Johann Gottfried Herder
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit

Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts

Ταρασσει τους ανϑρωπους ου τα πραγματα,
αλλα τα περι των πραγματων δογματα –

[295] Erster Abschnitt

Je weiter hin es sich in Untersuchung der ältsten Weltgeschichte, ihrer Völkerwandrungen, Sprachen, Sitten, Erfindungen und Traditionen aufklärt 1 desto wahrscheinlicher wird mit jeder neuen Entdeckung auch der Ursprung des ganzen Geschlechts von einem. Man nähert sich immer mehr dem glücklichen Klima, wo ein Menschenpaar unter den mildesten Einflüssen der schaffenden Vorsehung, unter Beistande der erleichterndsten Fügungen rings um sich her, den Faden anspann, der sich nachher mit solchen Wirrungen weit und lang fortgezogen: wo also auch alle erste Zufälle für Anstalten einer mütterlichen Vorsehung gelten können, einen zarten Doppelkeim des ganzen Geschlechts mit alle der Wahl und Vorsicht zu entwickeln, die wir immer dem Schöpfer einer so edeln Gattung und seinem Blick auf Jahrtausend und Ewigkeit hinaus zutrauen müssen.

Natürlich, daß diese erste Entwickelungen so simpel, zart und wunderbar waren, wie wir sie in allen Hervorbringungen der Natur sehen. Der Keim fällt in die Erde und erstirbt: der Embryon wird im Verborgnen gebildet, wie's kaum die Brille des Philosophen a priori gutheißen würde, und tritt ganz gebildet hervor: die Geschichte der frühesten Entwicklungen des menschlichen Geschlechts, wie sie uns das ältste Buch beschreibt, mag also so kurz und apokryphisch klingen, daß wir vor dem philosophischen Geist unsres Jahrhunderts, der nichts mehr als Wunderbares und Verborgnes hasset, damit zu erscheinen erblöden: [295] eben deswegen ist sie wahr. Nur eins also angemerkt. Scheint nicht selbst für das Maulwurfsauge dieses lichtesten Jahrhunderts doch ein längeres Leben, eine stiller und zusammenhangender würkende Natur, kurz eine Heldenzeit des Patriarchenalters dazu zu gehören, die erste Formen des Menschengeschlechts, welche es auch seien, den Stammvätern aller Nachkommenschaft ein- und für die Ewigkeit anzubilden? Wir laufen jetzt nur vorüber und durch die Welt her; Schatten auf Erden! Alles Gute und Böse, was wir mitbringen (und wir bringen wenig mit, weil wir alles hier erst empfangen), haben wir meist auch das Schicksal wieder mitzunehmen: unsre Jahre, Lebensläufe, Vorbilder, Unternehmungen, Eindrücke, die Summe unsrer Hinwürkung auf Erden ist kraftloser Traum einer Nachtwache – Geschwätz! – Du lässest sie dahinfahren usw. So wie das nun bei demgroßen Vorrat von Kräften und Fertigkeiten, den wir entwickelt vor uns Enden, bei dem schnellern Lauf unsrer Säfte und Regungen, Lebensalter und Gedankenplane, wo eins das andre wie eine Wasserblase die andre zu verfolgen und zu zerstören eilt, bei dem so oft mißhelligen Verhältnis zwischen Kraft und Besonnenheit, Fähigkeit und Klugheit, Anlage undgutem Herzen, die ein Jahrhundert des Verfalls immer bezeichnen – wie's bei dem allen Absicht und abwägende Weisheit scheint, eine große Masse kindischer Kräfte durch kurze, kraftlose Dauer des Lebensspiels zu mäßigen und zu sichern: gehörte nicht auch allein jenes erste, stille, ewige Baum- und Patriarchenleben dazu, um die Menschheit in ersten Neigungen, Sitten und Einrichtungen zu wurzeln und zu gründen?

Was waren diese Neigungen? Was sollten sie sein? Die natürlichsten, stärksten, einfachsten! für alle Jahrhunderte der Menschenbildung die ewige Grundlage:Weisheit statt Wissenschaft, Gottesfurcht statt Weisheit, Eltern-Gatten-Kindesliebe statt Artigkeit und Ausschweifung, Ordnung des Lebens, Herrschaft und Gottregentschaft eines Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und Einrichtung – in diesem allen der einfachste Genuß der Menschheit, aber zugleich der tiefste – wie [konnte] das alles, ich will nicht fragen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet werden als – durch jene stille ewige Macht des Vorbilds und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrschaft um sich her? Nach unserm Lebensmaße wäre jede Erfindung hundertfach verlorengangen; wie Wahn entsprungen und wie Wahn entflohen welcher Unmündige sollte sie annehmen? welcher zu bald wieder [296] Unmündige sie anzunehmen zwingen? Es zerfielen also die ersten Bande der Menschheit im Ursprung, oder vielmehr damals so dünne kurze Fäden, wie hätten sie je die starke Bande werden können, ohne die selbst nach Jahrtausenden der Bildung das menschliche Geschlecht durch bloße Schwächung noch immer zerfällt? – Nein! mit frohem Schauer stehe ich dort vor der heiligen Zeder eines Stammvaters der Welt! Ringsum schon hundert junge blühende Bäume, ein schöner Wald der Nachwelt und Verewigung! aber siehe! die alte Zeder blüht noch fort, hat ihre Wurzeln weit umher und trägt den ganzen jungen Wald mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo der Altvater auch seine Kenntnisse, Neigungen und Sitten herhabe, was und wie wenig diese auch sein mögen, ringsum hat sich schon eine Welt und Nachwelt zu diesen Neigungen und Sitten bloß durch die stille, kräftige, ewige Anschauung seines Gottesbeispiels gebildet und festgebildet! zwei Jahrtausende waren nur zwo Generationen.


Indes auch von diesen heroischen Anfängen der Bildung menschlichen Geschlechts weggesehen: nach den bloßen Trümmern der weltlichen Geschichte und nach dem flüchtigsten Räsonnement über dieselbe à la Voltaire – welche Zustände können erdacht werden, erste Neigungen des menschlichen Herzens hervorzulocken, zu bilden und festzubilden, als die wir schon in den Traditionen unsrer ältesten Geschichte würklich angewandt finden? Das Hirtenleben im schönsten Klima der Welt, wo die freiwillige Natur den einfachsten Bedürfnissen so zuvor oder zu Hülfe kommt, die ruhige und zugleich wandernde Lebensart der väterlichen Patriarchenhütte mit allem, was sie gibt und dem Auge entziehet, der damalige Kreis menschlicher Bedürfnisse, Beschäftigungen und Vergnügen nebst allem, was nach Fabel oder Geschichte dazukam, diese Beschäftigungen und Vergnügen zu lenken – man denke sich alles in sein natürliches, lebendiges Licht – welch ein erwählter Garten Gottes, zur Erziehung der ersten, zartesten Menschengewächse! Siehe diesen Mann voll Kraft undGefühl Gottes, aber so innig und ruhig fühlend, als hier der Saft im Baume treibt, als der Instinkt, der tausendartig dort unter Geschöpfe verteilt, der in jedem Geschöpfe einzeln so gewaltig treibet, als dieser in ihn gesammlete stille, gesunde Naturtrieb nur würken kann! Die ganze Welt ringsum, voll Segen Gottes: eine große, mutige Familie des Allvaters: diese Welt sein täglicher Anblick: an sie mit Bedürfnis und Genusse geheftet: [297] gegen sie mit Arbeit, Vorsicht und mildem Schutze strebend unter diesem Himmel, in diesem Elemente Lebenskraft, welche Gedankenform, welch ein Herz mußte sich bilden! Groß und heiter wie die Natur! wie sie, im ganzen Gange still und mutig! langes Leben, Genuß sein selbst auf die unzergliederlichste Weise, Einteilung der Tage durch Ruhe und Ermattung, Lernen und Behalten – siehe, das war der Patriarch für sich allein. – – Aber was für sich allein? Der Segen Gottes durch die ganze Natur, wo war er inniger als im Bilde der Menschheit, wie es sich fortfühlt und fortbildet: imWeibe für ihn geschaffen, im Sohn seinem Bilde ähnlich, im Gottesgeschlecht, das ringsum und nach ihm die Erde falle. Da war Segen Gottes sein Segen: sein, die er regiert, sein, den er erzieht; sein die Kinder und Kindeskinder um ihn ins dritte und vierte Glied, die er alle mit Religion und Recht, Ordnung und Glückseligkeit leitet. – Dies das unausgezwungene Ideal einer Patriarchenwelt, auf welches alles in der Natur trieb: außer ihm kein Zweck des Lebens, kein Moment Behaglichkeit oder Kraftanwendung zu denken – Gott! welch ein Zustand zu Bildung der Natur in den einfachsten, notwendigsten, angenehmsten Neigungen! – Mensch, Mann, Weib, Vater, Mutter, Sohn, Erbe, Priester Gottes, Regent und Hausvater, für alle Jahrtausend sollt er da gebildet werden! und ewig wird, außer dem Tausendjährigen Reiche und dem Hirngespinste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das Goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben.


Daß nun zu dieser Welt von Neigungen selbst Zustände gehören, die wir uns aus einem Betruge unsrer Zeit oft viel zu fremde und schrecklich dichten, dörfte eine Induktion nach der andern zeigen. – Wir haben uns einen Despotismus des Orients aus den übertriebensten, gewaltsamsten Erscheinungen meist verfallender Reiche abgesondert, die sich mit ihm nur in ihrer letzten Todesangst sträuben (eben dadurch aber auch Todesangst zeigen!) – und da man nun nach unsern europäischen Begriffen (und vielleicht Gefühlen) von nichts schrecklicherm als Despotismus sprechen kann, so tröstet man sich, ihn von sich selbst ab, in Umstände: zu bringen, wo er gewiß nicht das schreckliche Ding war, das wir uns aus unserm Zustande an ihm träumen. 2 Mag's sein, daß im Zelte des Patriarchen allein Ansehen [298] Vorbild, Autorität herrschte und daß also, nach der aufgefädelten Sprache unsrer Politik, Furcht die Triebfeder dieses Regiments war – laß dich doch, o Mensch, vom Worte des Fachphilosophen 3 nicht irren, sondern siehe erst, was es denn für ein Ansehen, was für eine Furcht sei? Gibt's nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte Vernunft nichts, aber durch Neigung, Bildung, nach Autorität alles lernen? wo wir für Grübelei und Räsonnement des Guten, Wahren und Schönen kein Ohr, keinen Sinn, keine Seele, aber für die sogenannten Vorurteile und Eindrücke der Erziehung alles haben – siehe! diese sogenannte Vorurteile, ohne Barbara celarent aufgefaßt und von keiner Demonstration des Naturrechts begleitet, wie stark, wie tief, wie nützlich und ewig! – Grundsäulen alles dessen, was später über sie gebaut werden soll, oder vielmehr schon ganz und garKeime, aus denen sich alles Spätere und Schwächere, es heiße so glorwürdig, als es wolle (jeder vernünftelt doch nur nach seiner Empfindung), entwickelt – also die stärksten, ewigen, fast göttlichen Züge, die unser ganzes Leben beseligen oder verderben, mit denen, wenn sie uns verlassen, uns alles verläßt – – Und siehe, was jedem einzelnen Menschen in seiner Kindheit unumgänglich not ist: dem ganzen Menschengeschlecht in seiner Kindheit gewiß nicht weniger. Was du Despotismus in seinem zartesten Keime nennest und eigentlich nur Vaterautorität war, Haus und Hütte zu regieren – siehe, wie's Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle deiner kalten Philosophie des Jahrhunderts wohl unterlassen müßtest! wie's das, wasrecht und gut war oder wenigstens so dünkte, zwar nicht demonstrierte, aber dafür in ewige Formen festschlug, mit einem Glanze von Gottheit und Vaterliebe, mit einer süßen Schlaube früher Gewohnheit undallem Lebendigen der Kindesideen aus seiner Welt, mit allem ersten Genuß der Menschheit in ein Andenken zauberte, dem nichts, nichts auf der Welt zu gleichen. Wie notwendig! wie gut! fürs ganze Geschlecht wie nützlich! da wurden Grundsteine gelegt, die auf andre Art nicht gelegt werden konnten, nicht so leicht und tief gelegt werden konnten – sie liegen! Jahrhunderte haben drüber gebaut, Stürme von Weltalter haben sie, wie den Fuß der Pyramiden, mit Sandwüsten überschwemmet, aber nicht zu erschüttern vermocht – sie liegen noch! und glücklich, da alles auf ihnen ruht.

Morgenland, du hiezu recht auserwählter Boden Gottes! Die [299] zarte Empfindlichkeit dieser Gegenden, mit der raschen, fliegenden Einbildung, die so gern alles in göttlichen Glanz kleidet: Ehrfurcht vor allem, was Macht, Ansehn, Weisheit, Kraft, Fußstapfe Gottes ist, und sodann gleich kindliche Ergebung, die sich ihnen natürlich, uns Europäern unbegreiflich, mit dem Gefühl von Ehrfurcht mischet: der wehrlose, zerstreute, ruheliebende, herdenähnliche Zustand des Hirtenlebens, das sich auf einer Ebne Gottes milde und ohn Anstrengung ausleben will – alle das, mehr und weniger von Umständen unterstützt, freilich hat's in der spätern Folge auch dem Despotismus der Eroberer volle Materialien geliefert, so volle Materialien, daß Despotismus vielleicht ewig in Orient sein wird und noch kein Despotismus in Orient durch fremde äußere Kräfte gestürzt worden: er mußte nur immer, weil ihm nichts entgegenstand und er sichunermeßlich ausbreitete, allein durch eigne Last zerfallen. Allerdings hat dieser Despotismus auch oft die schrecklichsten Würkungen hervorgebracht, und wie der Philosoph sagen wird, die schrecklichste von allen, daß kein Morgenländer, als solcher, noch kaum von einer menschlichen, bessern Verfassung innigen Begriff haben kann. – Aber alle das später dahingestellt und zugegeben: Anfangs unter der milden Vaterregierung war nicht eben der Morgenländer mit seinem Zarten Kindessinne der glücklichste und folgsamste Lehrling? Alles ward als Muttermilch und väterlicher Wein gekostet! Alles in Kindesherzen aufbewahrt und da mit dem Siegel göttlicher Autorität versiegelt! der menschliche Geist bekam die erste Formen von Weisheit und Tugend mit einer Einfalt, Stärke und Hoheit, die nun – gerade herausgesagt in unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt wohl nichts, gar nichts ihresgleichen hat. Und eben weil wir so unfähig sind, sie mehr zu verstehen! zu fühlen! geschweige denn zu genießen – so spotten wir, leugnen und mißdeuten! der beste Beweis!

Ohne Zweifel gehört hiezu auch Religion, oder vielmehr war Religion »das Element, in dem das alles lebt' und webte«. Auch von allem göttlichen Eindruck bei Schöpfung und frühester Pflege des Menschengeschlechts (dem Ganzen so nötig als jedem einzelnen Kinde nach seiner Geburt Pflege der Eltern), von alledem auch den Blick entfernt, wenn Greis, Vater, König so natürlich Gottes Stelle vertrat und sich ebenso natürlich der Gehorsam unter väterlichen Willen, das Ankleben an alte Gewohnheit und die ehrfurchtvolle Ergebung in den Wink des Obern, der das Andenken [300] alter Zeiten hatte 4, mit einer Art von kindlichem Religionsgefühl mischet – mußten's denn, wie wir aus dem Geist und Herzen unsrer Zeit so sicher wähnen 5, nichts anders als Betrüger undBösewichter sein, die dergleichen Ideen aufdrangen, arglistig erdichtet hatten und argwüterisch mißbrauchten? Mag's sein, daß dergleichen Religionsgefühl als Element unsrer Handlungen, für unsern philosophischen Weltteil, für unsre gebildete Zeit, fürunsre freidenkende Verfassung von innen und außen äußerst schändlich und schädlich wären (ich glaube, sie ist, was noch mehr ist, leider! für ihn gar unmöglich), laß es sein, daß die Boten Gottes, wenn sie jetzt erschienen, Betrüger und Bösewichter wären: siehst du nicht, daß es mit dem dortigen Geist der Zeit, des Landes, der Stufe des Menschengeschlechts ganz anders ist? Bloß schon die älteste Philosophie und Regierungsform hat so natürlich in allen Ländern ursprünglich Theologie sein müssen! – – Der Menschstaunt alles an, ehe er sieht: kommt nur durch Verwunderung zur hellen Idee des Wahren und Schönen; nur durch Ergebung und Gehorsam zum ersten Besitz des Guten – so gewiß auch das menschliche Geschlecht. Hast du je einem Kinde aus der philosophischen Grammatik Sprache beigebracht? aus der abgezogensten Theorie der Bewegung es gehn gelernt? hat ihm die leichteste oder schwereste Pflicht aus einer Demonstration der Sittenlehre begreiflich gemacht werden müssen? und dürfen? und können? Gottlob eben, daß sie's nicht dürfen und können! Diese zarte Natur, unwissend und dadurch auf alles begierig, leichtgläubig und damit alles Eindrucks fähig, zutrauend folgsam und damit geneigt, auf alles Gute geführt zu werden, alles mit Einbildung, Staunen, Bewundrung erfassend, aber eben damit auch alles um so fester und wunderbarer sich zueignend – »Glaube, Liebe und Hoffnung in seinem zarten Herzen, die einzigen Samenkörner aller Kenntnisse, Neigungen und Glückseligkeit« – tadelst du die Schöpfung Gottes? oder siehst du nicht in jedem deiner sogenannten Fehler Vehikulum, einziges Vehikulum alles Guten? Wie töricht, wenn du diese Unwissenheit und Bewundrung, diese Einbildung und Ehrfurcht, diesen Enthusiasmus und Kindessinn mit denschwärzesten Teufelsgestalten deines Jahrhunderts, Betrügerei und Dummheit, Aberglaub und Sklaverei, brandmarken, dir ein Heer von Priesterteufeln und Tyrannengespenstern erdichten willt, die nur in deiner Seele existieren! Wie tausend [301] mal mehr töricht, wenn du einem Kinde deinen philosophischen Deismus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Unterjochung, Aussaugung und Aufklärung nach hohem Geschmack deiner Zeit großmütig gönnen wolltest! EinemKinde? O du das ärgste, törichtste Kind! und raubtest ihm damit seine beßre Neigungen, die Seligkeit undGrundfeste seiner Natur; machtest es, wenn dir der unsinnige Plan gelänge, zum unerträglichsten Dinge in der Welt – einem Greise von drei Jahren.

Unser Jahrhundert hat sich den Namen Philosophie! mit Scheidewasser vor die Stirn gezeichnet, das tief in den Kopf seine Kraft zu äußern scheint – ich habe also den Seitenblick dieser philosophischen Kritik der ältesten Zeiten, von der jetzt bekanntlich alle Philosophien der Geschichte und Geschichte der Philosophie voll sind, mit einem Seitenblicke obwohl Unwillens und Ekels erwidern müssen, ohne daß ich mich um die Folgen des einen und des andern zu bekümmern nötig finde. Gehe hin, mein Leser, und fühle noch jetzt hinter Jahrtausenden die so lang erhaltne reine morgenländische Natur, belebe sie dir aus der Geschichte der ältesten Zeiten, und du wirst »Neigungen antreffen, wie sie nur in dem Lande, auf die Art, zu den großen Zwecken der Vorsehung aufs Menschengeschlecht hinab gebildet werden konnten« – welch ein Gemälde, wenn ich's dir liefern könnte, wie es war!


Die Vorsehung leitete den Faden der Entwicklung weiter vom Euphrat, Oxus und Ganges herab zum Nil und an die phönizische Küsten – große Schritte!

Es ist selten ohne Ehrfurcht, daß ich mich vom alten Ägypten und von der Betrachtung entferne, was es in der Geschichte des menschlichen Geschlechts geworden? Land, wo ein Teil des Knabenalters der Menschheit an Neigungen und Kenntnissen gebildet werden sollte wie in Orient die Kindheit! Ebenso leicht und unvermerkt als dort die Genese war hier die Metamorphose.

Ägypten war ohne Viehweide und Hirtenleben: der Patriarchengeist der ersten Hütte ging also verloren. Aber aus Nilschlamm gebildet und von ihm befruchtet, gab's, beinahe ebenso leicht, den vortrefflichstenAckerbau: also ward die Schäferwelt von Sitten, Neigungen, Kenntnissen ein Bezirk von Ackermenschen. Das Wanderleben hörte auf: es wurden feste Sitze,Landeigentum. Länder mußten ausgemessen, jedem das Seine bestimmt, [302] jeder bei dem Seinen beschützt werden: jeden konnte man also auch bei dem Seinen finden – es ward Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Polizei, wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich gewesen: es ward neue Welt. Nun kam eine Industrie auf, wie sie der selige, müßige Hüttenbewohner, der Pilger und Fremdling auf Erden, nicht gekannt hatte: Künste erfunden, die jener weder brauchte noch zu brauchen Lust fühlte. Bei dem Geist ägyptischer Genauigkeit und Ackerfleißes konnten diese Künste nicht anders, als zu einem hohen Grad mechanischer Vollkommenheit gelangen: der Sinn des strengen Fleißes, der Sicherheit und Ordnung ging durch alles: jeder war in der Kunde der Gesetzgebung derselben mit Bedürfnis und Genuß verpflichtet: also ward auch der Mensch unter sie gefesselt: die Neigungen, die dort bloß väterlich, kindlich, schäfermäßig, patriarchalisch gewesen waren, wurden hier bürgerlich, dörflich, städtisch. Das Kind war dem Flügelkleide entwachsen: der Knabe saß auf der Schulbank und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten.

Eine genaue Vergleichung des morgenländischen und ägyptischen Geistes müßte zeigen, daß meine Analogie, von menschlichen Lebensaltern hergenommen, nicht Spiel sei. Offenbar war allem, was beide Alter auch gemeinschaftlich hatten, der himmlische Anstrich genommen und es mit Erdehaltung und Ackerleim versetzt: Ägyptens Kenntnisse waren nicht mehr väterliche Orakelsprüche der Gottheit, sondern schon Gesetze, politische Regeln der Sicherheit, und der Rest von jenen ward bloß als heiliges Bild an die Tafel gemalt, daß es nicht unterginge, daß der Knabe davor stehen, entwickeln und Weisheit lernen sollte. Ägyptens Neigungen nicht mehr so kindeszart als die in Orient: das Familiengefühl schwächte sich und ward dafür Sorge für dieselbe, Stand, Künstlertalent, das sich mit dem Stande, wie Haus und Acker forterbte. Aus dem müßigen Zelte, wo der Mann herrschte, war eine Hütte der Arbeit geworden, wo auch das Weib schon Person war, wo der Patriarch jetzt als Künstler saß und sein Leben fristete. Die freie Aue Gottes voll Herden ein Acker voll Dörfer und Städte: das Kind, was Milch und Honig aß, ein Knabe, der über seine Pflichten mit Kuchen belohnt wurde – es webte neue Tugend durch alles, die wir ägyptischen Fleiß, Bürgertreue nennen wollen, die aber nicht orientalisches Gefühl war. Dem Morgenländer, wie ekelt ihm noch jetzt Ackerbau, Städteleben, Sklaverei inKunstwerkstätten! wie wenig Anfänge [303] hat er noch nach Jahrtausenden in alle dem gemacht: er lebt und webt als ein freies Tier des Feldes. Der Ägypter im Gegenteil, wie haßte und ekelte er den Viehhirten, mit allem, was ihm anklebte! eben wie sich nachher der feinere Grieche wieder über den lastbaren Ägypter erhob – es hieß nichts, als dem Knaben ekelte das Kind in seinen Windeln, der Jüngling haßte den Schulkerker des Knaben; im Ganzen aber gehören alle drei auf- und nacheinander. Der Ägypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß nichtGrieche – eben ihr Haß zeigt Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter!

Zum Erstaunen sind sie, die leichtern Wege der Vorsehung: sie, die das Kind durch Religion lockte und erzog, entwickelte den Knaben durch nichts alsBedürfnisse und das liebe Muß der Schule. Ägyptenhatte keine Weiden – der Einwohner mußte also Ackerbau wohl lernen, wie sehr erleichterte sie ihm dies schwere Lernen durch den fruchtbringenden Nil. Ägypten hatte kein Holz: man mußte mit Stein bauen lernen: Steingruben gnug da: der Nil bequem da, sie fortzubringen – wie hoch ist die Kunst gestiegen! wie viel entwickelte sie andre Künste! Der Nil überschwemmte: man brauchte Ausmessungen, Ableitungen, Dämme, Kanäle, Städte, Dörfer – auf wie mancherlei Weise ward man am Erdkloß angeheftet! aber wie viel Einrichtung entwickelte auch der Erdkloß! Er ist mir auf der Karte nichts als Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt hat: so original dies Land und seine Produkte, so eine eigne Menschengattung! Der menschliche Verstand hat viel in ihm gelernt, und vielleicht ist keine Gegend der Erde, wo dies Lernen so offenbar Kultur des Bodens gewesen als hier. Sina ist noch sein Nachbild: man urteile und errate.

Auch hier wieder Torheit, eine einzige ägyptische Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menschlichen Geistes herauszureißen und mit dem Maßstabe einer andern Zeit zu messen! Konnte, wie gezeigt, sich schon der Grieche so sehr am Ägypter irren und der Morgenländer den Ägypter hassen: so dünkt mich, sollt's doch erster Gedanke sein, ihn bloß auf seiner Stelle zu sehen, oder man sieht, zumal aus Europa her, die verzogenste Fratze. Die Entwicklung geschah aus Orient und der Kindheit herüber – natürlich mußte also noch immer Religion, Furcht, Autorität, Despotismus das Vehikulum der Bildung werden: denn auch mit dem Knaben von sieben Jahren läßt sich noch nicht wie mit Greis und Manne vernünfteln. Natürlich [304] mußte also auch, nach unserm Geschmack, dies Vehikulum der Bildung harte Schlaube, oft solche Ungemächlichkeiten, so vielKrankheiten verursachen, die man Knabenstreitigkeiten und Kantonskriege nennt. Du kannst soviel Galle du willt über den ägyptischen Aberglauben und dasPfaffentum ausschütten, als z.B. jener liebenswürdige Plato Europens 6, der nur alles zu sehr nach griechischem Urbilde modeln will, getan hat – alles wahr! alles gut, wenn das Ägyptentum für dein Land unddeine Zeit sein sollte. Der Rock des Knaben ist allerdings für den Riesen zu kurz! und dem Jünglinge bei der Braut der Schulkerker anekelnd; aber siehe! dein Talar ist für jenen wieder zu lang, und siehst du nicht, wenn du etwas ägyptischen Geist kennest, wie deinebürgerliche Klugheit, philosophischer Deismus, leichte Tändelei, Umlauf in alle Welt, Toleranz, Artigkeit, Völkerrecht und wie der Kram weiter heiße, den Knaben wieder zum elenden Greisknaben würde gemacht haben! Er mußte eingeschlossen sein; eine gewisse Privation von Kenntnissen, Neigungen und Tugenden mußte dasein, um das zu entwickeln, was in ihm lag und jetzt in der Reihe der Weltbegebenheiten nur das Land, die Stelle entwickeln konnte! Also waren ihm diese Nachteile Vorteile oder unvermeidliche Übel wie die Pflege mit fremden Ideen dem Kinde, Streifereien und Schulzucht dem Knaben – warum willt du ihn von seiner Stelle, aus seinem Lebensalter rücken – den armen Knaben töten? – – Welch eine große Bibliothek von solchen Büchern! bald die Ägypter zu alt gemacht und aus ihren Hieroglyphen, Kunstanfängen, Polizeiverfassungen welche Weisheit geklaubt! 7 bald sie wieder gegen die Griechen so tief verachtet 8 – bloß weil sie Ägypter und nicht Griechen waren, wie meist die Liebhaber der Griechen, wenn sie aus ihrem Lieblingslande kamen. Offenbares Unrecht!

Der beste Geschichtschreiber der Kunst des Altertums, Winckelmann, hat über die Kunstwerke der Ägypter offenbar nur nach griechischem Maßstabe geurteilt, sie also verneinend sehr gut, aber nach eigner Natur und Art so wenig geschildert, daß fast bei jedem seiner Sätze in diesem Hauptstück das offenbar Einseitige und Schielende vorleuchtet. So Webb, wenn er ihre Literatur der griechischen entgegensetzt: so manche andre, die über ägyptische Sitten und Regierungsform gar mit europäischem [305] Geist geschrieben haben – Und da es den Ägyptern meistens so geht, daß man zu ihnen aus Griechenland und also mit bloß griechischem Auge kommt – wie kann's ihnen schlechter gehen? Aber, teurer Grieche! diese Bildsäulen sollten nun nichts weniger (wie du aus allem wahrnehmen könntest) als Muster der schönen Kunst nach deinem Ideal sein! voll Reiz, Handlung, Bewegung, wo von allem der Ägypter nichts wußte oder was sein Zweck ihm gerade wegschnitt. Mumien sollten sie sein! Erinnerungen an verstorbne Eltern oder Vorfahren nach aller Genauigkeit ihrer Gesichtszüge, Größe, nach hundert festgesetzten Regeln, an die der Knabe gebunden war – also natürlich eben ohne Reiz, ohne Handlung, ohne Bewegung,eben in dieser Grabesstellung mit Händ und Füßen voll Ruhe und Tod – ewige Marmormumien! siehe, das sollten sie sein und sind's auch! sind's im höchsten Mechanischen der Kunst! im Ideal ihrer Absicht! – wie geht nun dein schöner Tadeltraum verloren! Wenn du auf zehnfache Weise den Knaben durch ein Vergrößerungsglas zum Riesen erhöbest und ihn belichtetest, du kannst nichts mehr in ihm erklären; alle Knabenhaltung ist weg, und ist doch nichts minder als Riese!


Die Phönizier waren oder wurden, so verwandt sie den Ägyptern waren, gewissermaße ihre Gegenseite von Bildung. Jene, wenigstens in den spätern Zeiten,Hasser des Meers und der Fremden, um einheimisch nur »alle Anlagen und Künste ihres Landes zu entwickeln«; diese zogen sich hinter Berg und Wüste an eine Küste, um eine neue Welt auf dem Meere zu stiften – und auf welchem Meere? auf einem Inselnsunde, einem Busen zwischen Ländern, das recht dahin geleitet, mit Küsten, Inseln und Landspitzen gebildet zu sein schien, um einer Nation die Mühe des Schwimmens und Landsuchens zu erleichtern – wie berühmt bist du, Archipelag und Mittelmeer, in der Geschichte des menschlichen Geistes! Ein erster handelnder Staat, ganz auf Handel gegründet, der dieWelt zuerst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker pflanzte und Völker band – welch ein großerneuer Schritt zur Entwicklung! Nun mußte freilich das morgenländische Hirtenleben mit diesem werdenden Staat fast schon unvergleichbar werden: Familiengefühl, Religion und stiller Landgenuß des Lebens schwand: die Regimentsform tat einen gewaltigen Schritt zur Freiheit der Republik, von der weder Morgenländer noch Ägypter eigentlich Begriff gehabt! Auf einer handelnden [306] Küste mußten bald wider Wissen und Willen gleichsam Aristokratien von Städten, Häusern und Familien werden – mit allem, welch eine Veränderung in Form menschlicher Gesellschaft. Als also Haß gegen die Fremden und Verschlossenheit von andern Völkern schwand, ob der Phönizier gleich nicht aus Menschenliebe Nationen besuchte, es ward eine Art von Völkerliebe, Völkerbekanntschaft, Völkerrecht sichtbar, von dem denn nun wohl ganz natürlich ein eingeschloßner Stamm oder ein Kolchisches Völkchen nichts wissen konnte. Die Welt wurde weiter: Menschengeschlechter verbundner und enger: mit dem Handel eine Menge Künste entwickelt, ein ganz neuer Kunsttrieb insonderheit, für Vorteil, Bequemlichkeit, Üppigkeit und Pracht! Auf einmal stieg der Fleiß der Menschen von der schweren Pyramidenindustrie und dem Ackerfleiße in ein »niedliches Spiel kleinerer Beschäftigungen« hinunter. Statt jener unnützen, teillosen Obelisken wandte sich die Baukunst auf teilvolle und in jedem Teil nutzbare Schiffe. Aus der stummen, stehenden Pyramide ward der wandelnde, sprechende Mast. Hinter der Bildnerei und Werkarbeit der Ägypter ins Große und Ungeheure spielte man jetzt so vorteilhaft mit Glas, mit zerstücktem, gezeichneten Metall, Purpur und Leinwand, Gerätschaft vom Libanon, Schmuck, Gefäßen, Zierat – man spielt's fremden Nationen in die Hände welch andre Welt von Beschäftigung! von Zweck, Nutzen, Neigung, Seelenanwendung! Nun mußte natürlich aus der schweren, geheimnisreichen Hieroglyphenschrift »leichte, abgekürzte, bräuchliche Rechen- und Buchstabenkunst werden: nun mußte der Bewohner des Schiffs und der Küste, der expatriierte Seestreicher und Völkerläufer dem Bewohner des Zelts und der Ackerhütte ein ganz anderes Geschöpf dünken: der Morgenländer mußte ihm vorwerfen können, daß er menschliches, der Ägypter, daß er Vaterlandsgefühl geschwächt, jener, daß er Liebe und Leben, dieser, daß er Treue und Fleiß verloren: jener, daß er vom heiligen Gefühl der Religion nichts wisse, dieser, daß er das Geheime der Wissenschaften wenigstens in Resten auf seine Handelsmärkte zur Schau getragen«. Alles wahr. Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz anderes (was ich zwar keinesweges mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!), phönizische Regsamkeit und Klugheit, eine neue ArtBequemlichkeit und Wohlleben, der Übergang zumgriechischen Geschmack und eine Art Völkerkunde, der Übergang zur griechischen Freiheit. Ägypter und Phönizier waren also bei allem Kontraste [307] der Denkart Zwillinge einer Mutter des Morgenlands, die nachher gemeinschaftlich Griechenland und so die Welt weiter hinaus bildeten. Also beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals, und wenn ich in der Allegorie bleiben darf, der Phönizier der erwachsnere Knabe, der umherlief und die Reste der uralten Weisheit und Geschicklichkeit mit leichterer Münze auf Märkte und Gassen brachte. Was ist die Bildung Europens den betrügerischen, gewinnsüchtigen Phöniziern schuldig! – Und nun der schöne griechische Jüngling.


Wenn wir uns vor allem der Jünglingszeit mit Lust und Freude erinnern, die unsre Kräfte und Glieder bis zur Blute des Lebens ausgebildet: unsre Fähigkeiten bis zur angenehmen Schwatzhaftigkeit und Freundschaft entwickelt: alle Neigungen auf Freiheit undLiebe, Lust und Freude gestimmt und alle nun im ersten süßen Tone – wie wir die Jahre fürs güldne Alter und für ein Elysium unsrer Erinnerung halten (denn wer erinnert sich seiner unentwickelten Kindheit?), die am glänzendsten ins Auge fallen, eben im Aufbrechen der Blüte alle unsre künftige Würksamkeit und Hoffnungen im Schoße tragend –, in der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat. Der Knabe ist Hütte und Schule entwachsen und steht da – edler Jüngling mit schönen gesalbten Gliedern, Liebling aller Grazien und Liebhaber aller Musen, Sieger in Olympia und all anderm Spiele, Geist und Körper zusammen nur eine blühende Blume!

Die Orakelsprüche der Kindheit und Lehrbilder der mühsamen Schule waren jetzt beinahe vergessen; der Jüngling entwickelte sich aber daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Gesang undFreude, Lust und Leben brauchte. Die groben Arbeitkünste verachtete er wie die bloß barbarische Pracht und das zu einfache Hirtenleben; aber von allem brach er die Blute einer neuen schönen Natur. – Handwerkerei ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau freie Bürgerzunft, schwere Bedeutungsfülle des strengen Ägyptens leichte schöne griechische Liebhaberei in aller Art. Nun welche neue schöne Klasse von Neigungen und Fähigkeiten, von denen die frühere Zeit nichts wußte, zu denen sie aber Keim gab. Die Regimentsform, mußte sie sich nicht vom orientalischen Vaterdespotismus durch die ägyptischen Landzünfte und halbe phönizische Aristokratien herabgeschwungen haben, ehe die schöne Idee einer Republik in griechischem Sinne, »Gehorsam [308] mit Freiheit gepaart, und mit dem Namen Vaterland umschlungen«, statthaben konnte? Die Blüte brach hervor: holdes Phänomenon der Natur! heißt »griechische Freiheit!« Die Sitten mußten sich vom orientalischen Vater- und ägyptischen Taglöhnersinn durch die phönizische Reiseklugheit gemildert haben: und siehe! die neue schöne Blüte brach hervor, »griechische Leichtigkeit, Milde und Landesfreundschaft«. Die Liebe mußte den Schleier des Harems durch manche Stufen verdünnen, ehe sie das schöne Spiel der griechischen Venus, Amors und der Grazien ward. So Mythologie, Poesie, Philosophie, schöne Künste: Entwickelungen uralter Keime, die hierJahrszeit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften. Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe, der schönen Gesetzgebung, des Angenehmsten in Religion, Sitten, Schreibart, Dichtung, Gebräuchen und Künsten – Alles Jugendfreude, Grazie, Spiel und Liebe!

Es ist zum Teil gnug entwickelt, was für Umstände zu dieser einzigen Produktion des Menschengeschlechts beigetragen, und ich setze diese Umstände nur ins Größere der allgemeinen Verbindung von Zeitläuften und Völkern. Siehe dies schöne griechische Klima und in ihm das wohlgebildete Menschengeschlecht mit freier Stirn und feinen Sinnen – ein rechtes Zwischenland der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammenfloß, was sie so leicht und edel verwandelten! Die schöne Braut wurde von zweien Knaben bedient zur Rechten und Linken, sie tat nur schön idealisieren; eben die Mischung phönizischer und ägyptischer Denkart, deren eine der andern ihr Nationelles und ihren eckichten Eigensinn benahm, formte den griechischen Kopf zum Ideal, zur Freiheit. Jetzt die sonderbaren Anlässe ihrer Teilung und Vereinigungen von den frühesten Zeiten her: ihre Abtrennung in Völker, Republiken, Kolonien, und doch dergemeinschaftliche Geist derselben; Gefühl einer Nation, eines Vaterlands, einer Sprache! – Die besondern Gelegenheiten zu Bildung dieses Allgemeingeists, vom Zuge de Argonauten und dem Feldzüge gegen Troja an bis zu den Siegen gegen die Perser, und die Niederlage gegen den Mazedonier, da Griechenland starb! – Ihre Einrichtungen gemeinschaftlicher Spiele und Nacheiferungen, immer mit kleinenUnterschieden und Veränderungen bei jedem kleinsten Erdstrich und Völkchen – alles und zehnfach mehr gab Griechenland eine Einheit und Mannigfaltigkeit, die auch hier das schönste Ganze machte.Kampf und Beihülfe, Streben und Mäßigen; die Kräfte des menschlichen Geistes [309] kamen ins schönsteEben- und Unebenmaß – Harmonie der griechischen Leier!

Aber daß nun nicht eben damit unsäglich vieles von der alten frühern Stärke und Nahrung verlorengehen mußte, wer wollte das leugnen? Da den ägyptischen Hieroglyphen ihre schwere Hülle abgestreift ward, so kann's immer sein, daß auch ein gewisses Tiefe, Bedeutungsvolle, Naturmeise, was Charakter dieser Nation war, damit über See verduftete: der Grieche behielt nichts als schönes Bild, Spielwerk, Augenweide – nennt's gegen jenes Schwerere, wie ihr wollt; gnug, er wollte nur dies! Der Religion des Morgenlandes ward ihr heiliger Schleier genommen; und natürlich, da alles auf Theater und Markt undTanzplatz Schau getragen wurde, ward's in kurzem »Fabel, schön ausgedehnt, beschwatzet, gedichtet und neugedichtet – Jünglingstraum und Mädchensage!« die morgenländische Weisheit, dem Vorhange der Mysterien entnommen, ein schön Geschwätz, Lehrgebäude und Zänkerei der griechischen Schulen undMärkte. Der ägyptischen Kunst ward ihr schweres Handwerksgewand entnommen, und so verlor sich auch das zu genaue Mechanische und Künstlerstrenge, wornach die Griechen nicht strebten: der Koloß erniederte sich zur Bildsäule: der Riesentempel zumSchauplatz: ägyptische Ordnung und Sicherheit ließ in dem Vielfachen Griechenlands von selbst nach. Jener alte Priester konnte in mehr als einem Betracht sagen, »o ihr ewigen Kinder, die ihr nichts wisset und so viel schwatzt, nichts habt und alles so schön vorzeiget«, und der alte Morgenländer aus seiner Patriarchenhütte würde noch heftiger sprechen – ihnen statt Religion, Menschheit und Tugend nur Buhlerei mit alle dem Schuld geben können usw. Sei's. Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiterrückt. Griechenland rückte weiter: ägyptische Industrie undPolizei konnte ihnen nicht helfen, weil sie kein Ägypten und keinen Nil – phönizische Handelsklugheit nicht helfen, weil sie keinen Libanus und kein Indien im Rücken hatten: zur orientalischen Erziehung war die Zeit vorbei – gnug! es ward, was es war – Griechenland! Urbild und Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt! Jugendblüte des menschlichen Geschlechts – o hätte sie ewig dauren können!

Ich glaube, der Stand, in den ich Griechenland stelle, trägt auch bei, »den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen« etwas zu entwirren: man hätte sich wie überall, also auch hier, lange vereinigt, hätte [310] man sich nur besser verstanden. Daß Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anderswoher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar, und es kann bei einigen, Bildhauerei, Baukunst, Mythologie, Literatur, offenbar gezeigt werden. Aber daß die Griechen dies alles so gut als nicht erhalten, daß sie ihm ganz neue Natur angeschaffen, daß in jeder Art das »Schöne« im eigentlichen Verstande des Worts ganz gewiß ihr Werk sei – das, glaube ich, wird aus einiger Fortleitung der Ideen ebenso gewiß. Nichts Orientalisches, Phönizisches und Ägyptisches behielt seine Art mehr: es ward griechisch, und in manchem Betracht waren sie fast zu sehr Originale, die alles nach ihrer Art um- und einkleideten. Von der größten Erfindung und der wichtigsten Geschichte an bis auf Wort und Zeichen – alles ist davon voll: von Schritt zu Schritt, bei allen Nationen ist's ebenfalls so – wer weiter System bauen oder über Namen streiten will, streite!


Es kam das Mannesalter menschlicher Kräfte undBestrebungen – die Römer. Gegen die Griechen hatVirgil auf einmal sie geschildert, jenen schöne Künste und Jugendübungen überlassen:


tu regere imperio populos, Romane, memento;


ungefähr damit auch gegen die Nordländer ihren Zug geschildert, die es ihnen vielleicht an barbarischer Härte, Stärke im Anfalle und roher Tapferkeit zuvortaten; aber –


tu regere imperio populos –


Römertapferkeit idealisiert: Römertugend! Römersinn! Römerstolz! Die großmütige Anlage der Seele, über Wollüste, Weichlichkeit und selbst das feinere Vergnügen hinwegzusehen und fürs Vaterland zu würken: der gefaßte Heldenmut, nie tollkühn zu sein und sich in Gefahr zu stürzen, sondern zu harren, zu überlegen, zu bereiten und zu tun: es war der unerschütterte Gang, durch nichts, was Hindernis heiße, sich abschrecken zu lassen, eben im Unglück am größten zu sein und nicht zu verzweifeln: es war endlich der große immer unterhaltene Plan, mit nichts wenigern sich zu begnügen, als bis ihr Adler den Weltkreis deckte – – wer zu allen diesen Eigenschaften ein vielwichtiges Wort prägen, darin zugleich ihre männliche Gerechtigkeit, Klugheit, das Volle ihrer Entwürfe, Entschließungen, Ausführungen und überhaupt aller Geschäfte ihres Welthaus begreifen kann, der nenne es. –

[311] Gnug, hier stand der Mann, der des Jünglings genoß und brauchte, für sich aber nur Wunder der Tapferkeit und Männlichkeit tun wollte; mit Kopf, Herz und Armen!

Auf welcher Höhe hat das römische Volk gestanden, welchen Riesentempel auf dieser Höhe erbaut! Sein Staats- und Kriegsgebäude, dessen Plan undMittel zur Ausführung – Kolossus für alle Welt! Konnte in Rom ein Bubenstück begangen werden, ohne daß Blut in drei Erdteilen floß? und die großen würdigen Leute dieses Reichs, wo und wie würkten sie hinaus! was für Glieder dieser großen Maschine fast unwissend mit so leichten Kräften bewogen! wohin alle ihre Werkzeuge erhöht und befestigt: Senat und Kriegskunst – Gesetze und Zucht – Römerzweck und Stärke, ihn auszuführen – ich schaure! Was bei den Griechen Spiel, Jugendprobe gewesen war, ward bei ihnen ernsthafte feste Einrichtung: die griechischen Muster auf einem kleinen Schauplatze, einer Erdenge, einer kleinen Republik, auf der Höhe und mit der Stärke aufgeführt, wurden Schautaten der Welt.

Wie man auch die Sache nehme: es war »Reife des Schicksals der alten Welt«. Der Stamm des Baums, zu seiner größern Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige. Mit Griechen, Phöniziern, Ägyptern und Morgenländern zu wetteifern, haben die Römer nie zu ihrer Hauptsache gemacht; aber indem sie alles, was vor ihnen war, männlich anwandten – was wurde für ein römischer Erdkreis! Der Name knüpfte Völker und Weltstriche zusammen, die sich voraus nicht dem Laut nach gekannt hatten. Römische Provinzen! in allen wandelten Römer, römische Legionen, Gesetze, Vorbilder von Sitten, Tugenden und Lastern. DieMauer ward zerbrochen, die Nation von Nation schied, der erste Schritt gemacht, die Nationalcharaktere aller zu zerstören, alle in eine Form zu werfen, die »Römervolk« hieß. Natürlich war der ersteSchritt noch nicht das Werk.: jede Nation blieb bei ihren Rechten, Freiheiten, Sitten und Religion; ja die Römer schmeichelten ihnen, eine Puppe der letzten selbst mit in ihre Stadt zu bringen. Aber die Mauer lag. Jahrhunderte von Römerherrschaft – wie man in allen Weltteilen, wo sie gewesen sind, siehet – würkten sehr viel: Sturm, der die innersten Kammern der Nationaldenkart jedes Volks durchdrang: mit der Zeit wurden die Bande immer fester, endlich sollte das ganze Römische Reich gleichsam nur Stadt Rom werden – alle Untertanen Bürger – bis es selbst sank.

[312] Auf keine Weise noch von Vorteil oder Nachteil geredet, allein von Würkung. Wenn alle Völker unter dem römischen Joche gewissermaße die Völker zu sein aufhörten, die sie waren, und also über die ganze Erde eine Staatskunst, Kriegskunst und Völkerrecht eingeführt wurde, wovon voraus noch kein Beispiel gewesen war: da die Maschine stand und da die Maschine fiel und da die Trümmern alle Nationen der römischen Erde bedeckten – gibt's in aller Geschichte der Jahrhunderte einen größern Anblick! Alle Nationen von oder auf diesen Trümmern bauend! Völlig neue Welt von Sprachen, Sitten, Neigungen und Völkern – es beginnet eine andre Zeit-Anblick, wie aufs weite offenbare Meer neuer Nationen. – Lasset uns indessen noch vom Ufer einen Blick auf die Völker werfen deren Geschichte wir durchlaufen sind.


1. Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man maletein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset aufeinanderfolgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen? – Endlich, man faßt sie doch in nichts als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden!

Wer bemerkt hat, was es für eine unaussprechliche Sache mit der Eigenheit eines Menschen sei, das Unterscheidende unterscheidend sagen zu können, wieer fühlt und lebet, wie anders und eigen ihm alle Dinge werden, nachdem sie sein Auge siehet, seine Seele mißt, sein Herz empfindet – welche Tiefe in dem Charakter nur einer Nation liege, die, wenn man sie auch oft gnug wahr genommen und angestaunet hat, doch so sehr das Wort fleucht und im Worte wenigstens so selten einem jeden anerkennbar wird, daß er verstehe und mitfühle – ist das, wie wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort fassen soll! Mattes halbes Schattenbild von Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müßte dazukommen oder vorhergegangen sein; man müßte erst der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrerNeigungen und Handlungen, alle zusammen zu fahlen, ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken – oder man lieset – ein Wort.

[313] Wir glauben alle, noch jetzt väterliche und häusliche und menschliche Triebe zu haben, wie sie der Morgenländer – Treue und Künstlerfleiß haben zu können, wie sie der Ägypter besaß: phönizische Regsamkeit, griechische Freiheitliebe, römische Seelenstärke – wer glaubt nicht zu dem allen Anlage zu fahlen, wenn nur Zeit, Gelegenheit – – und siehe! mein Leser, eben da sind wir. Der feigste Bösewicht hat ohne Zweifel zum großmütigsten Helden noch immer entfernte Anlage und Möglichkeit – aber zwischen dieser und »dem ganzen Gefühl des Seins, der Existenz in solchem Charakter« – Kluft! Fehlte es dir also auch an nichts als an Zeit, an Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenländer, zum Griechen, zum Römer in Fertigkeiten und gediegne Triebe zu verwandeln – Kluft! nur von Trieben und Fertigkeiten ist die Rede. Ganze Natur der Seele, die durch allesherrscht, die alle übrige Neigungen und Seelenkräftenach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbet – um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fahle dich in alles hinein – nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen; nun allein aber wird dir auch der Gedanke schwinden, »als ob alles das einzeln oder zusammengenommen auch du seist!« Du alles zusammengenommen? Quintessenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Torheit!

Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden. Hat nicht ein Patriarch aber außer den Neigungen, die du ihm beimissest, auch andre gehabt? haben können? ich sage zu beiden bloß: Allerdings! Allerdings hatte er andre, Nebenzuge, die sich aus dem, was ich gesagt oder nicht gesagt, von selbst verstehen, die ich und vielleicht andre mit mir, denen seine Geschichte vorschwebt, in dem Worte schon anerkennen, und noch lieber, daß er weit andres haben können – auf anderm Ort, zu der Zeit, mit dem Fortschritte der Bildung, unter den andern Umständen – warum da nicht Leonidas, Cäsar und Abraham ein artiger Mann unsres Jahrhunderts sein können? aber war's nicht: darüber frage die Geschichte: davon ist die Rede.

So mache ich mich ebenfalls auf kleinfügige Widersprüche gefaßt aus dem großen Detail von Völkern und Zeiten. Daß kein Volk lange geblieben und bleiben konnte, was es war, daß jedes, wie jedeKunst und Wissenschaft und was in der Welt nicht,seine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme gehabt; daß [314] jedwede dieser Veränderungen nur das Minimum von Zeit gedauert, was ihr auf dem Rade des menschlichen Schicksals gegeben werden konnte – daß endlich in der Welt keine zwei Augenblicke dieselben sind – daß also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen – ich zittre, wenn ich denke, was weise Leute, zumal Geschichtkenner, für weise Einwendungen hierüber machen können! Griechenland bestand ausvielen Ländern: Athenienser und Böotier, Spartaner und Korinthier war sich nichts minder als gleich – – Trieb man nicht auch in Asien den Ackerbau? Haben nicht Ägypter einmal ebensogut gehandelt wie Phönizier? Waren die Mazedonier nicht ebensowohl Eroberer als die Römer? Aristoteles nicht ebenso ein spekulativer Kopf als Leibniz? Übertrafen unsre nordische Völker nicht die Römer an Tapferkeit? Waren alle Ägypter, Griechen, Römer – sind alle Ratten und Mäuse einander gleich – nein! aber sie sind doch Ratten und Mäuse!

Wie verdrüßlich muß es werden, zum Publikum zu reden, wo man vom schreienden Teile(der edler denkende Teil schweigt!) sich immer der gleichen und noch ärgere Einwendungen, und in welchem Tone vorgetragen! versehen muß, und sich's denn zugleich versehen muß, daß der große Haufe Schafe, der nicht weiß, was rechts und links ist, dem sogleich nachwähne! Kann's ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung, kann's eine weite Aussicht geben ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild siehest nichts weniger alsBild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Szene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun – – nennen! Kannst du aber nichts von alledem: die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich's wie du, daß jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei Schöpfer allein ist's, der die ganze Einheit einer, aller Nationen in alle ihrer Mannichfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde.

II. Also von diesen kleinfügigen Einwendungen, Zweck und Gesichtspunkt verfehlend, hinweg! hingestellt in die Absicht des großen Folgeganzen – wie elend werden »manche Modeurteile [315] unsres Jahrhunderts aber Vorzüge, Tugenden, Glückseligkeit so entfernter, so abwechselnder Nationen aus bloß allgemeinen Begriffen der Schule«!

Ist die menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit: sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmählichen Kampf immer weiter schreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am meisten oder allein gebildet, wo sie dergleichenAnlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat – in gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmerFertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite voneiner andern Mängel haben, Ausnahmen machen,Widersprüche und Ungewißheiten zeigen, die in Erstaunen setzen, aber niemand, als der sein idealisch Schattenbild von Tugend aus dem Kompendium seines Jahrhunderts mitbringt und Philosophie gnug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde Enden zu wollen, sonst keinen! Für jeden, der menschliches Herz aus dem Elemente seiner Lebensumstände erkennen will, sind dergleichen Ausnahmen und Widersprüche vollkommen menschlich: Proportion vonKräften und Neigungen zu einem gewissen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden könnte: also gar keine Ausnahmen, sondern Regel.

Sei's, mein Freund, daß jene kindliche orientalische Religion, jene Anhänglichkeit an das weichsteGefühl des menschlichen Lebens auf der andern SeiteSchwächen gebe, die du nach dem Muster andrer Zeiten verdammest. Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; und ebensowenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. Sei's, daß er nach spätern Vorbildern dirfurchtsam, todscheu, weichlich, unwissend, müßig, abergläubig, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch!! – hat also gegen alle Verluste späterer Zeiten Unschuld, Gottesfurcht, Menschlichkeit: in denen er für jedes späte Zeitalter ewig ein Gott sein wird! Der Ägypter, kriechend, sklavisch, ein Erdetier, abergläubisch und traurig, hart gegen [316] Fremde, ein gedankenloses Geschöpf der Gewohnheit – hier gegen den leichten, alles schön bildenden Griechen, dort gegen einenMenschenfreund im hohen Geschmack unsres Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und alle Welt im Busen trägt – welche Figur! Aber nun auch jenesUnverdrossenheit, Treue, starke Ruhe kannst du die mit der griechischen Knabenfreundschaft und Jugendbuhlerei um alles Schöne und Angenehme vergleichen? und wieder griechische Leichtigkeit, Tändelei mit Religion, Mangel gewisser Liebe, Zucht undEhrbarkeit vergleichen, wenn du ein Ideal, weiß nicht wessen, nehmen wolltest? konnten aber jene Vollkommenheiten ohne diese Mängel in dem Maße undGrade ausgebildet werden? Die Vorsehung selbst, siehest du, hat's nicht gefodert, hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer, ihren Zweck erreichen wollen – Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es besser als sie?

Machtsprüche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Altertums, in das wir uns vergafften, auf alle Welt schütten – welches Rechtes seid ihr! Jene Römer konnten sein wie keine Nation; tun, was keiner nachtut: sie waren Römer. Auf einer Welthöhe, und alles rings um sie Tal. Auf der Höhe von Jugend auf, zu dem Römersinn handelten, handelten in ihm – was Wunder? Und was Wunder, daß ein kleines Hirten- und Ackervolk in einem Tale der Erde nicht eisernes Tier war, was so handeln konnte? Und was Wunder, daß dies wieder Tugenden hatte, die der edelste Römer nicht, und der edelste Römer auf seiner Höhe, im Drange der Not, Grausamkeiten mit kaltem Blute beschließen konnte, die der Hirte im kleinen Tale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte. Auf dem Gipfel jener Riesenmaschine war leider! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft Not, oft (arme Menschheit, welcher Zustände bist du fähig!), oft Wohltat. Eben die Maschine, die weitreichende Laster möglich machte, war's, die auch Tugenden so hoch hob, Würksamkeit so weit ausbreitete: ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator, mitGötterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blute getüncht: Raub, Frevel und Wollüste sind um seinen Wagen: vor ihm her Unterdrückung: Elend undArmut zieht ihm nach. – Mangel und Tugend wohnen also auch [317] in diesem Verstande in einer menschlichen Hütte immer beisammen.

Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde in übermenschlichen Glanz zu zaubern – auch ist die Dichtkunst nützlich, denn der Mensch wird auch durch schöne Vorurteile veredelt – aber wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, wie es die meisten zu sein vorgeben und die denn nach der einen Form ihrer Zeit – oft ist sie sehr klein und schwach! – alle Jahrhunderte modeln – Hume! Voltaire! Robertsons! klassische Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit?

Eine gelehrte Gesellschaft unsrer Zeit 9 gab, ohne Zweifel in hoher Absicht, die Frage auf: »welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?«, und verstehe ich die Frage recht, liegt sie nicht außer dem Horizont einer menschlichen Beantwortung, so weiß ich nicht als: zu gewisser Zeit und unter gewissen Umständen traf auf jedes Volk ein solcher Zeitpunkt, oder es war's nie eines. Ist nämlich wiederum menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert; sie zieht aber überall soviel Glückseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedürfnissen und Bedrückungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche (denn was ist dies je anders als die Summe von »Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem Überwinden der Bedürfnisse«, die sich doch alle nach Land, Zeit undOrt gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich. Sobald sich der innerliche Sinn der Glückseligkeit, die Neigung verändert hat: sobald die äußern Gelegenheiten und Bedürfnisse den andern Sinn bilden und befestigen – wer kann die verschiedene Befriedigung verschiedner Sinne in verschiednen Welten vergleichen? den Hirten und Vater des Orients, den Ackermann und Künstler, den Schiffer, Wettläufer, Überwinder der Welt – wer vergleichen? Im Lorbeerkranze oder am Anblicke der gesegneten Herde, am Warenschiffe und erbeuteten Feldzeichen liegt nichts – aber an der Seele, die das brauchte, darnach strebte, das nun erreicht hat und nichts anders als das erreichen wollte – jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt! [318] Gut hat auch hier die gute Mutter gesorgt. Sie legte Anlagen zu der Mannigfaltigkeit ins Herz, machte jede aber an sich selbst so wenigdringend, daß wenn nur einige befriedigt werden, sich die Seele bald aus diesen erweckten Tönen ein Konzert bildet und die unerweckten nicht fühlet, als wiefern sie stumm und dunkel den lautenden Gesangunterstützen. Sie legte Anlagen von Mannigfaltigkeit ins Herz, nun einen Teil der Mannigfaltigkeit im Kreise um uns, uns zu Händen: nun mäßigte sie den menschlichen Blick, daß nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis Horizont wurde – nichtdrüber zu blicken: kaum drüber zu ahnden! Alles, was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sieassimiliert werden kann, beneide ich, streb's an, mache mir's zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; sie kann gar Verachtung und Ekel werden – hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurückzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Gnüge zu geben, der mich trägt. Der Grieche macht sich soviel vom Ägypter, der Römer vom Griechen zu eigen, als er für sich braucht: er ist gesättigt, das übrige fällt zu Boden, und er strebt's nicht an! Oder wenn in dieser Ausbildung eigner Nationalneigungen zu eigner Nationalglückseligkeit der Abstand zwischen Volk und Volk schon zu weit gediehen ist: siehe, wie der Ägypter den Hirten, den Landstreicher hasset! wie er den leichtsinnigen Griechen verachtet! So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich stoßen man nennt's Vorurteil! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism! Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen undZwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Pulle, Ahndung des Todes!

III. Und der allgemeine, philosophische, menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gönnet jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt an Tugend und Glückseligkeit so gern »unser eigen Ideal?« ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurteilen, zu verdammen, oder schön zu dichten? Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, [319] ward's verteilt in tausend Gestalten, wandelt – ein ewiger Proteus! – durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin – auch, wie er wandelt und fortwandelt, ist's nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des einzeln, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema!

Wer's bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen. Dazu hat man alsdenn Fakta erhöhet oder erdichtet, Gegenfakta zerkleinert oder verschwiegen; ganze Seiten bedeckt; Wörter für Wörter genommen, Aufklärung fürGlückseligkeit, mehrere und feinere Ideen für Tugend – und so hat man »von der allgemeinfortgehenden Verbesserung der Welt« Romane gemacht – die keiner glaubte, wenigstens nicht der wahre Schüler der Geschichte und des menschlichen Herzens.

Andre, die das Leidige dieses Traums sahen und nichts bessers wußten – sahen Laster und Tugenden wie Klimaten wechseln, Vollkommenheiten wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, menschliche Sitten und Neigungen wie Blätter desSchicksals fliegen, sich umschlagen – kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution – Weben und Aufreißen! – penelopische Arbeit! – Sie fielen in einenStrudel, Skeptizismus an aller Tugend, Glückseligkeit und Bestimmung des Menschen, in den sie alle Geschichte, Religion und Sittenlehre flechten- – der neueste Modeton der neuesten, insonderheit französischen Philosophen 10 ist Zweifel! Zweifel in hundertGestalten, alle aber mit dem blendenden Titel »aus der Geschichte der Welt!« Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert.

Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem höhern Sinne geben, als man's gewähnet hat? Siehest du diesen Strom fortschwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weiter und tiefer bohret – bleibt aber immer Wasser! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer[320] stürzt – wenn's so mit dem menschlichen Geschlechte wäre? Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muß durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben aufeinander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind, noch der ruhige Greis unglücklicher als der heftigstrebende Mann: der Pendul schlägt immermit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket und sich der Ruhe nähert. Indes ist's doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche sein – so spricht die Analogie in der Natur, das redendeVorbild Gottes in allen Werken! offenbar so im Menschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet und wovon sie so wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen.

Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen sich aufhält, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt! Wenn's mir gelänge, die disparatsten Szenen zubinden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen, wie sie sich aufeinander beziehen, auseinander erwachsen, sich ineinander verlieren, alle im einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht! – Ich fahre fort – – –

[321]

Zweiter Abschnitt

Auch die römische Weltverfassung erreichte ihr Ende, und je größer das Gebäude, so höher es stand; mit desto größerm Sturze fiel's! die halbe Welt warTrümmer. Völker und Erdteile hatten unter dem Baume gewohnt, und nun, da die Stimme der heiligen Wächter rief: »Haut ihn ab!« – welch eine großeLeere! wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! Nichts minder als eine neue Welt war nötig, den Rißzu heilen.

Norden war's. Und was man auch nun über den Zustand dieser Völker für Ursprünge und Systeme ersinnen mag: das simpelste scheint das wahreste: in Ruhe waren's gleichsam »Patriarchien, wie sie in Norden sein konnten«. Da unter solchem Klima kein morgenländisches Hirtenleben möglich war, schwerere Bedürfnisse hier den menschlichen Geist mehr druckten, als wo die Natur fast allein für den Menschen würkte, eben die schwerere Bedürfnisse und die Nordluft die Menschen aber mehr härtete, als sie im warmen aromatischen Treibhause Osts und Süds gehärtet werden konnten: natürlich blieb ihr Zustandroher, ihre kleine Gesellschaften getrennter und wilder; aber die menschlichen Bande noch in Stärke, menschlicher Trieb und Kraft in Fülle – da konnte das Land werden, was Tacitus beschreibt. Und als dies nordische Meer von Völkern mit allen Wogen in Bewegung geriet, Wogen drängten Wogen, Völker andre Völker! Mauer und Damm um Rom war zerrissen: sie selbst hatten ihnen die Lücken gezeigt und sie herbeigelockt, daran zu flicken – endlich da alles brach, welche Überschwemmung des Süds durch den Nord! und nach allen Umwälzungen und Abscheulichkeiten welche neue nordsüdliche Welt!

Wer den Zustand der römischen Länder (und sie waren damals das gebildete Universum!) in den letzten Jahrhunderten bemerket, wird diesen Weg der Vorsehung, einen so sonderbaren Ersatz menschlicher Kräfte zu bereiten, anstaunen und bewundern. Alles war erschöpft, entnervt, zerrüttet: von Menschen verlassen, von entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnungen, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend. Die schönen römischen Gesetze und Kenntnisse konnten nicht Kräfte ersetzen, die verschwunden waren, Nerven wiederherstellen, die keinen Lebensgeist fühlten, Triebfedern regen, die dalagen[322] – also Tod! ein abgematteter, im Blute liegender Leichnam – da ward in Nordenneuer Mensch geboren. Unter frischem Himmel, in der Wüste und Wilde, wo es niemand vermutete, reifte ein Frühling starker, nahrhafter Gewächse, die, in die schönern, südlichern Länder – jetzt traurigleere Äcker! – verpflanzt, neue Natur annehmen, große Ernte fürs Weltschicksal geben sollten! Goten, Vandalen, Burgunden, Anglen, Hunnen, Herulen, Franken und Bulgaren, Sklaven und Longobarden kamen – setzten sich, und die ganze neuere Welt vom Mittelländischen zum Schwarzen, vom Atlantischen zum Nordmeer ist ihr Werk! ihr Geschlecht! ihre Verfassung!

Nicht bloß Menschenkräfte, auch welche Gesetze und Einrichtungen brachten sie damit auf den Schauplatz der Bildung der Welt! Freilich verachteten sie Künste und Wissenschaften, Üppigkeit und Feinheit – die die Menschheit verheeret hatten; aber wenn sie statt der Künste Natur, statt der Wissenschaften gesunden nordischen Verstand, statt der feinen starke und gute, obgleich wilde Sitten brachten und das alles nun zusammen gärte – welch ein Eräugnis! Ihre Gesetze, wie atmen sie männlichen Mut, Gefühl der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung! Ihre Feudaleinrichtung, wie untergrub sie das Gewühl volkreicher, üppiger Städte, baute das Land, beschäftigte Hände und Menschen, machte gesunde und eben damit auch vergnügte Leute. Ihr späteres Ideal über die Bedürfnisse hinaus – es ging aufKeuschheit und Ehre, veredelte den besten Teil der menschlichen Neigungen: obgleich Roman, so doch ein hoher Roman: eine wahre neue Blüte der menschlichen Seele.

Bedenke man z.B., was die Menschheit in den Jahrhunderten dieser Gärung für Erholungsfrist undKräfteübung dadurch bekam, daß alles in kleine Verbindungen, Abteilungen und Untereinanderordnungen fiel und so viele, viele Glieder wurden! Da rieb sich immer eins am andern, und alles erhielt sich inAtem und Kräften. Zeit der Gärung, aber eben diese hielt so lange den Despotismus ab (der wahre Rachen der Menschheit, der alles – wie er's nennt, in Ruhe und Gehorsam – aber wie's ist, in Tod und einförmige Zermalmung hinabschlingt!). Ist's nun besser, ist's für die Menschheit gesunder und tüchtiger, lauter leblose Räder einer großen, hölzernen, gedankenlosen Maschine hervorzubringen, oder Kräfte zu wecken und zu regen? Sollt's auch durch sogenannte unvollkommene Verfassungen, Unordnung, barbarischen Ehrenpunkt, wilde Händelsucht und dergleichen sein – [323] wenn's Zweck erreicht, immer besser als lebend tot sein und modern.

Indes hatte die Vorsehung für gut befunden, zu dieser neuen Gärung nordsüdlicher Säfte noch ein neues Ferment zu bereiten und zuzumischen – die christliche Religion. Ich darf doch bei unserm christlichen Jahrhunderte nicht erst um Verzeihung bitten, daß ich von ihr als einer Triebfeder der Welt rede-betrachte sie ja nur als Ferment, als Sauerteig, zu Gutem oder zu Bösem – wozu man noch will.

Und da verdient der Punkt, von zween Seiten mißverstanden, einige Erörterung.

Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande über Ägypten nach Griechenland und Italien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes, kraftloses Ding geworden, das wahre Caput mortuum dessen, was sie gewesen war und sein sollte. Wenn man nur die spätere Mythologie der Griechen und die Puppe von politischer Völkerreligion bei den Römern betrachtet: so braucht's keines Worts mehr. – – Und doch war nun auch fast »kein ander Principium der Tugend« in der Welt! Die römische Aufopferung fürs Vaterland war von ihrer Höhe gesunken und lag im Moraste der Schwelgerei und kriegerischer Unmenschlichkeit. Griechische Jugendehre und Freiheitliebe – wo war sie? Und der alte ägyptische Geist, wo war er, als Griechen und Römer in ihrem Lande nisteten? Woher nun Ersatz? Philosophie konnte ihn nicht geben: sie war das ausgeartetste Sophistenzeug, Disputierkunst, Trödelkram von Meinungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaschine ohne Würkung aufs menschliche Herz, geschweige denn der Würkung, ein verfallen Jahrhundert, eine verfallene Welt zu bessern! Und nun sollte Aufbau der Trümmern von Völkern geschehen, die in ihrem Zustande noch Religion nötig hatten, durch sie allein gelenkt werden konnten, Geist des Aberglaubens in alles mischten. – – Und doch fanden nun diese Völker auf ihremneuen Schauplatze nichts, als was sie verachteten oder nicht fassen konnten: römische Mythologie und Philosophie wie Bildsäulen und Sittengestalten – und ihre nordische Religion, ein Rest des Orients, aufnordische Art gebildet, langte nicht hin – hatten eine frischere, würksamere Religion nötig – siehe da! hatte die Vorsehung sie kurz vorher an einem Orte entstehen lassen, woher man einen Ersatz der ganzen westlichen Welt am wenigsten hoffte. Zwischen den nackten Bergen Judäas! kurz vor dem Umsturz des ganzen unberühmten [324] Volkes, eben in der letzten, elendsten Epoche desselben – auf eine Weise, die allemal wunderbar bleiben wird, entstand sie, erhielt sich, schlug sich ebenso sonderbar durch Klüfte und Höhlen weiten Weg hindurch – auf einen Schauplatz, der sie so nötig hatte! worauf sie so viel, viel gewürkt! – Allemal die sonderbarste Begebenheit der Welt!

Da war's doch nun gewiß ein großes und sehenswürdiges Schauspiel, wie unter Julian die beiden berühmtesten Religionen, die älteste heidnische und die neuere christliche, um nichts weniger als Herrschaft der Welt stritten. Religion – das sahe er und jedermann! –, Religion in aller Stärke des Worts war seinem verfallnen Jahrhunderte unentbehrlich. Griechische Mythologie und römische Staatszerimonie – das sahe er ebenfalls! – war dem Jahrhunderte zu seinen Zwecken nicht zureichend. Er griff also zu allem, wozu er konnte; zur kräftigsten und ältesten Religion, die er kannte, zur Religion des Morgenlandes – regte in ihr alle Wunderkräfte, Zaubereien undErscheinungen auf, daß sie ganz Theurgie ward; nahm soviel er konnte, Philosophie, Pythagorism und Platonism zu Hülfe, um allem den feinsten Anstrich der Vernunft zu geben – setzte alles auf den Triumphwagen des größten Gepränges, von den zwei unbändigsten Tieren, Gewalt und Schwärmerei gezogen, von der feinsten Staatskunst gelenkt – alles umsonst! sie erlag! sie war verlebt – elender Aufputz eines toten Leichnams, der nur zu andrer Zeit hatteWunder tun können: die nackte, neue christliche Religion siegte!

Man siehet, daß die Sache ein Fremdling betrachtet, der Muselman und Mameluke sein könnte, um ebendas zu schreiben. So fahre ich fort.

Dieselbe nun so sonderbar entstandne Religion sollte doch, das ist unleugbar, nach dem Sinne des Urhebers (ich sage nicht, ob sie's in der Anwendung jedes Zeitalters geworden), sie sollte eigentliche Religion der Menschheit, Trieb der Liebe und Band aller Nationen zu einem Bruderheere werden – ihr Zweck von Anfang zu Ende! Ebenso gewiß ist's, daß sie (ihre Bekenner mögen späterhin aus ihr gemacht haben, was sie wollten), daß sie die erste gewesen, die so reine geistige Wahrheiten und so Herzliche Pflichten so ganz ohne Hülle und Aberglauben, ohne Schmuck und Zwang geleert: die das menschliche Herz so allein, so allgemein, so ganz und ohne Ausnahme hat verbessern wollen. Alle vorigen Religionen der besten Zeiten und Völker waren doch nurenge national, voll Bilder und Verkleidungen, vollZerimonien und Nationalgebräuche, [325] an denen immer die wesentlichen Pflichten nur hingen und hinzugefügt waren, kurz Religionen eines Volks, eines Erdstrichs, eines Gesetzgebers, einer Zeit! – diese offenbar in allem das Gegenteil, die lauterste Philosophie der Sittenlehre, die reinste Theorie der Wahrheiten und Pflichten, von allen Gesetzen und kleinen Landverfassungen unabhängig, kurz, wenn man will, dermenschenliebendste Deismus

Und sonach gewiß Religion des Weltalls. Es haben's andre und selbst ihre Feinde bewiesen, daß eine solche Religion gewiß nicht zu anderer Zeit, früher oder später hätte aufkeimen oder aufkommen oder sich einstehlen können – man nenne es, wie man wolle. Das menschliche Geschlecht mußte zu dem Deismus soviel Jahrtausende bereitet, aus Kindheit, Barbarei, Abgötterei und Sinnlichkeit allmählich her vorgezogen, seine Seelenkräfte durch so viel Nationalbildungen, orientalische, ägyptische, griechische, römische usw. als durch Stufen und Zugänge entwickelt sein, ehe selbst die mindsten Anfänge nur zu Anschauung, Begriff und Zugestehung des Ideals von Religion und Pflicht und Völkerverbindung gemacht werden konnten. Auch als Werkzeug allein betrachtet, schien's, daß der römische Eroberungsgeist vorhergehen mußte, überall Wege zu bahnen, einen politischen Zusammenhang zwischen Völkern zu machen, der voraus unerhört war, auf ebendem Wege Toleranz, Ideen vom Völkerrechte in Gang zu bringen, in dem Umfange voraus unerhört! – Der Horizont ward so erweitert, so aufgeklärt, und da sich nun zehn neue Nationen der Erde auf diesen hellen Horizontstürzten, ganz andre neue Empfänglichkeiten eben für die Religion mitbrachten, sie bedurften, sie allesamt in ihr Wesen verschmelzten – Ferment! wie sonderbar bist du bereitet! und alles auf dich zubereitet! und tief und weitumher eingemischet! hat lang und stark getrieben und gegäret – was wird es noch ausgären?

Ebendas also, worüber man meistens so witzig und philosophisch spottet, »wo denn dieser Sauerteig, christliche Religion genannt, rein gewesen? wo er nicht mit Teige eigner, der verschiedensten und oft der abscheulichsten Denkart vermischt worden?«, ebendas dünkt mich offenbare Natur der Sache. War diese Religion, wie sie's würklich ist, der feine Geist, »ein Deismus der Menschenfreundschaft«, der sich in kein einzeln bürgerlich Gesetz mischen sollte; war's jene Philosophie des Himmels, die eben ihrer Höhe und unirdischer Lauterkeit wegen ganze Erde umfassen konnte: mich dünkt, so war's schlechterdings unmöglich, daß [326] der feine Duft sein, angewandt werden konnte, ohne mit irdischern Materien vermischt zu werden und sie gleichsam zum Vehikulum zu bedürfen. Das war nun natürlich die Denkart jedes Volks, seine Sitten und Gesetze, Neigungen und Fähigkeiten – kalt oder warm, gut oder böse, barbarisch oder gebildet – alles, wie es war. Die christliche Religion konnte und sollte nur durch alles dringen, und wer sich überhaupt von göttlichen Veranstaltungen in der Welt und im Menschenreich anders als durch welt- und menschliche Triebfedern Begriffe macht, ist wahrhaftig mehr zu utopisch-dichterischen als zuphilosophisch-natürlichen Abstraktionen geschaffen. Wenn hat in der ganzen Analogie der Natur die Gottheit anders als durch Natur gehandelt? und ist darum keine Gottheit, oder ist's nicht eben Gottheit, die so allergossen, einförmig und unsichtbar durch alle ihre Werke würkt? – Auf einem menschlichen Schauplatze laß alle menschliche Leidenschaften spielen! in jedem Zeitalter sie dem Alter gemäß spielen! so in jedem Weltteile, in jeder Nation! die Religion soll nichts als Zwecke durch Menschen und für Menschen bewürken – Sauerteig oder Schatz: jeder trägt ihn in seinem Gefäße, mischt ihn zu seinem Teige! und je feiner der Duft ist, je mehr er an sich verflöge, desto mehr muß er zum Gebrauch vermischt werden. Ich sehe in der Gegenmeinung keinen menschlichen Sinn.

Und so war nun auch, bloß physisch und in menschlichem Sinne zu reden, eben die Zumischung der christlichen Religion die gewählteste, die man sich fast denken kann. Sie nahm sich bei der täglich überhandnehmenden Not der Armen an, daß selbstJulian ihr dies einschmeichelnde Verdienst nicht ableugnen konnte. Sie ward in noch spätern Zeiten der Verwirrung einziger Trost und Zuflucht gegen dieallgemeine Bedrängnis (ich rede nicht, wie die Geistlichen das immer gebrauchet!), ja, seit die Barbaren selbst Christen waren, wurde sie allmählich würkliche Ordnung und Sicherheit der Welt. Da sie die reißende Löwen zähmte und überwand die Überwinder – welch ein bequemer Teig, um tief einzudringen, weit und ewig zu würken! Die kleinen Verfassungen, wo sie alles umschlingen konnte; die weit abgesonderten Stände, wo sie gleichsam allgemeiner Zwischenstand ward; die großen Lücken der bloß kriegerischen Lehnsverfasung, wo sie an Wissenschaften, Rechtspflege und Einfluß auf die Denkart alles ausfüllte, überall unentbehrlich und gleichsam Seele zu Jahrhunderten wurde, deren Leib nichts als kriegerischer Geist und sklavischer Ackerbau war – konnte eine andre Seele als Andacht die Glieder binden, den [327] Körper beleben? War im Rate des Schicksals derKörper beschlossen: welche Torheit, außer dem Geiste der Zeit über seinen Geist zu wähnen! Es war, dünkt mich, einiges Mittel der Progression!

Wem ist's nicht erschienen, wie in jedem Jahrhunderte das sogenannte »Christentum« völlig Gestalt oder Analogie der Verfassung hatte, mit oder in der es existierte! wie ebenderselbe gotische Geist auch in das Innere und Äußere der Kirche eindrang, Kleider und Zerimonien, Lehren und Tempel formte, den Bischofstab zum Schwert schärfte, da alles Schwert trug, und geistliche Pfründen, Lehne und Sklaven schuf, weil's überall nur solche gab. Man denke sich von Jahrhunderte zu Jahrhunderte jene ungeheuren Anstalten von geistlichen Ehrenämtern, Klöstern, Mönchsorden, endlich später gar Kreuzzügen und der offenbaren Herrschaft der Welt – ungeheures gotisches Gebäude! überladen, drückend, finster, geschmacklos – die Erde scheint unter ihm zu sinken – aber wie groß! reich! überdacht! mächtig! – ich rede von einem historischen Eräugnisse! Wunder desmenschlichen Geists und gewiß der Vorsehung Werkzeug.

Wenn mit seinen Gärungen und Reibungen der gotische Körper überhaupt Kräfte regte: gewiß trug der Geist, der ihn belebte und band, das Seine bei. Wenn durch jenen eine Mischung von hohen Begriffen und Neigungen in Europa ausgebreitet wurde, in der Mischung und in dem Umfange noch nie gewürkt; allerdings war auch sie darinne webend. Und ohne mich hier auf die verschiednen Perioden des Geists der mittlern Zeiten einlassen zu können; wir wollen's gotischen Geist, nordisches Rittertum im weitsten Verstande nennen – großes Phänomenon so vieler Jahrhunderte, Länder und Situationen.

Gewissermaßen noch immer »Inbegriff alle der Neigungen, die voraus einzelne Völker und Zeitläufte entwickelt hatten«: sie lassen sich sogar in sie auflösen, aber das würksame Element, das alle band und zu einer lebendigen Kreatur Gottes machte, ist in jedem einzeln nicht mehr dasselbe. Väterliche Neigungen und heilige Verehrung des weiblichen Geschlechts; unauslöschliche Freiheitliebe und Despotismus; Religion und kriegerischer Geist; pünktliche Ordnung und Feierlichkeit und sonderbarer Hang zur Aventiure – das floß zusammen! Orientalische, römische, nordische, sarazenische Begriffe und Neigungen! man weiß, wenn, wo und in welchem Maße sie jetzt und dort zusammengeflossen sind und sich modifiziert haben. – Der Geist des Jahrhunderts durchwebte und band die [328] verschiedensten Eigenschaften – Tapferkeit und Möncherei, Abenteuer und Galanterie, Tyrannei und Edelmut; band's zu dem Ganzen, das uns jetzt – zwischen Römern und uns – als Gespenst, als romantisches Abenteuer dasteht; einst war's Natur, war – Wahrheit.

Man hat diesen Geist »der nordischen Ritterehre« mit den heroischen Zeiten der Griechen verglichen 11 – und freilich Punkte der Vergleichung gefunden – Aber an sich bleibt er in der Reihe aller Jahrhunderte, dünkt mich, einzig! – nur sich selbst gleich! Man hat ihn, weil er zwischen Römern und uns – quanti viri! – uns! steht, so schrecklich verspottet; andre von etwas abenteuerlichem Gehirne haben ihn so hoch über alles erhoben – mich dünkt, er ist nichts mehr und minder als »einzelner Zustand der Welt!« keinem der vorigen zu vergleichen, wie sie mit Vorzügen und Nachteilen: auf sie gegründet, selbst in ewiger Veränderung und Fortstrebung – ins Große.

Die dunkeln Seiten dieses Zeitraums stehn in allen Büchern: jeder klassische Schöndenker, der die Polizierung unsres Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit hält, hat Gelegenheit, ganze Jahrhunderte auf Barbarei, elendes Staatsrecht, Aberglauben undDummheit, Mangel der Sitten und Abgeschmacktheit – in Schulen, in Landsitzen, in Tempeln, in Klöstern, in Rathäusern, in Handwerkszünften, in Hütten und Häusern zu schmälen und über das Licht unsres Jahrhunderts, das ist, über seinen Leichtsinn und Ausgelassenheit, über seine Wärme in Ideen undKälte in Handlungen, über seine scheinbare Stärke und Freiheit und über seine würkliche Todesschwäche und Ermattung unter Unglauben, Despotismus und Üppigkeit zu lobjauchzen. Davon sind alle Bücher unsrer Voltaire und Hume, Robertsons und Iselins voll, und es wird ein so schön Gemälde, wie sie die Aufklärung und Verbesserung der Welt aus den trüben Zeiten des Deismus und Despotismus der Seelen d.i. zu Philosophie und Ruhe herleiten – daß dabei jedem Liebhaber seiner Zeit das Herz lacht.

Alle das ist wahr und nicht wahr. Wahr, wenn man, wie ein Kind, Farbe gegen Farbe hält und ja ein helles, lichtes Bildchen haben will – in unserm Jahrhundert ist leider! soviel Licht! –, Unwahrheit, wenn man die damalige Zeit in ihrem Wesen und Zwecken, Genuß und Sitten, insonderheit als Werkzeug im Zeitlaufe betrachtet. Da lag in diesen dem Scheine nach gewaltsamen Auftritten und Verbindungen oft ein Festes, Bindendes, Edles [329] und Großherrliches, das wir mit unsern gottlob! feinen Sitten, aufgelösten Zünften und dafür gebundnen Ländern und angeborner Klugheit und Völkerliebe bis ans Ende der Erde, fürwahr weder fühlen noch kaum mehr fühlen können. Siehe, du spottest über die damalige Knechtschaft, über die rohen Landsitze des Adels, über die vielen kleinen Inseln und Unterabteilungen und was davon abhing – preisest nichts so sehr als die Auflösung dieser Bande und weißt kein größeres Gut, was je der Menschheit geschehen, als da Europa und mit ihm die Welt frei wurde. Frei wurde? süßer Träumer! wenn's nur das, und das nur wahr wäre! Aber nun siehe auch, wie durch den Zustand in jenen Zeiten Dinge ausgerichtet wurden, über die sonst alle menschliche Klugheit hatte verblöden müssen: Europa bevölkert und gebauet: Geschlechter und Familien, Herr und Knecht, König und Untertan drang stärker und näher aneinander: die sogenannten rohen Landsitze hinderten dasüppige ungesunde Zunehmen der Städte, dieser Abgründe für die Lebenskräfte der Menschheit: der Mangel des Handels und der Feinheit verhinderte Ausgelassenheit und erhielt simple Menschheit – Keuschheit und Fruchtbarkeit in Ehen, Armut und Fleiß und Zusammendrang in Häusern. Die rohen Zünfte undFreiherrlichkeiten machten Ritter- und Handwerksstolz, aber zugleich Zutrauen auf sich, Festigkeit inseinem Kreise, Mannheit auf seinem Mittelpunkte, wehrte der ärgsten Plage der Menschheit, dem Land-und Seelenjoche, unter das offenbar, seitdem alle Inseln aufgelöst sind, alles mit froh und freiem Mute sinkt. Da konnten in etwas spätern Zeiten denn sovielkriegerische Republiken und wehrhafte Städte wer den! erst waren die Kräfte gepflanzt, genährt und durch Reiben erzogen, von denen im traurigen Reste ihr noch jetzo lebt. Hätte euch der Himmel die barbarischen Zeiten nicht vorhergesandt und sie so lange unter so mancherlei Würfen und Stößen erhalten – armes, poliziertes Europa, das seine Kinder frißt oder relegieret, wie wärest du mit alle deiner Weisheit –Wüste!

»Daß es jemanden in der Welt unbegreiflich wäre, wie Licht die Menschen nicht nährt! Ruhe und Üppigkeit und sogenannte Gedankenfreiheit nie allgemeine Glückseligkeit und Bestimmung sein kann!« AberEmpfindung, Bewegung, Handlung – wenn auch in der Folge ohne Zweck (was hat auf der Bühne der Menschheit ewigen Zweck?), wenn auch mit Stößen und Revolutionen, wenn auch mit Empfindungen, die hie und da schwärmerisch, gewaltsam, gar abscheulich werden – als Werkzeug in den Händen [330] des Zeitlaufs, welche Macht! welche Würkung! Herz und nicht Kopf genährt! mit Neigungen und Trieben alles gebunden; nicht mit kränkelnden Gedanken! Andacht und Ritterehre, Liebeskühnheit und Bürgerstärke – Staatsverfassung und Gesetzgebung, Religion. – Ich will nichts weniger als die ewigen Völkerzüge und Verwüstungen, Vasallenkriege und Befehdungen, Mönchsheere, Wallfahrten, Kreuzzüge verteidigen: nur erklären möchte ich sie: wie in allem doch Geist hauchet! Gärung menschlicher Kräfte. Große Kur der ganzen Gattung durch gewaltsame Bewegung, und wenn ich so kühn reden darf, das Schicksal zog (allerdings mit großem Getöse und ohne daß die Gewichte da ruhig hangen konnten) die große abgelaufne Uhr auf! da rasselten also die Räder!

Wie anders sehe ich die Zeiten in dem Lichte! wie viel ihnen zu vergeben, da ich sie selbst ja immer imKampfe gegen Mängel, im Ringen zur Verbesserung, und sie wahrhaftig mehr als eine andere, sehe! wieviel Lästerungen geradezu falsch und übertrieben, da ihr Mißbrauche entweder angedichtet werden aus fremden Hirn oder die damals weit milder und unvermeidlicher waren, sich mit einem gegenseitigen Gutenkompensierten, oder die wir schon jetzt offenbar als Werkzeuge zu großem Guten in der Zukunft, woransie selbst nicht dachten, wahrnehmen. Wer liest diese Geschichte und ruft nicht oft: Neigungen und Tugenden der Ehre und Freiheit, der Liebe und Tapferkeit, der Höflichkeit und des Worts, wo seid ihr geblieben! eure Tiefe verschlämmet! eure Feste weicher Sandboden voll Silberkörner, wo nichts wächst! Wie es auch sei, gebt uns in manchem Betracht eure Andacht und Aberglauben Finsternis und Unwissenheit, Unordnung und Rohigkeit der Sitten, und nehmt unser Licht und Unglauben, unsre entnervte Kälte und Feinheit, unsre philosophische Abgespanntheit und menschliches Elend! – Übrigens aber freilich muß Berg und Tal grenzen, und das dunkle feste Gewölbe konnte – nichts anders sein als dunkles festes Gewölbe – gotisch!

Riesenschritt im Gange des menschlichen Schicksals! Nähmen wir's bloß, daß Verderbnisse vorhergehen, um Verbesserung Ordnung hervorzubringen – ein großer Schritt! Um das Licht zu geben, war sogroßer Schatte nötig: der Knote mußte so fest zugezogen werden, damit nachher die Entwicklung erfolge mußte es nicht gären, um den hefenlosen, reinen göttlichen Trank zu geben? – mich dünkt, das folgte unmittelbar aus »der Lieblingsphilosophie« des Jahrhunderts. Da könnt ihr ja herrlich beweisen, [331] wie soviel Ecken erst haben müssen gewaltig abgerieben werden, ehe das runde, glatte, artige Ding erscheinen konnte, was wir sind! wie in der Kirche soviel Greuel, Irrtümer, Abgeschmacktheiten und Lästerungen vorhergehen, alle die Jahrhunderte nach Verbesserung ringen, schreien und streben mußten, ehe eureReformation oder lichte, hellglänzende Deismus entstehen konnte. Die üble Staatskunst mußte das Rad all ihrer Übel und Abscheulichkeiten durchlaufen, eh unsre »Staatskunst« im ganzen Umfange des Worts, erscheinen durfte wie die Morgensonne aus Nacht und Nebel. – Noch immer also schönes Gemälde, Ordnung und Fortgang der Natur, und du glänzender Philosoph ja allem auf den Schultern!

Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes, kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel – alles Mittel und Zweck zugleich, und so gewiß auch diese Jahrhunderte. War die Blüte des Zeitgeistes, »der Rittersinn«, an sich schon ein Produkt der ganzen Vergangenheit in gediegenen Form des Nordlands: war die Mischung von Begriffen der Ehre und der Liebe undder Treue und Andacht und Tapferkeit und Keuschheit, die jetzt Ideal war, voraus unerhört gewesen; siehe damit, gegen die alte Welt gehalten, da die Stärke jedes einzelnen Nationalcharakters verlorengangen war, siehe eben in dieser Mischung Ersatz und Fortgang ins Große. Von Orient bis Rom war'sStamm: jetzt gingen aus dem Stamme Äste und Zweige; keiner an sich stammfest, aber ausgebreiteter, luftiger, höher! Bei aller Barbarei waren die Kenntnisse, die man scholastisch behandelte, feiner undhöher: die Empfindungen, die man barbarisch undpfaffenmäßig anwandte, abstrahierter und höher: aus beiden flossen die Sitten, das Bild jener. Von solcher Religion, so elend sie immer aussah, hatte doch kaum ein Zeitalter vorher gewußt: selbst das Feinere der türkischen Religion, was unsre Deisten ihr so hoch anrechnen, war nur »durch die christliche Religion« entstanden, und selbst die elendsten Spitzfündigkeiten der Möncherei, die romanhaftesten Phantastereien zeigen, daß Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt war, dergleichen auszudenken, zu fassen: daß man würklich scharf anfing, in so feinem Elemente zu atmen. Papsttum hätte doch nie in Griechenland und dem alten Rom existieren können, nicht bloß aus den Ursachen, die man gewöhnlich ansieht, sondern würklich auch der uralten Simplizität wegen, weil zu dergleichen raffinierten System noch kein Sinn, keinRaum war: und Papsttum des alten Ägyptens war wenigstens gewiß eine weit gröbere [332] und plumpere Maschine. Solche Regierungsformen, bei allem gotischen Geschmacke hatten sie doch kaum vorher noch existiert; mit der Idee von barbarischer Ordnung vom Element herauf bis zum Gipfel, mit den immerveränderten Versuchen, alles zu binden, daß es doch nicht gebunden wäre. – Der Zufall oder vielmehr roh und frei würkende Kraft erschöpfte sich in kleinen Formen der großen Form, wie sie ein Politiker kaum hätte ausdenken können: Chaos, wo alles nach neuer höherer Schöpfung strebte, ohne zu wissen wie? undwelcher Gestalt? – Die Werke des Geistes und desGenies aus diesen Zeiten sind gleicher Art, ganz des zusammengesetzten Duftes aller Zeiten voll: zu voll von Schönheiten, von Feinheiten, von Erfindung, von Ordnung, als daß es Schönheit, Ordnung, Erfindung bleibe – sind wie die gotischen Gebäude! Und wenn sich der Geist bis auf die kleinsten Einrichtungen und Gebräuche erstreckt – ist's unrecht, wenn in diesen Jahrhunderten noch immer Krone des alten Stamms erschiene! (nicht Stamm mehr, das sollt's und konnt's nicht sein, aber Krone!). Eben das Nicht-Eine, das Verwirrte, der reiche Überfluß von Ästen und Zweigen, das macht seine Natur! da hangen die Blüten von Rittergeist, da werden, wenn der Sturm die Blätter abtreibt, einst die schönern Früchte hangen.

So viele Brüdernationen und keine Monarchie auf der Erde! – Jedweder Ast von hier gewissermaße einGanzes – und trieb seine Zweige! alle triebennebeneinander, flochten, worren sich, jedes mit seinem Safte. – Diese Vielheit von Königreichen! diesNebeneinandersein von Brudergemeinden; alle von einem deutschen Geschlechte, alle nach einem Ideal der Verfassung, alle im Glauben einer Religion, jedes mit sich selbst und seinen Gliedern kämpfend und von einem heiligen Winde, dem päpstlichen Ansehen, fast unsichtbar, aber sehr durchdringend getrieben und beweget – wie ist der Baum erschüttert! auf Kreuzzügen und Völkerbekehrungen, wohin hat er nicht Äste, Blüte und Zweige geworfen! – Wenn die Römer bei ihrer Unterjochung der Erde den Völkern, nicht auf dem besten Wege, zu einer Gattung »vonVölkerrecht und allgemeiner Römererkennung« hatten helfen müssen: das Papsttum mit alle seiner Gewaltsamkeit ward in der Hand des Schicksals Maschine zu einer »noch höhern Verbindung, zur allgemeinen Erkennung sein sollender Christen! Brüder! Menschen!« Das Lied stieg durch Mißklänge und kreischende Stimmungen gewiß in höhern Ton: gewisse mehrere gesammlete, abstrahierte, gegärte Ideen, Neigungen und Zustände breiteten sich über[333] die Welt hin – wie schoß der eine alte simple Stamm des Menschengeschlechts in Äste und Zweige!


Endlich folgte, wie wir sagen, die Auflösung, die Entwickelung: lange ewige Nacht klärte sich in Morgen auf: es ward Reformation, Wiedergeburt der Künste, Wissenschaften, Sitten! – Die Hefen sanken; und es ward – unser Denken! Kultur! Philosophie! on commençoit à penser comme nous pensons aujourd'hui: on n'étoit plus barbare.

Keinen Zeitpunkt der Entwickelung des menschlichen Geistes hat man schöner beschrieben als diesen! Da alle unsre Geschichten, Discours préliminaires zur Enzyklopädie alles menschlichen Wesens und Philosophien darauf weisen 12 und von Ost und West, von Anbeginn und gestern alle Fäden, die gezogen sind oder wie Herbstspinneweben im Kopfe flattern, darauf als auf den höchsten Gipfel menschlicher Bildung zu ziehen wissen: und da das System nun schon so glänzend, berühmt, lieblich angenommen und vollkommen ausgemacht ist: so wage ich nichts hinzuzusetzen – ich lege bloß einige kleine Anmerkungen neben an.

Zuerst muß ich zum überhohen Ruhm des menschlichen Verstandes 13 sagen, daß immer weniger er, wenn ich so sagen darf, als ein blindes Schicksal, was die Dinge warf und lenkte, an dieser allgemeinen Weltveränderung würkte. Entweder waren's so große, gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die über alle menschliche Kräfte und Aussichten gingen, denen sich die Menschen meistens wiedersetzten, wo niemand die Folge, als überlegten Plan, träumte; oder – es waren kleine Zufälle, mehr Funde als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte – oder gar nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgriff, Handwerk, das die Welt änderte – Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, wenn das ist, wo bleibt eure Abgötterei gegen den menschlichen Geist?

Wer legte hier Venedig an diesem Platze, unter dem tiefsten Bedrängnis der Not an? und wer überdachte, was dies Venedig, allein an diesem Platze, ein Jahrtausend hindurch, allen Völkern der Erde sein konnte und sollte? Der diesen Sund von Inseln in den Morast warf, der diese wenigen Fischer dahin [334] leitete, war derselbe, der das Samenkorn fallen läßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine Eiche werde; der dieHütte an die Tiber pflanzte, daß Rom, das ewige Haupt der Welt, daraus würde. Ebenderselbe ist's, der jetzt Barbarn hinzuführt, daß sie die Literatur der ganzen Welt, die Bibliothek zu Alexandrien (gleichsam ein versinkendes Weltteil!) vernichtigen, jetzt ebendieselbe hinzuführt, daß sie einen kleinen Rest Literatur erbetteln, erhalten und auf einer ganz andern Seite, auf Wegen, die niemand geträumt oder gewünscht hatte, nach Europa bringen sollten. Ebenderselbe, der jetzt durch sie an einer andern Seite eineKaiserstadt zerstören läßt, daß die Wissenschaften, die da niemand suchte und die da so lange müßig waren, nach Europa fliehen – Alles ist großes Schicksal! von Menschen unüberdacht, ungehofft, unbewürkt – siehst du Ameise nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnisses nur kriechest?

Wenn wir in die Umstände des Ursprungs aller sogenannten Welterleuchtungen näher eindringen: die nämliche Sache. Dort im Großen, hier im Kleinen Zufall, Schicksal, Gottheit! Was jede Reformation anfing, waren Kleinigkeiten; die nie sogleich den großen ungeheuren Plan hatten, den sie nachher gewannen; sooft es gegenteils vorher der große, würklich überlegte, menschliche Plan gewesen war: so oft mißlang er. Alle eure große Kirchenversammlungen, ihr Kaiser! Könige! Kardinäle und Herren der Welt! werden nimmermehr nicht ändern, aber dieser unfeine, unwissende Mönch, Luther soll's ausrichten! Und das von Kleinigkeiten, wo er selbst nichts weniger als so weit denkt! durch Mittel, wo nach der Weise unsrer Zeit, philosophisch gesprochen, nie so was auszurichten war! meistens er selbst das wenigste ausrichtend, nur daß er andre anstieß, Reformatoren in allen andern Ländern weckte, er aufstand und sagte, »ich bewege mich! darum gibt's Bewegung!« Dadurch ward, was geworden ist – Veränderung der Welt! Wie oft waren solche Luthers früher aufgestanden und – untergegangen: der Mund ihnen mit Rauch und Flammen gestopft, oder ihr Wort fand noch keine freie Luft, wo es tönte – aber nun ist Frühling: die Erde öffnet sich, die Sonne brütet, und tausend neue Gewächse gehen hervor – Mensch, du warst nur immer, fast wider deinen Willen, ein kleines blindes Werkzeug.

»Warum ist nicht, ruft der sanfte Philosoph, jede solcher Reformationen lieber ohne Revolution geschehen? Man hätte den menschlichen Geist nur sollen seinen stillen Gang gehen lassen, statt [335] daß jetzt die Leidenschaften im Sturme des Handelns neue Vorurteile gebaren und man Böses mit Bösem verwechselte« – Antwort: weil so ein stiller Fortgang des menschlichen Geistes zur Verbesserung der Welt kaum etwas anders als Phantom unsrer Köpfe, nieGang Gottes in der Natur ist. Dies Samenkorn fällt in die Erde! da liegt's und erstarrt; aber nun kommt Sonne, es zu wecken: da bricht's auf: die Gefäße schwellen mit Gewalt auseinander: es durchbricht den Boden – so Blüte, so Frucht – kaum die garstige Erdpilze wächst, wie du's träumest. Der Grund jeder Reformation war allemal eben solch ein kleines Samenkorn, fiel still in die Erde, kaum der Rede wert: die Menschen hatten's schon lange, besahen's und achteten's nicht – aber nun sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden – ist das ohne Revolution, ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt sagte es Luther! Roger Baco, Galilei, Cartes, Leibniz, da sie erfanden, war's stille: es war Lichtstrahl – aber ihre Erfindungen sollten durchbrechen, Meinungen wegbringen, die Welt ändern – es ward Sturm und Flamme. Habe immer der Reformator auch Leidenschaften gehabt, die die Sache, die Wissenschaft selbst nicht foderte, die Einführung der Sache foderte sie, und eben daß er sie hatte, gnug hatte, um jetzt durch ein Nichts zu kommen, wozu ganze Jahrhunderte durch Anstalten, Maschinerien und Grübeleien nicht hatten kommen können – eben das ist Kreditiv seines Berufs!

»Meist nur simple mechanische Erfindungen, die man zum Teil längst gesehen, gehabt, damit gespielt, die aber jetzt, durch einen Einfall so und nicht anders angewandt, die Welt veränderten.« So z.B. die Anwendung des Glases zur Optik, des Magnets zumKompasse, des Pulvers zum Kriege, der Buchdruckerkunst für die Wissenschaften, des Kalküls zu einer ganz neuen mathematischen Welt – und alles nahm andre Gestalt an. Man hatte das Werkzeug verändert, einen Platz außer der alten Welt gefunden, und sorückte man diese fort.

Geschütz erfunden: und siehe! die alte Tapferkeit der Theseus, Spartaner, Römer, Ritter und Riesen weg – der Krieg anders und wie viel anders mit diesem andern Kriege!

Buchdruckerei erfunden! und wie sehr die Welt der Wissenschaften geändert! erleichtert und ausgebreitet! licht und flach worden! Alles kann lesen, buchstabieren – alles, was lesen kann, wird gelehrt.

[336] Mit der kleinen Nadel auf dem Meer – wer kann die Revolutionen in allen Weltteilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, soviel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silber, Edelsteine, Gewürz und Tod! Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt oder hinein kultiviert! Europa entvölkert, mit Krankheiten und Üppigkeit an seinen geheimsten Kräften verzehrt – wer kann zählen! wer beschreiben! Neue Sitten, Neigungen, Tugenden, Laster – wer kann zählen und beschreiben? Das Rad, in dem sich seit drei Jahrhunderten die Welt bewegt, ist unendlich – und woran hing's? was stieß es an? die Nadelspitze zwei oderdrei mechanischer Gedanken!

II. Ebendaher muß folgen, daß ein großer Teil dieser sogenannten neuen Bildung selbst würkliche Mechanik sei; näher untersucht – wird diese, wie sehrneuerer Geist! Wenn meistens neue Methoden in jeder Art und Kunst die Welt veränderten – neue Methoden entübrigten Kräfte, die voraus nötig waren, sich aber jetzt (denn jede ungebrauchte Kraft schläft!) mit der Zeit verloren. Gewisse Tugenden der Wissenschaft, des Krieges, des bürgerlichen Lebens, derSchiffahrt, der Regierung – man brauchte sie nicht mehr: es ward Maschine, und die Maschine regiert nur einer. Mit einem Gedanken! mit einem Winke! – dafür schlafen auch wie viel Kräfte! Geschütz: erfunden, und damit welche Nerve roher körperlicher Kriegsstärke und Seelenkriegsstärke, Tapferkeit, Treue, Gegenwart in einzelnen Fällen, Ehregefühl der alten Welt ermattet! Das Heer ist eine gedingte, gedankenkraft-, willenlose Maschine geworden, die ein Mann in seinem Haupte lenkt und die er nur als Pantin der Bewegung, als eine lebendige Mauer bezahlt, Kugeln zu werfen und Kugeln aufzufangen. Im Grunde also, würde ein Römer und Spartaner vielleicht sagen, Tugenden im innersten Herde des Herzensweggebrannt, und verwelkt ein Kranz militärischer Ehre – und was ist an der Stelle? Der Soldat ist erster Lohndiener des Staats in Heldenlivrei – siehe seine Ehre und Beruf! Er ist – und mit leichter Mühe dieReste von einzelnen Existenzen gesprengt: die altgotische Freiheitstände: Eigentumsformen, das elende Gebäude in schlechtem Geschmack! in Grund geschossen und zerstört, wird in seinen kleinen Trümmern so dicht blockiert, daß Land, Einwohner, Bürger, Vaterland manchmal wohl etwas, aber Herr undKnecht, Despot und Livreiendiener jedes Amts, Berufs und Standes, vom Bauer bis zum Minister und vom Minister zum [337] Priester, alles ist. Heißt Landeshoheit! verfeinte Staatskunst! neue philosophische Regierungsart! – ist's auch würklich Fürstenhut und Krone der neuern Jahrhunderte! – Worauf sie ruhen; – wie's der berühmteste Sonnenadler auf allen Münzen zeigt – auf Trommeln, Fahnen, Kugeln und immerfertigen Soldatenmützen.

Der Geist der neuern Philosophie – daß er auf mehr als eine Art Mechanik sein müsse, zeigt, denke ich, der meiste Teil seiner Kinder. Bei Philosophie und Gelehrsamkeit oft wie unwissend und unkräftig in Sachen des Lebens und des gesunden Verstandes! Statt daß in den alten Zeiten der philosophische Geist nie für sich allein bestand, von Geschäften ausging und zu Geschäften eilte, also auch nur Zweck hatte,volle, gesunde, würkende Seelen zu schaffen, seit erallein stehet und Handwerk geworden – ist er Handwerk. Der wievielste Teil von euch betrachtet Logik, Metaphysik, Moral, Physik, als was sie sind – Organe der menschlichen Seele, Werkzeuge, mit denen man würken soll! Vorbilder von Gedankenformen, die nur unsrer Seele eine ihr eigne schönere Gedankenform geben sollen – dafür schlägt man mechanisch seine Gedanken dahin ein, spielt und gaukelt – der abenteuerlichste Bursche von Klopffechter! Er tanzt mit dem Degen auf dem akademischen Seile zur Bewundrung und Freude aller, die ringsum sitzen und dem großen Künstler jauchzen, daß er nicht Hals und Bein breche – das ist seine Kunst. Ein Geschäft auf der Welt, wollt ihr's übel besorgt haben, so gebt's dem Philosophen! Auf dem Papier wie rein! wie sanft! wie schön und groß; heillos im Ausführen! bei jedem Schritte staunend und starrend vor ungesehenen Hindernissen und Folgen. Das Kind indes war würklich großerPhilosoph, konnte rechnen und mit Syllogismen, Figuren und Instrumenten geläufig, oft so glücklich spielen, daß neue Syllogismen, Resultate und sogenannte Entdeckungen herauskamen – die Frucht, dieEhre, der Gipfel des menschlichen Geistes! – durchmechanisches Spiel!

Das war die schwerere Philosophie – und nun die leichte, die schöne! Gottlob! was ist mechanischer als diese. In Wissenschaften, Künsten, Gewohnheiten, Lebensart, wo sie hineingedrungen, wo sie Saft und Blüte des Jahrhunderts ist, was mechanischer als sie? Eben das alte Herkommen, das sinnlose Vorurteil von Lernen, Langsamreifen, Tiefeindringen undSpätbeurteilen hat sie ja wie ein Joch vom Halse geworfen! hat in unsre Gerichtsschranken, statt kleiner, staubichter, detaillierter Kenntnisse, wo jeder Vorfall als der behandelt und untersucht werden soll, der er ist[338] hat darin welch schönes, leichtes, freies Urteil gebracht, nach zwei Vorfällen alles zu messen und abzutun! über das Individuelle, worin allein Species facti besteht, hinüber sich am hellen, vortrefflichenAllgemeinen zu halten – statt Richter – (Blüte des Jahrhunderts!) – Philosoph zu sein: hat in unsreStaatswirtschaft und Regierungskunde statt mühsam erlangter Kenntnisse von Bedürfnissen und wahrer Beschaffenheit des Landes welchen Adlersblick! welche Ansicht des Ganzen gebracht, wie auf einerLandkarte und philosophischen Tabelle! Grundsätze durch den Mund Montesquieus entwickelt, aus und nach welchen hundert verschiedene Völker und Erdstriche aus dem Stegreif nach dem Einmaleins der Politik in zwei Augenblicken berechnet werden. – So alle schöne Künste, Handwerke und beinahe die kleinsten Tagelöhnereien – wer braucht in ihrer Tiefe mühsam wie in einem Gewölbkeller umherzuklettern, zu arbeiten? Man räsoniert! Wörterbücher und Philosophien über alle, ohne eine einzige mit dem Werkzeug in der Hand zu verstehen: sind allesamt abrégé raisonné ihrer vorigen Pedanterie geworden – abgezogner Geist! Philosophie aus zwei Gedanken, die mechanischte Sache von der Welt.

Darf ich beweisen, was der neuere Witz für eine edle mechanische Sache sei? Gibt's eine gebildetere Sprache und Periodenform, d.i. einen engern Leisten der Gedanken, der Lebensart, des Genies und Geschmacks als bei dem Volke, von dem er sich unter hundert Gestalten am glänzendsten in der Welt verbreitet hat? Welch ein Schauspiel ist mehr Marionette eines schönen Regelmaßes – welche Lebensart mehr Äfferei einer leichten mechanischen Höflichkeit, Lustigkeit und Wortzierde – welche Philosophie mehr das Ausgekramte weniger Sentiments und eine Behandlung aller Dinge in der Welt nach diesen Sentiments geworden, als die –? Affen der Humanität, desGenies, der Fröhlichkeit, der Tugend, und eben weil sie nichts als das sind und so leicht nachgeäfft werden können, sind sie's für ganz Europa.

III. Daher wird denn nun wohl begreiflich, zu welchem Mittelpunkte die Bildung hinstrebe und immer hingelenkt werde: »Philosophie! Gedanke! – leichtere Mechanik! Räsonnement, das sich bis auf die Grundsäulen der Gesellschaft erstreckt, die sonst nur standen und trugen!« Und auch da kann ich's in zehnerlei Betracht kaum begreifen, wie das so allgemein und einzig für den Gipfel und Zweck aller menschlichen Bildung, alles Glücks, alles Guten verräsoniert werden könne? Ist denn der ganze Körper [339] bestimmt zusehen! und muß, wenn Hand und Fuß Auge und Gehirn sein will, nicht der ganze Körper leiden? Räsonnement zu unvorsichtig, zu unnütz verbreitet – ob's nicht Neigung, Trieb, Tätigkeit zu leben, schwächenkönnte und würklich geschwächt habe? –

Allerdings mag nun wohl diese Ermattung dem Geiste mancher Länder bequem sein: ermattete Glieder müssen fort, haben keine Kräfte als – etwa zumGegendenken. Jedes Rad bleibt aus Furcht oder Gewohnheit oder Üppigkeit und Philosophie an der Stelle, und was ist nun so manche große philosophisch regierte Herde als ein zusammengezwungner Haufe – Vieh und Holz! Sie denken! man breitet Denken vielleicht unter sie aus – bis auf einen Punkt: damit sie sich von Tage zu Tage mehr als Maschine fühlen, oder nach gegebenen Vorurteilen fühlen, knirschen lernen und fort müssen – Sie knirschen – ei doch, sie können nichts als knirschen: und laben sich mit Freidenken. Das liebe, matte, ärgerliche, unnütze Freidenken, Ersatz für alles, was sie vielleicht mehr brauchten – Herz! Wärme! Blut! Menschheit! Leben!

Nun rechne ein jeder. Licht unendlich erhöht und ausgebreitet: wenn Neigung, Trieb zu leben ungleich geschwächet ist! Ideen von allgemeiner Menschen-, Völker- und Feindesliebe erhöht: und warmes Gefühl der Vater-, Mutter-, Bruder-, Kindes-, Freundesneigungen unendlich geschwächet! Grundsätze der Freiheit, Ehre, Tugend so weit verbreitet, daß sie jeder aufs helleste anerkennet, daß in gewissen Ländern sie jedermann bis zum Geringsten auf Zung und Lippen hat – und jeder von ihnen zugleich mit denärgsten Ketten der Feigheit, Schande, Üppigkeit, Kriecherei und elender Planlosigkeit gebunden.Handgriffe und Erleichterungen unendlich verbreitet – aber alle die Handgriffe gehen in die Hand eines oder etlicher zusammen, der allein denkt: der Maschine ist die Lust, zu leben, zu würken, menschlich edel und guttätig, vergnügt zu leben, verschwunden: lebt sie mehr? Im Ganzen und im kleinsten Teile, der einzige Gedanke des Meisters.

Ist dies nun das schöne Ideal vom Zustande, zu dem wir durch alles hingebildet sind, das sich immer weiter in Europa ausbreitet, das in alle Weltteile hinschwimmet und alles polizieren will, zu sein, was wir sind – Menschen? Bürger eines Vaterlands?

Wesen, für sich etwas zu sein in der Welt? Vielleicht! wenigstens und gewiß aber allesamt nach Anzahl, Bedürfnissen, Zweck und Bestimmung politischer Kalkül: jeder in der Uniform seines [340] Standes, Maschinen! Da stehen nun jene glänzende Marktplätze zur Bildung der Menschheit, Kanzel und Schauplatz, Säle der Gerechtigkeit, Bibliotheken, Schulen und ja insonderheit die Kronen aller: illustre Akademien! In welchem Glanz! zum ewigen Nachruhm der Fürsten! zu wie großen Zwecken der Bildung undAufklärung der Welt, der Glückseligkeit der Menschen! herrlich eingeweihet – was tun sie denn? waskönnen sie tun? – sie spielen!

IV. Also von einigen der berühmtesten Mittel, die – die Ehre unsres Jahrhunderts! – den schöpferischen Plan haben, »Menschheit zu bilden« – ein Wort! Wir kommen damit wenigstens zu einer sehrpraktischen Seite des Buchs.

Ist nicht vom Anfange an vergebens geschrieben, so sieht man, Bildung und Fortbildung einer Nation ist nie anders als ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwürkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben. Und ist dies, was für ein Kinderspiel, diese Bildung bloß in und durch einige hellere Ideen zu setzen, worauf man fast vonWiederherstellung der Wissenschaften hertrabet! Dies Buch, dieser Autor, diese Menge von Büchern soll bilden: das ganze Resultat derselben, die Philosophie unsres Jahrhunderts soll bilden – was hieße das anders als die Neigungen wecken oder stärken, durch die die Menschheit beseligt wird – und welche Kluft, daß dies geschehe! Ideen geben eigentlich nurIdeen: mehrere Helle, Richtigkeit und Ordnung zu denken – das ist aber auch alles, worauf man gewiß rechnen kann: denn wie sich das alles nun in der Seele mische? was es vor sich finden und verändern soll? wie stark und daurend diese Veränderung werde und wie sie sich nun endlich in die tausendgestaltigen Anlässe und Fügungen des menschlichen Lebens, geschweige eines Zeitalters, eines ganzen Volks, desganzen Europa, des ganzen Weltalls (wie unsre Demut wähnet) hineinmische und hineinwerfe – ihr Götter, welche andre Welt von Fragen!

Ein Mensch, der die künstliche Denkart unsres Jahrhunderts kennenlernte, läse alle Bücher, die wir von Kind auf lesen, loben und, wie es heißt, uns darnach bilden, sammlete die Grundsätze, die wir alle laut oder schweigend zugestehen, auch mit gewissen Kräften unsrer Seele bearbeiten usw., wollte hieraus nun auf das ganze lebendige Triebwerk des Jahrhunderts Schluß machen – erbärmlicher Fehlschluß! Eben weil diese Grundsätze so gäng und gäbe sind, als Spielwerk von Hand zu Hand, als Mundwerk vonLippe zu Lippe gehen – eben deswegen wird's wahrscheinlich, [341] daß sie keine Würkung mehr tun können. Braucht man, womit man spielt? und wenn man des Getreides so viel hat, daß man den Acker nicht besäet, bepflanzet, sondern als Kornboden überschütten muß – dürrer, trockner Kornboden! kann etwas wurzeln? aufgeben? kommt ein Korn nur in die Erde?

Was soll ich Exempel zu einer Wahrheit suchen, zu der fast alles, leider! Exempel wäre – Religion undMoral, Gesetzgebung und gemeine Sitten. Wie überschwemmt mit schönen Grundsätzen, Entwicklungen, Systemen, Auslegungen – überschwemmet, daß fast niemand mehr Boden sieht und Fuß hat – eben deswegen aber auch nur hinüberschwimmet. DerTheologe blättert in den rührendsten Darstellungen der Religion, lernet, weiß, beweist und vergißt – zu den Theologen werden wir alle von Kind auf gebildet. Die Kanzel schallet von Grundsätzen, die wir alle zugestehen, wissen, schön fühlen und – auf und neben der Kanzel lassen. So mit Lektüre, Philosophie undMoral. Wer ist nicht überdrüssig, sie zu lesen? und welcher Schriftsteller macht's nicht schon zum Hauptgeschäfte, gut einzukleiden: die unkräftige Pille nur schön zu versilbern. Kopf und Herz ist einmal getrennt: der Mensch ist, leider! so weit, um nicht nach dem, was er weiß, sondern was er mag, zu handeln. Was hilft dem Kranken alle der Vorrat von Leckerbissen, den er mit siechem Herzen nicht genießen kann, ja des Überfluß ihn eben siechherzig machte.

Den Verbreitern des Mediums dieser Bildung könnte man immer die Sprache und den Wahn lassen, als wenn sie »die Menschheit«, und insonderheit ja den Philosophen von Paris, daß sie »toute l'Europe« und »tout l'univers« bilden – man weiß schon, was die Sprache bedeutet – Ton! konventionelle Phrase! schöne Wendung oder höchstens nützlicher Wahn. – Aber wenn auch die auf solche Mittel der Letternkultur fallen, die ganz andre Werkzeuge – wann sie eben mit jenen dem Jahrhundert schönen Dunst geben,Augen auf den Glanz dieses unwürksamen Lichts lenken, um Herzen und Hände frei zu haben – Irrtum und Verlust, ihr seid kläglich! –

Es gab ein Zeitalter, wo die Kunst der Gesetzgebung für das einzige Mittel galt, Nationen zu bilden, und dies Mittel, auf die sonderbarste Art angegriffen, nur meist eine allgemeine Philosophie der Menschheit, ein Kodex der Vernunft, der Humanität – was weiß ich mehr? werden sollte: die Sache war ohne Zweifel blendender als nützlich. Allerdings ließen sich damit alle »Gemeinsätze des [342] Rechten und Guten, Maximen der Menschenliebe und Weisheit, Aussichten aus allen Zeiten und Völkern für alle Zeiten und Völker erschöpfen« – für alle Zeiten und Völker? – und also, leider! eben nicht für das Volk, dem dies Gesetzbuch aufgenommen sein soll als sein Kleid. So allgemeines Abgeschöpfte, ist's nicht auchSchaum vielleicht, der in der Luft aller Zeiten und Völker zerfließt? und wie anders für die Adern und Sehnen seines Volks Nahrung bereiten, daß sie im Herz stärke und Mark und Bein erfrische!

Zwischen jeden Allgemeingesagten, wenn auch derschönsten Wahrheit – und ihrer mindesten Anwendung ist Kluft! Und Anwendung am einzigen rechten Orte? zu den rechten Zwecken? auf die einzige beste Weise? – Der Solon eines Dorfs, der würklich nureine böse Gewohnheit abgebracht, nur einen Strom menschlicher Empfindungen und Tätigkeiten inGang gebracht – er hat tausendfach mehr getan als all ihr Räsoneurs über die Gesetzgebung, bei denen alles wahr und alles falsch – ein elender allgemeiner Schatte ist. –

Es war eine Zeit, da die Errichtung von Akademien, Bibliotheken, Kunstsälen Bildung der Welt hieß – vortrefflich! diese Akademie ist der Name des Hofes, das würdige Prytaneum verdienter Männer, eine Unterstützung kostbarer Wissenschaften, ein vortrefflicher Saal am Geburtsfeste des Monarchen. – Aber was die nun zur Bildung des Landes, der Leute,der Untertanen tue? Und wenn sie alles täte – wiefern das Glückseligkeit gebe? Können diese Bildsäulen, und wenn ihr sie an Weg und Pfosten stellt, jeden Vorbeigehenden in einen Griechen verwandeln, daß er sie so ansehe, so fühle, sich so in ihnen fühle? Schwer! Können diese Gedichte, diese schöne Vorlesungen nach attischer Art eine Zeit schaffen, wo diese Gedichte und Reden Wunder taten und würkten? Ich glaube, nein! Und die sogenannten Wiederhersteller der Wissenschaften, wenn auch Papst und Kardinäle, ließen immer Apollo, Musen und alle Götter in den neulateinischen Gedichten spielen – sie wußten, daß es Spiel war. Die Bildsäule Apollo konnte immer neben Christo und der Leda stehen: Alle drei tateneine Würkung – keine! – Könnte die Vorstellung, der Schauplatz würklichen römischen Heroismus hervorbringen und Brutus und Catos schaffen – glaubt ihr, daß euer Schauplatz stehen? daß eure Kanzel stehen würde? – Man ballet endlich in den edelsten Wissenschaften Ossa auf den Pelion – großes Unternehmen! – man weiß beinahe nicht, wozu man ballet. Die [343] Schätze liegen da und werden nicht gebraucht: wenigstens ist's gewiß nicht die Menschheit, die sie jetzt brauchet.

Es war eine Zeit, da alles auf Erziehung stürmte – und die Erziehung wurde gesetzt in schöne Realkenntnisse, Unterweisung, Aufklärung, Erleichterung ad captum und ja in frühe Verfeinerung zu artigen Sitten. Als wenn alle das Neigungen ändern undbilden könnte, ohne an ein einziges der verachteten Mittel zu denken, wie man gute Gewohnheiten, selbst Vorurteile, Übungen und Kräfte wiederherstellen oder neu schaffen und dadurch allein »bessere Welt« bilden könnte. – Der Aufsatz, der Plan wurde abgefaßt, gedruckt, vergessen! ein Lehrbuch der Erziehung, wie wir tausend haben! ein Kodex guter Regeln, wie wir noch Millionen haben werden, und die Welt wird bleiben, wie sie ist.

Wie anders dachten einst darüber die Zeiten und Völker, da alles noch so enge national war. Aus dem besondersten einzelnen Bedürfnisse stieg jede Bildung herauf und kehrte dahin zurück – lauter Erfahrung, Tat, Anwendung des Lebens, in dem bestimmtesten Kreise. Hier in der Patriarchenhütte, dort im engen Ackergebiete, dort in einer kleinen Republik Menschen, wo man alles kennt, fühlt, also auch zu fühlen geben konnte, das menschliche Herz in Hand hatte, und übersahe, was man sprach! Da war's also ein guter Vorwurf, den unser erleuchtetes Jahrhundert den minder erleuchteten Griechen macht, daß sienichts recht Allgemeines und rein Abgezognes philosophiert, sondern immer in der Natur kleiner Bedürfnisse, auf einem engen Schauplatz gesprochen hätten. Da war's auch angewandt gesprochen, jedes Wort fand Stelle: und in den bessern Zeiten, da man noch gar nicht durch Worte sprach, durch Tat, Gewohnheit, Vorbild, tausendfachen Einfluß – wie anders! bestimmt, stark und ewig. Wir sprechen über hundert Stände, Klassen, Zeiten, Menschengattungen auf einmal, um für jede nichts zu sprechen: unsre Weisheit so fein und unkörperlich – ist abgezogner Geist, der ohne Gebrauch verfliegt. Dort war's und blieb's Weisheit des Bürgers, Geschichte eines menschlichen Gegenstandes, Saft voll Nahrung.

Wenn meine Stimme also Macht und Raum hätte, wie würde ich allen, die an der Bildung der Menschheit würken, zurufen: nicht Allgemeinörter von Verbesserung! Papierkultur! wo möglich Anstalten –tun! Laßt die reden und ins Blaue des Himmels hineinbilden, die das Unglück haben, nichts anders zu können; hat der Liebling der Braut nicht eine schönere Stelle als der [344] Dichter, der sie singt oder der Freiwerber, der um sie wirbt? Siehe, wer die Menschenfreundschaft, Völkerliebe und Vatertreue am schönsten besingen kann, hat vielleicht im Sinne, ihr auf Jahrhunderte den tiefsten Dolchstoß zu geben? Dem Scheine nach der edelste Gesetzgeber, vielleicht der innigste Zerstörer seines Jahrhunderts! Von innererVerbesserung, Menschheit und Glückseligkeit nicht die Rede: er strebte dem Strom des Jahrhunderts nach, ward Heiland des menschlichen Geschlechts nach dem Wahne des Jahrhunderts, erstrebte sich also auch den kurzen Lohn des allen – welkenden Lorbeerder Eitelkeit, morgen Staub und Asche. – Das große, göttliche Werk, Menschheit zu bilden – still, stark, verborgen, ewig – mit kleiner Eitelkeit konnt's nicht grenzen!

V. Ohne Zweifel wird man, nach dem, was ich geschrieben, den Allgemeinsatz anbringen, daß man immer die Ferne lobe und über die Gegenwart klage; daß es Kinder sind, die sich in die Ferne des Goldschaums verlieben und den Apfel, den sie in der Hand, dafür hingeben, weil sie jenes nicht kennen – aber vielleicht bin ich dies Kind nicht. Ich sehe allesGroße, Schöne und Einzige unsres Jahrhunderts ein und habe es bei allem Tadel immer zum Grunde behalten: »Philosophie! ausgebreitete Helle! mechanische Fertigkeit und Leichtigkeit zum Erstaunen!Mildheit!« Wie hoch ist seit der Wiederherstellung der Wissenschaften unser Jahrhundert darin gestiegen! mit welchen sonderbar leichten Mitteln auf die Höhe kommen! wie stark hat's sie befestigt und für die Nachkommenschaft gesichert! – ich glaube Bemerkungen darüber gegeben zu haben statt der übertriebenen Lobesdeklamation, die man in allen, zumal französischen Modebüchern findet. –

Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel undZweck: ohne Zweifel der höchste Gipfel des Baums in Betracht aller vorigen, auf denen wir stehen! Wie haben wir uns so vielen Saft aus Wurzel, Stamm und Ästen zunutz gemacht, als unsre dünnen Gipfelzweige nur fassen können! stehen hoch über Morgenländer, Griechen, Römer, zumal über den mittlern gotischen Barbarn! hoch sehen wir also über die Erde! gewissermaße alle Völker und Weltteile unter unserm Schatten, und wenn ein Sturm zwei kleine Zweige in Europa schüttelt, wie bebt und blutet die ganze Welt! Wenn ist je die ganze Erde an so wenig vereinigten Fäden so allgemein zusammengegangen als jetzt? Wenn hat man mehr Macht und Maschinen gehabt, mit einem Druck, mit einem [345] Fingerregen ganze Nationen zu erschüttern? Alles schwebt an der Spitzezweier oder dreier Gedanken!

Zu gleicher Zeit – wenn ist die Erde so allgemeinerleuchtet gewesen als nun? und fährt immer fort, mehr erleuchtet zu werden. Wenn voraus die Weisheit immer nur enge national war und also auch tiefer grub und fester anzog – wie weit gehen jetzt ihre Strahlen! wo wird nicht, was Voltaire schreibt, gelesen! Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltaires Klarheit!

Und wie scheint dies immer fortzugehen! Wo kommen nicht europäische Kolonien hin und werden hinkommen! Überall werden die Wilden, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit liebgewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich, zumal durch Branntwein und Üppigkeit, überall unsrer Kultur – werden bald, hilf Gott! alle Menschen wie wir sein!gute, starke, glückliche Menschen!

Handel und Papsttum, wie viel habt ihr schon zu diesem großen Geschäfte beigetragen! Spanier, Jesuiten und Holländer: ihr menschenfreundlichen, uneigennützigen, edlen und tugendhaften Nationen! wie viel hat euch in allen Weltteilen die Bildung der Menschheit nicht schon zu danken?

Geht das in den übrigen Weltteilen, wie denn nicht in Europa! Schande für England, daß das Irland so lange wild und barbarisch blieb: es ist poliziert und glücklich. Schande für England, daß die Nordschotten so lange ohne Beinkleider gingen: sie tragen sie jetzt wenigstens auf einer Stange mit sich und sind glücklich. Welch Reich hat sich in unserm Jahrhunderte nicht groß und glücklich gebildet! Ein einziges lag zur Schande der Menschheit in der Mitte da – ohne Akademien und Ackerbausozietäten, trug Knebelbärte und nährte demnach Königsmörder. Und siehe da! was mit dem – wilden Korsika das edelmütige Frankreich schon allein übernommen hatte – das taten drei – Knebelbärte: zu Menschen zu bilden, wie wir sind! gute, starke, glückliche Menschen!

Alle Künste, die wir treiben, wie hoch gestiegen! Kann man sich etwas über jene Regierungskunst, das System, die Wissenschaft zur Bildung der Menschheit denken? 14 Die ganze einzige Triebfeder unsrer Staaten Furcht und Geld: ohne Religion (die kindische Triebfeder!), ohne Ehre und Seelenfreiheit undMenschenglückseligkeit im mindsten zu brauchen. Wie wissen wir den einzigen Gott aller Götter, Mammon, als einen zweiten Proteus [346] zu erhaschen! und wie zu verwandeln! und wie alles von ihm zu erzwingen, was wir nur wollen! – höchste glückselige Regierungskunst! –

Sehet ein Kriegsheer; das schönste Urbild menschlicher Gesellschaft! Alle wie bunt und leicht gekleidet, leicht genähret, harmonisch denkend, frei und bequem in allen Gliedern! edel sich bewegend! Wie helle treffliche Werkzeuge in ihrer Hand! Summe von Tugenden, die sie bei jeder täglichen Handhabung lernen – ein Bild der höchsten Vortreflichkeit desMenschengeistes und der Regierung der Welt – Resignation!

Gleichgewicht von Europa! du große Erfindung,von der kein Zeitalter? vorher wußte! wie sich jetzt diese großen Staatskörper, in denen ohne Zweifel die Menschheit am besten gepflegt werden kann, aneinander reiben, ohne sich zu zerstören und je zerstören zu können, wie wir so traurige Beispiele an der elenden Staatskunst der Goten, Hunnen, Vandalen, Griechen, Perser, Römer, kurz, aller Zeiten vor uns haben! und wie sie ihren edlen Königsgang fortgehen, diese Wassertonne voll Insekten in sich zu schlucken, um Einförmigkeit, Friede und Sicherheit zu schaffen. Arme Stadt? gequältes Dorf? – Heil uns! zu Aufrechthaltung des Gehorsams, des Friedens und der Sicherheit, aller Kardinaltugenden und Glückseligkeiten, Söldner! Verbündete! Gleichgewicht Europas! Es wird und muß, Heil uns! ewige Ruhe, Friede, Sicherheit und Gehorsam in Europa bleiben.

Da dürfen nur unsre politische Geschichtschreiber und historische Epopeendichter der Monarchie das Wachstum dieses Zustandes von Zeit zu Zeit malen! 15 »Einst, traurige Zeiten! da man bloß nachBedürfnis und eignem Gefühl etwa handelte: traurigere Zeichen, da die Macht der Regenten gar noch nicht schrankenlos, und traurigste Zeiten unter allen, da ihre Einkünfte noch nicht ganz willkürlich waren – da – wie wenig gibt's für den philosophischen Epopeengeschichtschreiber allgemein zu räsonieren, oder ins Ganze von Europa hinzumalen! keine Armeen, die vermögend wären, ferne Grenzen zu beunruhigen, kein Landesherr, der aus seinem Lande könnte, zu erobern: also alles nur auf elende Gegenwehr undSelbstverteidigung angelegt: keine Politik! kein Blick auf ferne Zeiten und Länder, keine Spekulation in den [347] Mond! also keine Verbindung der Länder durch diese menschenfreundlichen Nächstenblicke – kurz, kein – und das ist das Wort für den neusten höchsten Geschmack! – kein gesellschaftliches Leben in Europa! Gottlob! seitdem einzelne Kräfte und Glieder des Staats abgetan, Adel durch Städte, Städte durch freigelaßnes Land, und Adel, Städte und freigelaßnes Land durch Völker so glorreich gegen- und überwogen, in das Wunderding Maschinen hineingelenkt sind, niemand mehr von Selbstgerechtigkeit, Selbst würde und Selbstbestimmung weiß und wissen darf – Heil uns, welch gesellschaftliches Leben in Europa! Wo der Monarch den Staat so ganz in seiner Macht hat, daß dieser ihm nicht mehr Zweck, sondern auswärtiges Handeln durch ihn Zweck ist – wo er also so weit sieht, rechnet, ratschlaget, handelt, jeder durch Winke, von denen er nichts versteht und weiß, zum Enthusiasmus gerührt und geleitet werden, kein Staat ohne den Blick des andern eine Pflaumfeder aufheben darf – ohne daß von der fernesten Ursache sich allgemeiner Aderlaß in allen Weltteilen von selbst beschließe! Große Allgemeinheit! wie gedrungenemenschliche, leidenschaftlose Kriege daher entspringend! wie gerechte, menschliche, billige Unterhandlungen daher entspringend!« Und wie wird die höchste Tugend, die Resignation, jedes einzelnen dabei befördert – hohes gesellschaftliches Leben in Europa!

Und durch wie glorreiche Mittel 16 man dahin gekommen! »daß die Macht der Monarchie in gleichem Schritt mit der Entkräftung einzelner Glieder und derStärke des Söldnerstandes gewachsen! durch welche Mittel sie ihre Vorrechte erweitert, ihre Einkünfte gemehret, ihre innern Feinde unterjocht oder gelenkt, ihre Grenzen verbreitet – das zeigt die mittlere und neuere, insonderheit die Vorgängerin von ganz Europa, die französische Geschichte.« Glorreiche Mittel, und der Zweck wie groß: Waage Europas! Glückseligkeit Europas! Auf der Waage und in der Glückseligkeit bedeutet jedes einzelne Sandkorn ohne Zweifel viel! – –

»Unser System des Handels!« Ob man sich etwas über das Verfeinte der allumfassenden Wissenschaft denke? Was waren's für elende Spartaner, die ihreHeloten zum Ackerbau brauchten, und für barbarische Römer, die ihre Sklaven in die Erdgefängnisse einschlossen! In Europa ist die Sklaverei abgeschafft 17, weil berechnet ist, wieviel diese Sklaven mehr kosteten und weniger [348] brächten als freie Leute: nur eins haben wir uns noch erlaubt, drei Weltteile als Sklaven zu brauchen, zu verhandeln, in Silbergruben und Zuckermühlen zu verbannen – aber das sind nicht Europäer, nicht Christen, und dafür bekommen wir Silber und Edelgesteine, Gewürze, Zucker und – heimliche Krankheit: also des Handels wegen und zur wechselseitigen Bruderhülfe und Gemeinschaft der Länder!

»System des Handels!« Das Große und Einzige der Anlage ist offenbar! Drei Weltteile durch uns verwüstet und polizieret und wir durch sie entvölkert, entmannet, in Üppigkeit, Schinderei und Tod versenkt: das ist reich gehandelt und glücklich. Wer ist, der nicht an der großen Ziehwolke, die Europa aussaugt, Anteil haben, sich in sie drängen und, kann er nicht andere, seine eigne Kinder als größter Handelsmann entleeren müßte? – Der alte Name Hirt der Völker ist in Monopolisten verwandelt – und wenn die ganze Wolke mit hundert Sturmwinden denn bricht – großer Gott Mammon, dem wir alle jetzt dienen, hilf uns! –

»Lebensart und Sitten!« Wie elend, als es noch Nationen und Nationalcharakter gab. 18 was für wechselseitiger Haß, Abneigung gegen die Fremden, Festsetzung auf seinen Mittelpunkt, väterliche Vorurteile, Hangen an der Erdscholle, an der wir geboren sind und auf der wir verwesen sollen! einheimische Denkart! enger Kreis von Ideen – ewige Barbarei! Bei uns sind, gottlob! alle Nationalcharaktere ausgelöscht! wir lieben uns alle, oder vielmehr keiner bedarf's, den andern zu lieben; wir gehen miteinander um, sind einander völlig gleich – gesittet, höflich, glückselig! haben zwar kein Vaterland, keine Unsern, für die wir leben; aber sind Menschenfreunde und Weltbürger. Schon jetzt alle Regenten Europas, bald werden wiralle die französische Sprache reden! – Und denn – Glückseligkeit! es fängt wieder die güldne Zeit an, »da hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache! wird eine Herde und ein Hirte werden!« Nationalcharaktere, wo seid ihr?

»Lebensart und Sitten Europas!« Wie spät reifte in den gotischen Zeiten des Christentums die Jugend: kaum im dreißigsten Jahre mündig: man verlor den halben Teil seines Lebens in einer elenden Kindheit. Philosophie, Erziehung und gute Sitten, welche neueSchöpfung habt ihr geschaffen! Wir sind jetzt im dreizehnten Jahre reif, und durch stumme und laute Sünden im zwanzigsten verblühet. Wir genießen das Leben, recht in der Morgenröte und schönsten Blüte!

[349] »Lebensart und Sitten Europas!« Welche gotische Tugend Bescheidenheit, jugendliche Blödigkeit, Scham! 19 Frühe werden wir des zweideutigen, unbehülflichen Mantels der Tugend los; Gesellschaften, Frauenzimmer (die nun am meisten bei Scham entbehren! und die sie auch am wenigsten nötig haben!), selbst unsre Eltern wischen sie uns frühe von den Wangen oder, wenn das nicht, Lehrmeister guter Sitten! Wir gehen auf Reisen, und wer wird sein ausgewachsenes Kleid der Kindheit, außer Mode und Anstand, wiederbringen? Wir haben Dreustigkeit, Ton der Gesellschaft, Leichtigkeit, uns alles zu bedienen! schöne Philosophie! »Zärtlichkeit des Geschmacks und der Leidenschaften!« 20 Immer waren Griechen und Römer in ihrem Geschmacke noch wie grob! hatten am wenigsten den Ton des Umgangs mit dem schönen Geschlechte! Plato und Cicero konnten Bände Gespräche über Metaphysik und männliche Künste schreiben, und es sprach nie ein Weib. Wer sollte bei uns ein Stück, und wenn's auch Philoktet auf seiner wüsten Insel wäre, ohne Liebe aushalten! Voltaire – aber man lese, wie ernstlich er selbst für der Nachfolge gewarnet. Frauenzimmer sind unser Publikum, unsre Aspasien des Geschmacks und der Philosophie. Wir wissen Kartesianische Wirbel undNewtonische Attraktionen in ein Schnürleib einzukleiden: schreiben Geschichte, Predigten und was nicht mehr, für und als Weiber. Die feinere Zärtlichkeit unsres Geschmacks ist bewiesen.

»Schöne Künste und Wissenschaften!« 21 Die gröbern haben freilich die Alten, und zwar die elende unruhige Regimentsform, kleine Republiken, ausbilden können; aber seht auch, wie grob jene Beredsamkeit Demosthenes'! jenes griechische Theater! grob selbst jene gepriesene Antike! Und mit ihrer Malerei undMusik ist's gar nur aufgedunsnes Märchen und Zetergeheul gewesen. Die feinere Blüte der Künste hat auf die glückselige Monarchie gewartet! An den Höfen Ludwigs kopierte Corneille seine Helden, Racine seine Empfindungen: man erfand eine ganz neue Gattung der Wahrheit, der Rührung und des Geschmacks, von der die fabelhaften, kalten, prachtlosen Alten nichts gewußt – die Opera. Heil dir, Oper! du Sammelplatz und Wetteifer aller unsrer schönen Künste!

In der glückseligen Monarchie war's, wo's noch Erfindungen [350] gab. 22 Man erfand statt der alten pedantischen Universitäten glänzende Akademien. Bossuet erfand eine Geschichte, ganz Deklamation und Predigt und Jahrzahlregister, die den einfältigen Xenophon und Livius so weit übertraf: Bourdaloue erfand seine Redegattung, wie besser als Demosthen! Man erfand eine neue Musik – Harmonie, die keiner Melodie bedurfte, eine neue Baukunst, was jener unmöglich geglaubt, eine neue Säule – und was die Nachwelt am meisten bewundern wird, eine Architektur auf der Fläche und mit allen Produktionen der Natur – das Gartenwesen! voll Proportionen und Symmetrie! voll ewigen Genusses und ganz neue Natur ohne Natur. Heil uns! was konnten wir allein unter der Monarchie erfinden!

Am spätsten fing man an zu philosophieren. 23 Und wie neu! ohne System und Grundsätze, daß es frei bliebe, immer zu andrer Zeit auch das Gegenteil zu glauben. Ohne Demonstration! in Witz gehüllet: denn »alle strenge Philosophie hat nie die Welt gebessert« 24. Endlich gar – herrliche Erfindung! – in Mémoires und Wörterbüchern, wo jeder lesen kann, was und wieviel er will – und die herrlichste der herrlichen Erfindungen, das Wörterbuch, die Enzyklopädie aller Wissenschaften und Künste. »Wenn einst durch Feuer und Wasser alle Bücher, Künste und Wissenschaften untergehen; aus und an dir, Enzyklopädie! hat der menschliche Geist alles!« Was die Buchdruckerkunst den Wissenschaften, ist die Enzyklopädie der Buchdruckerkunst geworden 25: höchster Gipfel der Ausbreitung, Vollständigkeit und ewigen Erhaltung.

Nun sollte ich noch das Beste, unsre ungeheuren Fortschritte in der Religion, rühmen. Da wir gar dieLesarten der Bibel aufzuzählen angefangen! in den Grundsätzen der Ehre, seitdem wir das lächerliche Rittertum abgeschafft und Ordens zu Leitbändern der Knaben und Hofgeschenken erhoben – am meisten aber unsern höchsten Gipfel von menschlichen – Vater-, Weibs- und Kindestugenden rühmen – aber wer kann in einem solchen Jahrhunderte, als das unsre ist, alles rühmen! Gnug, wir sind »Gipfel des Baums! in himmlischer Luft webend: die goldne Zeit ist nahe!«

[351]

Dritter Abschnitt
Zusätze

Die Himmelsluft ist so erquickend, daß man gern zu lange über Wipfel und Bäumen schwebet: hinunter an den traurigen Boden, um etwa aufs Ganze oder Nichtganze einen Blick zu werfen.

Großes Geschöpf Gottes! Werk dreier Weltteile und fast sechs Jahrtausende! die zarte saftvolle Wurzel, der schlanke, blühende Sprößling, der mächtigeStamm, die starkstrebende verschlungne Äste, die luftigen, weit verbreiteten Zweige – wie ruhet alles aufeinander, ist auseinander erwachsen! – Großes Geschöpf Gottes! aber wozu? zu welchem Zwecke?

Daß offenbar dies Erwachsen, dieser Fortgang auseinander nicht »Vervollkommung im eingeschränkten Schulsinne sei, hat, dünkt mich, der ganze Blick gezeigt«. Nicht mehr Samenkorn, wenn's Sprößling, kein zarter Sprößling mehr, wenn's Baum ist. Über dem Stamm ist Krone; wenn jeder Ast, jeder Zweig derselben Stamm und Wurzel sein wollte – wo bliebe der Baum? Orientalier, Griechen, Römer waren nur einmal in der Welt, sollten die elektrische Kette, die das Schicksal zog, nur in einem Punkte, auf einer Stelle berühren! – Wir also, wenn wir Orientalier, Griechen, Römer auf einmal sein wollen, sind wir zuverlässig nichts.

»In Europa soll jetzt mehr Tugend sein als je in aller Welt gewesen?« Und warum? weil mehr Aufklärung darin ist – ich glaube, daß eben deshalb weniger sein müsse.

Was ist's, wenn man auch nur die Schmeichler ihres Jahrhunderts frägt, was ist diese mehrere Tugend Europas durch Aufklärung? – »Aufklärung! Wir wissen jetzt so viel mehr, hören, lesen so viel, daß wir so ruhig, geduldig, sanftmütig, untätig sind. – Freilich – freilich – zwar – und auch das noch; aber bei allem bleibt doch der Grund unsrer Herzen immer so weich!« Ewige Süßler, das heißt alles ja, wir sind dort oben die dünnen, luftigen Zweige, freilich bebend und flisternd bei jedem Winde; aber spielt doch der Sonnenstrahl so schön durch uns! stehn über Ast, Stamm und Wurzel so hoch, sehen so weit und – ja nicht vergessen, können so weit undschön flistern!

Ob man nicht sähe, daß wir alle Laster und Tugenden der vergangnen [352] Zeit nicht haben, weil wir – durchaus nicht ihren Stand, Kräfte und Saft, Raum und Element haben. Freilich kein Fehler, aber was erlügt man sich denn auch daraus Lob, Ungereimtheiten von Anmaßung? Was täuscht man sich mit unsern Mitteln der Bildung, als ob die das ausgerichtet? und nimmt alles zusammen, sich über den Tand seiner eignen Wichtigkeit zu hintergehen? Warum endlich trägt man den »Roman einseitiger Hohnlüge« denn in alle Jahrhunderte, verspottet und verunziert damit die Sitten aller Völker und Zeitläufte, daß ein gesunder, bescheidner, uneingenommner Mensch ja fast in allen sogenannt pragmatischen Geschichten aller Welt nichts endlich mehr als den ekelhaften Wust des »Preisideals seiner Zeit« zu lesen bekommt. Der ganze Erdboden wird Misthaufe, auf dem wir Körner suchen und krähen! Philosophie des Jahrhunderts!

»Wir haben keine Straßenräuber, keine Bürgerkriege, keine Untaten mehr« – aber wo, wie undwarum sollten wir sie haben? Unsre Länder sind so wohl poliziert, mit Landstraßen verhauen, mit Besatzungen verpropft, Äcker weislich verteilt, die weise Justiz so wachsam – wo soll der arme Spitzbube, wenn er auch Mut und Kraft zu dem rauhen Handwerke hätte, es treiben? warum es aber auch treiben? Er kann ja nach den Sitten unsres Jahrhunderts auf eine weit bequemere, gar ehrwürdige und glorreiche Weise Haus-, Kammer- und Betträuber werden – in diesen Bedienungen vom Staate besoldet werden – warum sich nicht lieber besolden lassen? warum das unsichre Handwerk – zu dem er – und darauf kommt's hinaus – weder Mut noch Kraft, noch Gelegenheit hat? Gnade Gott eurer neuen, freiwilligen Tugend!

Haben wir »keine bürgerlichen Kriege«, weil wir alle so zufriedene, allgesättigte, glückliche Untertanen sind? oder ist's nicht eben aus Ursachen, die oft gerade das Gegenteil begleiten? – »Kein Laster« – weil wir alle soviel hinreißende Tugend, Griechenfreiheit, Römerpatriotism, Morgenlandsfrömmigkeit, Ritterehre und alle im größten Maße – oder ist's nicht gerade, weil wir der allen keine haben und leider also auch ihre einseitige, verteilte Laster nicht haben können? Dünne schwankende Äste!

Und als solche ist's freilich mit unser Vorzug, »eben der matten, kurzsichtigen, allverachtenden, allein selbstgefälligen, nichts ausrichtenden und eben in der Unwürksamkeit trostvollen Philosophie« fähig zu sein. Morgenländer, Griechen und Römer waren's nicht.

Als solche ist's unser Vorzug, unsre Mittel der Bildung so bescheiden [353] zu schätzen und anzurechnen. Geistlicher Stand, daß die Welt nie so menschlich, theologisch aufgeklärt; weltlicher Stand, daß sie nie so menschlich, einförmig, gehorsam- und ordnungsvoll; unsre Gerechtigkeit daß sie nie so menschlich und friedeliebend – endlich unsere Philosophie, daß sie nie so menschlich und göttlich gewesen sei als jetzt – durch wen? – da zeigt jeder auf sich! »Wir sind die Ärzte, die Heilande, die Aufklärer, die neuen Schöpfer – die Zeiten des tollen Fiebers sind vor bei« – Nun ja, gottlob! und der schwindsüchtige Kranke liegt da so ruhig im Bette, wimmert und – – danket! Dankt; aber ob er auch danke? Und wenn er's täte; eben dieser Dank, könnte er nicht als Kennzeichen seiner Verfallenheit, Kleinmut und der zagendsten Menschheit eben gelten? Wie wenn sogar Empfindung eines andern Bessern mit dem Genusse entflohen wäre? daß ich mich selbst, da ich dies schreibe, vielleicht den giftigsten, höhnischten Seitabverzerrungen aussetze? Wenn's eben schon gnug wäre, daß wir denken, haben Manufakturen, Handel, Künste, Ruhe, Sicherheit und Ordnung – unsre Regierungen mit nichts mehr in sich zu kämpfen: unsre Staatsverfassungen werden groß! – so weiten Blick umher! – so weit umher, so ferne voraus spielend – welche Zeit konnte das? – Also! – so sprechen unsre Staats-, Handels- und Kunstgeschichte. – Man glaubt Satire zu lesen, und man liest nichts als treue Denkart. Was lohnt's, daß ich weiterrede? Wenn's bloß Sieche wäre und nicht zugleich Hindernis, das jedes Mittel dagegen aufhebet! – im Todesschweiße aber mit Opium träumen: warum den Kranken stören, ohne daß man ihm hilft?


Also vielmehr, was dem Kranken auch mehr gefallen wird. Wir sind bei dieser Fortrückung freilich auch auf unsrer Stelle Zweck des Schicksals.

Gemeiniglich ist der Philosoph alsdenn am meisten Tier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte: so auch bei der zuversichtlichen Berechnung von Vervollkommung der Welt. Daß doch ja alles hübsch in gerader Linie ginge und jeder folgende Mensch und jedes folgende Geschlecht in schöner Progression, zu der er allein den Exponenten von Tugend und Glückseligkeit zu geben wußte, nach seinem Ideal vervollkommet würde! Da traf's nun immer auf ihnzuhinterst: er das letzte, höchste Glied, bei dem sich alles endigt. »Sehet, zu solcher Aufklärung, Tugend, Glückseligkeit ist die Welt gestiegen! ich, hoch auf dem Schwengel! das goldne Zünglein der Weltwaage: sehet mich!«

[354] Und der Weise bedachte nicht, was ihn doch das leiseste Echo von Himmel zu Erde hätte lehren müssen, daß wahrscheinlich immer Mensch Mensch bleibe, nach der Analogie aller Dinge nichts alsMensch! Engel und Teufelgestalt im Menschen Romangestalten! – Er nichts als das Mittelding zwischen! trotzig und verzagt, in Bedürfnis strebend, inUntätigkeit und Üppigkeit ermattend, ohne Anlaß und Übung nichts, durch sie allmählich fortschreitend, beinah alles – Hieroglyphe des Guten und Bösen, wovon die Geschichte voll ist – Mensch! – immer nur Werkzeug!

– bedachte nicht, daß dies verborgne Doppelgeschöpf tausendfach modifiziert werden könne und nach dem Bau unsrer Erde fast müsse; daß es eine Schöpfung von Klima, Zeitumständen, mithin National- und Säkulartugenden gebe, Blüten, die unterdem Himmel wachsen und fast von nichts gedeihen, dort aussterben oder elend falben (eine Physik der Geschichte, Seelenlehre und Politik, woran ja unser Jahrhundert schon so viel gedichtet und gebrütet hat!); daß es dies alles geben könne und müsse, von innen aber unter der vielfach veränderten Schlaube immer noch derselbe Kern von Wesen und Glückfähigkeit aufbewahrt sein könne, und nach aller menschlichen Erwartung fast sein werde.

– bedachte nicht, daß es unendlich mehr Fürsorge des Allvaters zeige, wenn dies geschähe; wenn in der Menschheit ein unsichtbarer Keim der Glücks- und Tugendempfänglichkeit auf der ganzen Erde und in allen Zeitaltern liege, der, verschiedlich ausgebildet, zwar in verschiednen Formen erscheine, aber innerlich nur ein Maß und Mischung von Kräften.

– bedachte endlich nicht – allwissendes Geschöpf! –, daß mit dem Menschengeschlecht ein größerer Plan Gottes im Ganzen sein könne, den eben ein einzelnes Geschöpf nicht übersiehet, eben weil nichts auf etwas bloß einzelnes, zumal nicht auf denPhilosophen oder Thronsitzer des achtzehnten Jahrhunderts als letzte Endlinie liefe – weil etwa noch alle Szenen, in deren jeder jeder Schauspieler nur Rolle hat, in der er streben und glücklich sein kann – alle Szenen noch etwa ein Ganzes, eine Hauptvorstellung machen können, von der freilich der einzelne, eigennützige Spieler nichts wissen und sehen, die aber derZuschauer im rechten Gesichtspunkte und in ruhiger Abwartung des Folgeganzen wohl sehen könnte. –

Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde – was ist Mittel? was ist Zweck? nicht alles Mittel zuMillionen Zwecken? nicht [355] alles Zweck von Millionen Mitteln? Tausendfach die Kette der allmächtigen, allweisen Güte in- und durcheinandergeschlungen; aber jedes Glied in der Kette an seinem Orte Glied – hängt an Kette und sieht nicht, wo endlich die Kette hange. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt, fühlt alles im Wahne um sich nur sofern, als es Strahlen auf diesen Punkt oder Wellen geußt – schöner Wahn! Die große Kreislinie aber aller dieser Wellen, Strahlen und scheinbaren Mittelpunkte – wo? wer? wozu?

In der Geschichte des menschlichen Geschlechts wär's anders? auch mit allen Wellen und Folgezeiten anders als eben der »Bauplan allmächtiger Weisheit?« Wenn das Wohnhaus bis aufs kleinste Behör »Gottesgemälde« zeiget – wie nicht die Geschichte seines Bewohners? Jenes nur Dekoration! Gemälde in einem Auftritte, Ansicht! Dies ein »unendliches Drama von Szenen! Epopee Gottes durch alle Jahrtausende, Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel, voll eines großen Sinns!« –

Daß dieser Sinn, dieser Allanblick wenigstensaußer dem Menschengeschlechte liegen müsse – Insekt einer Erdscholle, siehe wieder auf Himmel und Erde! Findest du im ganzen, tot und lebendig auf einmal webenden Weltall dich den ausschließenden Mittelpunkt, auf den alles würke? oder würkest du nicht selbst mit (wo, wie, und wenn! – wer hat dich darum gefragt?) zu höhern, dir unbekannten Zwecken? zu Zwecken, zu denen der Morgenstern und die kleine Wolke neben ihm, du und der Wurm mitwürkt, den du jetzt zertrittst? Das nun in der großen, allweitenZusammenwelt eines Augenblicks unleugbar und unerforschlich: in der großen, allweiten Folgewelt, in allen Begebenheiten und Fortwickelungen des Menschengeschlechts, in dem Drama, voll Weisheit undKnote des Erfinders, kannst du da etwas minder und anders vermuten? Und wenn dir das Ganze ein Labyrinth wäre, mit hundert Pforten verschlossen, mit hundert geöffnet – der Labyrinth ist »Palast Gottes, zu seiner Allerfüllung, vielleicht zu seinem Lustanblicke, nicht zu deinem!«

Abgrund die ganze Welt, der Anblick Gottes ineinem Momente – Abgrund, worin ich von allen Seiten verloren stehe! sehe ein großes Werk ohne Namen, und überall voll Namen! voll Stimmen und Kräfte! Ich fühle mich nicht an dem Orte, wo die Harmonie aller dieser Stimmen in ein Ohr tönt, aber was ich hier an meinem Orte von verkürztem, verwirrenden Schalle höre, soviel weiß und höre ich gewiß, hat auch was Harmonisches! tönt auch zu Lobgesang im Ohre dessen, für den Raum [356] und Zeit nichts sind. – Menschenohr weilet wenige Augenblicke, hört auch nur wenige Töne, oft nur ein verdrüßliches Stimmen von Mißtönen, denn es kam dies Ohr eben zur Zeit des Stimmens und traf unglücklicherweise vielleicht in den Wirbelwind eines Winkels. Der aufgeklärteMensch der spätern Zeit Allhörer nicht bloß will er sein, sondern selbst der letzte Summenton aller Töne! Spiegel der Allvergangenheit und Repräsentant desZwecks der Komposition in allen Szenen! – Das altkluge Kind lästert; ei, wenn's vielleicht gar nur Nachhall des letzten, übriggebliebnen Sterbelauts wäre oder ein Teil des Stimmens! –

Unter dem großen Baume Allvaters 26, dessen Gipfel über alle Himmel, dessen Wurzeln unter Welten und Hölle reichen: bin ich Adler auf diesem Baume? bin der Rabe, der auf seiner Schulter ihm täglich denAbendgruß der Welten zu Ohr bringt? – welch eine kleine Laubfaser des Baums mag ich sein! kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten!

Was ich auch sei! Ruf von Himmel zu Erde, daß, wie alles, so auch ich an meiner Stelle etwas bedeute. Mit Kräften ausgespart zum Ganzen und ja nur mitGefühl der Glückseligkeit auch nach Maß dieser Kräfte! Wer meiner Brüder hatte Vorrecht, ehe er war? und wenn's Zweck und Zusammenstimmung des Hausrats foderte, daß er Gold-, ich Erdegefäß wurde – ich nun eben Erdegefäß auch in Zweck, Klang, Dauer, Gefühl und Tüchtigkeit, kann ich mit dem Werkmeister streiten? Ich bin nicht übergangen, niemand vorgezogen; Fühlbarkeit, Tätigkeit und Tüchtigkeit des Menschengeschlechts ist verteilt. Hier reißt der Strom ab, dort setzt er an. Wem viel gegeben ist, der hat auch viel zu leisten. Wer mit viel Sinnen erquickt wird, hat mit viel Sinnen zu streben – Ich glaube nicht, daß ein Gedanke, mit dem, was er sagt und verschweigt, was er in Ansicht gibt und worüber er Himmelsdecke ziehet, größere Empfindung gebe, als dieser, im Lichte der ganzen Geschichte!


Daß er darin erscheine, dahin läuft wenigstens mein Wunsch, die große olympische Rennbahn! Ist unser Zeitalter in irgendeiner Absicht edel nutzbar, so ist's »seine Späte, seine Höhe, seine Aussicht!« Was Jahrtausende durch auf dasselbe bereits zubereitet worden! wodurch es wieder in so höherm Sinn auf ein anderes zubereite! die Schritte gegen und von ihm – Philosoph, willt du den Stand deines Jahrhunderts ehren und nutzen: das Buch der Vorgeschichte [357] liegt vor dir! mit sieben Siegeln verschlossen; ein Wunderbuch voll Weissagung: auf dich ist das Ende der Tage kommen! lies!

Dort Morgenland! die Wiege des Menschengeschlechts, menschlicher Neigungen und aller Religion. Wenn Religion in aller kalten Welt verachtet und verglüht sein sollte: ihr Wort dorther, Feuer- und Flammengeist dorther webend. 27 Mit Vaterwürde und Einfalt, die insonderheit noch immer »das Herz des unschuldigen Kindes« wegführt! Kindheit desGeschlechts wird auf Kindheit jedes Individuum würken: der letzte Unmündige noch im ersten Morgenlande geboren!

Die Jünglinge aller sogenannten feinen Literatur und Kunst sind die Griechen; was weiter liegt, ist dem Gesichte des Jahrhunderts vielleicht zu tief, zu kindisch; aber sie in der rechten Morgenröte der Weltbegebenheiten, was haben sie auf all ihre Nachzeit gewürkt! – Die schönste Blüte des menschlichen Geistes, des Heldenmuts, der Vaterlandsliebe, des Freigefühls, der Kunstliebhaberei, des Gesanges, desTons der Dichtung, des Lauts der Erzählung, desDonners der Beredsamkeit, des Aufbruchs aller bürgerlichen Weisheit, wie es jetzt ist, ist ihr. Sie dahin gestellet: ihnen Himmel, Land, Verfassung, ein glücklicher Zeitpunkt gegeben: sie bildeten, erfanden, nannten: wir bilden und nennen noch nach – ihr Jahr hundert hat ausgerichtet! – aber nur einmal ausgerichtet! Da Menschengeist mit allen Kräften es zumzweitenmal wecken wollte – der Geist war Staub; der Sprößling blieb Asche: Griechenland kam nicht wieder.

Römer, die ersten Sammler und Austeiler der Früchte, die, anderweit vorher gewachsen, jetzt reif in ihre Hände fielen. Zwar mußten sie Blüte und Saft an seinem Orte lassen; aber Früchte teilten sie doch aus:Reliquien der uralten Welt im Römerkleide, nach Römerart, in Römersprache – wie, wenn alles unmittelbar aus Griechenland gekommen wäre? Griechengeist, Griechenbildung, Griechensprache? – wie alles anders in Europa! – Es sollte nicht! Griechenland, noch so entfernt dem Norden, in seinem schönen Archipelagus von Weltgegend: der menschliche Geist in ihm, noch so schlank und zart – wie sollt er mit allen Völkern ringen? ihnen seine Nachfolge aufzwingen? wie konnte die grobe nordische Schale den feinen Griechenduft fassen? Also Italien war dieBrücke: Rom die Mittelzeit der Härtung des Kerns und seiner Austeilung – selbst die heilige Sprache der neuchristlichen Welt war [358] ein Jahrtausend durch, mit allem was ihr anklebt, in ganz Europa römisch.

Selbst da Griechenland zum zweitenmal auf Europa würken sollte, konnt's nicht unmittelbar würken:Arabien ward der verschlämmte Kanal – Arabien der underplot zur Geschichte der Bildung Europas. Wenn, wie's jetzt ist, Aristoteles bestimmt war, seine Jahrhunderte allein zu herrschen und die Würme undModermotten der scholastischen Denkart in allem – zu erzeugen: wie, wenn's Schicksal gewesen wäre, daß Plato, Homer, die Dichter, Geschichtschreiber, Redner früher hätten würken können? – wie alles unendlich anders! Es war nicht bestimmt. Der Kreis sollte dort hinüber: die arabische Religion und Nationalkultur haßte diese Blumen: vielleicht hätten sie in Europa derzeiten auch noch nicht gedeihet, da sich gegenteils aristotelische Spitzfündigkeit und mohrischer Geschmack so wohl mit dem Geiste der Zeit vertrug – Schicksal!

In Europa sollte das Gewächs der alten Weltjahrhunderte nur gedörret und abgekeltert werden; aber von da aus unter die Völker der Erde kommen: wie sonderbar nun, daß sich Nationen auf die Stätte zur Arbeit drangen, ohne zu wissen, wie? und wozu? Das Schicksal rief sie zum Geschäfte in den Weinberg; nach und nach, jeden zu seiner Stunde. Alles war schon erfunden, gefühlt, fein ersonnen, was vielleicht ersonnen werden konnte: hier ward alles nun in Methode, in Form der Wissenschaft geschlagen – und denn kamen nun eben die neuen, kältesten mechanischen Erfindungen hinzu, die es ins Große spielten:Maschinen der kalten europäisch-nordischen Abstraktion, für die Hand des Allenkers große Werkzeuge! Da liegen nun die Samenkörner fast unter allen Nationen der Erde: wenigstens allen bekannt, allenzugangbar: werden sie haben, wenn ihr Zeitpunkt kommt. Europa hat sie gedörret, aufgefädelt, verewigt – sonderbarer Ball! Was hast du kleiner nordischer Weltteil, einst Abgrund von Hainen und Eisinseln, auf dem Balle werden müssen! – was wirst dunoch werden!

Die sogenannte Aufklärung und Bildung der Welt hat nur einen schmalen Streif des Erdballs berührt und gehalten: auch können wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande und Umlaufe ändern, ohne daß sich zugleich alles ändert. Wie, wenn z.E. allein die Einführung der Wissenschaften, der Religion, der Reformation anders gewesen wäre? – sich die nordischen Völker anders gemischt, anders gefolgt wären? nicht das Papsttum so lange Vehikulum sein müssen? – was könnt ich nicht noch zehnfach mehr fragen? – Träume!

[359] Es war nicht: und hintennach können wir immer etwas durchblicken, warum es nicht war. Freilich aber ein kleines Etwas!

Auch sieht man, warum eigentlich keine Nationhinter der andern, selbst mit allem Zubehör derselben, jemals worden ist, was die andre war. Mochten alle Mittel ihrer Kultur dieselbe sein: Kultur nimmer dieselbe, weil allemal schon alle Einflüsse der alten, jetzt veränderten Natur dazu fehlten. Griechenwissenschaften, die die Römer an sich zogen, wurden römisch; Aristoteles ein Araber und Scholastiker; und mit den Griechen und Römern der neuen Zeiten – welche elende Sache! Marsilius, du bist Plato? Lipsius, du Zeno? Wo sind deine Stoiker? deine Helden, die dort so viel taten? Alle ihr neuen Homere, Redner und Künstler – wo ist eure Welt der Wunder?

Auch in kein Land hat die Bildung ihren Rücktritt nehmen können, daß sie zum zweitenmal geworden wäre, was sie war – der Weg des Schicksals ist eisern und strenge: Szene der Zeit, der Welt war schon vorüber; Zwecke, wozu sie sein sollten, vorbei – kann der heutige Tag der gestrige werden? Werden, da derGang Gottes unter die Nationen mit Riesenschritte fortgeht, kindische Rückpfade von Menschenkräften bewürkt werden können? – Ihr Ptolomäen konntet nicht wieder Ägypten schaffen! ihr Hadriane nichtGriechenland wieder! noch Julian Jerusalem! – Ägypten, Griechenland und du Land Gottes! wie elend liegt ihr, mit nackten Bergen, ohne Spur und Stimme des Genius, der voraus auf euch gewandelt und in alle Welt sprach – warum? er hat ausgesprochen! Sein Druck auf die Zeiten ist geschehen: das Schwert ausgebraucht, und die zerstückte leere Scheide liegt da! Das wäre Antwort auf so viel un nütze Zweifel, Bewunderungen und Fragen.


»Gang Gottes über die Nationen! Geist der Gesetze, Zeiten, Sitten und Künste, wie sie sich einander gefolgt, zubereitet! entwickelt und vertrieben!« hätten wir doch einen solchen Spiegel des Menschengeschlechts in aller Treue, Fülle, und Gefühl der Offenbarung Gottes. Vorarbeiten gnug; aber alles in Schlaube und Unordnung! Wir haben unser jetziges Zeitalter fast aller Nationen und so die Geschichte fast aller Vorzeiten durchkrochen und durchwühle, ohne fast selbst zu wissen, wozu wir sie durchwühlt haben. Historische Fakta und Untersuchungen, Entdeckungen und Reisebeschreibungen liegen da: wer ist, der sie sondere und sichte?

[360] »Gang Gottes über die Nationen!« Montesquieus edles Riesenwerk hat nicht durch eines Mannes Hand werden können, was es sein sollte. Ein gotisches Gebäude im Philosophischen Geschmack seines Jahrhunderts, Esprit! oft nichts weiter! aus Stelle und Ort gerissen und auf drei oder vier Marktplätze, unter das Panier drei elender Allgemeinörter – Worte! – dazuleerer, unnützer, unbestimmter, allverwirrender Espritworte! hingetrümmert. Durchs Werk also ein Taumel aller Zeiten, Nationen und Sprachen, wie um den Turm der Verwirrung, daß jedweder seinen Bettel, Reichtum und Ranzen, an drei schwache Nägel hange – Geschichte aller Völker und Zeiten, dies große lebendige Werk Gottes auch in seiner Folge, ein Ruinenhaufen von drei Spitzen und Kapseln – aber freilich auch sehr edler, würdiger Materialien –Montesquieu!

Wer, der uns den Tempel Gottes herstelle, wie er in seinem Fortgebäude ist, durch alle Jahrhunderte hindurch! Die ältesten Zeiten der Menschenkindheit sind vorbei; aber Reste und Denkmäler gnug da – die herrlichsten Reste, Unterweisung des Vaters selbst an diese Kindheit – Offenbarung! Sagst du, Mensch, daß sie dir zu alt sei in deinen zu klugen, altgreisen Jahren – siehe um dich! – der größte Teil von Nationen der Erde ist noch in Kindheit, reden alle noch die Sprache, haben die Sitten, geben die Vorbilder des Grads der Bildung – wohin du unter sogenannte Wilde reisest und horchest, tönen Laute zur Erläuterung der Schrift! wehen lebendige Kommentare der Offenbarung!

Die Abgötterei, die die Griechen und Römer so viel Jahrhunderte genossen, der oft fanatische Eifer, mit dem alles bei ihnen aufgesucht, ins Licht gesetzt, verteidigt, gelobt worden – welch große Vorarbeiten und Beiträge! Wenn der Geist der übertriebnen Verehrung wird gedämpft, die Parteilichkeit, mit der ein jeder sein Volk, als eine Pandora, liebkoset, gnug ins Gleichgewicht gebracht sein – ihr Griechen und Römer, denn werden wir euch kennen und ordnen!

Es hat sich ein Nebenweg zu den Arabern gezeigt, und eine Welt von Denkmälern liegt da, um sie zu kennen. Es haben sich, obwohl zu ganz andern Zwecken, Denkmäler der mittlern Geschichte vorgefunden, teils wird sich, was noch im Staube liegt (wenn alles von unsrer aufgeklärten Zeit so gewiß zu hoffen wäre!), gewiß bald, vielleicht in einem halben Jahrhunderte Enden. Unsre Reisebeschreibungen mehren und bessern sich: alles läuft, was in Europa nichts zu tun hat, mit einer Art philosophischer Wut über die Erde – wir sammlen »Materialien aus aller Welt[361] Ende« und werden in ihnen einst finden, was wir am wenigsten suchten, Erörterungen der Geschichte der wichtigsten menschlichen Welt.

Unsre Zeit wird bald mehrere Augen öffnen: uns zeitig gnug wenigstens idealische Brunnquellen für den Durst einer Wüste zu suchen treiben – wir werden Zeiten schätzenlernen, die wir jetzt verachten – das Gefühl allgemeiner Menschheit und Glückseligkeit wird rege werden: Aussichten auf ein höheres alsmenschlich Hiesein wird aus der trümmervollen Geschichte das Resultat werden, uns Plan zeigen, wo wir sonst Verwirrung fanden: alles findet sich an Stelle und Ort – Geschichte der Menschheit im edelsten Verstande – du wirst werden! So lange lasset also den großen Lehrer und Gesetzgeber der Könige führen und verführen. Er hat so schönes Vorbild gegeben, mit zwei, drei Worten alles zu messen, auf zwei, drei Regimentsformen, denen man's leicht ansieht, wannen und wie eingeschränktes Maßes undZeitraums sie sind – auf sie alles hinzuführen. Wie angenehm, ihm im Geiste der Gesetze aller Zeiten und Völker und nicht seines Volks zu folgen – auch das ist Schicksal. Man hat oft lange den Fadenknäul in der Hand, freut sich, daran bloß einzeln rupfen zu können, um ihn nur mehr zu wirren! Eine glückliche Hand, die das Gewirre an einem Faden sanft und langsam zu entwickeln Lust hat – wie weit und eben läuft der Faden! Geschichte der Welt! dahin denn jetzt die kleinsten und größten Reiche und Vogelnester streben. –


Alle Eräugnisse unsrer Zeit sind auf großer Höhe und streben weit hinaus – mich dünkt, in beiden liegt der Ersatz dessen, daß wir freilich als einzelne mit wenigerer Kraft und Freudegefühl würken können. Also würklich Aufmunterung und Stärke.

Du kannst, Sokrates unsrer Zeit! nicht mehr wie Sokrates würken: denn dir fehlt der kleine, enge, starkregsame, zusammengedrängte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten, Sitten und des Nationalcharakters! die Bestimmtheit deiner Sphäre! – Erdbürger und nicht mehr Bürger zu Athen, fehlt dir natürlich auch die Ansicht dessen, was du in Athen tun sollt: das sichere Gefühl dessen, was du tust: die Freudempfindung von dem, was du ausgerichtet habest – dein Dämon! Aber siehe! wenn du wie Sokrates handelst, demütig Vorurteilen entgegenstrebest, aufrichtig, menschenliebend, dich selbst aufopfernd, Wahrheit und Tugend ausbreitest, wie du kannst – Umfang deiner Sphäre ersetzt vielleicht [362] das Unbestimmtere undVerfehlende deines Beginnens! Dich werden hundert lesen und nicht verstehen: hundert und gähnen: hundert und verachten: hundert und lästern: hundert und die Drachenfesseln der Gewohnheit lieber haben und bleiben, wer sie sind; aber bedenke, noch vielleichthundert überbleiben, bei denen du fruchtest: wenn du lange verweset bist, noch eine Nachwelt, die dich lieset und besser anwendet. Welt und Nachwelt ist dein Athen! rede!

Welt und Nachwelt! Ewiger Sokrates, würkend und nicht bloß die tote Büste mit Pappellaube bekränzt, wie wir's Unsterblichkeit nennen! Jeder sprach anschaulich, lebendig, im engen Bezirke: und sein Wort fand eine so gute Stelle. – Xenophon undPlato dichteten ihn in ihre Denkbücher und Gespräche: es waren nur Manuskripte, zum Glück für uns besser als hundert andre, dem wegschwemmenden Strom der Zeit entronnen. Was du schreibst, sollte Wort für Wort Welt und Ewigkeit wert sein, weil du (wenigstens Materialien und Möglichkeit nach) für Welt und Ewigkeit schreibest. In wessen Hand kann deine Schrift kommen! im Kreise wie würdiger Männer und Richter solltest du reden! Tugend lehren, in dem Lichte und Klarheit, wie's Sokrates in seinem Alter noch nicht konnte! zur Menschenliebe anmuntern, die, wenn sie sein könnte, wahrhaftig mehr alsVaterlands- und Bürgerliebe wäre! Glückseligkeit auch in Zuständen, auch unter Situationen verbreiten, wie jene mit den dreißig Heilanden des Vaterlands, denen auch ihre Statuen gesetzt waren, kaum sein mochten – Sokrates der Menschheit!

Lehrer der Natur! was kannst du mehr sein alsAristoteles und Plinius! wie weit mehr sind dir Wunder und Werke geöffnet! was für Hülfsmittel, sie denAugen andrer zu öffnen, die jene nicht hatten! auf welcher Höhe stehest du! Gedenke Newtons! was der einige Newton fürs Ganze des menschlichen Geistes gewürket! was das alles allweit gewürket, geändert, gefruchtet! zu welcher Höhe er sein ganzes Geschlecht gehoben! – – Du stehest auf der Höhe! strebest, statt die große Schöpfung Gottes in ein klein Gebäude deines Kopfs von Kosmogonie, Tierentstehung, Formenbildung u. dgl. 28 zu verengen, bloß dem Strome der Gotteskraft nach, sie in allen Formen, Gestalten und Schöpfungen tief und treu zu fühlen, zu fühlen zu geben, dem Schöpfer zu dienen und nicht dir – Bote der Herrlichkeit durch alle Reiche der Wesen! Nur von dieser Zeithöhe [363] konntest du den Himmelsflug nehmen, entdecken, mit der Fülle undAdel und Weisheit reden! mit der unschuldigen, mächtigen, allgütigen Gottesansicht Menschenherzen erquicken, die aus keiner andern Pfütze erquickt werden konnten. Das tust du für Welt und Nachwelt! Freilich unter allen Entdeckern und Forschern nureiner, ein kleiner Name! aber für Welt und Nachwelt! und wie hoch! wie herrlich – als es Plinius und Aristoteles nicht konnten – Engel Gottes in deiner Zeit!

Was für hundert mehrere Mittel hat Arzt und Menschennaturkenner jetzt als Hippokrates und Machaon! in Vergleich dieser gewiß Sohn Jupiters, Gott! Und wie? wenn er's nun auch mit aller Empfindung jener menschlichern Zeiten würde! Gott, Entdecker und Heiland dem Siechen an Leib und Seele! rettend hier einen Jüngling, der jetzt unter den ersten Rosen des Lebens, die er zu brechen glaubte, eine Feuerschlange fand – ihn (er kann's vielleicht allein!) ihm selbst, Eltern, der Nachkommenschaft, die durch uns leben- oder todvolles Dasein erwartet, der Welt, der Tugend wiedergebe! Unterstützte hier den Mann, der ein Opfer seiner Verdienste durch Arbeit oder Gram ward, schenkte ihm die süßeste Belohnung, die erjetzt doch nur oft als ganzen Dank für sein Leben genießen konnte, ein heitres Alter! rettet ihn – vielleicht die einzige Säule gegen hundert Unfälle der Menschheit, die den letzten Blick seiner Augen begleiten werden, nur einige Jahre vom Grabe! Das Gute dieser Jahre sein: das Tröstende, Heitre, was dieser Totenerweckte verbreitet, sein! in Zeiten, wo ein geretteter Mann so viel tun und wo auch die unschuldigere Menschheit auf wie hundert Weisen so elend erliegen kann – was bist du in den Zeiten, Arzt mit menschlichem Herzen!

Was soll ich alle Stände und Klassen durchgehen, der Gerechtigkeit, der Religion, der Wissenschaften, einzelner Künste – je höher jede in ihrer Art ist, jeweiter sie würken kann, wie besser und lieber! Eben weil du nur freiwillig so würken mußtest, weil nichts dich foderte oder zwang, in deinem Stande und Klasse so gut und groß und edel zu handeln: eben weil dich nichts so gar weckte und vielmehr alles zudrang, dich zu einem bloß mechanischen Diener deiner Kunst zu machen und jede tiefere Empfindung einzuschläfern – vielleicht dies Ungewöhnliche, das dir statt Lorbeer gar Dornen auf dein Haupt pflanzte – um so reiner, stiller, göttlicher ist deine verborgne, geprüftere Tugend: ist mehr als jene Tugend andrer Zeiten, die, von Antrieben und Belohnungen [364] geweckt, am Ende doch nur Bürgerzubehör war und edle Pracht des Körpers! Die deine ist Lebenssaft des Herzens.

Wie müßte ich reden, wenn ich das Verdienst derer beschreiben wollte, die würklich Säulen oder Angeln unsres Jahrhunderts sind, um die sich alles bewegt. Regenten! Hirten! Pfleger der Völker! – ihre Kraft mit den Triebfedern unsrer Zeit ist halbe Allmacht! Schon ihr Bild, ihr Anschauen, ihr Belieben, ihreschweigende, nur geschehen lassende Denkart – sagt ihnen ihr Genius nur, daß sie zu was Edlerm da sind, als mit einer ganzen Herde als Maschine zu eignen – es sei auch so glorreichen Zwecken – zu spielen diese Herde auch, als Zweck! zu weiden, wenn mehr, für ein größeres Ganze der Menschheit zu sorgen – Regenten, Hirten Pfleger der Völker! den Zepter der Allmacht in ihrer Hand! mit wenigen Menschenkräften! in Jahren! durch bloße Absicht und Aufmunterung, wie unendlich mehr zu tun, als jener Mogul auf seinem goldnen Throne tut oder jener Despot auf einem Thron Menschenköpfe jetzt tun will! Wer unter bloß politischen Absichten erliegt, ist vielleicht im höchsten Stande so gemeinere Seele als jener Linsenwerfer, nur glücklich, geworfen zu haben, oder jener Flötenspieler, der nur die Löcher trifft –

Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Herde, Vater, Mutter in der armen Hütte! Auch dir sind tausend Antriebe und Lockungen genommen, die dir einst deinVatergeschäft zum Himmel machten. Kannst dein Kind nicht bestimmen! wird dir frühe, vielleicht in der Wiege schon, mit einer Ehrenfessel der Freiheit – höchstes Ideal unsrer Philosophen! – gezeichnet kannst's nicht für väterlichen Herd, Vatersitten, Tugend und Dasein erziehen – es mangelt dir also schon immer Kreis und, da alles verwirret ist und läuft, dieerleichternste Triebfeder der Erziehung, Absicht. Mußt besorgen, daß, sobald es dir aus den Händen gerissen wird, es mit einmal ins große Lichtmeer des Jahrhunderts, Abgrund! sinke – versunknes Kleinod! unwiederbringliche Existenz einer Menschenseele! Der blütenreiche Baum, zu früh aus seiner Muttererde gerissen, in eine Welt von Stürmen verpflanzt, denender härteste Stamm oft kaum bestehet, vielleicht gar dahin eingepflanzt mit verkehrtem Ende, Gipfel statt Wurzel und die traurige Wurzel in der Luft – er droht dir in kurzem dazustehn, verdorret, scheußlich, Blüte und Frucht auf der Erde! – Verzweifle nicht im Hefen des Zeitalters! was dich auch drohe und hindere – erziehe. Erzieh um so besser sicherer, fester – für alleStände und Trübsale, wohin er geworfen [365] werde! fürStürme, die auf ihn warten! Untätig sein kannst du doch nicht: böse oder gut erziehen mußt du: gut – und wie größere Tugend! wie größerer Lohn also in jedem Paradiese leichterer Zwecke und einförmigerer Bildung. Wie nötiger hat jetzt die Welt einen der simplen Tugend Erzognen, als sie's jemals hatte! Wo alle Sitten gleich und alle gleich eben, recht und gut sind – was braucht's Mühe! Gewohnheit erzieht und Tugend verliert sich in bloße Gewohnheit. Aber hier! Ein leuchtender Stern in der Nacht! Demant unter Haufen Erde- und Kalksteine! Einen Menschen unter Scharen Affen und politischer Larven – wie viel kann er weiter bilden durchs stille, göttliche Beispiel! Wellen um und nach sich verbreiten vielleicht in die Zukunft! – Zudem denke, wie reiner deine Tugend und edler! mehrere und größere Hülfsmittel der Erziehung von gewissen Seiten, je mehr dir und deinem Jünglinge äußere Triebfedern auf der andern Seite fehlen! – denke, zu welcher höhern Tugend du ihn erziehest, als zu der Lykurg und Plato erziehen konnten und durften! – das schönste Zeitalter für die stille, verschwiegne, meist verkannte, aber so hohe, sich so weit verbreitende Tugend!

Das dünkt mich also immer gewiß: je weniger es in unserm Jahrhunderte geben mag ganz und groß Gute, je schwerer die höchste Tugend uns werden muß und je stiller, verborgner sie anitzt nur werden kann – wo sie ist, um so höhere, edlere, vielleicht einmal unendlich nützliche und folgenschwangere Tugend! Indem wir uns meistens verlassen und verleugnen, können wir manche unmittelbare Belohnungen nicht genießen, streun das Samenkorn in die weite Welt hin, ohne zu sehen, wo es falle, wurzele, ob's auch da nur einmal zum Guten fruchte? Edler, ins Verborgne und Allweite zu säen, ohne daß man selbst Ernte erwartet! und gewiß um so größer die allweite Ernte! Dem wehenden Zephir vertraue den Samen: um so weiter wird er ihn fahren, und wenn einmal alle die Keime aufwachen, zu denen auch der edlere Teil unsres Jahrhunderts still und schweigend beitrug – in welche selige Zeit verliert sich mein Blick! –


Eben an Baumes höchsten Zweigen blühen und sprießen die Früchte – siehe da die schöne Voraussicht des größesten der Werke Gottes! Aufklärung – wenn sie uns gleich nicht immer zustatten kommt, wenn wir gleich bei größerer Oberfläche und Umfange an Tiefe und Grabung des Stroms verlieren: gewiß eben damit, daß wir uns einem großen Ozean, schon selbst ein kleines [366] Meer, nähern. Assoziierte Begriffe aus aller Welt: eine Kenntnis der Natur, des Himmels, der Erde, des Menschengeschlechts, wie sie uns beinah unser Universum darreichen kann – Geist derselben, Maße und Frucht bleibt für die Nachwelt. DasJahrhundert ist hinüber, da Italien unter Verwirrung, Unterdrückung, Meuterei und Betrug seine Sprache, Sitten, Poesie, Politik und Künste bildete – was gebildet wurde, hat sein Jahrhundert überlebt: würkte weiter und ward die erste Form Europens. Elend und Jammer, unter dem das Jahrhundert des französischen großen Königs seufzte, zum Teil vorüber: die Zwecke, zu denen er alles wollte und brauchte, vergessen, oder stehn als Puppen der Eitelkeit und Hohnlache müßig da: all seine eherne Meere, die er selbst trug, und die Wände, wo er immer selbst leibte, sind dem Gedanken jedwedes preisgegeben, der auch nicht dabei denken will, was Ludwig wollte – aber Geist der Künste, an ihnen geübt, ist blieben. Die Forschungen der Kraut- und Münz- und Edelstein- undWasserwaage- und Messungsreisen bleiben, wenn alles verfallen ist, was daran teilhatt, und was dadurch litt und wozu es sollte! Die Zukunft streift uns unsre Schlaube ab und nimmt den Kern. Der kleine Zweig hat nichts davon, aber an ihm hangen die lieblichen Früchte.

Wie nun? wenn einst alle das Licht, das wir in die Welt säen, womit wir jetzt viel Augen blenden, viel elend machen und verfinstern, allenthalben gemäßigtLebenslicht und Lebenswärme würde – die Masse von toten, aber hellen Kenntnissen, das Feld voll Beine, was auf, um und unter uns liegt, würde –woher? wozu? – belebt – befruchtet – welch neue Welt! wie glücklich, seiner Hände Werk in ihr genießen! Alles bis auf Erfindungen, Ergötzlichkeiten, Not, Schicksal und Zufall strebt, uns über eine gewisse gröbere Sinnlichkeit voriger Zeitalter zu erheben, uns zu einer höhern Abstraktion im Denken, Wollen, Leben und Tun zu entwöhnen – für uns nicht immer annehmlich, oft mißlich! Die Sinnlichkeit des Morgenlands, die schönere Sinnlichkeit Griechenlands, die Stärke Roms hinüber: und wie elend trösten uns unsre leidige Abstraktionströster und Sentenzen, worin uns oft schon Beweggründe, Triebfedern undGlückseligkeiten bestehen müssen: das Kind wird auch von einer letzten Sinnlichkeit hart entwöhnet – aber siehe das höhere Zeitalter, was vorwinkt. Kein Tor kann's leugnen, wenn die feinen Beweggründe, die höhere, himmlische Tugend, der abgezogenere Genuß irdischer Seligkeiten der menschlichen Naturmöglich ist: äußerst erhebend und veredelnd [367] ist sie! Vielleicht also, daß jetzt an dieser Klippe viele zugrunde gehen! Vielleicht und gewiß haben jetzt unendlich wenigere diese Fénelonsche Tugend als jeneSpartaner, Römer und Ritter die sinnliche Blüte ihres Welt- und Zeitgeists. – Die breiten Landstraßen werden immer engere Fußtritte und Steilhöhen, auf denen wenige wandeln können – aber Höhen sind's undstreben zum Gipfel! Welcher Zustand einmal auf dem krümmenden Schlangenwege der Vorsehung, wenn Haut und Hindernisse zurückgelassen, verjüngtes Geschöpf in neuem Frühlinge auflebet! – eine unsinnlichere, sich gleichere Menschheit! nun völlig Welt um sich, Lebenskraft und Principium, nach dem wir nur mühsam streben, in sich habend – welche Schöpfung! und wer, der die Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit davon zu leugnen hätte? Verfeinerung undläuternder Fortgang der Tugendbegriffe aus densinnlichsten Kindeszeiten hinauf durch alle Geschichte ist offenbar: Umherbreitung und Fortgang ins Weite offenbar: und das alles ohne Zweck? ohne Absicht?

Daß sich die Begriffe von menschlicher Freiheit, Geselligkeit, Gleichheit und Allglückseligkeit aufklären und verbreiten, ist bekannt. Für uns nicht sogleich von den besten Folgen, oft dem ersten Anscheine nach das Böse anfangs das Gute überwiegend: aber! –

Geselligkeit und leichter Umgang zwischen den Geschlechtern, hat er nicht die Ehre, Anständigkeit und Zucht beider Teile erniedrigt? für Stand, Geld und Artigkeit alle Schlösser der großen Welt aufgesprengt? die erste Blüte des männlichen und die edelsten Früchte des weiblichen Geschlechts in Ehe- und Mutterliebe und Erziehung haben wieviel gelitten? ihr Schade sich wohin fortverbreitet? – Abgrund unersetzlicher Übel! da selbst die Quellen der Besserung und Genesung, Jugend, Lebenskraft und bessere Erziehung, verstopft sind! – Die schlankern, also leicht umherspielenden Äste können nicht anders als in ihrem zu früh und unkräftigen Lebensspiele mitten im Sonnenstrahle verdorren! Unersetzlicher Verlust! – vielleicht für alle Politik unabhelfbar! für alle Menschenliebe nicht gnug zu beklagen – aber für die Hand der Vorsehung noch Werkzeug. Wenn hundert arme Geschöpfe hier mit vertrocknetem Gaum um die erste Quelle des Lebens, der Geselligkeit und Freude hinsinken, lechzen und verschmachten – die Quelle selbst, an denen sie sich unglücklich täuschten, läutert! Siehe, wie sie in spätern Jahren, vielleicht auchübertrieben, [368] nun andre Früchte der Ergötzlichkeit suchen, sich neue Welten idealisieren und mit ihrem Unheil die Welt bessern! Abgelebte Aspasien bildenSokrate: Ignaz seine Jesuiten: die Epaminondas aller Zeit erzeugen sich Schlachten bei Leuktra: Helden, Philosophen, Weise und Mönche von so unsinnlicher, höherer Tugend, Aufstrebung und Verdienstlichkeit – wie viele bloß aus diesem Grunde! Wer zum Nutzen der Welt berechnen und wägen will, tu's! Er hat große Summe von meistens nicht ungewissen Ausschlage vor sich: der Gang der Vorsehung geht auch über Millionen Leichname zum Ziel!

Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit, wie sie jetzt überall aufkeimen – sie haben in tausend Mißbräuchen Übels gestiftet und werden's stiften. Wiedertäufer und Schwärmer verwüsteten Deutschland zu Luthers Zeiten, und jetzt bei der allgemeinen Vermischung der Stände, bei dem Heraufdringen der Niedern an die Stelle welker, stolzer und unbrauchbarer Hohen, um in kurzem noch ärger als sie zu werden – die stärksten, notwendigsten Grundplätze der Menschheit werden leerer: die Masse verderbten Lebensafts tritt tief hinunter. Und wenn eine Vormundschaft dieses großen Körpers um eines zeitigen vermehrten Appetits oder eines scheinbaren Zusatzes von Kräften halber zusieht, lobt und befördert – oder wenn sie auch aufs ärgste sich widersetzte: den Grund der »fortgehenden Verfeinerung und des Aufdringens zu Räsonnement, Üppigkeit, Freiheit und Frechheit« wird sie nimmermehr leben. Wie sehr das wahre freiwillige Ansehen der Obrigkeit, Eltern und höchsten Stände in der Welt nur seit einem Jahrhunderte gefallen, ist bei einer kleinen Vergleichung unsäglich: auf zehnfache Weise tragen unsre kleine und große Große dazu weiterhin bei: Schranken und Schlagbäume niedergerissen: Vorurteile, wie es heißt, des Standes, der Erziehung, und ja der Religion unter die Füße getreten und zu ihrem Schaden selbst verspottet: wir werden alle – durch einerlei Erziehung, Philosophie, Irreligion, Aufklärung, Laster und endlich, zur Zugabe, durch Unterdrückung, Blutdurst und unersättliche Habsucht, die schon die Gemüter weckt und zum Selbstgefühl bringt werden wir alle – Heil uns! und nach vielen Unordnungen und Elende, Heil uns! was unsre Philosophie so rühmet und anstrebt – Herr und Knecht, Vater und Kind, Jüngling und die fremdeste Jungfrau, wir alle werden Brüder. Die Herren weissagen wie Kaiphas, aber freilich zuerst auf eigenen Kopf oder das Haupt ihrer Kinder!

[369] Wenn unsre »Menschenregierung« auch nichts mehr als schöne Hülle gewonnen hätte: den gutenSchein und Anschein? die Sprache, die Grundsätze und Gesinnungen und Ordnung, die jetzt jedes Buch und jeder junge Prinz, als ob er ein lebendiges Buch wäre, auf der Zunge führet – großer Fortgang. Versuche jemand, Machiavell und »Antimachiavell« zusammen zu lesen – Philosoph und Menschenfreund wird den Letzten verehren, seine unberührten mit Blumen und grünem Strauch bedeckte Moderstellen und unsondierte Wunden, wo man nicht auf den Grund kommen wollen und mögen, willig übersehen und sagen: welch ein Buch! welch ein Prinz, der wie das Buch dächte! nur eingestünde, anerkennte, wüßte, in beiläufigen Gesinnungen handelte, für Welt und Nachwelt welch ein Prinz! Statt grober, unmenschlich grausamer Tollheit könnten freilich Krankheiten herrschen, die ebenso drückend undschädlicher sind, weil sie schleichen, gepriesen und nicht erkannt werden und bis Mark und Bein in die Seele fressen. Das allgemeine Kleid von Philosophie und Menschenliebe kann Unterdrückungen verbergen, Eingriffe in die wahre, persönliche Menschen-und Landes-, Bürger- und Völkerfreiheit, wie Cäsar Borgia sie nur wünschte: alle das den angenommenen Grundsätzen des Jahrhunderts gemäß mit einem Anstande von Tugend, Weisheit, Menschenliebe undVölkervorsorge: da's also geschehen kann und fastmuß – Lobredner dieser Hüllen sein, als ob sie Taten wären, mag ich nicht: ohne Zweifel hätte auch Machiavell in unserm Jahrhunderte nicht geschrieben, wie er schrieb, und Cäsar in andern Beziehungen nicht handeln dürfen wie damals: im Grunde würde noch mit alledem nichts als Kleid geändert. Aber auch nur dies geändert, ist Wohltat. Daß in unserm Jahrhunderte jeder, der wie Machiavell schriebe, gesteinigt würde – Doch ich nehme mein Wort zurück – wer für die Tugend ärger als Machiavell schreibt, er wird nicht gesteinigt – er schreibt philosophisch, witzig, französisch und ja – ohne Religion. Also »wie unsereiner!« Und – desavouiert ja seine Schriften! –

Ausgelassenheit zu denken, wenn's nur mit gewissen Konvenientien des Wohlstands geschieht (der wahre Wohlstand darf um so ferner sein!), auch selbst auf diesem giftigen ausschweifenden Baume sprossen gute Früchte! Glaubt ihr nicht, daß dieser Sinn und Unsinn, den man jetzt gegen die Religion so ungescheuet saget, einst vortreffliche Würkungen haben werde? Von Erläuterungen, Rechtfertigungen undBeweisen der Religion abstrahiert, [370] die oft nicht viel beweisen, ich weiß nicht, welcher große Mann ein nächstes Jahrhundert des Aberglaubens prophezeite, weil das unsre sich in so dummen Unglauben erschöpfte. – Aber wie's auch laufe (und es wäre schlimm, wenn nur Aberglaube wieder den Unglauben abwechseln könnte und der ewige elende Kreislauf nicht weiterbrächte!), Religion, Vernunft und Tugend müssen durch die tollesten Angriffe ihrer Gegner unfehlbar einmal gewinnen! – Der Witz, die Philosophie, die Freiheit, zu denken, war gewiß zu diesem neuen Throne nur wider Wissen und Willen Gerüst: plötzlich einmal die Wolke zerteilet, und wenn sie denn dastehn wird in voller Glorie die alleuchtende Sonne der Welt. –

Auch der große Umfang und die Allgemeinheit, in der das alles läuft, sehen wir, kann dazu offenbar einunbekanntes Gerüste werden. Je mehr wir EuropäerMittel und Werkzeuge erfinden, euch andern Weltteile zu unterjochen, zu betrügen und zu plündern – vielleicht ist's einst eben an euch, zu triumphieren! Wir schlagen Ketten an, womit ihr uns ziehen werdet: dieumgekehrte Pyramiden 29 unsrer Verfassungen, werden auf eurem Boden aufrecht kommen, ihr mit uns – gnug, sichtbarlich geht alles ins Große! Wir umfassen, womit es sei, den Kreis der Erde, und was darauf folgt, kann wahrscheinlich nie mehr seineGrundlage schmälern! wir nahen uns einem neuen Auftritte, wenn auch freilich bloß durch Verwesung!

Eben daß sich unsre Denkart in Gutem und Bösemverfeinet und sich eben damit unsre stärkere, sinnlichere Grundsätze und Triebfedern abreiben, ohne daß der größere Haufe etwas dagegen, noch bisher an die Stelle zu setzen Lust oder Kraft hätte: wohin muß uns dies bringen? Die sinnlichen starken Bande der alten Republiken und Zeitalter sind längst (und es ist Triumph unsrer Zeit!) aufgelöst: an den feinern Banden unsrer Zeit nagt alles: Philosophie, Freigeisterei, Üppigkeit und eine Erziehung zu diesem allen, von Gliede zu Gliede tiefer und weiter verbreitet – die meisten unsrer politischen Triebfedern muß sogar schon die ruhige Weisheit verdammen oder verachten, und der Streit zwischen dem Christentume und der Weltart ist ein wie alter Vorwurf und Skrupel zu beiden Seiten! Da sich also Schwäche in nichts alsSchwäche endigen und eine überstrengte Anziehung und Mißbrauch des letzten geduldigen Wurfs [371] der Kräfte nichts als jenen völligen Hinwurf beschleunigen kann – doch es ist nicht mein Amt weissagen!

Noch minder weissagen, »was allein Ersatz undQuelle neuer Lebenskräfte auf einem so erweiterten Schauplatze sein könne, werde und fast sein müsse, woher neuer Geist alle das Liebt und die Menschengesinnung, auf die wir arbeiten, zu der Wärme, zu der Bestandheit und zu der Allglückseligkeit bringen könne und werde.« Ohne Zweifel rede ich noch von fernen Zeiten!

Lasset uns, meine Brüder, mit mutigem, fröhlichen Herzen auch mitten unter der Wolke arbeiten: denn wir arbeiten zu einer großen Zukunft.

Und lasset uns unser Ziel so rein, so hell, so schlackenfrei annehmen, als wir's können: denn wir laufen in Irrlicht und Dämmerung und Nebel.


Wenn ich da Taten sehe oder vielmehr schweigende Merkmale von Taten ahnde aus einem Geiste, der für die Hülle seiner Zeit zu groß und für ihr Lobgeschrei zu still und blöde dahingeht und im Finstern säet: Samenkörner, die wie alle Gotteswerke und Schöpfungen vom kleinen Keim anfangen, denen man's aber beim ersten kleinen Sprößlein so lieblich ansiehet und anreucht, daß sie Schöpfung Gottes im Verborgenen sein werden – und wären's Anlagen, insonderheit zur edelsten Pflanze der Menschheit, Bildung, Erziehung, Stärkung der Natur in ihren bedürftigsten Nerven, Menschenliebe, Sympathie und Brüderglückseligkeit – heilige Pflanzen, wer ist unter euch gewandelt, daß ihn nicht ein Schauer besserer Zukunft ergriffe und er euren Urheber, klein und groß, König und Knecht, nicht im stillesten Abend- Morgen- und Mitternachtopfer segne! Alle bloß körperliche und politische Zwecke zerfallen, wie Scherb und Leichnam: die Seele! der Geist! Inhalt fürs Ganze der Menschheit – der bleibt: und wohl, wem da aus der reinen, untrübbaren Lebensquelle viel ward! –


Es ist fast unvermeidlich, daß ebendas Höhere, Weitverbreitete unsres Jahrhunderts auch Zweideutigkeiten der besten und schlimmsten Handlungen geben muß, die bei engern, tiefern Sphären wegfielen. Eben daß niemand fast mehr weiß, wozu er würkt: das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme? – Nicht bloß Feind und Verleumder [372] wird die Beginnen des würksamsten, besten Mannes oft in ein zweifelhaftes Licht stellen können; vielleicht wird selbst dem warmen Bewunderer in kältern Stunden auch Nebel und Doppellicht erscheinen. Alle Radien sind schon dem Mittelpunkteso fern – laufen alle, wohin? und wenn werden sie dahin kommen?

Man weiß, was man allen Reformatoren aller Zeiten vorgeworfen, daß wenn sie einen neuen Schritt taten, sie auch immer hinter sich Lücken ließen, vor sich Staub und Erschütterung machten, und unter sich Unschuldiges zertraten. Die Reformatoren der letzten Jahrhunderte trifft das sichtlicher und doppelt. Luther! Gustav Adolf! Peter der Große! Welche drei haben in den neuern Zeiten mehr verändert? edleren Sinnes geändert? – und sind ihre, zumal unvorhergesehne Folgen, allemal zugleich unwidersprüchlicheZunahmen des Glücks ihrer Nachkommen gewesen? Wer die spätere Geschichte kennt, wird er nicht manchmal sehr zweifeln?

Ein Monarch, dessen Namen unsre Zeit mehr trägt und zu tragen verdient als das Zeitalter Ludwigs


– den uns

sein Jahrhundert mit aufbewahrt!,


welche neue Schöpfung Europas hat er von seinem Flecke her in dreißig kurzen Jahren bewürkt! – InKriegs- und Regierungskunst, in Behandlung der Religion und Einrichtung der Gesetze, als Apollo der Musen und als Privatmann unter der Krone – dem allgemeinen Scheine nach das Muster der Monarchien – welch ein Gutes gestiftet! Aufklärung, philosophischen Geist und Mäßigung vom Throne ringsum verbreitet! Orientalischen, dummen Pracht, Schwelgerei und Luxus, der vormals oft das einzige Goldgehege der Höfe war, wie erschrecklich zertrümmert und verjaget! Fette Unwissenheit, blinden Eifer undAberglauben überall wie tief verwundet! Sparsamkeit und Ordnung, Regelmäßigkeit und Fleiß, schöne Künste und einen sogenannten Geschmack, frei zu denken – wie hoch erhoben! – Das Jahrhundert trägt sein Bild wie seine Uniform: Jahrhundert ohne Zweifel die größte Lobrede seines Namens. – Indes wird auch ebendie Münze, das Brustbild weggekehrt und das bloße Resultat seiner Schöpfung als Menschenfreund und Philosoph betrachtet, ohne Zweifel einmaletwas mehr und anders zeigen! Zeigen vielleicht, wie durch ein natürlich Gesetz der Unvollkommenheit menschlicher [373] Handlungen mit der Aufklärung auch ebensoviel luxurierende Mattigkeit des Herzens – mit Sparsamkeit ihr Zeichen und Gefolge, Armut – mitPhilosophie blinder kurzsichtiger Unglaube – mitFreiheit zu denken immer Sklaverei zu handeln, Despotismus der Seelen unter Blumenketten – mit dem großen Helden, Eroberer und Kriegsgeist Erstorbenheit, Römerverfassung, wie da Armeen alles waren, Verfall und Elend sich habe verbreiten müssen! Zeigen, was Menschenliebe, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Religion, Wohl der Untertanen – alle bis auf einen gewissen Grad als Mittel zum Erreichen behandelt – was alle das auf seine Zeit – auf Reiche ganz andrer Verfassung und Ordnung – auf Welt und Nachwelt für Folgen haben müssen! – Die Waage wird schweben? steigen – sinken – welche Schale? was weiß ich? –

Der Schriftsteller von hundert Jahren 30, der ohne Zank und Widerspruch wie ein Monarch auf sein Jahrhundert gewürkt hat – von Lissabon bis Kamtschatka, von Zembla bis in die Kolonien von Indien gelesen, gelernt, bewundert und, was noch mehr ist,befolgt – mit seiner Sprache, mit seinen hundertfachen Talenten der Einkleidung, mit seiner Leichtigkeit, mit seinem Schwunge von Ideen auf lauter Blumen – am allermeisten dadurch, daß er auf der glücklichen Stelle geboren wurde, die Welt zu nützen, Vorgänger und Nebenbuhler zu nützen, Gelegenheiten, Anlässe, zumal Vorurteile und Lieblingsschwächen seiner Zeit, zumal ja die nutzbarsten Schwächen der schönsten Bräute seiner Zeit, der Regenten in ganz Europa zu nutzen – dieser große Schriftsteller, was hat er nicht ohne Zweifel auch zum Besten des Jahrhunderts getan! Licht verbreitet, sogenannte Philosophie der Menschheit, Toleranz, Leichtigkeit imSelbstdenken, Schimmer der Tugend in hundert liebenswürdigen Gestalten, verdünnte und versüßte kleine menschliche Neigungen – als Schriftsteller ohne Zweifel auf der größten Höhe des Jahrhunderts! – Aber nun zugleich damit, was für elendenLeichtsinn, Schwäche, Ungewißheit und Kälte! was für Seichtigkeit, Planlosigkeit, Skeptizism an Tugend, Glück und Verdienst! – was mit seinem Witzeweggelacht, ohne es zum Teil weglachen zu wollen! – sanfte, angenehme und notwendige Bande mit frevelnder Hand aufgelöset, ohne uns, die wir nicht alle au Château de Fernay residieren, das mindeste andie Stelle zu geben? Und durch welche Mittel und Wege hat er selbst sein Bestes erlangt? wem er uns mit alle der Philosophie und Schönliebhaberei derDenkart ohne Moral und feste menschlich [374] Empfindung denn in die Hände liefere? – man kennet die große Kabale gegen und für ihn, weiß, wie andersRousseau predige. Vielleicht gut, daß beide predigen, weit voneinander und in manchem beide einanderaufhebend – oft das Ende menschlichen Beginnens! die Linien heben sich auf, aber ihr letzter Punkt steht weiter! – –

Kein großer Geist, durch den das Schicksal Veränderung bewürkt, kann freilich mit allem, was er denkt und fühlt, nach der Gemeinregel jeder mittelmäßigen Seele gemessen werden. Es gibt Ausnahmen höherer Gattung, und meist alles Merkwürdige der Welt geschieht durch diese Ausnahmen. Die graden Linien gehen nur immer gerade fort, würden alles auf der Stelle lassen! wenn nicht die Gottheit auch außerordentliche Menschen, Kometen, in die Sphären der ruhigen Sonnenbahn würfe, fallen und im tiefsten Falle sich wieder erbeben ließe, wohin kein Auge der Erde sie verfolget. Auch tut's nur Gott oder unter Menschen ein Tor, daß er jede fernste moralische oder unmoralische Zwischenfolge einer Handlung auf die Rechnung des Verdienstes und der ersten Absichtdes Handelnden setzet! Wer fände sonst in allem in der Welt mehr Ankläger als der erste und einzige Handler, der Schöpfer! – Aber, meine Brüder, lasset uns ja die Pole nicht verlassen, um die sich alles dreht, Wahrheit, Bewußtsein des Wohlwollens, Glückseligkeit der Menschheit! laßt uns am allermeisten auf der größten Höbe des Meers, auf welcher wir jetzt schweben, in Irr- und Nebellichte, das vielleicht ärger ist als völlige Nacht, lasset uns da fleißig nach diesen Sternen, den Punkten aller Richtung, Sicherheit und Ruhe hinsehen, und denn mit Treue und Emsigkeit unsern Lauf steuren.


Groß muß das Ganze sein, wo in jeder Einzelnheit schon so ein Ganzes erscheint! in jeder Einzelnheit aber nur auch immer so ein unbestimmtes Eins, allein aufs Ganze, sich offenbaret! Wo kleine Verbindungen schon großen Sinn geben und doch Jahrhunderte nurSilben, Nationen nur Buchstaben und vielleicht Interpunktionen sind, die an sich nichts, zum leichtern Sinne des Ganzen aber so viel bedeuten! Was, o einzelner Mensch, mit deinen Neigungen, Fähigkeiten und Beitrage, bist du? – und willt, daß sich an dir allseitig die Vollkommenheit erschöpfe?

Ebendie Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meiner Blicke, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel [375] meiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen meiner Kräfte nur auf das Ganzeeines Tages, eines Jahrs, einer Nation, eines Jahrhunderts – ebendas ist mir Bürge, daß ich nichts, dasGanze aber alles sei! Was für ein Werk, zu dem so viel Schattengruppen von Nationen und Zeiten, Kolossenfiguren fast ohne Gesichtspunkt und Ansicht, so viel blinde Werkzeuge gehören, die alle im Wahne des Freien handeln und doch nicht wissen, was? oder wozu?, die nichts übersehen und doch so eifrig mithandeln, als wäre ihr Ameisenhaufe das Weltall – was für ein Werk, dies Ganze! Bei der kleinsten Spanne, die wir davon übersehen, so viel Ordnung und so viel Wirrung, Knote und Anlage zur Auflösung – beides eben für die überschwengliche Herrlichkeit im Allgemeinen, Sicherheit und Gewährleistung. Elend klein müßte es sein, wenn ich, Fliege, es übersehen könnte! wie wenige Weisheit und Mannigfaltigkeit, wenn ein durch die Welt Taumelnder, der so viel Mühe hat, nur einen Gedanken festzuhalten, nie eine Verwickelung fände? – In einer Spanne, die nichts ist und wo doch tausend Gedanken und Samenkörner zugleich streben: in einem halben Zeitmaß der Tonkunst von zwei Schlägen, wo sich aber eben vielleicht die schwersten Töne zur süßesten Auflösung wickeln – wer bin ich, daß ich urteile, da ich eben nur den großen Saal quer durchgehe und einen Seitenwinkel des großen verdeckten Gemäldes im dunkelsten Schimmer beäuge? Was Sokrates zu den Schriften eines Menschen sagte, der, eingeschränkt wie er, mit ihm in einem Maße der Kräfte schrieb – was soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten gehet! von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe – –

Unendlich klein für den Stolz, der alles sein, wissen, würken und bilden will! unendlich groß für dieKleinmut, die sich nichts zu sein getrauet – beide nichts als einzelne Werkzeuge im Plane einer unermeßlichen Vorsehung!

Und wenn uns einst ein Standpunkt würde, das Ganze nur unsres Geschlechts zu übersehen! wohin die Kette zwischen Völkern und Erdstrichen, die sich erst so langsam zog, denn mit so vielem Geklirr Nationen Durchschlag und endlich mit sanfterm, aberstrengerm Zusammenziehen diese Nationen binden und wohin? leiten sollte – wohin die Kette reicht? wir sehen die reife Ernte der Samenkörner, die wir aus einem blinden Siebe unter die Völker verstreut, sosonderbar keimen, so verschiedenartig blühen, sozweideutige Hoffnungen der Frucht geben, sahen –[376] wir haben's selbst zu kosten, was der Sauerteig, der so lang, so trüb und unschmackhaft gärte, endlich fürWohlgeschmack hervorbrachte zur allgemeinen Bildung der Menschheit – Fragment des Lebens, was warest du? –


– quanta sub nocte iacebat
Nostra dies!

Wohl aber, wen sein Lebensfragment auch alsdann nicht gereuet!


Βλεπομεν γαρ αρτι δι' εσοπτρου εν αινιγματι, τοτε δε προσωπον προς προσωπον αρτι γινωσκω εκ μερους, τοτε δε επιγνωσομαι, καϑως και επεγνωσϑην. Νυνι δε μενει πιστις, ελπις, αγαπη, τα τρια ταυτα, μειζων δε τουτων ή αγαπη.

Fußnoten

1 Neueste historische Untersuchungen und Reisen in Asien

2 Boulanger, »Du despotisme oriental«; Voltaire, »Phil. de l'histoire« – »De la tolerance« etc.; Helvét., »De l'esprit«, Disc. III etc. etc.

3 Montesquieus Scharen Nachfolger und imitatorum servum p.

4 Montesq. »Espr.«, 24, 25.

5 Voltaire. »Phil. de l'hist.«; Helvét., Boulanger etc.

6 Shaftesbury, »Charact.«, T. III, »Miscell.«.

7 Kircher, d'Origny, Blackwell usw.

8 Wood, Webb, Winckelmann, Newton, Voltaire bald eins, bald das andere, pro loco et tempore.

9 Die Herren müssen ein erschrecklich hohes Ideal gehabt haben, denn meines Wissens haben sie keine ihrer philosophischen Aufgaben je erreicht gefunden.

10 Der gute ehrliche Montaigne fing an; der Dialektiker Bayle, ein Räsoneur, dessen Widersprüche nach Artikeln seiner Gedankenform , des »Dictionnairs«, Crousaz und Leibniz gewiß nicht haben vergüten können, würkte aufs Jahrhundert weiter. Und denn die neuem Philosophen, Allanzweifler mit eigenen kühnsten Behauptungen, Voltaire, Hume, selbst die Diderots – es ist das große Jahrhundert des Zweifelns und Wellenerregens.

11 Hurd, »Lettr. on Chivalry«.

12 Hume, »Geschichte von Engl.« und »Vermischte Schr.«; Robertsons »Gesch. von Schottland« und »Karl V.«; D'Alembert, »Mélanges de littérature et de philos.«; Iselins »Gesch. der Menschheit«, T. 2, »Vermischte Schriften.« und was dem nachhinkt und nachlallet.

13 Gloire de l'esprit humain, ses progrès, révolutions, son développement, sa création etc.

14 Hume. »Politische Schr.«, »Vers.« 4, 9, 25, 26 u. seine »Gesch.«

15 Robertsons »Gesch. Karls V.«, die Einleitung, davon dies nur ein treuer Auszug ist, mit etwanigem Urteil über sein Urteil. Ταρασσει τους ανϑρωπους ου τα πραγματα, αλλα τα τερι των πραγματων δογματα. Επικτ.

16 Noch immer bloß aus Robertson Auszug.

17 Millar, »Über den Unterschied der Stände«. Hauptst. 5.

18 Hume, »Vermischte Schr.«, T. 4, XXIV.

19 Hurds »Gespräche über das Reisen«.

20 Hume, »Pol. Vers.«, 1, 17, 23.

21 Hume, »Vers.«, T.4, XVI, XVII; Voltaire, »Siècle de Louis XIV.«, XV und XX, und die Heere Panegyristen der neuen Literatur.

22 Voltaire, »Siècle de Louis XIV.«

23 »Disc. prélim.« vor der »Enzyklopädie«; Voltaire, »Tableau encyclopédique des connoissances humaines«.

24 Hume, »Vers.«, T. I. Abh. 1.

25 »Disc. prélim.« und »Mélange de litt.« p. d'Alembert, T. I, IV.

26 Eine große Vorstellung der nordischen »Edda«!

27 Das verachtete Buch – die Bibel!

28 Buffon.

29 Ritter Temple verglich eine gewisse Regierungsform mit dem Bilde!

30 Voltaire.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Theoretische Schriften. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5C30-4