Andere Zeiten

In einem alten Buch fand ich beschrieben,
Wie's fürstlich hohe Herrn und edle Damen
Vor Zeiten hier an der Riviera trieben.
Historien, bunt und wild, mit wundersamen
Kriegsläuften, Mordgeschichten, und in ihnen
Stets klangvoll hocherlauchte welsche Namen,
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Visconti und Gonzaga, Ghibellinen
Und Guelfen, die die kleinen Städte zwangen,
Abwechselnd dem und jenem Herrn zu dienen.
Fast siebenhundert Jahre sind vergangen,
Seit Donna Margherita nach Gardone
Mit ihrem Fra Dolcino durchgegangen,
Dem Albigensermönch, da nach Sermione
Sich seine Glaubensbrüder hingeflüchtet,
Bis sich aufs Haupt gesetzt die Herrscherkrone
Mastino della Scala, der errichtet
Das mächtige Kastell, so fest und groß,
Daß es so bald kein Sturm der Zeit vernichtet.
Beatrix della Scala, Bernabò's
Gemahl, erhielt von ihm als Morgengabe
Die reiche Flur Maderno's und Salò's.
Und sie verfügte: nicht zu herrschen habe
Ob der Riviera, wie bisher, Maderno;
Sich beugen sollt's des Nachbarn Richterstabe.
Darob ein Kampf entbrannt' um das governo,
Höchst blutig, und die Küste, die bisher
Ein Paradies war, wurde zum Inferno;
Und wie im Lauf des Cinquecento dies
Umstrittene Gebiet, das vielbegehrte,
Der Meeresbraut Vasallenpflicht erwies,
Dann an Verona kam und wieder kehrte
Unter des Dogen Schutz und heftig dort
Sich gegen Brescia's Oberhoheit wehrte.
So wallt' und wogt' im Zeitenstrome fort
Kampf, Eifersucht und Unheil, bis am Ende
Die Wut gelinder ward. Am selben Ort,
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Wo einst gelodert wilde Kriegesbrände,
Schien brennende Genußsucht nur zu walten,
Gelenkt vom Szepter weißer Frauenhände.
Ein Bankettieren, Tanzen, Festehalten,
In goldenen Karossen Tag und Nacht
Lustfahrten, daß die Ufer wiederhallten.
In allen Schlössern zügellose Pracht,
Ein Lotterleben, stets frivol und heiter,
Bis ihm die strenge Zeit ein Ende macht.
Dann Bonaparte's sieggewohnte Streiter,
Dann Garibaldi's heldenhafter Zug,
Der Tag von San Martino – und so weiter!
Mich dünkt fürwahr, an diesem sei's genug
Zum Zeugnis, daß der Boden, den wir treten,
Die Spur schon größerer Geschicke trug.
Heut geht's in der Riviera kleinen Städten
So still zu, wie die Luft an dieser Küste
In allen Vignen rings und Oliveten.
Nichts, was an alte Zeit dich mahnen müßte.
Statt glatter welscher rauhe deutsche Namen,
Anstatt der Chronik eine Fremdenliste.
Hüstelnde alte Herrn, nervöse Damen,
Vorsorglich dicht sich hüllend in den Pelz,
Da sie in einen »Winterkurort« kamen.
Zu ringen um die Herrschaft – heute fällt's
Maderno und Salò nicht ein. Es machen
Den Rang sich streitig höchstens die Hôtels.
Nicht in Maderno's »Palazzino« krachen
Champagnersalven, keine Lauten klingen,
Kein Tanz, kein Spiel, noch andre schöne Sachen.
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Und statt der Ritter, die aufs Roß sich schwingen
Mit holden Frau'n, aus Furcht, sich zu entadeln,
Wenn sie gutbürgerlich zu Fuße gingen,
Sieht du die feine Welt – vorüberradeln.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Andere Zeiten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-659F-5