Sanct-Johannes-Nacht

Schönste Sommernacht!
Ich schwimm' in Rosen und blühenden Bohnen
Und duftenden Hecken und Nachtviolen,
In tausend Düften – o Natur,
Wo kenn' ich Deine Kinder alle,
Die Bräute alle,
Die jetzt sich schmücken und lieben und paaren
Und feiern Brautnacht! – Schöne Nacht!
Wie die Schöpfung flammet und wallt!
Als ob der allanflammende Sonnenvater
Mit welcher Jugendinbrunst jetzt
Die Erd' umarmt'! – Und der Himmel brennt:
Dort Abendroth, hier Morgenroth –
Wie kühler, dämmernder Thautag! – Und –
Und hundert Wesen schwirren empor
In Luft und Wasser und See und Sand,
Summen empor! Lieben! – Unendlich, ach,
Unerschöpflich bist Du schön,
Mutter Natur!
Und hundertartige Deiner Kinder
In Leben und Lieben und Sein und Freuden!
Wer kann sie zählen! wer kann sie fühlen! –
Und Du,
[311]
In hundert Arten und Sein und Wesen
Und Lieb' und Freuden Dich
Allfühlend, o Natur,
Wie nenn' ich Dich?
Wer bin ich unter den Millionen,
Die jetzt genießen – und wer
Unter den unendlichen Millionen,
Die ich genießen nicht seh',
In Blum', in Blüth', im wehenden Duft
Der Nachtviole!
Wie Tausende sind vielleicht,
Die die Blüthe knospen! die Ros' erröthend
Spinnen und färben und dufther schwimmen,
Schwimmen um mich – kühlen mich,
Und ich seh' sie nicht!
Da fliegt der leuchtende Funke Gottes,
Der Sommerwurm!
Kleiner Wurm, leuchtender Funke, komm,
Glänze mir!
Wer warst Du, daß die schaffende Hand
Dich also angeglüht?
Mit Sonnenglanz, mit Sonnengluth!
Wer bist Du?
Etwa der Seligen einer? Ein
Verbanneter Unsterblicher,
Aus Raupenstand und Grabegespinnst
Den Wurm zu erlösen.
Und trägst noch Siegel der Unsterblichkeit
Und glühst noch lang' im Tode noch fort –
Ziehst Blitzesfunken und duftest Feu'r,
Nicht Strömen erlöschbar, die Gold,
Die Felsen zernagen – Wunderwurm,
Und kriechst im Staub!
Fleuch! ich kenne Dich nicht! Wunderwurm!
Lebe Dein Sommerleben im Flug,
Im Staube! wie's Der will,
Der Dich gemacht.
Kenn' ich mich?
Eben so klein, fliegend und wallend
Und sonnentsprungen – kenn' ich mich?
[312]
Wer war's, der Funken dem Staube gab,
Daß er ihm vom Auge leucht',
Erflamme vom Herzen,
Oft so matt! und wie lang'?
Und lodert er fort dann? – Fleuchst,
Funke, Du fort?
Aus Raupenstand, aus Grabesnacht,
Wenn Dein Wurmkörper hier hin ist, noch
Ein Würmchen zum Engel zu lösen? – – –
All' meine Sinne sind
Verschlossen! – Um meine Sinn'
Ist Sommernacht!
Bin nicht zu denken hier! – zu sein! zu hoffen!
Leben und mich zu freun!
Leben – allein?
Nicht ist der leuchtende Wurm,
Wird nicht allein sein!
Und allein mich freun?
Niemand zu sagen, wie schön
Im Sommerliebesbrande,
Mutter Natur, Du seist!
Mutter Natur!
Niemand zu haben, der mit
Schwirren die Schöpfung höre, mit
Höre die leisen Räder gehn
Und sehn
Den leuchtenden Engel fliegen
Und denken Unsterblichkeit!
Vereint sie denken, vereint,
Schöne Mutter Natur,
Fühlen an Deiner Brust, uns drücken
An warmes Herz!
Freundschaft, holdester Funke
Der holden Natur!
In heiliger Nacht, in Zaubernacht,
Mutter Natur, bet' ich Dich an!
Sei ich's werth des edelsten Funken,
All Deiner Flammennatur!
Komme, mein leuchtender Engel,
Den Wurm zu beleben!
Zauberlaube, [313] Wo seh' ich Dich?
Und um mich gegossen
Mein sanftes Weib!
Zauberlaube,
Wo seh' ich Dich?
Rosen und Mondstrahl um Dich schwimmend
Und liebender Wachtelschlag,
Zauberlaub', und der Knabe hängt
An Mutterarm! An Mutterbrust
Ihr gleich das sanftere Mädchen!
Und der wilde, trotzige Knabe lernt
Staunen der Sommernacht! hören Gott,
Hören schwirren und liebegirren
Die Schöpfung!
Sanfter bebet alsdann die Mutterbrust,
Sanfter schmieget der Säugling, trinkt
Wollust Gottes, und ich – und ich –
Zauberlaube, wie bin ich allein!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Sanct-Johannes-Nacht. Sanct-Johannes-Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5BC2-2