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Die Weisheit des Traurers

Hinweg, ihr Wünsche! Quäler des Unverstands!
Hinweg von dieser Stätte, Vergänglichkeit!
Ernst, wie das Grab, sei meine Seele!
Heilig mein Sang, wie die Totenglocke!
Du, stille Weisheit! öffne dein Heiligtum.
Laß, wie den Greis am Grabe Cecilias,
Mich lauschen deinen Göttersprüchen,
Ehe der Toten Gericht sie donnert.
Da, unbestochne Richterin, richtest du
Tyrannenfeste, wo sich der Höflinge
Entmanntes Heer zu Trug begeistert,
Wo des geschändeten Römers Kehle
Die schweißerrungne Habe des Pflügers stiehlt,
Wo tolle Lust in güldnen Pokalen schäumt,
Und ha! des Greuels! an getürmten
Silbergefäßen des Landes Mark klebt.
Halt ein! Tyrann! Es fähret des Würgers Pfeil
Daher. Halt ein! es nahet der Rache Tag,
Daß er, wie Blitz die giftge Staude,
Nieder den taumelnden Schädel schmettre.
Doch ach! am grimmen richtenden Saitenspiel
Hinunter wankt die zitternde Rechte mir.
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In lichtre Hallen, gute Göttin! –
Wandle der Sturm sich in Haingeflüster!
Da schlingst du liebevoll um die Jammernde
Am Grabe des Erwählten den Mutterarm,
Vor Menschentrost dein Kind zu schützen,
Schenkest ihr Tränen, und lispelst leise
Vom Wiedersehn, vom seligen Einst ins Herz –
Da schläft in deiner Halle der Jammermann,
Dem Priesterhaß das Herz zerfleischet,
Den ihr Gericht im Gewahrsam foltert,
Der bleiche Jüngling, der in des Herzens Durst
Nach Ehre rastlos klomm auf der Felsenbahn
Und ach umsonst! wie wandelt er so
Ruhig umher in der stillen Halle.
Mit Brudersinn zu heitern den Kummerblick,
Der Kleinen Herz zu leiten am Gängelband,
Sein Haus zu baun, sein Feld zu pflügen,
Wird ihm Beruf! und die Wünsche schweigen.
Verzeih der bangen Träne, du Göttliche!
Auch ich vielleicht! – zwar glühet im Busen mir
Die Flamme rein und kühn, und ewig –
Aber zurück aus den Lorbeerhainen
Stieß unerweicht die Ehre den Traurenden,
So lang, entflohn dem lachenden Knabenspiel,
Verhöhnend all die Taumelfreuden,
Treu und ñ — ñ mein Herz ihr huldigt.
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Drum öffne du die Arme dem Traurenden,
Laß deines Labebechers mich oft und viel
Und einzig kosten, nenne Sohn mich!
Gürte mit Stolz mich, und Kraft und Wahrheit!
Denn viel der Stürme harren des Jünglings noch,
Der falschen Gruben viele des Wanderers,
Sie alle wird dein Sohn besiegen,
So du mit stützendem Arm ihn leitest.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hölderlin, Friedrich. Gedichte. Gedichte 1784-1800. Die Weisheit des Traurers. Die Weisheit des Traurers. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7D49-2