Georg Heym
Atalanta oder die Angst

Personen

[366] Dramatis personae.

    • Bartolomeo Rucellai.

    • Atalanta Rucellai.

    • Sigismondo Baffi.
    • [366]

[Stücktext]

Szene: Nacht, ein wenig erhelltes Zimmer. Ein Kruzifixus mit einer Lampe. Ein hohes Fenster links, davor eine hohe Tür. In der Wand rechts eine verborgene Tür. Ein Vorhang durch die ganze Breite des Zimmers, dahinter das unsichtbare Brautbett. Manchmal hört man abgerissene Musik. Atalanta, Bartolomeo kommen durch die Tür links.

BARTOLOMEO.
Daß du nun mir gehörst. Wie könnt ich kaum
Des Mahles Ziel erwarten. – Komm zu mir.
Was schaust du in die Nacht?
ATALANTA.
Ach laß mich, laß mich.
BARTOLOMEO.
Du wurdest mein Gemahl. Wie?
ATALANTA.
Laß das Wort.
Den Namen, der vom Totenschlaf mich jagt,
Darin ich mich mit Mühe eingelullt.
Ich will nichts hören. Kaum gewann ich Ruhe,
Da ich mit Leichenfarbe mich umzog,
Und Ohr und Mund und Auge, alle Tore,
Die in des Herzens Labyrinthe ziehn,
Vernagelt hab von innen und verbaut.
BARTOLOMEO.
Was hast du? Ich versteh dich nicht.
Hier ist die Hochzeitskammer, siehst du nicht?
ATALANTA.
So kommt die Stunde doch, ich kann's nicht wehren.
BARTOLOMEO.
Wie?
ATALANTA.
Verstellt Euch nur.
[367]
BARTOLOMEO.
Wie? meine Gattin?
ATALANTA.
Da ist das Wort, des Todes grauser Pförtner.
Wie hab ich's oft mir in das Ohr gesagt,
Das Blut zu bändigen vor diesem Ton.
Klingt es nicht sanfter als des Henkers Ruf?
Laßt mich. Ich will so bald nicht in die Nacht
Heruntergehen von den Sonnenküsten
Des weiten Lebens. Ist in Charons Boot
Für einen Schatten doch noch immer Raum.
Ich kann das Heute nicht so schnell vertauschen
Mit ungewissem Morgen, nicht das Licht
Mit wesenloser Totenreiche Mond,
Wie Gaukler dünne Bälle in der Luft.
BARTOLOMEO.
Wie?
ATALANTA.
Ein wenig wartet noch, nur wenig Tage,
Minuten, Stunden. Was ist eine Stunde,
Wenn man den Tod an ihrem Ende sieht,
Die Sense auf der Knochenschulter wippen.
Vielleicht ist nur im Tode einzig Ruhe,
Doch ist das Sterben ewig fürchterlich.
Wie hab ich's mir so schön gedacht zu ruhn,
So sanft zu ruhn in weißer Fackel Schein,
Im Katafalke in der bleichen Tracht.
Nun seh ich nur die Würmer und den Tod,
Das meilenlange Nichts, das Nichtmehrsein,
Die ganze Ewigkeit, den schwarzen Trichter,
Der grundlos aufgähnt, drin man ewig ruht.
Stumm, taub, blind. In seinem Fache jeder
[368] Wie in der Lade Frucht, die dörren soll
Mit einem Täfelchen: Hier ruht in Gott
– Warum nicht in der Hölle – die und der.
Indes des Lebens tolles Tanzen dröhnt,
Von oben auf der Särge bleiernes Dach,
Daß weit sein froher Laut im kalten Reich
Der Toten widerhallt. Du möchtest hoch.
Dich aus der Erde graben, stemmst dich an.
Umsonst, du kannst nicht hoch. Du liegst
Im Maul des Todes, der dich langsam kaut,
Und niemals wieder auswirft.
BARTOLOMEO.
Wüßte ich,
Was dich bedrückt. Du machst mir Angst.
ATALANTA.
Wie grausam.
Verstell dich nur. Du hörst, ich will nicht sterben.
Ich will nicht sterben.
BARTOLOMEO.
Sterben? Atalanta?
ATALANTA.
Laßt den Namen fort.

Sie löscht mit dem Finger wie irrsinnig den Namen von seinen Lippen.

Da liegt die Spur wohl noch von Dirnenküssen.
Doch gilt das alles gleich. Geht nur zu ihnen.
Geht. Sie erfreun Euch schon, auch ohne Mord.
BARTOLOMEO.
Was hast du, Atalanta, Gott, was hast du?
ATALANTA.
Verstell dich nur. Ich schaue doch hindurch.
Ich habe wohl gelernt, durch Masken schauen.
[369] Ich bin nicht blind. Muß ich auch bald herunter,
Wo alles blind wird. – Oder – nehmt mich gleich.
Die Angst zerreißt mir meine Adern sonst.
Ich trage sie nicht mehr. Komm schnell herab, Tod, komm,
Du kleines Vögelchen, komm, komm, komm, komm.
BARTOLOMEO.
So komm. Wenn du mich drängst. Ist das der Wahnsinn?
Ich hoffte, anders das Bett mit dir zu schaun.
ATALANTA.
Im Bette wollt Ihr mich erdrosseln?
BARTOLOMEO.
Erdrosseln?
ATALANTA.
Ach, so jung noch sterben.
Ich könnte viele Sonnen noch erschaun.
Den Aufgang, und des späten Tages Rauch.
Die vielen Segel im Lagunenlicht.
Kein Frühling ist da unten, kein Gesang.
Auf leeren Schädeln spannen graues Haar
Zum Lautenschlag des Todes Musikanten.
In eine öde Gruft bin ich gebannt.
In einen Leinensack werd ich genäht.
Und wie die Trauben in dem Herbste schwellen,
So schwell ich in des Sarges Feuchtigkeit.
Wie goldner Honig aus den Stöcken träuft,
Und in der Hitze schmilzt, so schmilzt mein Fleisch
Im Totenlaken wie gegorne Milch
Aus weißem Sacke tropft. O grauenvolles Ende.

Sie kniet hin.

Ich knie vor dir. Ich will die Stirn mir schlagen
An deinen Knien auf, daß du mich läßt.
Ich will nicht sterben, will nicht, will nicht sterben.
[370]
BARTOLOMEO.
Ist das der Wahnsinn?
ATALANTA.
Wie der Bäume Löcher
Das Harz verstopft, so klebt das Erdpech zu
Mund, Nase, Auge, Ohren. Niemand kommt,
Der es dir auskratzt. Wie ein Eiterflock,
So wächst auf deinen Augen Grind um Grind.
Die Nägel schwären an den Händen aus.
Und fallen von dem Fleisch wie Fisches Schuppen.
Der Gräber hohler Wind führt sie davon,
Gleich Blättern wirbelnd. Nimmt dir fort dein Haar,
Das wie ein Nesselwald vom Hirn dir schießt,
Den Staub, den du aus magrer Lunge bläst.
Nicht sterben.

Bartolomeo sinkt in einen Stuhl. Pause.
BARTOLOMEO.
Geht so der Tag zu Ende, der begann
Mit solcher Seligkeit. Ist das die Frucht
Von meinem Baume? Das der Kämpfe Ziel?
Getraut mit einer Irren?

Pause.
ATALANTA.
Wie?
Ich muß doch sterben in der Hochzeitsnacht?
BARTOLOMEO.
Sterben, immer sterben.
ATALANTA.
Wolltest du
Mich nicht erdrosseln?
BARTOLOMEO.
Komm doch zu dir, komm.
Erinnre dich. Ruf deinen Geist zurück.
[371] Besinne dich. Besinne dich. Du wardst
Mir heut getraut. Das ist die Hochzeitskammer.
Der Brautnacht Fackeln brennen hinter dir.
Und nicht der Bahre Kerzen.
Ich ließ sie selber zünden, stellte selbst
Die Blumen an das Lager. Rosen sind's.
Und nicht der Totenbetten Trauervolk,
Die Lilien und der Lorbeer.
ATALANTA.
Sollt ich leben.
Du, betrüg mich nicht.
BARTOLOMEO.
So sicher, wie ich lebe.
Warum sterben?
ATALANTA.
Sterben? Nicht sterben?
BARTOLOMEO.
Wie sollte ich auf Mordgedanken kommen.
Ich bin so ruhig und von Mord so fern,
Wie's einem Kaufmann meines Ranges ziemt.
ATALANTA.
Schwör's mir. Was ist dir heilig? Schwör's,
Daß du mich heute nacht nicht töten wolltest.
BARTOLOMEO.
Ich schwör's. Bist du verhext?
ATALANTA.
Ich sollte leben?
Nicht tot sein? Alles wäre Lüge?
– O einen Tag nur jünger, einen Tag.
Könnt ich der Zeit in ihre Kugel fallen,
Ich stemmte mich an ihre Eisenwand
Und rollte sie zurück um eine Sonne
[372] Und eine Nacht. Warum kann das nicht sein?
Warum nur einen einzigen Tag nicht jünger?
Ich hätte nie mich so betrügen lassen,
Wüßt ich, was jetzt ich weiß. O so betrogen.
BARTOLOMEO
das auf sich beziehend.
Um einen Tag nur jünger, nicht betrogen?
So kann der Wahnsinn nicht die Worte setzen.
So bitter sticht der Irren Zunge nicht.
Was gabst du vor dem Priester mir die Hand?
Ich dachte fast, du hättest mich geliebt.
So kann man irren, so im Kreise gehn?
Und älter nur und ärmer als zuvor
Zum Ausgang kommen, wie ein alter Esel,
Der sich verlief in einem Distelwald.
Noch gestern warst du frei. Und mochtest gehn.
Nun grubst du dir das Grab und meins dazu.

Pause. Bartolomeo stützt den Kopf in die Hände, Atalanta vor ihm stehend.
ATALANTA.
Hilf mir heraus Gott, und ich will dir danken,
Wie nie im Abgrund dir ein Mensch gedankt.
Ich will in deinen Kirchen täglich liegen,
Und an dem Altar singen Tag und Nacht.

Sie berührt die Schulter des Bartolomeo, mit leiser Stimme.

Ich glaubte ja, ich müßte heute sterben.
Seit vielen Wochen war ich mehr als tot.
Und traf ich Leichen in der schwarzen Gondel,
Die weißen Häupter mit den toten Augen,
Wie hab ich sie um ihre Fahrt beneidet,
In ewige Nacht. War ich ein Mädchen nicht,
Das vor dem Sprunge in das Dunkel bangt,
[373] Ich läge lange schon im Wasser unten,
Im Wald des nassen Krautes auszuruhn.
Bei stummen Fischen.
Ich glaubte ja, ich müßte heute sterben.
Du wolltest mich wie alle andern opfern,
Mein Blut verzapfen, wenn ich dir mich gab,
Mich langsam morden in den Kellern unten,
Du würdest mich an ihre Wände nageln,
Wie an ein Kreuz.
BARTOLOMEO.
Das ist der Wahnsinn doch.
ATALANTA.
Ich wollte wohl, er wär's.
BARTOLOMEO.
Hast jemals du
Ein Wort von mir gehört, das Mordlust atmet?
Hast du bei Grausamkeiten mich belauscht?
ATALANTA.
Du fängst dir deine Mädchen langsam ein,
Daß sie auf dich vertraun und achtlos werden.
Wie eine Spinne zwischen Halm und Halm,
So spannst du durch die Gassen deine Netze.
Du kelterst Blut in Schläuchen, wie den Wein.
Du bist ein Gast in allen Folterkammern.
Im Haus der Pest und in den Siechenhöfen
Studierst den Eiter du, Adept des Tods.
In India hast ein Weib du hingemordet,
Das, trächtig, deiner Lust sich weigerte.
Du schnittest ihr die Frucht aus ihrem Leib.
Du fülltest ihn mit großen Steinen an.
So übermenschlich grausam, bist du, Herr.

Bartolomeo ist aufgesprungen und hat sie an den Arm gefaßt.
[374]
BARTOLOMEO.
Weiter.
ATALANTA.
Das Weib, das einmal du besaßest,
Wird widrig dir. Denn unersättlich schuf
Die krankende Natur dich, immer gierig
Nach neuen Leibern. Wie man von sich stößt
Der Bettler Volk, so jagst du von dir sie.
BARTOLOMEO.
Weiter, weiter.
ATALANTA.
Du kannst auch daran nicht Genüge finden.
Du mußt sie töten. Ihre Liebe opfern,
Dem Abgrund deiner Wollust und dem Tod.
Du schwängerst sie mit Giften, und du badest
In ihrem warmen Auswurf dein Gesicht,
Wie Trinker baden in der Kannen Dunst.
Der Schrei der Kranken wird dir zu Musik,
An ihrem Wimmern nährt sich deine Lust.
BARTOLOMEO.
Wer war das. Wer? Wer hat dich so belogen?
Wer, wer, wer?
ATALANTA.
Ich kann es dir nicht sagen.
BARTOLOMEO.
Wer?
ATALANTA.
Ich weiß es nicht, ich hab es nur gesagt,
Damit ich fortkann. Hör, du mußt hier fort.
Es möchten Gifte in den Kerzen sein.
Als würden sie mit einem Strick erdrosselt,
So blähn sie sich und taumeln hin und her.
[375]
BARTOLOMEO
kalt.
Was soll das? Was der Aufwand und die Künste
Aus Jahrmarktsbuden. Niemand war es also.
ATALANTA.
Doch.
BARTOLOMEO.
Wer dann?
ATALANTA.
Ich kann es dir nicht sagen.
BARTOLOMEO.
Es war wohl eine Blase deines Hirns,
Nicht sonderbarer als die andern auch,
Die diese Nacht zersprangen in der Luft.
Ein junger Schwamm an einem faulen Holz.
Da meines Namens Ehre so verletzt,
Will mit dem ersten Morgen ich zum Dogen.
Der Doge Mocenigo ist mein Freund.
Und bis zur Nacht werd ich Gewißheit haben.
Doch warum hörtest du auf meine Werbung?
Wer folgt denn einem Mörder frei ins Haus?

Pause. Dann Atalanta mit leiser Stimme.
ATALANTA.
Ich wollte nicht, daß du dich von mir wandtest.
Du solltest es nicht hören, was ich wußte.
Du hättest sonst vielleicht mich nicht geliebt.
Und süßer wäre noch mein Herz erbebt
Vor deinem Dolch, als wenn es sehen mußte,
Daß andern Frauen deine Huldigung galt.
Den letzten Hauch hätt ich zum Kuß geformt.
Du hättst vielleicht an meinem Sarg geweint,
Eh deiner Totengräber Seilen er
Ins dunkle Wasser des Kanals entsank.
[376]
BARTOLOMEO.
Du hättest mich geliebt? Du liebst mich noch?
ATALANTA
leise.
Ich hab dich immer doch geliebt.
BARTOLOMEO.
O du.
Spielst du mit mir? Ist das nur Hohn?
Zuviel der Rätsel gab mir diese Nacht,
Um eins zu lösen, bin ich doch gewohnt,
Mit sichern Dingen sonst des Tags zu rechnen.
Ich habe solche Nacht noch nicht gesehn,
Wie weit ich auch durch ferne Länder kam.
Spielst du mit mir?
ATALANTA.
Nein.
BARTOLOMEO.
Du liebtest mich?
ATALANTA.
Ja.

Er umarmt sie, sie halten sich umschlungen. Die geheime Tür geht leise auf. Der Kopf des Sigismondo Baffi zeigt sich einen Augenblick. Die geheime Tür geht ebenso leise wieder zu.
BARTOLOMEO.
So faß ich endlich Grund und komm heraus.
Mir war, als wenn ich durch die Sümpfe schwamm,
Als träumte ich, als säß ich irgendwo
In einem Keller, wüßte nicht heraus.
Doch kann ich dir auch glauben? Sieh, zuviel
Des Dunkels ist noch um mich. Sage mir, wer war's,
Der dich betrog, sonst kann ich dir nicht glauben.
Wer war's?
[377]
ATALANTA.
Die Freunde deines Bruders.
BARTOLOMEO.
Ah Messer Sigismondo Baffi, Ihr
Versteht Euer Handwerk. Sag es nur heraus,
Du weißt das alles nur aus seinem Mund?
ATALANTA.
Von ihm nicht, ich kenn ihn nicht einmal.
Doch seine Freunde bringen das Gerücht
In Haus und Markt herum.
BARTOLOMEO.
Wie gab dich dann
Dein Vater mir?
ATALANTA.
Ihm hat man nichts gesagt.
Er hätt es nicht geglaubt und hätte Euch
Die Reden hinterbracht. Das fürchten sie.
BARTOLOMEO.
Du kennst den Baffi nicht?
ATALANTA.
Ich kenn ihn nur
Soweit, daß er dein Bruder ist.
BARTOLOMEO.
Sonst nicht?
ATALANTA.
Sonst nicht.
BARTOLOMEO.
Und dennoch glaubtest du
Den feilen Schwätzern, die er unterhielt?
Für mich hattst du nur Mißtraun? Atalanta?
Willst du versuchen, zu vertrauen?
ATALANTA.
Ja.
[378]
BARTOLOMEO.
Und, sag's noch einmal, mich zu lieben?
ATALANTA.
Ja.

Sie umarmen sich, die Musik fällt plötzlich lauter ein.
BARTOLOMEO.
Hörst du die Musik?
Wie laut und froh sie nun erschallt. Als hörten
Die Instrumente deinem Munde zu,
Verstohlen lauschend. Und nun singen sie
Mit ganzer reiner Seele. – Sei's auch, daß
Der Musikanten einer, der ganz hinten
Die Gamba strich, den Bogen sinken ließ,
Und sich davonstahl. Denn er rührte kaum
Die Saiten an. Es war noch an der Tafel,
Ich sprach mit deinem Vater von der Fahrt
Mit Christoforo Colon, da zuerst
Im Meere wir das kleine Feuer sahn.
Des fernen Landes Zeichen. Bald brach ab
Jedes Gespräch. Und alle lauschten uns.
Auf einmal fühlte ich in meine Worte,
Wie etwas Spitzes mir die Schläfen traf.
Ich sah empor, da fingen meine Blicke
Ein Augenpaar, das sich wie Dolche bohrte
In meine Augen, so mit Haß gefüllt,
Wie ein Bovist mit Gift. Ich sah verwirrt
Zur Erde. Später sah ich dann
Noch einmal hin. Da stand er an der Säule
Gelassenen Gesichts. Sein Bogen hing
Aus seiner Hand herab. Sein Auge traf
Das meine wieder. Doch es glitt davon,
Im Saal umher, und kehrte dann zurück
[379] Zu seinem Notenblatt, und ruhte dort.
Nur jenes Schatten schwankte an der Wand,
Ein großer schwarzer Vogel hin und her.

Die Musik ist während des letzten leiser geworden und hört im folgenden bald ganz auf.

Vielleicht, daß er den hellen Saal verließ.
ATALANTA.
Er wäre fort?
BARTOLOMEO.
Ich sah ihn später nicht.
Doch du bist blaß.
ATALANTA.
Ich bin nur müde, Lieber.
Doch bitt ich, bring die Musikanten fort.
Entlaß nun die Musik. Ich bin so müde.
Entlaß die Männer alle. Sieh nur zu,
Daß sie auch alle gehn. Daß keiner bleibe
In einer Säule Dunkel hinter dir.
BARTOLOMEO.
Du bist so ängstlich. Wie dein Atem zittert.
Du frierst.
ATALANTA.
Das ist nichts. Nur die erste Nacht
In fremdem Hause, und die Dunkelheit
Der düstern Stunden vor der Dämmerung,
Da unterging der Mond.

Sie horcht herum.

Ich höre keinen Ton der Flöten mehr.
So ist das Fest vorbei. Wie still, wie still.

Pause.
BARTOLOMEO.
Es war der letzte Tanz, den wir gehört.
So will ich gehn.
[380]
ATALANTA.
Laß mich nicht lang allein.
BARTOLOMEO.
Ich eile sehr.

Bartolomeo ab mit einem Windlicht.
ATALANTA
allein.
O großer, großer Gott.
Wie soll ich's ihm gestehn? Woher den Mut,
Woher? Was kannt ich ihn nicht früher.
Was kamst du nicht aus deinem Wolkenlande,
Du alter Gott, aus deinen Wolkenhäusern,
Als ich mich fangen ließ, du alter Narr.
Durch süße Worte war ich ganz betört.
Daß ich mich ihm ergab. Wohl tausendmal
Wollt ich von meinem Stuhle an der Tafel
Aufspringen, schreien: »Der da an der Wand
Ist Sigismondo Baffi. Bindet mich
Und ihn, wir werden sonst zu Mördern.«
Doch immer blieb ich an den Stuhl gebunden.
Und wie ein Licht in tiefe Brunnen sinkt,
Und weit gerückt ist in der Erde Schoß,
So war ich plötzlich weit gerückt und fern.
Nichts mehr von dieser Tafel. Wie durch Rauch
Sah ich verzerrte Fratzen und vernahm
Die Stimmen, wie der Wellen leiser Ton
Von weit entfernter Brandung. Doch am Fuß
Tat sich der Quadern breite Fläche auf:
Ich ward gerufen, in das Loch zu schauen:
Die ganze Hölle hing an meinem Fuß,
Mit ungeheurer Kraken rollendem Arm
Hing der Dämonen Schwarm an meinem Fuß
Und sog ihn tausendarmig aus den Fliesen.
Des ganzen Abgrunds ungeheures Maul
[381] Sog an der Sohle mir. Die weite Helle
Des bodenlosen Nichts. Die langen Ketten,
Daran die Geister wie ein Bienenschwarm
Mit Bergeslast sich schaukelnd hin und her
Mich niederzogen in den weiten Fall
Der hellen Klüfte, wo Gelächter rief
Von jedem Grat der Schlünde, jedem Karst,
Und großen Nestern, drin die graue Brut
Der Teufel saß, in schwarzem Federkleid,
Wie ungeheure Geier auf dem Horst.
Wo tief ihr Abgrund unermeßlich sank
In ungeheurer Räume hohlen Schall,
Da auf dem meilentiefen Grund die Flut
Des Riesenbottichs, wie ein Meer so weiß
Zum Horizonte schwamm, Verdammter voll,
Weißglühend, unersättlichen Geschreis.
Entsetzliches Gesicht, da mir die Zunge fror
Wie rohes Blei im Hals, und meine Augen
An ihren Stielen hingen weit hinaus.
O so mit Schmach und Schande vollgefüllt,
Daß ich erbrechen möchte, so voll Ekel,
Daß ich die Zunge aus dem Gaumen hinge,
Und wie ein warmer Regen mich bespie,
So bin ich mir zum Ekel, so zum Graun.
Ich kann mich selber nur mit Grauen sehn.
Ich wollt dem Mordstahl seines Bruders helfen?
Ich habe gestern mich ihm hingegeben,
Auf braunen Blättern in dem feuchten Gras?
Ist es denn Wahrheit, ist's ein irrer Traum?
Ich ward bezwungen von den Schmeichelkünsten,
Ich tat's aus Angst vor meiner Ehenacht.
O Gott, ich weiß es nicht, warum ich's tat?

[382] Gegen den Himmel drohend.

Warum denn kamst du nicht aus deinem Haus?
Und rissest ihn von meinem Leibe fort?
Da oben schläft ein Gott in seinen Sternen,
Er hat sich hinter Mondeswand gelegt.
Der hat gut schlafen. Ach, du alter Bettler.
Wirst du mir helfen! Ich bin so verzweifelt.
Du mußt aufwachen, wirst du wohl aufwachen.
Da hängt der Schächer an das Kreuz genagelt.
Du hast geschworen, unserm Leid zu helfen.
Du hast der Welten Leid dir aufgeladen.
Hier hast du meins. Du sollst es dir aufpacken.
Ich kann's nicht tragen, kann's nicht tragen mehr.

Die geheime Tür geht auf, Sigismondo Baffi tritt herein und bleibt an dem Vorhang rechts hinten stehn.

Wach auf, Gott, wenn es jemals Zeit für dich
Zu helfen war. Hier kannst du reichlich helfen.
Tu's doch. Ich will dir tausend Kirchen stiften,
Voll Priestern, Kerzen, Bildern, Meßgeräten,
Voll Fahnen, Kanzeln, Weihrauch, Altardecken,
Voll Tabernakeln, Gold und Spezerei,
Voll Orgeln, Pfeifen, Pauken, Tubaton,
Voll Stolen, Säulen, Chor und Litanein.
Ich will mit Prozessionen um dich ziehn,
Mit Gold und Purpur, meinen Rücken geißeln,
Das blutge Fleisch zu deinem Wohlgeruch.
Hilf mir nur heut, ich zahl dir täglich heim,
Mit tausend Zinsen zahle ich dich aus.
Du sollst umsonst nichts tun, so wahr ich knie
Verzweifelt hier vor dir und deinem Bild.
Bring aus dem Hause ihn. Laß auf der Treppe
Ihn niederbrechen, laß ihn stolpern doch.
[383] Er möchte sich in einen Winkel hocken
Und in der Dunkelheit ihn niederstoßen.
O wär er aus dem Hause, wär er fort.
Hier kannst du wirklich etwas Gutes tun.
Bring aus dem Haus ihn fort. Was soll ich machen?
Ich bin ein Weib nur. Ach, ich habe Angst.
War ich ein Mann, ich würd ihn niederstoßen.
Ich kann nicht leben mehr vor Schmach, Angst, Grauen.
Doch fehlt mir auch zu sterben jeder Mut.

Sie umklammert mit beiden Fäusten das Kruzifix.

O gäbest du, daß aus dem Haus er kam.
O Gott, o Gott. O wär er aus dem Haus,
Und mit den Gästen aus dem Hause fort,
Mit ihnen aus dem Hause unerkannt.
O Gott, o großer Gott.

Sigismondo geht langsam an dem Vorhang entlang, bis hinter ihren Rücken.
SIGISMONDO.
Nun Atalanta.
ATALANTA.
Ach du. Da bist du. Wie kamst du herein?
Sind alle fort? Sind wir mit dir allein?
SIGISMONDO.
Das Haus ist leer, ich bin sein einziger Gast.

Pause.

Ich kam durch diese Tür, die dir und ihm
Wohl nicht bekannt ist. Meine Mutter, die
Der liebgewordnen Witwenschaft Gebräuche
Auch in der Ehe nicht verleugnen mochte,
Ließ im geheimen durch ergebene Diener
Sie einst erbauen, als der alte Mann
Nach Famagosta auf den Handel ging.
[384] Dies Türchen weiß zu reden. Hier herein
Kam mancher Mann, der einen Hahnrei machte.
ATALANTA.
Pfui. Doch bitt ich dich, geh fort. Dein Bruder ging
Nur einen Augenblick, die Türen schließen.
Er wird bald hier sein. Fände er dich hier
SIGISMONDO.
Nun?
ATALANTA.
Es wär mein Tod.
SIGISMONDO.
Warum? Stirbt man so leicht?
Er käme über diese Schwelle nicht.
Die eine Hand muß ihm das Windlicht tragen.
Die andere öffnet ihm die Tür. Und tritt
Er ein, vom Schein geblendet, sitzt mein Stahl
In seiner Brust, und angebohrt ist tief
Des Blutes schwarzer Born, daß es den Dolch
Mit ausschwemmt, wie ein Brunnenrohr den Pflock.
ATALANTA.
O geh, geh.
SIGISMONDO.
Ich habe Larven für uns zwei.
Die ganzen Straßen sind der Masken voll
Bis an den Morgen von dem Karneval,
Und in den Gondeln kommen unerkannt
Zum Hafen wir, da laut die Menge schwärmt
Durch die Kanäle, in das Strömen tauchend
Des Maskenvolkes. Wer erkennt uns da?
Im Hafen liegt ein Schiff von Mytilen.
Die Türkenkaravelle, Ich gewann
Den Kapitän. Und wenn der Morgen kommt,
[385] Und auf die Riva tritt, ist unser Segel
Schon fern im Meer, verloren meilenweit.
ATALANTA.
Du brächtest mich als Leiche nur heraus.
SIGISMONDO.
Ach, wie ihr Frauen launisch seid. Vergaßest
Du, was du gestern um dieselbe Stunde
Mir in die Hände schwurst. Da ist die Rose
Um keine Blüte ärmer, fiel kein Blatt
Vom feuchten Nachtwind, schwer von Wind und Tau.
Die Blumen stehen alle noch gebeugt,
Die unsere Küsse hörten, und das Rauschen
Der seidenen Röcke. Die dein Lager waren.
Des Fußes Spur verlor noch nicht der Sand,
Da ich zur Mitternacht ans Fenster kam,
Und dich herauszog in den Schoß der Nacht.
Sie alle zeugen mir gewiß. Du leugnest,
Daß du mir folgen wolltest?

Dicht an ihr.

Ist dies nicht
Der Gattin Pflicht?
ATALANTA.
Der Eid ist nichtig, den die Satanskunst
Mir abdrang, deiner Lügen. Alles Lüge?
Es war ja alles Lüge. Nichts ist wahr!
Wie schlecht das war.
SIGISMONDO.
Nenn meine Künste schlecht.
Ich lasse nicht von dir. Ich liebe dich
Nur um so tiefer. Und ihn haß ich mehr,
Daß er's gewagt, dich jemals anzusehn.
Der Krämerknecht, der auf den Ballen sitzt,
Mißt, rechnet, schwitzt in engen Krämerstuben.
Ich mußte lügen. Hätt ich andre Waffen,
[386] Ich hätte sie gebraucht. Doch hatt ich keine.
Du hättest ihn geliebt und mich verschmäht.
Er ist der Glückliche. Ihm gab Natur
Die Schönheit eines Mädchens, ihm den Geist
Der großen Menge, den die Frauen lieben.
Er ist so fleißig, rührt sich, wo er kann,
Und pflanzt das Geld in Säcken in die Truhen.
Der Tagewerker mit dem kleinen Geist,
Was weiß er von der großen Ruhe auch,
Die aus den Dämpfen der Verzweiflung kommt,
Ein schwarzer Phönix mit den Schattenschwingen
Aus Leidens Wildnis und dem dunklen Wald
Der kummervollen Nacht. Was weiß er denn
Von Liebesqual, die wie der kalte Brand
Dich zittern macht vor Kälte, und den Schlund
Dir abschnürt, die, ein harter Blitz,
Dir in die Augen springt, das Mark dir lähmt,
Die deine Stirn verkrampft, und tränenlos
Dich fortjagt in den Wald. Da sinkst du hin
Wo er am tiefsten ist und jammerst laut.
Wie kann er lieben, wo noch anders füllt
Sein hohles Hirn. Wo er an Dinge denkt,
Wie Handel, Schiffe, Tuche, Geld und Kram.
Selbst in des Lagers höchster Seligkeit,
Bedächte er des letzten Tags Gewinn.
Ein solcher Krämer sollte sein dich nennen,
Ich wollte eher meine Hand verdorren,
Sie sollte trocknen mir wie dürres Kraut,
Wenn ich ihm nicht an seine Kehle komme.
Ich hasse ihn mit solchem Haß, so sehr
Ist er mein Widerspiel, mir so sehr fremd,
Wie Tag der Nacht, wie Wasser Flammen ist.
[387] Sie müssen beide bis zum Tode kämpfen,
Das eine lebt nur, wenn das andre starb.
Und da sind alle Mittel recht.
ATALANTA.
Ach du, geh fort, ich bitte dich, geh fort.
Ich will nichts hören, will nur endlich Ruhe,
O geh doch fort.
SIGISMONDO.
Nein.
ATALANTA.
Geh doch aus dem Haus.
Bist du zu kaufen?
SIGISMONDO.
Nur um dich.
ATALANTA.
So geh doch,
Du bist mir widerlich.
SIGISMONDO.
Du schmeichelst mir.
ATALANTA.
Ich liebe deinen Bruder.
SIGISMONDO.
Nun, was kümmert's
Mein Herz, daß du die Toten liebst.
Ich bin auf sie nicht eifersüchtig.
ATALANTA.
Erfüll mir nur den einen Wunsch.
SIGISMONDO.
Ich tät's
Um einen andern, nie um meinen Bruder.
ATALANTA.
Ich schlage dich.
[388]
SIGISMONDO.
Schlag nur, ich trag es gern.
Doch trag ich nie, daß jener Mann dich trägt
Zu seinem Bette, seine Hände senkt
Gleich Wurzeln dir ins Fleisch,
Die Liebe sättigt, wie ein wildes Tier.
ATALANTA.
Pfui.
SIGISMONDO.
So zimperlich? Du hast doch einmal schon
Die gleiche Lust gefühlt?

Man hört Schritte kommen.
ATALANTA.
Ah, hörst du? Schritte.
Hörst du? Er ist's. Er ist schon auf der Treppe.
Geh hier herein, ich fleh dich an.

Sie drängt ihn auf den Vorhang zu, Sigismondo zögert erst, dann.
SIGISMONDO.
Es sei.
Ich könnte jetzt schon meinen Bruder treffen.
Doch will ich bis zum Grund die Wonne kosten,
Zu wissen, daß ich jeden Augenblick
Ihn töten kann. O seine arme Gier.
Des Ahnungslosen Flamme, die erstickt
In meinen Händen, wie man Tauben dreht
Zur Brunstzeit ab den Hals.

Der Schlüssel klirrt in der Tür. Sigismondo verschwindet in den Falten des Vorhanges. Bartolomeo tritt herein. Sigismondo bleibt während des folgenden undeutlich zu sehen, nur sein blasses Gesicht scheint manchmal aus den Falten hervor.
BARTOLOMEO.
Das Haus ist wohlverwahrt. Ich legte selbst
Des Tores Balken vor und schloß es fest
[389] Mit eigner Hand. Da kommt kein Feind herein.
Die Nacht ist ruhig, wie die Nächte all
In diesem Haus. Die Kammern sind verwahrt.
Das Haus ist leer. Die Gäste sind davon.
Du siehst noch ihre Fackeln im Kanal.

Atalanta wirft sich wortlos in seine Arme.

Was hast du denn?
ATALANTA.
Ach laß mich.
BARTOLOMEO.
Bist du krank?
Du bist verstört von zuviel Angst und Kummer.
In Hauses stetem Frieden geht dein Leid.
Wein dich nur aus. Der Morgen bessert's schon.
Der vielen Tage Ruhe. Und der Zug
Der stillen Stunden in dem Stundenglas.
Du lächelst bald ob deiner Bitternisse.
Und von dem Berg der Zeiten scheint dir klein
Und fast vergessen dieser laute Tag.
Laß nur erst Morgen sein. Dann gehen wir
An unsre Arbeit. Ich begeh die Docke
Und fertige die Kreterschiffe aus,
Du stehst den Mägden vor, und schaffst in Truhen
Dein Brautgeräte. O wie schnell vergeht
Ein arbeitsamer Tag. Am Abend kommen
Die Eltern und wir sitzen auf dem Dache.
Wir sehn die Schiffe in dem Hafen ruhn.
Mit eingezognem Segel, und den Schwarm
Der Fischerbarken auf dem weiten Meer,
Zum Fischzug in der Nacht. Weinst du noch immer?
ATALANTA.
Ich bin so müde.
[390]
BARTOLOMEO.
Willst du schlafen gehn?
Ich will in Schlaf dich wiegen wie ein Kind.
Ich wache bei dir, will die ganze Nacht
Dich nicht verlassen, deine Hände haltend.
Ich höre, wie dein Atem ruhig geht.
Ich rufe her des Weltalls leichte Geister,
Daß in die engen Kreise sie dich schließen,
So leicht wie Wind um deinen stillen Schlaf.
In ihrer Mitte ruhst du, bis der Morgen
Mit zartem Licht der frühen Dämmerung
Dich kosend weckt. Mein Lohn soll süßer sein,
Als meine Wache mit den frühen Sternen:
Dein erstes Lächeln, das noch halb dem Schlaf,
Halb schon dem jungen Tag und mir gehört.
Du zitterst immer noch? Drückt dich dein Herz?
Willst du mir etwas sagen und du findest
Den Mut zu Tränen nur. So sag es doch.
Ich zürne nicht.
ATALANTA.
Sage, weintest du,
Wenn du mich tot sähst, hier in diesem Zimmer
Tot auf den Fliesen? –

Sigismondo läßt den Dolch klirren.
BARTOLOMEO.
Du bist wunderlich.
Was sprichst du denn von Tod?
ATALANTA.
Nur eine Frage
Von ungefähr.
BARTOLOMEO.
Du mußt zur Ruhe gehn.
Der Morgen bessert's schon. Ich bring dich schlafen.
[391] Ich bleib bei dir.
ATALANTA.
Ja, ich will schlafen gehn.
Nur schlafen, schlafen, immerfort zu schlafen.

Verheißend.

Komm.
BARTOLOMEO.
Willst du die Nacht nicht einsam schlafen?
ATALANTA.
Ach, du liebst mich nicht.
BARTOLOMEO.
So komm, Geliebte, komm.
Und leuchte Eros freundlich diesem Haus.

Bartolomeo ergreift mit der einen Hand den Leuchter, mit der anderen umschlingt er Atalanta. Das Liebespaar geht langsam auf den Vorhang zu. Atalanta bleibt plötzlich stehen, als ränge sie mit einem furchtbaren Entschluß.

Komm doch, komm.

Er führt sie dicht an den Vorhang, in dessen Falten der Dolch Sigismondos blitzt. Man sieht die verzweifelte Anstrengung Atalantas. Bartolomeo läßt sie los.

Wie?
ATALANTA.
Nein, ich kann es nicht.

Bartolomeo empfangt den Dolchstoß. Der Schatten der ersten Dämmerung betritt das Gemach. Der Vorhang teilt sich, Sigismondo tritt hervor wie ein Gott. In der Hand blinkt der blaue Dolch. Der Ärmel dieses Armes ist halb hochgeschlagen, so daß man das Weiße des Hemdes darunter leuchten sieht. Sigismondo wischt den Dolch mit einem Spitzentuche ab, das sich von dem Blute langsam
mit Scharlach färbt. Atalanta ist über den Toten hingeworfen. Pause.
[392]
SIGISMONDO.
Du hältst den Strom des Blutes nimmer auf.
Dem Leben ward zu großes Tor gebrochen.
Aus seinem Kerker schwang es sich heraus,
Ein Purpurvogel in den Raum der Nacht.

Pause.

Vielleicht zieht seine Seele hier noch um
Und ward noch nicht entführt in freie Luft.
Wir wollen der Toten öffnen ihre Bahn,
Daß mit der ziehenden Nacht sie flattere
Ins Dunkel, das im grauen Westen gähnt.

Er öffnet das Fenster und sieht in die Dämmerung heraus. Dann wendet er sich der am Boden liegenden Atalanta zu.

Komm. Es wird Zeit. Wir müssen vor dem Tag
Der Stadt entfliehen. Gegen Morgen schon
Zieht sich ein heller Streif am dunklen Rand
Der weiten Nacht.
Wie weißer Bord läuft um den schwarzen Sarg.
Und es wird kühl.

Lange Pause.
ATALANTA.
Mein ganzes Kleid hat schon das Blut gesaugt,
Und immer strömt es noch und starret nicht.
O tot, tot, tot.
SIGISMONDO.
Bedeck ihn mit dem Mantel.
ATALANTA.
Wach doch auf. Wär ich so feige nicht,
So läge ich statt deiner auf dem Boden.
Ich konnt es nicht. Ich hätt es nicht gekonnt.

Zu Sigismondo.

Du hast mich festgebannt mit deinem Auge,
[393] Du hast mich festgebunden mit der Stirn,
Du hast mich angenagelt an den Boden,
Du hast mich angefesselt mit dem Dolch.
Mit unsichtbarer Schnur ward ich umschnürt.
Ich sah den Dolch aus schwarzen Falten glänzen,
Wie Todes offner Rachen sah's mich an.
Da mußte ich die Augen offen halten,
Und konnte mich nicht stürzen in den Dolch.
Ich konnt es nicht.

Sie bäumt sich an der Leiche auf und macht gegen Sigismondo eine Gebärde ohnmächtiger Wut.
SIGISMONDO.
Komm, laß ihn.
ATALANTA.
Du meinst ich stünde auf.
SIGISMONDO
wieder an dem Fenster.
Der Gondel Bug tritt schon aus Dunkel vor.
Das graue Licht bewandert den Kanal.
Ein Fischkahn kommt das Wasser schon herab.
Mit braunem Netz, das in den Tiefen schleift.
Des ersten Fischzugs Stunde ist schon nah.
Noch kurze Zeit, dann wird Venedig wach.
Und seine Diener klopfen an die Tür.
ATALANTA.
O großer Gott.
SIGISMONDO.
Wie friedlich schläft Venedig noch und träumt
Von Mummenschanz und frohem Maskenrausch.
Wie bald und es erwacht vor Schrecken toll.
Siehst du die beiden Masken dort im Tor,
Sie wundern sich der vielen Raben wohl,
[394] Die vor dem Fenster flattern und Balkon.
Sie wittern Tod.

Erschreckte Gebärde Atalantas.

Das darf dich wenig kümmern.
Du darfst des Schreckens Schläuche noch nicht öffnen.
Tu zu die Adern noch. Du mußt ihn sparen
Auf die gelegne Zeit, den hellen Morgen.
Da magst du zittern, wenn dein Händchen dir
Im Eisen klirrt. Du mußt noch vieles tragen,
Das ist das Vorspiel nur. Der schüchterne
Prolog des Grausens. Du erschaust noch mehr.
Wie bald, noch eine kurze kleine Stunde,
Dann füllt sich Haus und Hof von dichtem Volk,
Die Augen weiß vor Schreck, vom Schrein der Diener
Aus weichem Bette und dem Liebesarm
Verjagt mit einem Schrei, der wachen macht.
Mord, schrein sie, Mord. Der Ruf macht Greise zittern.
Sie füllen alle Treppen und die Tür.
Durch ihren Kreis blinkt, wie ein roter Mond
Durch weiße Felder scheint, im Abendlicht,
Der Schergen rotes Kleid, und ihrer Schellen
Erhabene Musik.
ATALANTA.
O Gott verlaß mich nicht.
SIGISMONDO.
Wie staunte wohl das dumme Gassenvolk,
Säh es mit Ketten uns hindurchgebracht
Auf eines Leiterwagens altem Stroh
Statt auf Karossen. O du armes Kind,
Ich schämte mich für dich und deine Mutter.
Kennst du das peinliche Verhör, die Folter?
Auf ihrem Bette ruhst du nicht so sanft,
Wie auf den Daunen.
[395]
ATALANTA.
Großer, großer Gott,
Laß mich herunter von der Qual des Lichts.
O lösch mich aus. Ich bitte nichts als Tod.
Ein kleines Quäntchen Tod, ein kleines Gran
Von deinem großen Speicher voller Tode.
Du bläst die alten Leute welkend um.
Du kannst im Krieg mit Eisensohlen treten,
Und gelben Schwefel regnen, Pest verstreun,
Wie grüne Saat den Aussatz, und du kannst
Mit einem Hauch mich nicht zerbrechen machen?
Ich knie um Tod, wie andre um das Leben.
Ich knie, knie.

Pause.

Nicht? Du bist wohl taub?
Von all dem Jammer ist dein Ohr verstopft,
Der auf dich regnete, und wie die Motten
Im Ohr dir summend krabbelt. Keinen Sinn
Kannst du dir machen. Du bist alt geworden,
Dein Hirn ist brüchig, wie ein altes Haus
Zum Abbruch reif. Nicht einmal sterben lassen.
Nicht einmal sterben. Oder bist du tot?
Vielleicht hast du dich in den Mond verkrochen,
In seine Löcher nach der Maulwurfsart,
Vor unsrer Not, die dir die Pfoten brennt.
Nicht einmal sterben. Wär ich nicht so feig,
So tät ich's selber.

Sie rutscht auf den Knien zu Sigismondo hin.

Ach, was er nicht kann,
Der Narrenfürst, du kannst es. Liebst du mich,
Du sagtest es, so tu mir, was ich bitte.
Dann will ich dir nicht zürnen, will dich segnen
Mit letztem Hauche.

[396] Sie ergreift seinen Dolch, den er noch in der Hand hält und setzt die Spitze an ihren Hals. Sie beugt sich vorn über.

Wie ist er kalt, ah.

Sie stößt die Spitze wieder von ihrem Halse fort. Sigismondo spricht zu ihr, während sie noch liegt.
SIGISMONDO.
Denkst du, ich töte dich? Ich wär ein Narr.
Was wär ich für ein Narr, dich jetzt zu töten.
Was sollte mir dein Leichnam.

Er sucht sie langsam aufzuziehen, sie wehrt sich nur schwach.
ATALANTA.
Gott, o Gott.
O tu's doch, tu's.
SIGISMONDO.
Was war ich ohne dich.
Ich sollte wieder in das Dunkel treten,
Vergraben sein in meine Häßlichkeit?
Nein! Das nenne ich zuviel gebeten.
Mein Leben war ein wasserloses Meer,
Darin ein großer Sandberg wirbelnd kreist.
Ich war so trocken wie ein dürrer Wald,
Der von dem Staube langer Sommer starrt
Und nach den fernen Donnerwolken murrt.
Mein Herz stak in mir eisig, dürr und kalt,
Wie in dem trocknen Brunnenloch ein Stein.
Du hast mich erst geheilt mit deinen Küssen,
Du hast die Adern mir in Brand gesetzt.
Wie eine Flamme brenne ich nach dir,
Wie eine Fackel. Ach, ich will dich betten
In grünen Grotten, fern in weiter Flut
Vergeßner Meere, wo der taube Wind
Einsam gen Süden braust. Dort will ich ruhn
[397] An deinem Mund wie Wasser, das verrinnt
In weißen Sand, in eine weite Flur
Der weißen Wüste. Dann, ja, dann ...

Er streichelt ihr Haar.

Weißt du das? Ich trinke jede Lust
Bis zu der Qualen letzter Hefe aus.
Es wird dich etwas schmerzen, denke ich.
Ich soll dich töten? Wäre ich ein Narr.

Er will sie mit sich nehmen, sie hält sich an dem Kruzifix fest. Sigismondo legt seinen Arm um ihre Schultern.
SIGISMONDO
kalt.
Ein jeder Tag füllt Leid auf kleineres Maß.
Am ersten Tage ist der Schmerz nur grell.
Dann wird er blasser, wie Brokat verbleicht.
Und nur die Wehmut gibt noch sanften Reiz,
Verlornem Duft von welken Rosen gleich.
Ich will dich trösten. Komm, die Zeit vergeht.
Schon glänzt im Ost der weißbehelmte Tag.
Komm, komm.

Er will sie fortziehen.
ATALANTA.
Nein.

Pause. Sigismondo läßt sie los, tritt ein paar Schritte zurück.
SIGISMONDO.
Du wärst zu schön für diese Dutzendstadt,
Daß sie in einer Stunde dich bestarrt,
Und dich bespeit des Hallenvolkes Maul.
Zu schön für eines Henkers rohen Arm,
Und für die Gier der Knechte viel zu hold.
Mich dauert deines Kopfes. O wie schön
Er aus den Schultern steigt. Sieh, hier wird bald

Er tritt auf sie zu und umfährt ihren Hals mit seinem Finger.

Das kalte Beil ins warme Fleisch der Haut
[398] Schneiden wie Eis. Der Henker aber greift
In deine Locken und er reißt empor
Dein nasses Haupt und schleudert weit es fort,
Wie einen blutgen Ball.

Pause.

Doch, wie du willst.
Ich zwinge niemand. Da du mir nicht gönnst,
Mit dir zu leben, sterben wir zusammen.
Was soll ich ohne dich? Nach einem solchen Wurf,
Bleibt einem Spieler nur der Sprung ins Nichts. –
Ich will die Angst verkürzen, die dich quält.
Ich geh und rufe Leute her.

Er geht nach der Tür.
ATALANTA.
Bleib hier.
SIGISMONDO
dreht sich um.
Dann komm.

Atalanta gibt keine Antwort.

Sieh her. Das Licht des Tags ist schon
An dieser Stelle.

Er zeigt auf den Boden.

Einen Daumen weiter
Und es berührt den Teppich. Bin ich dann
Noch ohne Antwort, gehe ich hinaus
Und rufe wach das Haus.

Pause. Das Licht des Morgens bescheint das verzerrte Gesicht der Atalanta, Sigismondos Gesicht ist bewegungslos. Das Licht wandert weiter vor. Als es den Teppich erreicht hat, geht Sigismondo wortlos und schnell nach der geheimen Tür. Als er sie aufmachen will, ruft Atalanta.
ATALANTA.
Bleib hier.

Sigismondo dreht sich, die Hand an dem Türgriff, noch einmal um und sieht Atalanta fest an, Atalanta läßt das Kruzifix los und folgt seinem Auge wie ein Tau dem Seiler. Während sie langsam auf Sigismondo zugeht, spricht Sigismondo.
[399]
SIGISMONDO.
Nimm ihm den Mantel fort, er braucht ihn nicht.
Das Meer ist kalt. Ich will nicht, daß du frierst.

Atalanta gehorcht und geht zu dem Toten, sie bückt sich und hebt dessen Mantel auf.

Und nimm den Leuchter auf, du mußt mir leuchten,
Schließ ich das Türchen zu.

Sie nimmt auch den Leuchter.

Nun geh voran.

Sie geht mit dem Mantel und dem Leuchter an ihm vorbei auf die Treppe hinaus, Sigismondo macht vor dem Kruzifix eine leichte Verbeugung und lächelt spöttisch. Ab, ihr nach.
Vorhang.

Zweite Schluß-Fassung

SIGISMONDO.
Nimm ihm den Leuchter. Denn er braucht ihn nicht
In seiner Dunkelheit. Er ist schon weit
Vor diesem Licht voraus und seinem Schein
Auf seiner Wanderung.

Atalanta gehorcht und nimmt den Leuchter.

Und nimm den Mantel.
Er wandert einem heißen Reiche zu,
Da braucht er keinen Mantel.

Sie nimmt auch den Mantel. Er löst sich schwer ab, da daran noch Blut hängt.

Nimm ihm das Kreuz.
ATALANTA.
Das Kreuz?
[400][402]
SIGISMONDO.
Ja. Er muß uns unsre Fahrt bezahlen.
Die Toten sind geduldig. Nimm es ab.

Sie kniet hin und hebt Bartolomeos Kopf hoch. Und streift das Kreuz ab.

Du tust das?
Wenn jetzt ein Bote reiste aus dem Land
Der Erde fort dem Zug der Toten nach
Den unbekannten Pfad der Wanderer
Und träfe unter schwarzem Himmel ihn
Im Totenzug, und hieß ihn rückwärts schaun:
Er sah sein Weib auf seinen Hals gebeugt
Auf seinen bleichen, welken, toten Mund
Zum Kusse? Nicht. Zu Tränen? Nein. Zum Raub,
Zum Leichenraub. Was träumte ihm dann wohl.
Die Toten selber wichen ihm voraus.
Und stützten ihn nicht mehr auf seiner Fahrt.
Er müßte einsam durch die Wüste ziehn,
Vor seinem Elend flöh der Horizont,
Daß er ihn nie berührte mit der Hand.
Ich hätte diese Probe lassen sollen.
– Es war eine Torheit. – Denn sie nahm die Frucht
Von diesem Tode fort, und hat verwelkt,
Was ich daraus zu hoffen war gewillt.
– Der arme Tote ist umsonst gestorben.
Ich komm dahin, daß ich ihn wecken möchte. –
Ihr seid mir gleichgültig geworden, Witwe.
Ihr seid zu wohlfeil. Meine Leidenschaft,
Die ich vielleicht einmal für Euch gefühlt,
Ist fort, zum Fenster heraus. Ihr seid zu billig,
Lebt wohl. Ich gehe fort. Ich werde Euch
Die Sbirren schicken. Denn Ihr seid nicht wert,
[402] Witwe, daß Ihr noch eine Nacht erlebt.

Er geht aus der Tür heraus und schließt sie hinter sich zu. Atalanta steht auf und schlägt wie wild an die Tür. Doch die Tür gibt nicht nach. Danach rennt sie wie eine Wilde im Zimmer herum, immer im Kreise, schreit wie eine Besessene, schlägt wieder an die Tür, springt über den Toten, schlägt wieder an die Tür. Die große Tür links tut sich auf: Zwei Sbirren der Republik stehen in ihr.
Der Vorhang fällt.

Dritte Schluß-Fassung

Sigismondo dreht sich, die Hand an dem Türgriff, noch einmal um und sieht Atalanta fest an. Atalanta läßt das Kruzifix los und folgt seinem Auge, wie das Tau dem Seiler. Während sie langsam und bei jedem Schritt stockend auf Sigismondo zu über die ganze Breite der Bühne geht, sieht Sigismondo sie immer fest an, und läßt sie nicht als den Augen. Als Atalanta bei der Leiche des Bartolomeo angekommen ist, wo noch der hingefallene Leuchter flackert, sagt Sigismondo zu ihr.

SIGISMONDO.
Nimm ihm den Leuchter fort. Er braucht ihn nicht.
Er ist schon weit vor diesem Schein voraus.
Die Toten reisen schnell.

Atalanta bückt sich nach dem Leuchter.

Und nimm den Mantel.
Ihn kümmert's nicht, ob er auf Steinen liegt.
Die Toten frieren nicht.

Atalanta nimmt auch den Mantel.

Und nimm ihm seinen Rock. Denn der Brokat
Ist viel zu lecker für der Würmer Maul.

Atalanta knöpft ihm den Rock auf.

[403] Das Hemd.
ATALANTA.
Das Hemd?
SIGISMONDO.
Es ist ein feines Tuch.
Ich brauch es auf der Reise noch.
ATALANTA.
Es ist
Noch ganz voll Blut.
SIGISMONDO.
Das wäscht das Wasser aus.
Zieh's ab. Die Toten haben keine Scham.

Während Atalanta sich bemüht, dem Bartolomeo das Hemd abzuziehen.

Wenn sein Gespenst hier hinterm Vorhang stände,
Was dächte es? Sieh einmal her, Gespenst!

Er schlägt mit dem Dolch den Vorhang zurück.

Da kniet dein Weib bei deinem Kopf, Gespenst!
Und stiehlt dein Hemd für mich.

Er läßt den Vorhang zufallen. Zu Atalanta.

Er hat noch Ringe an der Hand? Wozu?
Und um den Hals ein goldnes Kreuz? Wozu?
Für Tote ziemt sich Einfachheit.
ATALANTA.
Das Kreuz?
SIGISMONDO.
Die Toten sind geduldig. Nimm es nur
Von seinem Hals. Es ist mein Wegezoll,
Daß ich vor ihm des Todes Schlagbaum zog.
Er gibt es gern, denn er beschenkt damit
Sein Weib und seinen Bruder. Und was blieb
Ihm Näh'res auf der Welt als wir.

[404] Atalanta nimmt die Ringe ab.

Du müßtest
Des öftern auf den Kirchhof gehn. Du hast
Geschick zu einer Leichendiebin.
ATALANTA.
Hier
Sind Ringe, Mantel, Rock und Hemd und Licht,
Nicht das Kreuz. Ich fasse es nicht an.
SIGISMONDO.
Das Kreuz.

Atalanta faßt es an.

Es ist von seiner Mutter noch.
ATALANTA.
Das Kreuz,
Nicht das Kreuz.
SIGISMONDO.
Beeile dich.

Atalanta wackelt Bartolomeos Kopf hin und her, um das Kreuz loszubekommen. Sigismondo betrachtet sie währenddessen. Endlich gelingt es der Atalanta, dem Bartolomeo das Kreuz über den Kopf zu streifen.

Sie hat es getan. Sie griff an seinen Kopf
Wie ein Fleischer.
ATALANTA.
Du hast es doch gewollt.
SIGISMONDO.
Gewiß. Ich habe es gewollt. Wer kann
Für seine Wünsche. Das beweist noch nicht,
Daß ich es jetzt noch will. –
Wenn jetzt ein Bote bräche auf von hier,
Den Toten der vergangnen Stunde nach,
Sie einzuholen an dem Meilenstein
Der Straße nach dem unbekannten Land,
Und träfe ihn, wie er im Zuge wankt,
[405] Und hieß ihn rückwärts schaun, wo er begann,
Hoch oben, wo das letzte Licht noch winkt,
Am fernen Ausgang seines dunklen Pfads,
– Was säh er wohl. Er säh sein Weib gebeugt
Auf seinen bleichen, welken, toten Mund.
Zum Kusse? Nein. Zu Tränen? Nein.
Und ihre Hände säh er um sein Haupt.
Daß sie ein letztes Mal ihn streichelte?
Nein. – Daß sie die brachen Augen schlösse?
Nein. – Er sah sie flinker Hand beim Leichenraub.
Sie hebt den toten Kopf wie einen Sack.
Was träumte er in seiner Dumpfheit wohl,
Wenn er das sähe? Und die Toten selbst,
Sie rückten ab von ihm und seinem Gram.
Die Hahnrei-Leiche watschelte allein
Den Pfad herab, wie eine alte Gans.
Sie müßte allezeit durch Wüste gehn,
Und immer flöh vor ihr der Horizont.
– Ich hätte diese Leiche lassen sollen.
– Es war eine Torheit. Und die ganze Frucht
Des Todes schwindet in das trübe Nichts
Der wolkenreichen Frühe. Armer Toter,
Du hast mir nichts gebracht. Ich komm dahin,
Daß ich dich wecken möchte. Denn der Mühe
Hat es sich kaum gelohnt, dich umzubringen!
ATALANTA.
Wie?
SIGISMONDO.
Ja »wie«. Zerbrecht Euch nur einmal den Kopf.
Ihr waret mir zu sehr gehorsam, Weib.
ATALANTA.
Du hast es doch gewollt.
[406]
SIGISMONDO.
Ja. Leider. Gewollt.
Ich bin gewillt, es jetzt nicht mehr zu wollen.
Ihr seid mir gleichgiltig geworden. Witwe,
Ihr seid zu wohlfeil meiner Leidenschaft.
Jetzt ist sie fort. Der Wind hat sie verjagt,
Der bleiche Morgen hat sie aufgefressen.
Da fliegt sie aus dem Fenster. Bah.

Er schnippt mit den Fingern nach ihr.

Verdammt. Lebt wohl. Ich gehe fort, Witwe.

Er macht schnell die geheime Tür hinter sich zu. Atalanta richtet sich an der Leiche halb auf und starrt unverwandt auf den Fleck, in dem Sigismondo verschwunden ist.
Vorhang.

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TextGrid Repository (2012). Heym, Georg. Drama. Atalanta oder die Angst. Atalanta oder die Angst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6321-7