenige hielt ich und halte ich für nichts weiter, als für die ganz gewöhnliche Schuldigkeit eines jeden Menschen, der den andern in Not sieht. Keinenfalls aber verdiente mein guter Wille in den Schmutz des Journalgeklätsches getreten zu werden.

Siebentes Kapitel

Denken wir uns einen Schriftsteller, in dem das lebendigste Produktionsvermögen quillt, dem die Aussicht vorschwebt, zu gleicher Zeit mit drei ganz verschiedenartigen Erzeugnissen wieder unter seine Landsleute zu treten, bei denen er die günstigste Stimmung für sich voraussetzen darf, und der außerdem noch jemand hat, mit dem er alles, was ihn erfreut und quält, regt und bewegt, ohne Rückhalt verhandeln kann, so möchte uns ein solcher Zustand heiter, selbst glücklich vorkommen. Auch schien Grabbe in der Tat sich seiner Unabhängigkeit, seiner verborgenen, arbeitsamen Muße zu erfreuen. Indessen konnte ich sehr bald abnehmen, daß die meisten lustigen, ja ausgelassenen Momente, die ich mit ihm durchlebte, doch nur aus einem Scheine der wahren Fröhlichkeit entsprangen. Schon die unmäßige Arbeitswut (denn so muß ich es nennen) konnte für ein gefährliches Symptom, für eine Hektik des Geistes, für das Zeichen geheimer Todesahnung gelten. Die Kraft, welche ihr Verwelken fühlt, sucht sich des Vollgehaltes der kurzen Spanne Zeit, die ihr noch zugemessen ist, mit fieberischer Heftigkeit zu bemächtigen. So war auch sein Gespräch, ließ man sich von der bunten Hülle nicht täuschen, eigentlich durchaus krankhaft. Geistreich, aber desultorisch von Objekt zu Objekt flatternd, vermochte er kein Thema mit einer gewissen Stetigkeit in der Unterredung [187] festzuhalten, obgleich ihm, wenigstens in den ihm am meisten geläufigen Gebieten, dazu sicherlich die Gaben nicht ermangelten. Aber auch redend wollte er nur noch von so vielen Dingen als möglich den flüchtigsten Schaum abnippen.

Dieser ungesunde Rausch des Geistes ist eigentlich das tiefste Elend, wie jene Ruhe, die gleich einem klaren Quell in dunkler Felsenspalte auch bei Tage das Bild des Himmels und der Sterne zurückspiegelt, das einzige Glück ist. – Grabbe fühlte sich trotz aller drolligen Einfälle, trotz seiner poetischen Aufspannungen tief-elend. Seine Erinnerungen hauchten, wie ein todatmendes Gespenst, jede Blüte in ihm an. Wie oft sagte er mir: »Was soll aus einem Menschen werden, dessen erstes Gedächtnis das ist, einen alten Mörder in freier Luft spazierengeführt zu haben!« – Ich weiß nicht, ob in dieser Äußerung eine buchstäbliche Wahrheit lag, gewiß aber enthüllte sie die Wahrheit eines um seine Jugend gebrachten Geistes. Seine Wiege in den ihr nach seiner Meinung gebührenden Glanz zu rücken, griff er zu den sonderbarsten Erfindungen, die nichts verschonten, auch das Nächste nicht. – Zu andern Zeiten erzählte er mir, daß er die »Hundert Tage« ohne Glauben, ohne Liebe und ohne Hoffnung, in kalter Lebensverachtung geschrieben habe. Von dieser leichenhaften Empfindung drangen auch schon damals, während der ersten Monate seines Düsseldorfer Aufenthalts, Spuren vor; er sprach nicht selten vom Tode, und sagte, daß er ihn sich wünsche, wenn er die Arbeiten, die vor ihm lägen, hinter sich gebracht habe.

Der Offenbarungsglaube erweist sich in vielen Fällen der Zerrüttung und Auflösung als kräftigstes Stärkungsmittel. Grabbe mußte dieser Hilfe entbehren. Sein Religiöses (was keinem Menschen fehlt) war Naturfrömmigkeit, eingesogen in den dunkeln Waldschatten seines herrlichen vaterländischen Gebirges. Oft blitzte mir, wenn die Mitteilung sich auf derartige Dinge lenkte, aus ihm etwas Urgermanisches, Alt-Sassisches entgegen, und ich mußte an die Worte des Tacitus denken: »Ceterum nec cohibere parietibus deos, neque in ullam humani oris speciem assimulare, ex magnitudine coelestium arbitrantur. Lucos ac nemora consecrant, deorumque [188] nominibus appellant, secretum illud, quod sola reverentia vident.« Er selbst meinte, in seiner Gegend seien die Leute nicht kirchlich gesinnt. Aber jene Naturreligion, durch kein spekulatives Vermögen zur Dichtigkeit gebracht, ließ sich nur in lockern Aperçus, auch wohl in manchem willkürlichen Wahn und Schaum herbei. Ich glaube, daß, wenn er als Katholik geboren wäre, er bei der historischen Textur seines Wesens in der traditionell sich fortbauenden Kirche Trost und Halt gefunden haben würde; mit dem protestantischen Urkundenbeweis aber konnte er kein Wechselverhältnis anknüpfen.

Nach und nach suchte ich ihn aus seiner Einsamkeit unter Menschen zu bringen, und setzte ihn deshalb mit den Personen meines Kreises in Berührung. Hier erwies sich nun der Eindruck, welchen er hervorbrachte, als höchst mächtig und siegreich. Niemand konnte sich der Gewalt dieser ureignen Natur, die mit unsern zierlich gefalteten Literatoren durchaus nicht in Reih und Glied zu stellen war, entziehen; besonders wirkte er auf die Frauen, zu deren Verwunderung auch das Mitleid sich gesellte. Ich konnte sicher darauf rechnen, daß in jeder Gesellschaft, die ich um ihn versammelte, er der Mittelpunkt des Interesses wurde. Aber merkwürdig war es: er regte keine Liebe und keine Sehnsucht auf. Man beschäftigte sich nur mit ihm, wenn er zugegen war, aber man verlangte nicht nach ihm, wenn man ihn nicht sah.

Entwickelten solchergestalt die Menschen, ihm gegenüber, zugleich weiche Hingebung und spröde Kälte, so offenbarte er beides an sich in noch überraschenderer Art. Es gab ganze Gebiete der menschlichen Bestrebungen und höchste Erscheinungen, an denen er, bei übrigens so ungemeiner Rezeptivität selbst für Nahverwandtes, auch nicht einmal den gewöhnlichen Anteil des gebildeten Mannes nahm, gegen welche er sich vielmehr förmlich verstockt hielt. So waren ihm Shakespeare und Goethe, wenigstens letzterer, ziemlich gleichgültig; gegen die bildende Kunst hatte er sogar eine gewisse Abneigung. Nie stieg ihm das Verlangen auf, die Werke der Düsseldorfer Maler, von denen er doch so viel hörte, kennenzulernen; die Ausstellung ist von ihm mit keinem Fuße betreten worden.

[189] Wenn alle diese Widersprüche und Inkongruenzen sich meinem Blicke in gedrängter Folge vorüberwälzten, so konnte ich nicht lange zweifeln, daß ich eine große Natur in Trümmern vor mir sähe, und eine bange Ahnung ergriff mich, daß es vielleicht nur eines Windhauchs bedürfen werde, um auch die letzten Verbindungen zu lösen. Wie erschrak ich aber, als mir ein Zufall den Einblick in den eigentlichen Herd des Übels gab! Ich überraschte ihn eines Morgens in früher Stunde, wo er sich keines Besuchs versah, und fand auf dem Tische mehrere große Gläser, angefüllt mit dem stärksten geistigen Getränke. Auf meine Fragen erfuhr ich mit Entsetzen, daß er sich täglich dieses furchtbaren Reizmittels bedienen müsse, um dem Physischen Spannung zu geben, um es überhaupt nur noch zusammenzuhalten. Da lag nun in der Tat der Abgrund dicht vor den Füßen! Ich beschwor ihn, sich dieses selbstmörderischen Verfahrens zu enthalten, ich sprach mit meinem Arzte über seinen Zustand, und gewann es endlich über den Unglücklichen, daß er wenigstens mit gelinderen Dingen sich hinhielt. Aber der Organismus war bereits so herabgekommen, daß die Eingeweide gegen alle festen Speisen einen unbesieglichen Widerwillen empfanden und er sich fast nur mit Getränk ernähren mochte. Wie eine solche Zerstörung hat überhandnehmen können? Ob ihn eine frische Verzweiflung in den Taumel der Sinne getrieben, um sie und sich zu vergessen, oder ob im Gegenteil die ungebändigten Sinne die Verzweiflung erzeugten – wer kann diese Fragen beantworten? Und wer möchte es, wenn er auch könnte?

Gern aber rede ich von dem Lichte neben so tiefem Schatten. Seine Wahrhaftigkeit war mir vor allem immer sehr schätzbar. Grabbe erheuchelte kein Interesse, wo er es nicht empfand, und hielt sich rein und fern von der modernen künstlichen Erhitzung bei innerlicher Gleichgültigkeit, welche das Zusammensein mit vielen jetzt so peinlich machen kann. Wovon er sprach, dafür war er erwärmt, und wie er sich gab, so stand es um ihn. Gutmütig war er damals, wo ihn ein rechtes und klares Element umgab, ohne Schranken, und sein Dankgefühl hatte für das leiseste Zeichen gewöhnlichen Wohlwollens nicht Maß noch Ziel.

[190] Überhaupt muß ich von jener besseren Periode seines Lebens in Düsseldorf ein Gleichnis brauchen. Ich habe ihn eine Natur in Trümmern genannt, aber ich setze hinzu: diese Trümmer waren von Granit und Porphyr. Dadurch unterschieden sie sich von so manchem Gebäck der Gegenwart, welches heil und ganz aussieht, und doch nur aus Holz, Stroh und Kork zusammengeleimt ist.

Grabbe gehört zu den Verschrieenen, und Männlein und Weiblein meinen, wenn er nur gewollt hätte, er hätte schon anders sein können. Ich aber sage: Er konnte gar nicht anders sein, als er war, und dafür, daß er so war, hat er genug gelitten. Die Pflicht der Lebenden aber ist es, die Toten über der alles nivellierenden Flut des mittelmäßigen Redens und Meinens emporzuhalten.

Achtes Kapitel

Im Spätsommer und Herbst 1835 war ich fast immer von Düsseldorf abwesend. Überdies nahmen die »Epigonen«, die nach zwölfjähriger Arbeit endlich fertig werden sollten und mußten, meinen Sinn so ganz gefangen, daß ich jede Berührung mit Personen und Dingen, außer den durch das Geschäft nur gebotenen, in jenen Monaten mied. Ich sah Grabbe nur flüchtig, auf Augenblicke.

Als ich Ende November nach Düsseldorf zurückkehrte, und mit ihm wieder anzuknüpfen versuchte, fand ich ihn sehr verändert. Schon vorher waren mir Gerüchte zugekommen, daß er sich inzwischen ein Wirtshausleben, wie es am Rheine leicht bereitet ist, und den mit einem solchen zusammenhangenden Kreis erwählt habe, in dessen Bewunderung er sich genüge.

Er war körperlich noch mehr verfallen, als früher, und die Farbe seines Gesichts ging beinahe in das Erdfahle. Auch geistig schien er abgeschwächt zu sein. Seine Gedanken bewegten sich nur noch um einen kleinen Raum. Am liebsten sprach er von der »Hermannsschlacht«; ja, er wurde verdrießlich, wenn man das Gespräch diesem Thema entziehen wollte. Seines Todes gedachte er, wie einer abgemachten, nahe bevorstehenden [191] Sache; keine Furcht vor dem letzten Augenblicke ließ sich wahrnehmen; darin war ihm die alte Stärke verblieben. Er wünschte, zu sterben, wenn er Arnim zum Siege geführt haben würde.

Ein Zettel aus jener Zeit spricht dieses Gefühl folgendergestalt aus:


»Die ›Hermannsschlacht‹, welche Sie erwähnen, ist gegen ›Hannibal‹ ein Koloß. Sie ist fertig. Ich feile nur noch, sinke auch wohl an ihr nieder, wenn sie vollendet ist – auf ewig.«


Ich traf mit ihm nur noch äußerst selten zusammen. Sehr bald mußte ich mich überzeugen, daß er meinem Einflusse und den Darbietungen, die ich ihm zu gewähren vermochte, entzogen sei; in die Wege aber, die er nun zu gehen liebte, konnte ich ihm nicht folgen. Er versaß einen Teil seiner Tage in einem Weinhause, wo sich dann allerhand Leute zu ihm fanden, die er durch sein sonderbares Wesen und durch Bonmots hinzureißen und zu begeistern wußte. – Das Gefühl der zunehmenden Schwäche erklärt alles und entschuldigt ihn durchaus. Er mochte sich keinen Zwang mehr antun, und das Bequemste mußte ihm das Liebste sein. Verhielt er sich zu Hause, so arbeitete er unablässig an seinem letzten Werke; er soll die »Hermannsschlacht« im einzelnen, wie im ganzen, mehrere Male völlig umgeschrieben haben. Während des Winters 1835–1836 lieferte er wieder Theaterkritiken in ein Tageblatt, die zum Teil von einer engen Verdrießlichkeit zeugen, wie sie sein abgeschiedenes Leben zu entwickeln wohl geeignet war.

Einen Sonnenblick in diese Finsternis warf der Umgang mit Norbert Burgmüller, welcher den letzten Monaten seines Verweilens angehört. Norbert Burgmüller, ein junger Tonkünstler, hilft auch den Beweis führen, wie überreich Deutschland an Talenten ist, und wie es daher Entschuldigung verdient, wenn es so manche Kraft unbemerkt verderben läßt, welche in andern Ländern vielleicht von den Schwingen der öffentlichen Meinung hoch emporgetragen sein würde. Ich glaube, [192] daß der Jüngling, von dem ich rede, in England oder Frankreich das glänzendste Los aus der Urne gezogen hätte; bei uns ging er, nur den Nächsten bekannt, umher, starb, ohne daß man außer dem Weichbilde von Düsseldorf von dem Verluste, den die Kunst durch seinen Heimgang erlitt, hörte.

Er war der Sohn des alten wunderlichen Kauzes, dessen Zelter im dritten Teile seines Briefwechsels mit Goethe gedenkt. Von diesem Schlemmer kann man kaum reden, ohne daß die Schilderung in das Komische verfällt. Ein Musikant, klug, toll, lustig, aus der früheren debauchierenden Schule. Fünfhundert Stück Austern war er zu bezwingen imstande, und wenn in ihm der Gedanke an einen gebratenen Kapaun erregt wurde, so schnalzten die Lippen, und er weinte Tränen der Rührung über die Gnade Gottes, welche der Erde solche Gaben gönnte. Ich habe sein Bild, in Kupfer gestochen, gesehen. Die Backen gleichen zwei Pfannenkuchen, an denen die Butter nicht gespart ist, frisch aus dem Tiegel, die Augen sind ihm vor Fett, bis auf eine schmale Spalte, zugewachsen. Außerdem hat er Waden besessen, über das Maß der Sterblichkeit hinaus. Die ganze Familie aß aus dem Topfe, worin die Speise bereitet war; Teller wurden für Überfluß gehalten.

In dieser Wirtschaft wuchs Norbert auf, und da mag er die Anlage zum genialen Umherschlendern, welches ihm eigen war und seinem Glücke schädlich ward, empfangen haben. Sein Talent zeigte sich sehr früh, mußte sich aber vorzeitig – er war kaum vierzehn Jahre alt – in Lektionen abquälen. Nach dem Tode des Vaters studierte er in Kassel unter dem vortrefflichen tiefgelehrten Harmonisten Hauptmann und kam zu Spohr in die vertrautesten Beziehungen. Spohr liebte ihn sehr und hegte von seinen Fähigkeiten die größten Erwartungen.

Dort bildete er sich zum gründlichsten Musiker aus. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, lebte er von Unterstützungen des Grafen Nesselrode und vom Stundengeben. Daneben schrieb er an seinen Werken. Die Natur hatte ihm eine Fülle wahrer Melodien zugeteilt, die durch den Unterricht bei Hauptmann Konsistenz gewannen. In Kassel schrieb er sein erstes Konzert, ein Werk von großer Schwierigkeit und suchendem, etwas [193] düsterm Sinn. In Düsseldorf folgte die erste Symphonie, worin sich die reiche Harmonie zu klarer Darlegung oft ganz neuer Gedanken ausgearbeitet hatte; dann setzte er mehrere Nummern zu einer Oper, die er des Textes wegen späterhin aufgab. Hier war er faßlich für jeden, doch hatte er dafür auch einiges gewöhnlicher genommen, als in der Symphonie. Nachmals hat er noch sehr tief und richtig empfundene Lieder, ein vortreffliches Quartett und drei Nummern zu einer zweiten Symphonie geschrieben, in welchen Arbeiten aber ein bedeutender Fortschritt zur Klarheit sichtbar war und alles aus innerer Fülle strömte. Seine Werke tragen ganz das Gepräge seines Wesens. Fein und sentimental im besten Sinne, dennoch tief und oft humoristisch war er und das, was er schrieb. Er setzte nie eine Note hin, um sie nur dastehen zu haben; eine lebendige Notwendigkeit erzeugte jeden Ton. Lieber ließ er etwas unvollendet, als daß er sich in nicht empfundenen herkömmlichen Weisen beschwichtigt hätte. Den vierten Satz zu seiner zweiten Symphonie konnte er nicht finden, und es war halb komisch, halb rührend, wenn man ihn auf Befragen antworten hörte: »Er ist immer noch nicht da!«

Mit diesem ausgestatteten Menschen kam Grabbe hinter der Flasche fleißig zusammen, und es entspann sich zwischen beiden ein fröhliches Verhältnis, dem auch die Innigkeit nicht gemangelt zu haben scheint. Vielleicht wäre dem einen wie dem andern ein Freund von gesetzterem Charakter dienlicher gewesen; schlägt man aber den Genuß, den die Verbindungen unter den Menschen gewähren sollen, auch für etwas an, so kann man nur sagen, daß die beiden phantasievollen Naturen einander zum Glück gefunden hatten. Grabbe schrieb für seinen Freund einen tollkomischen Operntext, in Verspottung der Bücher dieser Art, worin einem Schafe eine bedeutende Partie zugefallen war. Es ließ sich über diesen Unsinn, der nichts anderes sein wollte, als Unsinn, besser lachen, als über »Aschenbrödel« und das Lustspiel.

Im Mai 1836 reiste Norbert nach Aachen, um sich von alteingewurzelten Übeln zu heilen. Seit seiner Kindheit [194] schwächlich, war er späterhin epileptischen Zufällen unterworfen gewesen. Plötzlich wurden wir durch die Nachricht erschreckt, daß er tot in der Badewanne gefunden worden sei.

Grabbe widmete ihm einige Zeilen der Erinnerung in einem öffentlichen Blatte. Folgende Worte kamen darin vor: »Noch sind es kaum acht Tage, wo er mich Podagristen gutmütig abends aus dem Theater nach Haus führte, und sagte, er reise morgen zu einem Musikfeste oder Konzerte nach Aachen, und werde in vierzehn Tagen zurückkommen. – Norbert, du hast dein Wort schlecht gehalten, bist weiter gereist und kommst nicht wieder, starbst am siebenten Mai, welcher diesmal für jeden, der dich kannte, kein Wonnemond ist! –

... Es vergeht, es stirbt so mancher Treffliche – man könnte bisweilen wünschen, auch in der Gesellschaft zu sein, auch deshalb, weil die Toten stumm sind, und nicht klatschen und verleumden.« –


Er ist darauf kaum noch vierzehn Tage in Düsseldorf verblieben, dann hat er sich still, ohne Abschied zu nehmen, fortbegeben und nach Detmold in seine Häuslichkeit zurückgewandt. Im Herbst des Jahres 1836 erzählten die Zeitungen, daß er am zwölften September nach langem Kränkeln, in einem Alter von beinahe fünfunddreißig Jahren verschieden sei.

Insofern man von Dingen, die über Glück und Unglück hinausragen, doch diese Bezeichnungen brauchen darf, kann man behaupten: sein Tod war ein Glück für ihn. Er löste ihn von bittern Qualen. Auch glaube ich, daß er gegeben hatte, was er geben konnte; sein Talent war keiner eigentlichen Steigerung mehr fähig. Er würde bei fernerer Lebensdauer sich selbst nachgeahmt haben – das Schlimmste, was einen produktiven Genius betreffen kann. Das Gemeine war allerdings imstande, Grabben zu überwuchern, aber er erhielt sich auch unter solchem Schlinggeflechte in seinem Innern eine Stelle, wohin das Gemeine nicht drang. Den Beweis hiervon gab noch in seiner letzten wüsten Zeit die Liebe zu [195] Burgmüller. Übrigens muß dem alles vergeben sein, der, wie er, neun Monate lang, sein Sterbebett im Auge zu halten hat.

Wir sind nie eigentlich Freunde gewesen. Unser Wesen war zu verschieden. Aber über die Kluft, die uns trennte, reichte bei mir das Gefühl hinaus, welches uns bei dem Anblicke einer gewaltigen Menschennatur erschüttert, die laokoontisch mit ihren Schmerzen ringt. – Es ist das Gefühl, welches mich auch trieb, ihm über seinem Grabe dieses Charakterbild aufzurichten – kein in das Allgemeine verschönertes – denn damit wäre ihm wenig gedient, sondern ein ikonisches, wie die Griechen es den Kämpfern setzten, die sie besonders ehren wollten.

[196]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Immermann, Karl. Autobiographisches. Memorabilien. Memorabilien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-89E5-0