[27] Diotima

Du schweigst und duldest, denn sie verstehn dich nicht,
Du edles Leben! siehest zur Erd und schweigst
Am schönen Tag, denn ach! umsonst nur
Suchst du die Deinen im Sonnenlichte,
Die Königlichen, welche, wie Brüder doch,
Wie eines Hains gesellige Gipfel sonst
Der Lieb und Heimat sich und ihres
Immerumfangenden Himmels freuten,
Des Ursprungs noch in tönender Brust gedenk;
Die Dankbarn, sie, sie mein ich, die einzigtreu
Bis in den Tartarus hinab die Freude
Brachten, die Freien, die Göttermenschen,
Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind;
Denn sie beweint, so lange das Trauerjahr
Schon dauert, von den vorgen Sternen
Täglich gemahnet, das Herz noch immer
Und diese Totenklage, sie ruht nicht aus.
Die Zeit doch heilt. Die Himmlischen sind jetzt stark,
Sind schnell. Nimmt denn nicht schon ihr altes
Freudiges Recht die Natur sich wieder?
Sieh! eh noch unser Hügel, o Liebe, sinkt,
Geschiehts, und ja! noch siehet mein sterblich Lied
Den Tag, der, Diotima! nächst den
Göttern mit Helden dich nennt, und dir gleicht.

Notes
Erweiterung des zweistrophigen Gedichts »Diotima«. Entstanden Sommer 1800, Erstdruck 1826.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hölderlin, Friedrich. Diotima. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7C29-0