Der Gastfreund

Bei einem Neger in Guinea war
Ein Brite krank zurückgeblieben; treu,
Wie seinen Bruder, pflegt' der Neger ihn.
Da kam ein ander europäisch Schiff
Und stahl mit Tänzen, mit Musik und List
Der Neger viel' hinweg. Sie jammerten,
Die Hände ringend auf dem fliehnden Schiff,
Bis sie der dumpfe Boden hart verschloß.
Der Flecken ward voll Aufruhr. Väter, Mütter
Und Bräute, Söhne, Weiber sammelten
Sich um die Hütte, wo der Europäer
Danieder lag. Sie fordern Rache, Blut.
»Ihr Freunde,« sprach der Neger, »meinen Gast
Soll keine Rachbegier beleidigen!
Nur über meinen Leichnam geht der Weg
Zu ihm. Er hat Euch nichts geraubet, ist
Kein Europäer jetzt in meiner Hütte;
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Mein Gastfreund ist er und ein kranker Mensch.«
Die lauten Haufen trennten murmelnd sich
Und dankten's ihm am Morgen, daß sie gestern,
Von seiner Billigkeit geleitet, sich
Mit des Unschuld'gen Blute nicht befleckt.
Also die Neger. – Europäer, wir?

Notizen
Erstdruck in: Seckendorfs Ostertaschenbuch, 1801.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Der Gastfreund. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5C85-4