Die Fliege

Dem Menschen lebt, dünk' er sich edel auch
Und gut, im Busen ein Vernichtungstrieb,
Wie ja der Schöpfer, dessen Ebenbild
Er sich berühmt, was er erschaffen, auch
Dem Tode weiht.
Am Fenster stand ich heut
Und blickte müßig auf den See hinaus,
Der aufgestürmt, mit weißen Kämmen wild
Die Flut ans Ufer trieb. Im Zimmer doch
War's heimlich, denn im Ofen knisternd sang
Des Ölbaums grünes Holz. Und wie ich stand,
Nichts denkend, sah ich eine Fliege, kaum
Erwacht zum Leben, die am Fensterglas
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Behaglich sacht hinaufkroch, wohl gleich mir
Der Wärme froh. Und wie zur Sommerszeit,
Wo nur zu sehr der kleinen Näscher Schwarm
Uns lästig wird, auch jetzt zerdrückt' ich sie
Mit plumpem Finger. Doch sogleich in mir
Sprach eine Stimme: O du Grausamer!
Konntst du das kurze bischen Leben ihr
Nicht gönnen? War die Welt nicht weit genug
Für dich und sie, und hätt' ihr Summen dir
Den Schlaf gestört?
So sprach mein bessres Ich.
Und von dem Ort der Untat, wo, gestreckt
Die zarten Füßchen, an der Scheibe hing
Die kleine Tote, trat ich rasch zurück,
Sehr unzufrieden mit mir selbst.
Ach wohl!
Gedankenlose Mordlust lebt in uns,
Und schämen sollte sich der Mensch vorm Tier,
Das nur aus Notwehr tötet, oder weil's
Der wilde Hunger zwingt. – – –

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Ein Wintertagebuch. Die Fliege. Die Fliege. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6638-1