Johann Gottfried Herder
Von deutscher Art und Kunst
Einige fliegende Blätter

1. Auszug aus einem Briefwechsel

[257] I. Auszug aus einem Briefwechsel
über Ossian und die Lieder alter Völker

... Auch ich bin, wie Sie, über die Übersetzung Ossians für unser Volk und unsre Sprache, ebensosehr als über ein episches Original entzückt. Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Tätigkeit, und Seligkeit des menschlichen Lebens, muß, wenn [257] man in faece Romuli an der Würksamkeit guter Bücher nicht ganz verzweifeln will, gewiß würken und Herzen rühren, die auch in der armen schottischen Hütte zu leben wünschen, und sich ihre Häuser zu solchem Hüttenfest einweihen – Auch Denis' Übersetzung verrät so viel Fleiß und Geschmack, teils glücklichen Schwung der Bilder, teils Stärke der deutschen Sprache, daß ich auch sie gleich unter die Lieblingsbücher meiner Bibliothek gestellt, und Deutschland zu einem Barden Glück gewünscht, den der schottische Barde nur gewecket – Aber Sie, der vorher so halsstarrig an der Wahrheit und Authentizität des schottischen Ossians zweifelte, hören Sie jetzt mich den Verteidiger, nicht halsstarrig zweifeln, sondern behaupten, daß trotz alles Fleißes und Geschmacks und Schwunges und Stärke der deutschen Übersetzung unser Ossian gewiß nicht der wahre Ossian mehr sei. Der Raum fehlt mir, das jetzt zu beweisen: ich muß also meine Behauptung nur, wie ein türkischer Mufti, sein Fetwa hinsetzen, und hier der Name des Mufti..


... Meine Gründe gegen den deutschen Ossian sind nicht bloß, wie Sie gütigst wähnen, Eigensinn gegen den deutschen Hexameter überhaupt: denn was trauen Sie mir für Empfindung, für Ton und Harmonie der Seele zu, wenn ich z.E. den Kleistischen, den Klopstockischen Hexameter nicht fühlen sollte? aber freilich, weil Sie doch einmal selbst darauf gekommen sind, der Klopstock'sche Hexameter bei Ossian? freilich auch hinc illae lacrimae! Hätte der Herr D. die eigentliche Manier Ossians nur etwas auch mit dem innern Ohre überlegt – Ossian so kurz, stark, männlich, abgebrochen in Bildern und Empfindungen – Klopstocks Manier, so ausmalend, so vortrefflich, Empfindungen ganz ausströmen, und wie sie Wellen schlagen, sich legen und wiederkommen, auch die Worte, die Sprachfügungen ergießen zu lassen – welch ein Unterschied! und was ist nun ein Ossian in Klopstocks Hexameter? in Klopstocks Manier? Fast kenne ich keine zwo verschiednere, auch Ossian schon würklich wie Epopöist betrachtet.

Aber das ist er nun nicht, und sehen Sie, das wollte ich Ihnen nur sagen, von jenem hat schon, wie mich dünkt, eine Kritische Bibliothek geredet, und das geht mich nichts an. Ihnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Ossians Gedichte Lieder, Lieder des Volks, Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks sind, die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben [258] fortsingen können – sind sie das in unsrer schönen epischen Gestalt gewesen? haben sie's sein können? – mein Freund, wenn ich mich zuerst gegen Ihre zweifelnde Halsstarrigkeit gegen die Ursprünglichkeit Ossians auf nichts so sehr, als auf inneres Zeugnis, auf den Geist des Werks selbst berief, der uns mit weissagender Stimme zusagte: »So etwas kann Macpherson unmöglich gedichtet haben! so was läßt sich in unserm Jahrhunderte nicht dichten!« mit ebendem innern Zeugnis rufe ich jetzt ebenso laut: »Das läßt sich wahrhaftig nicht singen! in solchem Ton von einem wilden Bergvolke wahrhaftig nicht fortsingen und erhalten! folglich ist's nicht Ossian, der da sang, der so lange fortgesungen wurde!« Was sagen Sie zu meinem innern Beweise? – nächstens fülle ich Ihnen vielleicht damit Seiten!


... So eigensinnig für Ihren deutschen Ossian hätte ich Sie doch nicht geglaubt! Es mir durch Zergliederungen und einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen, »daß er gewiß so gut, als der englische sei!« In Sachen der bloßen, schnellen Empfindung, was läßt sich da nicht aus Zergliedern? was nicht durch ein grübelndes Zerlegen herausbeweisen, was – wenigstens die vorige schnelle Empfindung gewiß nicht ist. Haben Sie es wohl diesmal bedacht, was Sie so oft, oft, und täglich fühlen, »was die Auslassung eines, der Zusatz eines andern, die Umschreibung und Wiederholung eines dritten Worts; was mir andrer Akzent, Blick, Stimme der Rede durchaus für anderen Ton geben könne?« Ich will den Sinn noch immer bleiben lassen; aber Ton? Farbe? die schnelleste Empfindung von Eigenheit des Orts, des Zwecks? – Und beruht nicht auf diesen alle Schönheit eines Gedichts, aller Geist und Kraft der Rede? – Ihnen also immer zugegeben, daß unser Ossian, als ein poetisches Werk so gut, ja besser, als der englische sei – eben weil er ein so schönes poetisches Werk ist, so ist er der alte Barde, Ossian, nicht mehr; das will ich ja eben sagen.

Nehmen Sie doch eins der alten Lieder, die in Shakespeare, oder in den englischen Sammlungen dieser Art vorkommen, und entkleiden Sie's von allem Lyrischen des Wohlklanges, des Reims, der Wortsetzung, des dunkeln Ganges der Melodie: lassen Sie ihm bloß den Sinn, so so, und auf solche und solche Weise in eine andre Sprache übertragen; ist's nicht, als wenn Sie die Noten in einer Melodie von Pergolese, oder die Lettern auf einer Blattseite umwürfen? wo bliebe der Sinn der Seite? wo bliebe [259] Pergolese? Mir fälle eben das Liedchen aus Shakespeares »Twelfth-Night« in die Hände, bei welchem der liebesieche Herzog von hinnen scheiden will: –


that old and antik song
Me thought it did relieve my passion much –
More than light airs and recollected terms
Of these most brisk and giddy – paced times.
– – it is old and plain
The spinsters and the knitters in the Sun
And the free maid that weave their Thread with bones
Do use to chant it: it is silly sooth
And dallies with the innocence of love
Like the old age –

Nun, werden Sie bei solchem Lobe nicht so begierig, wie der verliebte Ritter selbst? Auf! übersetzen Sie's flugs in Denissche Hexameter:


Song

Come away, come away, death!
And in sad cypress let me be laid!
Fly away, fly away, breath!
I am slain by a fair cruel maid!
My shrowd of white stuck all with yew
Oh prepare it
My part of death, no one so true
Did share it!
Not a flow'r, not a flow'r sweet
On my black Coffin let there be strown
Not a friend, not a friend greet
My poor corpse, where my bones shall be thrown.
A thousand thousand sighs to save
Lay me o where
True lover never find my grave
To weep there.

Der sollte nicht mein Freund sein, der bei diesem so einfältigen, nichtssagenden Liede, insonderheit lebendig gesungen, nichts mitfühlte! Indessen, wenn es übersetzt würde (Wieland hat es, so wie die meisten dieser Art, nicht übersetzt!) wenn der Einige fast, dem ich hiezu Biegsamkeit zutraue, der Sänger des Skaldengesanges und der Grabschrift Aspasiens, und des griechischen [260] Schnitterliedchens und der süßen Nänie auf die Wachtel und das Schnittermädchen des Himmels, und auf die Herzensangst jenes guten Pfarrers – wenn dieser Dichter, der so mancherlei, und dies Mancherlei so vortrefflich sein kann, es übersetzte, wie anders erhält er den Abdruck der innern Empfindung, als durch den Abdruck des Äußern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange stromweise in die Seele fließet. Schlagen Sie die Dodsleyschen »Reliques of ancient Poetry« auf, von einem Ende zum andern; übersetzen Sie was und wie schön Sie es wollen, aber außer dem Ton des Gesanges, und sehen Sie denn, was Sie haben werden!

Sie kennen doch die liebe, süße Romanze, von der ich mich wundere, daß sie sich in den Dodsleyschen Reliques nicht finde: Heinrich und Kathrine


In ancient times in Britain Isle
Lord Henry was well knowne –

ein englischer Schulrektor, seines Namens Samuel Bishop, hat gewisse Ferias poeticas gefeiret: i.e. Carmina Anglicana Elegiaci plerumque argumenti (ich schreibe Ihnen den verdienstvollen Titel) Latine reddita geschrieben, und in diesen Carminibus Anglicanis Latine redditis ist auch unsre Romanze Elegiaci argumenti, und also auch Elegiaco versu, schön skandiert und phraseologisiert, die sich also anhebt:


Angliacos inter proceres innotuit olim
Henricus priscae nobilitatis honos!

und wo ist nun die Romanze? – Daß es mit Ossian kaum anders sei, sehen Sie nur einmal die schöne Macferlansche Übersetzung von »Temora«. Der Verf. selbst ein Schotte? der Ossian singen gehört? ihn doch also fühlen muß? Sehen Sie nun, was unter den Händen des guten, flinken Lateiners aus der rührenden Stelle geworden ist, da Oskar fällt, und der Dichter plötzlich abbrechend, sich an seine Geliebte wendet – In der N. Bibl. der sch. W. Band 9. St. 2. S. 344 sind die Übersetzungen aus Macpherson, Macferlan, und Denis nebeneinander. Sie können nachschlagen und sehen! ...


... Ihre Einwürfe sind sonderbar. Bei alten gotischen Gesängen, wie Sie sie zu nennen belieben, bei Reimgedichten, [261] Romanzen, Sonetts und dergleichen schon künstlichen oder gar gekünstelten Stanzen, geben Sie mir nach; aber bei alten ungekünstelten Liedern, wilder, ungesitteter Völker – wilder ungesitteter Völker? ich kann Ihre Stelle kaum ausschreiben. So gehörte Ihr Ossian und sein edler, großer Fingal so schlechthin zu einem wilden ungesitteten Volk? und wenn jener auch alles idealisiert hätte, wer so idealisieren konnte, und wem so idealisiert, dergleichen Bilder, dergleichen Geschichte, der Traum des Nachts und das Vorbild des Tags, Gemütserholung und beste Herzenslust sein konnte; der war wildes Volk? Wohin man doch abgeraten kann, um nur seine Lieblingsmeinung zu retten.

Wissen Sie also, daß je wilder, d.i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!), desto wilder, d.i. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder sein! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Lettern Verse sein: vom Lyrischen, vom Lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Notdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Silben, bei manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Nationalliede gehören, und mit diesem verschwinden – davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wundertätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu sein! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtnisse heftet! Je länger ein Lied dauern soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker sein, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen – wohin wendet sich nun die Sache?

Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian überall erscheinen, ein wilderes rauheres Volk, als die weich idealisierten Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht bekannt, wo sanfte Empfindung ströme: ihr Tritt ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde, und in Absicht auf solche Bearbeitung und Kultur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das sich mit den Ossianschen darin vergleichen lasse. Aber sehen Sie einmal [262] im Worm, im Bartholin, im Peringskiöld, und Verel ihre Gedichte an – wieviel Silbenmaße! wie genau jedes unmittelbar durch den fühlbaren Takt des Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssilben mitten in den Versen symmetrisch aufgezählt, gleichsam Losungen zum Schlage des Takts, Anschläge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Ähnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoß, zum Schallen des Bardengesanges in die Schilde! Disticha und Verse sich entsprechend! Vokale gleich! Silben konson – wahrhaftig eine Rhythmik des Verses, so künstlich, so schnell, so genau, daß es uns Büchergelehrten schwer wird, sie nur mit den Augen aufzufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen lebendigen Völkern, die sie hörten und nicht lasen, von Jugend auf hörten und mitsangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, ebenso schwer gewesen sei. Nichts ist stärker und ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lange behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder. Aus Musik, Gesang und Rede könnt ich Ihnen eine Menge sonderbarer Phänomene anführen, wenn ich einmal psychologisieren wollte!

Denken Sie nicht, daß ich übertreibe. Unter 136 Rhythmusarten der Skalden, habe ich nur einen, den »Sangbaren«, in Worm näher studiert (denn ihre eigentliche Prosodie, der zweite Teil der »Edda« ist meines Wissens noch nicht erschienen!) und was denken Sie, wenn in diesem Rhythmus von 8 Reihen nicht bloß 2 Disticha, sondern in jedem Distichon 3 anfangähnliche Buchstaben, 3 konsone Wörter und Schälle, und diese in ihren Regionen wieder so metrisch bestimmt sind, daß die ganze Strophe gleichsam eine prosodische Runentextur geworden ist – und alles waren Schälle, Laute eines lebenden Gesanges, Wecker des Takts und der Erinnerung, alles klopfte, und stieß und schallte zusammen! – Machen Sie nun die Probe, und studieren Regner Lodbrogs Sterbegesang in den »Runen« des Worms, und lesen denn die feine, zierliche Übersetzung, die wir davon im Deutschen, in ganz anderm Ton und ganz anderm Silbenmaße haben – der verzogenste Kupferstich von einem schönen Gemälde! Nun komme jemand und mache aus dem Schlachtgesang der Dysen, aus dem Zaubergespräch Odins am Tor der Hölle, aus dem Jüngsten Gericht der Eddagötter ein schönes Heldengedicht in Hexametern, oder schöne griechische Silbenmaße, wie Herr Denis aus [263] dem Gespräch Gauls und Mornis, Fingals und Roskranen gemacht hat; aus Evind Skaldaspillers Trauerlied auf Hako eine Elegie im Ton der Rothschildsgräber – was würde Vater Odin und der alte Skaldaspiller sagen? – Daß sich nun diese skaldische Rhythmik nicht auf Island und Skandinavien eingeschränkt, können Sie aus Hickes, und andern; am neuesten noch in den Dodsley'schen Reliques aus der Vorabhandlung von dem complaint of conscience (T. 2. B. 3. S. 277) sehen, wo aus dem Angelsächsischen dergleichen mehr als eine Probe angeführt wird.

Aber noch mehr. Gehen Sie die Gedichte Ossians durch. Bei allen Gelegenheiten des Bardengesanges sind sie einem andern Volk so ähnlich, das noch jetzt auf der Erde lebet, singet, und Taten tut; in deren Geschichte ich also ohne Vorurteil und Wahn die Geschichte Ossians und seiner Väter mehr als einmal lebendig erkannt habe. Es sind die fünf Nationen inNordamerika: Sterbelied und Kriegsgesang, Schlacht- und Grablied, historische Lobgesänge auf die Väter und an die Väter – alles ist den Barden Ossians und den Wilden in Nordamerika gemein; der letzten Marter- und Rachelied nehme ich aus, dafür die sanften Kaledonier ihre Gesänge mit dem sanften Blut der Liebe färbten. Nun sehen Sie einmal, was alle Reisebeschreiber, Charlevoix und Lafiteau, Roger, und Cadwallader Colden vom Ton, vom Rhythmus, von der Macht dieser Gesänge auch für Ohren der Fremdlinge sagen. Sehen Sie nach, wieviel nach allen Berichten darin auf lebende Bewegung, Melodie, Zeichensprache und Pantomime ankömmt, und wenn nun Reisende, die die Schotten kannten, und mit den Amerikanern so lange gelebt hatten, Kapt. Timberlake z.B. die offenbare Ähnlichkeit der Gesänge beider Nationen anerkannten – so schließen Sie weiter. Bei Denis stehen wir steif und fest auf der Erde: hören etwa Sinn und Inhalt in eigner, guter poetischer Sprache, aber nach der Analogie aller wilden Völker kein Laut, kein Ton, kein lebendiges Lüftchen von den Hügeln der Kaledonier, das uns hebe und schwinge, und den lebendigen Ton ihrer Lieder hören lasse: wir sitzen, wir lesen, wir kleben steif und fest an der Erde.

Als eine Reise nach England noch in meiner Seele lebte – o Freund, Sie wissen nicht, wie sehr ich damals auch auf diese Schotten rechnete! Ein Blick, dachte ich, auf den öffentlichen Geist, und die Schaubühne, und das ganze lebende Schauspiel des englischen Volks, um im Ganzen die Ideen mir aufzuklären, die sich im Kopf eines Ausländers in Geschichte, Philosophie, [264] Politik und Sonderbarkeiten dieser wunderbaren Nation, so dunkel und sonderbar zu bilden und zu verwirren pflegen. Alsdenn die größte Abwechselung des Schauspiels, zu den Schotten! zu Macpherson! Da will ich die Gesänge eines lebenden Volks lebendig hören, sie in alle der Würkung sehen, die sie machen, die Orter sehen, die allenthalben in den Gedichten leben, die Reste dieser alten Welt in ihren Sitten studieren! eine Zeitlang ein alter Kaledonier werden – und denn nach England zurück, um die Monumente ihrer Literatur und ihre zusammengeschleppten Kunstwerke und das Detail ihres Charakters mehr zu kennen – wie freute ich mich auf den Plan! und als Übersetzer hätte ich gewiß auf andern Wegen ähnliche Schritte tun wollen, die jetzt – Denis nicht getan hat! Für ihn ist selbst die Macphersonsche Probe der Ursprache ganz vergebens abgedruckt gewesen.


... Sie lachen über meinen Enthusiasmus für die Wilden beinahe so, wie Voltaire über Rousseau, daß ihm das Gehen auf vieren so wohl gefiele: Glauben Sie nicht, daß ich deswegen unsre sittlichen und gesitteten Vorzüge, worin es auch sei, verachte. Das menschliche Geschlecht ist zu einem Fortgange von Szenen, von Bildung, von Sitten bestimmt: wehe dem Menschen, dem die Szene mißfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll! Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem seine Szene die einzige ist, und der die erste immer, auch als die schlechteste, verkennet! Wenn alle mit zum Ganzen des fortgehenden Schauspiels gehören: so zeigt sich in jeder eine neue, sehr merkwürdige Seite der Menschheit – und nehmen Sie sich nur in acht, daß ich Sie nicht nächstens mit einer »Phsychologie aus den Gedichten Ossians« heimsuche. Die Ideen wenigstens dazu liegen tief und lebendig genug in meiner Seele, und Sie würden manches Sonderbare lesen!

Für jetzt. Wissen Sie, warum ich ein solch Gefühl teils für Lieder der Wilden, teils für Ossian insonderheit habe? Ossian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als bloß amüsante, abgebrochene Lektüre, kaum lesen können. Sie wissen das Abenteuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem[265] Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sofa der Gesellschaften auf einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über einem Brette, auf offnem allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menschen, die strengere Gesetze haben, als die Republik Lykurgus', mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder und Taten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen – hier die Klippen Olaus vorbei, von denen so viele Wundergeschichte lauten – dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberase, mit ihren vier mächtigen sternebestirnten Stieren abpflügte, »das Meer schlug, wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich, ihren schweren Pflug ziehend, die Stiere wandten, glänzten 8 Sterne vor ihrem Haupte«, über dem Sandlande hin, wo vormals Skalden und Vikinge mit Schwert und Liede auf ihren Rossen des Erdegürtels (Schiffen) das Meer durchwandelten, jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Taten geschahen, und Ossians Lieder Wehmut sangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors. Wood mit seinem Homer auf den Trümmern Trojas, und die Argonauten, Odysseen und Lusiaden unter wehendem Segel, unter rasselndem Steuer: die Geschichte Uthals und Ninathoma im Anblick der Insel, da sie geschahe; wenigstens für mich sinnlichen Menschen haben solche sinnliche Situationen so viel Würkung. Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Flut mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hoffte... Verzeihen Sie es also wenigstens einer alternden Einbildung, die sich auf Eindrücke dieser Art, als auf alte bekannte und innige Freunde stützet. –

Aber auch das ist noch nicht eigentlich Genesis des Enthusiasmus, über welchen Sie mir Vorwürfe machen: denn sonst wäre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein bloßes Meergespenst, das mir erscheinet. Wissen Sie also, daß ich selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes, unter lebenden Völkern zu sehen, denen [266] unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können, um ihnen dafür etwas sehr Verstümmeltes oder nichts zu geben. Wissen Sie also, daß, wenn ich einen solchen alten – – Gesang mit seinem wilden Gange gehört, ich fast immer, wie der französische Marcell gestanden: que de choses dans un menuet! oder vielmehr, was haben solche Völker durch Umtausch ihrer Gesänge gegen eine verstümmelte Menuett, und Reimleins, die dieser Menuett gleich sind, gewonnen? –

Sie kennen die beiden lettischen Liederchen, die Lessing in den »Literaturbriefen« aus Ruhig anzog, und wissen, wieviel sinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem Wesen liegen mußte; lassen Sie mich itzt ein paar peruanische und Garcilasso di Vega ziehen, die ich nach Worten, Klang, und Rhythmus so viel möglich übertragen; Sie werden aber gleich selbst sehen, wie weit sie sich übertragen lassen.

Das erste ist die Serenade eines Liebhabers in der Abenddämmerung:


Schlummre, schlummr', o Mädchen,
Sanft in meine Lieder,
Mitternachts, o Mädchen,
Weck ich dich schon wieder!

Was läßt sich seinem Mädchen mehr und süßer sagen? – Das andre ist ein bloßes Bild, eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und Blitz. In den Wolken ist eine Nymphe mit einem Wasserkruge in der Hand, bestellet, um zu gehöriger Zeit der Erde Regen zu geben. Unterläßt sie's, läßt sie die Erde in Dürre schmachten, so kömmt ihr Bruder, zerschlägt ihren Krug, das gibt Blitz und Donner, und denn zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom Ungewitter in der Dürre, mit Regen begleitet, Ihnen als sinnlich, als anschauend gefällt: so hören Sie das Lied oder Gebet an sie, wie Sie wollen:


Schöne Göttin,
Himmelstochter!
Mit dem vollen
Wasserkruge,
Den dein Bruder
Jetzt zerschmettert
Daß es wettert
Ungewitter,
Blitz und Donner!
[267]
Schöne Göttin,
Königstochter!
Und nun träufelst
Du uns Regen,
Milden Regen!
Doch oft streuest
Du auch Flocken
Und auch Schloßen!
Denn so hat dir
Er der Weltgeist!
Er der Weltgott!
Virakocha!
Macht gegeben
Amt gegeben!

Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht angeführt: denn Sie wissen, in welchem Ruf die dummen Peruaner stehen? ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren, und da arbeitet meine Nachbildung dem Original so matt und schwach nach.

Sie kennen das Kleistische Lied eines Lappländers, und die Hand dieses braven Mannes konnte für uns gewiß nicht anders, als verschönern; aber wenn ich Ihnen nun den rohen Lappländer gäbe? – wenigstens aus der dritten Hand, denn ich habe Scheffer nicht bei mir:


O Sonne, dein hellester Schimmer beglänze den Orra-See!
Ich würde den Fichtengipfel ersteigen, könnt ich schauen den Orra-See!
Ich würd ihn ersteigen, den Gipfel, meine Blumenfreundin zu sehn!
Ich würd ihn bescheren, ihm alle Zweige, seine grünen Zweige stümmeln –
Hätt ich Flügel, zu dir zu fliegen, Flügel der Krähen
Dem Laufe der Wolken folgt ich, ziehend zum Orra-See!
Aber mir mangeln die Flügel! Enteflügel! Füße der Ente!
Rudernde Füße der Gänse, die mich zu dir bringen!
O du hast lange gewartet, so viel Tage! schöne Tage,
Du mit erquickenden Augen, mit deinem freundlichen Herzen! –
Was ist stärker, als Flechte-Sehnen! als eisene, mächtige Ketten
So fesselt uns die Liebe, die Umschafferin Sinns und Willens:
Denn der Wille des liebenden Jünglings ist Windesgang
Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken!
[268] Folgt ich ihnen allen, Ich irrte vom rechten Weg ab.
Drum bleibt mir ein Entschluß, die sichre Bahn zu gehn!

Es ist, wie gesagt, aus der dritten Hand, dieses lappländische Lied – Aber noch immer, wie natürlich, wie sehnlich sinnet der junge, begehrende Lappländer, dem sein Weg zu lange wird, dem alles, was er sieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Krähe und Ruderfüße sich zum Orra-See, auf sein Mädchen beziehen muß! Der auf die Schnelle und Langsamkeit seines Weges, auf sein Hineilen der Seele, auf seine vorwandernde Gedanken, auf seine Lust, Richtsteige zu suchen, wie natürlich! wie sehnlich zurückkommt! Que de choses dans un menuet! und ich liefre Ihnen doch nur die stammlendsten, zerrissensten Reste.

Ein andres lappländisches Liebeslied an sein Rentier wollte ich Ihnen auch mitteilen; aber es ist verworfen, und wer mag Zettel suchen? Dafür stehe hier ein altes, recht schauderhaftes schottisches Lied, für das ich schon mehr stehen kann, weil ich's unmittelbar aus der Ursprache habe. Es ist ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, und soll im Schottischen mit der rührendsten Landmelodie begleitet sein, der der Text so viel Raum gönnet:


Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot?
Edward, Edward!
Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot
Und gehst so traurig da! – Oh!
Ich hab geschlagen meinen Geier tot
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen meinen Geier tot,
Und das, das geht mir nah! – Oh!
Dein's Geiers Blut ist nicht so rot!
Edward, Edward!
Dein's Geiers Blut ist nicht so rot!
Mein Sohn, bekenn mir frei! – Oh!
Ich hab geschlagen mein Rotroß tot!
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen mein Rotroß tot!
Und's war so stolz und treu! Oh!
Dein Roß war alt und hast's nicht not!
Edward, Edward,
Dein Roß war alt und hast's nicht not,
Dich drückt ein ander Schmerz! Oh!
[269]
Ich hab geschlagen meinen Vater tot,
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen meinen Vater tot,
Und das, das quält mein Herz! Oh!
Und was wirst du nun an dir tun?
Edward, Edward!
Und was wirst du nun an dir tun?
Mein Sohn, bekenn mir mehr! Oh!
Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
Mutter, Mutter,
Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
Will wandern über Meer! Oh!
Und was soll werden dein Hof und Hall,
Edward, Edward,
Und was soll werden dein Hof und Hall,
So herrlich sonst und schön! Oh!
Ach! immer steh's und sink und fall,
Mutter, Mutter,
Ach! immer steh's und sink und fall,
Ich werd es nimmer sehn! Oh!
Und was soll werden dein Weib und Kind,
Edward, Edward?
Und was soll werden dein Weib und Kind,
Wann du gehst über Meer – Oh!
Die Welt ist groß! laß sie betteln drin,
Mutter, Mutter!
Die Welt ist groß! laß sie betteln drin,
Ich seh sie nimmermehr! – Oh!
Und was soll deine Mutter tun?
Edward, Edward!
Und was soll deine Mutter tun?
Mein Sohn, das sage mir! Oh!
Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn,
Mutter, Mutter!
Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn,
Denn Ihr, Ihr rietet's mir! Oh.

Könnte der Brudermord Kains in einem Populärliede mit grausendern Zügen geschildert werden? und welche Würkung muß im lebendigen Rhythmus das Lied tun? und so, wie viele viele Lieder des Volks! Doch aus meinem Briefe soll kein Buch werden usw.

[270] ... Endlich werden Sie aufmerksam, und mahnen mich um mehrere solche Volkslieder; ich aber beweise nun wieder gegen Sie Eigensinn. Denn aus Ihrem vorletzten Briefe z.E. ist mir noch ein Einwurf auf dem Herzen. »Auch Herr D. habe ja so viel lyrische Stücke, und die so schön wären!«

Lyrische Stücke hat er, und schön sind sie; aber wieviel lyrische Stücke, und wodurch sind sie schön? Was ist das andre im Original, was bei ihm nicht lyrisch ist, der Grund des Gedichts, auf dem seine Oden nur Blumen sind, ist das Hexameter? Und denn auch, wie? wodurch sind sie schön? Durch schöne römische, griechische Silbenmaße, und durch so schöne Anordnung in denselben, daß ich ja eben deswegen behauptet, sie sei'n die schönen Bardenlieder Ossians nicht mehr! Was macht Macpherson fast bei jedem solcher Stücke für Ausrüfe über das Wilde, oder Sanfte, oder Feierliche oder Kriegerische ihres Rhythmus, ihrer Melodien, ihrer Silbenmaße, das Seele des Gesangs sei – nun muß ich aber bekennen, daß bei den meisten Fällen ich weder Wahl, noch Veranlassung eben zu solchen römischen und griechischen Silbenmaßen; ja wenn ich von den Gesängen der Wilden überhaupt Ton habe, nirgends Veranlassung zu einem solcher römischen und griechischen Silbenmaße sehe. Ich mag mit Herrn D. nicht wetteifern; er hat so viel poetischen Stil und Sprache in seiner Gewalt; aber ich wollte ein Stück bei ihm sehen, das nicht in einem andern Silbenmaße ebenso gut, das ist, ebenso geziert, erscheinen sollte, und manches ist, ohne Umschweif,übel gewählt.

Zur Probe davon sehen Sie einmal den dritten Band durch. Da hat ihm, ich weiß nicht, welcher Kunstrichter, den Rat gegeben, mehr des skaldischen Silbenmaßes zu gebrauchen, und nun sehen Sie, wie es der Übersetzer mißbraucht hat. Die vortreffliche, so vielsaitige Goldharfe, die unter der Hand des dänischen Skalden allen Zauber- und Macht- und Leier- und Wunderton hat annehmen können, so wie gegenseitig den Ton der Liebe, der Freundschaft, der Entzückung, ist in den Händen des Übersetzers eine hölzerne Trommel mit zween Schlägen geworden. – Schade nur, daß eben dadurch die schönen Lieder von Selma und das süße »Carrikthura« verunstaltet sind. Im ersten Bande hat der Übersetzer gar eine Kantate in Reimen nach aller Form erfunden, und da ihm nun kaum zwei Reime gelingen, so sinkt dies ganze Stück fast unter die Kritik hinab.

Wie ganz anders hat Klopstock auch hier z.E. in der Sprache [271] gearbeitet! Der sonst so ausfließende ausströmende Dichter, wie kurz! wie stark und abgebrochen! wie altdeutsch hat er sich, in seiner »Hermannsschlacht« zu sein bestrebt! Welche Prose gleiche da wohl seinem Hexameter! welch lyrisches Silbenmaß seinen sonst so strömenden griechischen Silbenmaßen! Wenn in seinem Bardit wenig Drama ist: so ist wenigstens das Lyrische im Bardit, und im Lyrischen mindstens der Wortbau so dramatisch, so deutsch! – Lesen Sie z.E. das edle, simple Stückchen:


Auf Moos, am luftigen Bach etc.


und so viele, ja fast alle andre, und dann zeigen Sie mir etwas in dem Bardenton in Denis. Da nun Klopstock selbst sich so sehr hat verleugnen können, verändern müssen – ist dies Muß nicht eine große Lehre? Sie schrieben mir neulich, da Sie Denis' Silbenmaße priesen, Ihnen sei bei seinem »Fingal und Roskrane« Klopstocks »Hermann und Thusnelde« (in den Brem. Beitr.) eingefallen: desto schlimmer, denn Klopstocks neuerer Bardeton ist wohl nicht ganz der in »Hermann und Thusnelde«. Ich bin's gewiß nicht allein, der diesen veränderten, härtern Bardeton im neuern Klopstock empfindet, und ohne mich in das Beßre oder Schlechtre einzulassen, geht ich gern mit den Jahren des Dichters, und mit der Natur fort, und bin stolz darauf das deutsche Bardenmäßige in seinem


Was tat dir Tor, dein Vaterland


und in allen neuern Stücken, wo soviel kurzer, dramatischer Dialog und Wurf der Gedanken ist, zu empfinden –


... Der Faden unsres Briefwechsels vervielfältigt sich so, daß ich kaum mehr weiß, wo ich ihn angreifen soll, um ihn fortzuführen – am besten also, wo er mir in die Hände fällt.

Die Anmerkungen, die Sie »über das Dramatische in den alten Liedern« dieser Art machen, ist so nach meinem Sinn, daß ich's mir immer mit unter den Charakterstücken der Alten gedacht habe, die wir Neuere so wenig erreichen, als ein totes momentarisches Gemälde eine fortgehende, handelnde, lebendige Szene. Jenes sind unsre Oden; dies die lyrischen Stücke der Alten, insonderheit wilder Völker. Alle Reden und Gedichte derselben sind Handlung: Lesen Sie z.E. im Charlevoix selbst die unvorbereitete Kriegs- und Friedensrede des Eskimo: es ist alles in ihr Bild, Strophe, Szene! Was für Handlung in »Odins Höllenfahrt«, [272] im »Webegesang der Valkyriur«, im »Beschwörungsliede der Hervor«, und bei Ossian auf jeder Seite, in jedem Stücke! Damit Sie nun nicht wieder sagen, daß ich Ihnen viel nenne und nichts gebe: so mache ich mit Abtragung meiner Schuld den Anfang, und lege Ihnen, zumal ich jetzt zu schreiben, nicht mehr Zeit habe, ein paar der genannten bei. Ich hätte sie Ihnen so neu aufstutzen und idealisieren können: denn blieben sie ja aber nicht mehr, was sie jetzt sind, und eben am Aerugo der Bildsäule, am dunkeln, einförmigen, nordischen Zauberton der Stücke, ist Ihnen und mir ja gelegen:


Odins Höllenfahrt

Es erhub sich Odin
Der Menschen höchster!
Und nahm sein Roß
Und schwang sich aufs Roß
Und ritt hinunter
Zu der Höllen Tor.
Da kam ihm entgegen
Der Höllenhund!
Blutbespritzt
War seine Brust!
Mit offnem Rachen,
Und scharfem Gebiß
Und Wut und Schaum.
Und riß den Rachen
Und bellt' entgegen
Dem Zaubervater
Und bellte lang!
Und fort ritt Odin
Und die Erd erbebte.
Da kam er zum hohen
Höllenschloß,
Und ritt gen Aufgang
Zum Höllentor,
Wo die Seherin
Im Grabe lag.
Und sang der Weisen
Totenerweckenden
[273]
Gräbergesang:
Und sah gen Norden
Und legte Runen
Und beschwur und fragt',
Und foderte Rede
Bis sie zürnend endlich
Sich erhob und begann
Totenstimme:
»Wer ist der Mann?
Ich kenn ihn nicht!
Der meine Ruhe
Zu stören beginnt!
Ich lag mit Schnee
Und Eis bedeckt,
Und Regen beflossen
Und Tau benetzt,
Und lag so lang!«
»Ein Wandrer bin ich,
Kriegerssohn.
Du sollst mir Kunde
Vom Höllenreich geben.
Ich will sie dir geben
Aus meiner Welt!
Jener goldne Sitz
Wem ist er bereitet?
Jenes goldne Bette
Für wen steht's da?«
»Für Baldern steht,
Sieh her! der Trank,
Der Honigtrank
Und der Schild liegt drauf!
Bald werden um ihn
Die Götter trauren!
Unwillig red ich
Nun laß mich ruhn!«
»Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter
Und lasse nicht ab,
Bis ich alles weiß!
[274]
Sprich, wer wird Baldern
Den Tod bereiten?
Und Leben berauben
Odins Sohn?«
»Hoder ist's,
Der wird dem Bruder
Den Tod bereiten
Und Leben berauben
Odins Sohn!
Unwillig red ich
Nun laß mich ruhn!«
»Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter,
Und lasse nicht ab,
Bis ich alles weiß!
Sprich, wer wird Hodern
Den Haß vergelten
Und Balders Mörder
Zum Grabe senden?«
»In Westen wird Rinda
Dem Odin zu Nacht
Einen Sohn gebären,
Der kaum geboren
Wird Waffen tragen,
Seine Hand nicht waschen,
Sein Haar nicht kämmen,
Bis er Balders Mörder
Zu Grabe gebracht.
Unwillig red ich's
Nun laß mich ruhn!«
»Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter,
Und laß nicht ab
Bis ich alles weiß.
Wer sind die Jungfraun,
Die stumm dort weinen
Und himmelan werfen
Im Schmerz den Schleir
Noch das sprich mir
Eher sollt du nicht ruhn!«
[275]
»O du kein Wandrer,
Wie ich erst gewähnt!
Du bist Odin selbst
Der Menschen Höchster.«
»Und du keine Weise
Prophetenjungfrau;
Keine Seherin!
Drei-Riesen-Mutter
Vielmehr bist du!«
»Weg, Odin! wandre
Nach heim! hinweg!
Und rühme daheim,
Daß niemand der Menschen
Wie du's vermocht,
Forschen wird,
Bis einst der Arge
Die Ketten bricht
Und die Götter fallen
Und die Welt zerfällt
Und Nacht beginnt!«

Der Webegesang der Valkyriur
(Der Schicksalsgöttinnen, vor der Schlacht, zu des Grafen Randvers Tod, und des Königs Siege)

Umher wird's dunkel
Von Pfeilgewölken!
Sie breiten umher sich
Wetterverkündend!
Es regnet Blut!
Auf! knüpfet an Spieße
Das Schicksalsgewebe
Blutroten Einschlags,
Ihr Todesschwestern
Zu Randvers Tod.
Sie weben Gewebe
Von Menschendärmen!
Menschenhäupter
Hängen sie dran!
Bluttriefende Spieße
[276]
Schießen sie durch
Und sind mit Waffen
Und Pfeil gerüstet
Und dichten mit Schwertern
Das Sieggarn fest.
Sie kommen zu weben
Mit nackten Schwertern
Hild, Hiorthrimul,
Sangrida, Svipul,
Eh die Sonne sinkt
Werden Schilde spalten
Und Panzer brechen
Und Schwerter treffen,
Daß die Helme tönen.
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Dies Schwert trug einst
Ein Königssohn!
Hinaus, hinaus
An die Scharen hinan,
Wo unsre Freunde
In Waffen schon glühn!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus
Zum König hinan!
Gudr, Gondula!
Da sahen sie schon
Schilde blutrot
Den König decken!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus!
Wo die Waffen tönen
Und Helden fechten!
Wir wollen nicht fallen
Den König lassen!
Die Valkyriur walten
Über Leben und Tod!
[277]
Es soll gebieten,
Dem Erdenkreis
Dies Volk der Wüste!
Mächtiger König
Ich verkünde dir:
Es nahe in Pfeilen
Ein Tod heran!
Dein Feind ist gefallen! –
Und Irland wird
Trauer treffen,
Die seinen Söhnen
Nie schwinden wird!
Das Geweb ist gewebt!
Das Schlachtfeld fließt
Von rotem Blut!
Der Krieg wird wüten
Noch Länder hindurch!
Wie ist's nun schrecklich
Umherzuschaun!
Blutwolken fliegen
In der Luft umher!
Ach! Kriegerblutes
Wird die Luft getüncht,
Eh unsre Stimmen
Erfüllt einst sind.
Singt all ihr Schwestern
Dem Könige Heil!
Und Siegeslieder!
Und Heil uns Schwestern
Und unserm Gesang!
Und wer sie hört
Die Schlachtgesänge,
Der lern und singe
Sie den Kriegern vor.
Und reiten auf Rossen
In der Luft hinweg:
Mit nackten Schwertern
Hinweg von hier!

[278] ... Habe ich denn je meine skaldische Gedichte in allem für Muster neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! sie mögen so einförmig, so trocken sein: andre Nationen sie so sehr übertreffen: sie mögen für nichts als Gesänge nordischer Meistersänger oder Improvisatori gelten; was ich mit ihnen beweisen will, beweisen sie. Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber große, zaubermäßige, feierliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freie Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird – nur das wollte ich bei den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also lassen Sie mich reden.

Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen) durch alle dies nicht zerstreuet: noch minder durch Künsteleien, sklavische Erwartungen, furchtsam schleichende Politik, und verwirrende Prämeditation verdorben – über alle diese Schwächungen des Geistes selig unwissend, erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesse mit einer unvorbedachten Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer allezeit haben bewundern müssen, und – müssen bleiben lassen. Unsre Pedanten, die alles vorher zusammenstoppeln, und auswendig lernen müssen, um alsdenn recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten, als daß sie endlich, wie Shakespeares Launcelots, Polizeidiener, und Totengräber uneigen, unbestimmt, und wie in der letzten Todesverwirrung sprechen – diese gelehrte Leute, was wären die gegen die Wilden? – Wer noch bei uns Spuren von dieser Festigkeit finden will, der suche sie ja nicht bei solchen; – unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande, mehr durch Tätigkeit, als Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich anführete, Beredsamkeit ist, alsdenn die einzigen und besten Redner unsrer Zeit.

In der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben diese Sicherheit und Festigkeit des Ausdrucks am [279] meisten mit Würde, mit Wohlklang, mit Schönheit zu paaren wußten; und da sie also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten, sich einander nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen, beizuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke von αοιδοις Sängern, Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren. Homers Rhapsodien und Ossians Lieder waren gleichsam Impromptus, weil man damals noch von nichts als Impromptus der Rede wußte: dem letztern sind die Minstrels, wiewohl so schwach und entfernt, gefolgt; indessen doch gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur auslöschte. In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von Silben kennenzulernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen, noch weniger imaginieren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen – und endlich wurde alles Falschheit, Schwäche, und Künstelei. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und verlor Festigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit und Wahrheit und Andringlichkeit. – Alles ging verloren. Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter der menschlichen Seele sein sollte, ward die ungewisseste, lahmste, wankendste: die Gedichte fein oft korrigierte Knaben-und Schulexerzitien. Und freilich, wenn das der Begriff unsrer Zeit ist, so wollen wir auch in den alten Stücken immer mehr Kunst als Natur bewundern, finden also in ihnen bald zuviel, bald zuwenig, nachdem uns der Kopf steht, und selten was in ihnen singt, den Geist der Natur. Ich bin gewiß, daß Homer und Ossian, wenn sie aufleben und sich lesen, sich rühmen hören sollten, mehr als zu oft über das erstaunen würden, was ihnen gegeben und genommen, angekünstelt, und wiederum in ihnen nicht gefühlt wird.

Freilich sind unsre Seelen heutzutage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grübeln nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm und im Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beides – und haben uns das schon so [280] lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns freilich jetzt kaum eine freie Ausbildung mehr glücken würde, denn wie kann ein Lahmer gehen? Daher also auch, daß unsern meisten neuen Gedichten, die Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste Hinwurf verleihet, und kein späteres Nachzirkeln erteilen kann. Einem Homer und Ossian würden wir bei solchem poetischen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als einem Raffael oder Apelles, der durch einen Umriß sich als Apelles zeigt, der schwachhändig, kritzelnde Lehrknabe – usw.


... Als ob ich mit dem, was ich neulich vom ersten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererei unsrer jungen Dichterlinge, auch nur im mindesten zustatten kommen könnte? Denn was ist doch bei ihnen für ein Fehler sichtbarer, als eben die Unbestimmtheit, Unsicherheit der Gedanken und der Worte, daß sie nie wissen, was sie sagen wollen, oder sollen? – Weiß aber jemand das nicht, wie kann er's durch alle Korrektur lernen? Durch Schnitzelei kann da je ein Bratspieß zur marmornen Bildsäule Apolls werden?

Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst sind hierin zwei Hauptfälle möglich. Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die teils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert, und die bei ihm herrschend sind, vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar fassen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese Klasse von Kräften die wirksamste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. Im ersten Falle haben Milton, Haller, Kleist und andre gedichtet: sie sannen lang, ohne zu schreiben: sprachen sie aber, so ward's und stand. Bei Milton wenige Verse, die er so Nächte durch gleichsam als mosaische Arbeit in seiner Seele gebildet hatte, und frühe dann seiner Schreiberin sagte: Haller, dessen Gedichten man's gnug ansieht, wie ausgedacht und zusammendrängend sie sind: Lessing ist, glaub ich, in seinen spätern Stücken der Dichtkunst auch in dieser Zahl – alle so [281] lebendig, und in der Seele ganz vollendete Stocke nehmen sich, wenn nicht durch ein Schnelles, so durch ein Tiefes und Beständiges des Eindrucks aus. Sie dauren, und die Seele findet bei jedem neuen wiederholten Eindruck gleichsam noch etwas Tiefers und Vollendetes, was sie anfangs nicht bemerkte. Von der zweiten Art muß z.E. Klopstock in den ausströmendsten Stellen seiner Gedichte sein: Gleim, dessen Gedichte so viel Sichtbares vom ersten Wurf haben: Jacobi, dessen Verse nichts, als sanfte Unterhaltungen des Moments werden, und andre, die die Sache freilich nachher bis zu jeder Nachlässigkeit übertrieben haben. Ramler, glaube ich, sucht beide Arten zu verbinden, ob freilich gleich die erste, die ausgedachte, bei ihm ungleich sichtbarer ist. Wieland sucht sie zu verbinden, ob er gleich immer doch mehr aus dem Fach der Weltkenntnis seines Herzens zu schreiben scheine, Gerstenberg zu verbinden – und überhaupt verbindet sie in gewissem Maße jeder glückliche Kopf: denn so entfernt beide Arten im Anfange scheinen; so wenig ein Genie sich der Art des andern aus dem Stegreife bemächtigen kann: so kommen sie doch endlich beide überein; lange und stark und lebendig gedacht, oder schnell und würksam empfunden – im Punkt der Tätigkeit wird beides impromptu, oder bekömmt die Festigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und Sicherheit desselben, und das – nur das ist, was ich sagen wollte. Was ließen sich aber auch nur aus dem für große, reiche Wahrheiten der Erziehung, der Bildung, der Unterweisung ziehen! Was ließen sich überhaupt aus dieser Proportion oder Disproportion des erkennenden und empfindenden Teils unsrer Seele für psychologische und praktische Anmerkungen machen! – Aber Sie müssen auf meine Psychologie über Ossian warten!

Ich bleibe hier in meinem Felde. Da die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben: so hat mich dies längst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die ich Ihnen hier zum freundschaftlichen Gutachten mitteile. Zuerst, sollten also wohl für den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also für die Seele des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist, dergleichen lebhafte Sprünge, Würfe, Wendungen, wie Sie's nennen wollen, so eine fremde böhmische Sache sein, als uns die Gelehrten und Kunstrichter beibringen wollen? Sie wissen die Einwürfe, die man hier aus Klopstocks Kirchenliedern, wie es immer gelautet [282] hat, für die gute Sache des christlichen Volks gemacht hat, lassen Sie uns sehen, was daran sei?

Zuerst muß ich Ihnen also, wenn es auf Erfahrung und Autorität ankommt, sagen, daß nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks, und eben die Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht, ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung und Feuer singen, und zu singen nicht ablassen können. Mir ist z.E. ein »Jägerlied« bekannt, das ich wohl unterlassen werde, Ihnen ganz mitzuteilen, weil sich das meiste und Anziehendste in ihm, auf lebendigen Ton und Melodie des Horns beziehet; aber bei allem Simpeln und Populären ist kein Vers ohne Sprung und Wurf des Dialogs, der in einem neuen Gedichte gewiß Erstaunen machte, und über den unsre lahme Kunstrichter, als so unverständlich, kühn, dithyrambisch schreien würden. Ein Jäger hat abends spät das Netz gestellt, und bläst alleweil bei der Nacht (welche Worte die Jägerresonanz sind), mit seinem Horne das Wild aus dem Korn ins lange Holz: alleweil bei der Nacht begegnet ihm also von fern eine Jungfrau stolz, und da hebt sich dieser Dialog an:


»Wo aus? wo ein? du wildes Tier!
Alleweil bei der Nacht!
Ich bin ein Jäger, und fang dich schier«, usw.
»Bist du ein Jäger, du fängst mich nicht
Alleweil bei der Nacht!
Mein hohe Sprüng, die weißt du nicht«, usw.
»Dein hohe Sprüng, die weiß ich wohl,
Alleweil bei der Nacht!
Weiß wohl, wie ich sie dir stellen soll,« usw.
Und sehen Sie, plötzlich, ohne alle weitere Vorbereitung erhebe sich die Frage:
Was hat sie an ihrem rechten Arm?
und plötzlich, ohne weitere Vorbereitung die Antwort:
»Nun bin ich gefangen«, usw.
Was hat sie an ihrem linken Fuß?
»Nun weiß ich, daß ich sterben muß!«

und so gehen die Würfe fort, und doch in einem so gemeinen, populären Jägerliede! und wer ist's, der's nicht verstünde, der [283] nicht eben daher auf eine dunkle Weise, das lebendige Poetische empfände?

Alle alte Lieder sind meine Zeugen! Aus Lapp- und Estland, lettisch und polnisch, und schottisch und deutsch, und die ich nur kenne, je älter, je volkmäßiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender. Wenn Ihnen meine skaldischen, und lapp- und schottländischen Lieder nicht genug sind, hören Sie einmal ein andres, aus den Dodsleyschen »Reliques«: ich wähle ein ganz gemeines, deren wir unter unserm Volk gewiß hundert ähnliche, und wo nicht Lieder, doch Sagen haben. Es ist nichts in der Welt mehr, als »Sweet Williams Ghost«: und doch, wie wenig kann ich ihm in der Übersetzung, seinen Aerugo, sein feierliches Populäres lassen.


Zu Hannchens Tür, da kam ein Geist,
Mit manchem Weh und Ach!
Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß
Und ächzte traurig nach.
»Ist's Vater Philipp! der ist da?
Bist's, Bruder! du, Johann?
Oder ist's Wilhelm, mein Bräutigam!
Aus Schottland kommen an?«
»Dein Vater Philipp, der ist's nicht!
Dein Bruder nicht, Johann!
Es ist Wilhelm, dein Bräutigam,
Aus Schottland kommen an!
Hör, süßes Hannchen, höre mich,
Hör und willfahre mir!
Gib mir zurück mein Wort und Treu,
Das ich gegeben dir!«
»Dein Wort und Treu geb ich dir nicht
Geb's nimmer wieder dir!
Bis du zu meiner Kammer kommst,
Mit Liebeskuß zu mir!«
»Zu deiner Kammer soll ich ein,
Und bin kein Mensch nicht mehr?
Und küssen deinen Rosenmund?
Mein süßes Hannchen, höre mich,
So küß Ich Tod dir her!
Hör und willfahre mir.
Gib mir zurück mein Wort und Treu
Das ich gegeben dir!«
[284]
»Dein Wort und Treu geb ich dir nicht,
Geb's nimmer wieder dir!
Bis du mich führst zur Kirch hinan
Mit Treuering dafür!«
»Und an der Kirche lieg ich schon
Und bin ein Totenbein!
's ist, süßes Hannchen, nur mein Geist,
Der hier zu dir kommt ein!«
Ausstreckt sie ihre Liljenhand
Streckt bebend sie ihm zu:
»Da, Wilhelm, hast du Wort und Treu,
Und geh, und geh zur Ruh!«
Und schnell warf sie die Kleider an
Und ging dem Geiste nach,
Die ganze lange Winternacht
Ging sie dem Geiste nach.
»Ist, Wilhelm, Raum noch, dir zu Haupt.
Noch Raum zu Füßen dir?
Ist Raum zu deiner Seite noch,
So gib, o gib ihn mir!«
»Zu Haupt und Fuß ist mir nicht Raum
Kein Raum zur Seite mir!
Mein Sarg ist, süßes Hannchen, schmal
Daß ich ihn gebe dir!«
Da kräht der Hahn! da schlug die Uhr!
Da brach der Morgen für!
»Ach, Hannchen, nun, nun kommt die Zeit,
Zu scheiden weg von dir!«
Der Geist – und mehr, mehr sprach er nicht
Und seufzte traurig drein
Und schwand in Nacht und Dunkel hin
Und sie, sie stand allein!
»Bleib, treue Liebe! bleibe noch
Dein Mädchen rufet dich!«
Da brach ihr Blick! ihr Leib der sank,
Und ihre Wang erblich! –

Nun sagen Sie mir, was kühn geworfner, abgebrochner und doch natürlicher, gemeiner, volksmäßiger sein kann? Ich sage volksmäßiger: denn was die Bräutigamssitte betrifft, lesen Sie die Gebräuche der Wilden, z.E. der Nordamerikaner; und das Kostüm [285] der Erscheinung, in seiner ganzen Natur, brauche ich Ihnen nicht zu erklären – künftig weiter!


... Sie glauben, daß auch wir Deutschen wohl mehr solche Gedichte hätten, als ich mit der schottischen Romanze angeführet; ich glaube nicht allein, sondern ich weiß es. In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben gewiß nichts nachgeben würden; nur wer ist der sie sammle? der sich um sie bekümmre? sich um Lieder des Volks bekümmre? auf Straßen, und Gassen und Fischmärkten? im ungelehrten Rundgesange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht skandiert, und oft schlecht gereimt sind? wer wollte sie sammlen – wer für unsre Kritiker, die ja so gut Silben zählen, und skandieren können, drucken lassen? Lieber lesen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unsre neuere schöngedruckte Dichter – Laß die Franzosen ihre alte Chansons sammlen! Laß Engländer ihre alte Songs und Balladen und Romanzen in prächtigen Bänden herausgeben! Laß in Deutschland etwa der einzige Lessing sich um die Logaus und Scultetus und Bardengesänge bekümmern! Unsre neuen Dichter sind ja besser gedruckt und schöner zu lesen; allenfalls lassen wir noch aus Opitz, Fleming, Gryphius Stücke abdrucken. – Der Rest der ältern, der wahren Volksstücke, mag mit der sogenannten täglich verbreitetern Kultur ganz untergehen, wie schon solche Schätze untergegangen sind – wir haben ja Metaphysik und Dogmatiken und Akten – und träumen ruhig hin –

Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir noch in unsern Provinzialliedern, jeder in seiner Provinz nachsuchten, wir vielleicht noch Stücke zusammenbrächten, vielleicht die Hälfte der Dodsleyischen Sammlung von »Reliques«, aber die derselben beinahe an Wert gleichkäme! Bei wie vielen Stücken dieser Sammlung, insonderheit den besten schottischen Stücken sind mir deutsche Sitten, deutsche Stücke beigefallen, die ich selbst zum Teil gehöret – haben Sie Freunde in Elsaß, in der Schweiz, in Franken, in Tirol, in Schwaben, so bitten Sie – aber zuerst, daß sich diese Freunde ja der Stücke nicht schämen; denn die dreusten Engländer haben sich z.E. nicht schämen wollen und dörfen. Selbst die Melodie des Ihnen einmal angeführten: »Come away, come away, death!« erinnere ich mich, einmal dunkel gehört zu haben, und noch nicht vor langer Zeit erinnere ich mich eines Bettlerliedes, [286] das an Inhalt so gemischt und voll Sprünge war, und in seiner sehr lyrischen alten Melodie so traurig tönte. – Unter ihrem Jammer kam die Sängerin, eine Penia selbst, im halben Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn sie der bittre Tod überwände, und ihr (ich glaube es ist Gewohnheit oder Ausdruck) die Füße bände; endlich kämen 4 oder 6 Leute, die sie von Hause und Freunden weg, unter dem Schall der Totenglocke, in ihr Grab trügen –


Und wenn die Glocke verliere ihren Ton
So haben meine Freunde vergessen mich schon! –

sagen Sie, ist der Zug nicht elegisch und rührend?

Da ich weiß, daß dieser Brief keinem von den ekeln Herren unsrer Zeit in die Hände kommen wird, die über einen veralteten Reim oder Ausdruck gleich rümpfen! Da ich weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage ich kein Bedenken, Ihnen z.E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein sehnend-trauriges Liebeslied hinzusetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler oder Gerstenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern überträfe! –


Der süße Schlaf, der sonst stillt alles wohl
Kann stillen nicht mein Herz mit Trauren voll,
Das schafft allein, die mich erfreuen soll!
Kein Speis, kein Trank, mir Lust, noch Nahrung geit,
Kein Kurzweil ist, die mir mein Herz erfreue,
Das schafft allein, die mir im Herzen leit!
Kein Gesellschaft ich nicht mehr besuchen mag,
Ganz einig sitz in Unmut Nacht und Tag,
Das schafft allein, die ich im Herzen trag.
In Zuversicht allein an ihr ich hang
Und hoff, sie soll mich nicht verlassen lang,
Sonst fiel ich g'wiß ins bittern Todes Zwang.

Ist das Silbenmaß nicht schön, die Sprache nicht stark, der Ausdruck: empfunden? Und, glauben Sie, so würden sich in jeder Art mehrere Stücke finden, wenn nur Menschen wären, die sie suchten!

Wir haben z.B. viele und vielerlei neue Fabeln, was sagen Sie demohngeachtet aber zu einer solchen alten Fabel im alten Ausdruck und Ton:


[287] Kuckuck und Nachtigall

Einmal in einem tiefen Tal
Der Kuckuck und die Nachtigall
Eine Wett täten anschlagen,
Zu singen um das Meisterstück,
Wer's gewönn aus Kunst oder aus Glück
Dank sollt er davontragen.
Der Kuckuck sprach: »So dir's gefällt
– Hab der Sach einen Richter erwählt!«
Und tät den Esel nennen.
Denn weil der hat zwei Ohren groß,
So kann er hören desto baß
Und was recht ist, erkennen!
Als ihm die Sach nun ward erzählt, (vermutlich vertalt)
Und er zu richten hat Gewalt,
Schuf er: sie sollten singen!
Die Nachtigall sang lieblich aus;
Der Esel sprach: »Du machst mir's kraus!
Ich kann's in Kopf nicht bringen.«
Der Kuckuck fing auch an und sang
Wie er denn pflegt zu singen:
»Kuckuck! Kuckuck!« – lacht fein darein!
Das gefiel dem Esel im Sinne sein.
Er sprach: »In allen Rechten
Will ich ein Urteil sprechen:
Hast wohl gesungen, Nachtigall,
Aber! – Kuckuck! – singt gut Choral!
Und hält den Takt fein innen.
Das sprech ich nach meinem hohen Verstand,
Und ob es gölt ein ganzes Land
So laß ich's dich gewinnen« –

Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber zehn solche gemacht, als alle – – – sche? Lassen Sie mich die Moral nicht dazusetzen, sie ist schlechter gesagt, neuer, und wie vielerlei Moral kann sich nicht jeder selbst daraus ziehen – in Teilen und im Ganzen! Die Herrn, die so bürgerlich feist wohlmeinend achten, daß jener Titel und dieser Kragen doch das Ding verstehen müßte –


[288]
Dieweil er hat zwei Ohren groß
So kann er freilich hören baß!

Die Herren, die aus Stumpfsinn, und Gedankenlosigkeit gleich über jeden etwas gedrängten oder lebhaften Stil schreien, »ei nicht griechische Lauterkeit! Ciceronische Wohlberedtheit« in ellenlangen deutschlateinischen Perioden! so voll Anspielungen, voll Bilder, voll Gedanken – sonst aber freilich – – – kurz:


Der Esel sprach: »Du machst mir's kraus,
Ich kann's in Kopf nicht bringen –
Aber Kuckuck singt gut Choral
Und hält den Takt fein innen!« –

Was ließen sich sonst noch vor Deutungen machen, wenn man etwas die Welt kennet? – Aber zu unserm Zweck: wie fest und tief erzählt! Ohne erzwungne Lustigkeit und doch wie lustig und stark und treffend in jedem Wort, in jeder Wendung! – Aller guten Dinge sind drei! und zu unsern Zeiten wird so viel von Liedern für Kinder gesprochen: wollen Sie ein älteres deutsches hören? Es enthält zwar keine transzendente Weisheit und Moral, mit der die Kinder zeitig genug überhäuft werden – es ist nichts als ein kindisches


Fabelliedchen

Es sah ein Knab ein Röslein stehn
Ein Röslein auf der Heiden.
Er sah, es war so frisch und schön
Und blieb stehn, es anzusehen
Und stand in süßen Freuden.

Ich suppliere diese Reihe nur aus dem Gedächtnis, und nun folgt das kindische Ritornell bei jeder Strophe:


Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden!
Der Knabe sprach: »Ich breche dich!
Röslein« etc.
Das Röslein sprach: »Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich
Daß ich's nicht will leiden!«
Röslein etc.
Jedoch der wilde Knabe brach,
Das Röslein etc.
[289]
Das Röslein wehrte sich und stach,
Aber er vergaß darnach
Beim Genuß das Leiden!
Röslein etc.

Ist das nicht Kinderton? Und noch muß ich Ihnen eine Änderung des lebendigen Gesanges melden. Der Vorschlag tut bei den Liedern des Volks eine so große und gute Würkung, daß ich aus deutschen und englischen alten Stücken sehe, wieviel die Minstrels darauf gehalten: und der ist nun noch im Deutschen wie im Englischen in den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de Knabe) 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a, und was man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort bekommt auf solche Weise immer weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit


' Knabe sprach
' Röslein sprach, usw.

in den Liedern weit mehr Akzent, und endlich lassen Sie mich noch mit einer weitern Anmerkung hieraus schließen. In schnellrollenden, gereimten komischen Sachen, und aus dem entgegengesetztesten Grunde in den stärksten, heftigsten Stellen der tragischen Leidenschaft, dort insonderheit in leichtsinnigen Liedern, hier am meisten in den gedrungnen Blankversen haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie schädlich es uns Deutschen sei, daß wir keine Elisionen haben, oder uns machen wollen? Unsre Vorfahren haben sie häufig und zu häufig gehabt: die Engländer mit ihren Artikeln, mit den Vokalen bei unbedeutenden Wörtern, Partikeln usw. haben sie zur Regel gemacht: die innre Beschaffenheit beider Sprachen ist in diesem Stücke ganz einerlei: uns quälen diese schleppende Artikel, Partikeln usw. oft so sehr, und hindern den Gang des Sinns oder der Leidenschaft – aber wer unter uns wird zu elidieren wagen? Unsre Kunstrichter zählen ja Silben, und können so gut skandieren! Sie also, der kein Kunstrichter ist, erlauben Sie also in dergleichen Fällen mir wenigstens, mich freiherrlichermaßen des Zeichens (') bedienen zu können, nach bestem Belieben usw.


... Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: »woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?«

[290] Gewöhnen wäre immer das Leichteste zu erklären: denn wozu kann man Sich nicht gewöhnen, wenn man nichts anders hat und kennet? Da wird uns im kurzen die Hütte zum Palast, und der Fels zum ebnen Wege – aber darauf kommen? Es als eigne Natur so lieben können? Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der Tat die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann.

Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseiende Gegenstände, Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind da nun Umstände, gegenwärtige Züge, Teilvorfälle! Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Teilen des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebüschen im Walde, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als unter den Szenen der Begebenheit selbst. Wenn der Grönländer von seinem Seehundfange erzählt: so redet er nicht, sondern malet mit Worten und Bewegungen, jeden Umstand, jede Bewegung: denn alle sind Teile vom Bilde in seiner Seele. Wenn er also auch seinem Verstorbnen das Leichenlob und die Totenklage hält, er lobt, er klagt nicht: er malt, und das Leben des Verstorbnen selbst, mit allen Würfen der Einbildung herbeigerissen, muß reden und bejammern. Ich entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu setzen; denn da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmäßig ausgesponnen hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verstorbnen sitzen im Trauerhause, den Kopf zwischen die Hände, die Arme aufs Knie gestützt: die Weiber auf dem Angesicht und schluchzen und weinen in der Stille; und der Vater, Sohn oder nächste Verwandte fängt mit heulender Stimme an:

»Wehe mir, daß Ich deinen Sitz ansehen soll, der nun leer ist! Deine Mutter bemühet Sich vergebens, dir die Kleider zu trocknen!

Siehe! meine Freude ist ins Finstre gegangen, und in den Berg verkrochen.

[291] Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich: ich streckte meine Augen aus, und wartete auf dein Kommen.

Siehe du kamst! du kamst mutig angerudert mit Jungen und Alten.

Du kamst nie leer von der See: dein Kajak war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen.

Deine Mutter machte Feuer und kochte. Von dem Gekochten, das du erworben hattest, ließ deine Mutter den übrigen Leuten vorlegen, und ich nahm mir auch ein Stück.

Du sahest der Schaluppe roten Wimpel von weiten, und ruftest: da kommt Lars (der Kaufmann).

Du liefst an den Strand und hieltst das Vorderteil der Schaluppe.

Denn brachtest du deine Seehunde hervor, von welchen deine Mutter den Speck abnahm, und dafür bekamst du Hemde und Pfeileisen.

Aber das ist nun aus. Wenn ich an dich denke, so brauset mein Eingeweide.

O daß ich weinen könnte, wie ihr andern: so könnte ich doch meinen Schmerz lindern.

Was soll ich mir wünschen? Der Tod ist mir nun selbst annehmlich worden, aber wer soll mein Weib und meine übrigen kleinen Kinder versorgen?

Ich will noch eine Zeitlang leben; aber meine Freude soll sein in Enthaltung dessen, was den Menschen sonst so lieb ist.« –

Der Grönländer befolgt die feinsten Gesetze vom Schweben der Elegie, die auch


– irrt, doch nicht verwirret! –


und von wem hat er sie gelernet? Sollte es mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht ebenso sein? und wenn sie in der Natur der Einbildung liegen, wen sind sie nötig zu lehren? wem unmöglich zu fassen, der nur dieselbe Einbildung hat? – Alle Gesänge des A.T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Propheten sind voll davon, und die sollten doch kaum poetische Übungen sein. –

Selbst einen allgemeinen Satz, eine abgezogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im Liede, im Gesange, nicht anders als auch so lebendig, und kühn behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines dogmatischen Locus nicht, und es schläft gewiß ein, wenn es denselben geführt werden soll. Sehen Sie z.E. in den mehr angeführten Dodsleyischen »Reliques« die alten moralischen [292] Stücke an: »My heart to me a kingdom is« usw. Sie brechen immer in ihrem lyrischen Gange nur die Blumen ihrer Moral, und kommen, da hier kein sichtbarer Gegenstand, keine aneinanderhangende Geschichte und Handlung der Einbildung und dem Gedächtnis vorschwebet, jenem immer durch Anwendung, diesem durch Symmetrie, Refrain des Verses und zehn andre Mittel zustatten. Hören Sie einmal eine Probe der Art über den allgemeinen Satz: Der Liebe läßt sich nicht widerstehen! Wie würde ein neuer analytischer, dogmatischer Kopf den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger?


Über die Berge!
Über die Quellen!
Unter den Gräbern,
Unter den Wellen
Unter Tiefen und Seen
In der Abgründe Steg
Über Felsen, über Höhen
Findt Liebe den Weg.
In Ritzen, in Falten,
Wo der Feurwurm nicht liegt!
In Höhlen, in Spalten,
Wo die Fliege nicht kriecht!
Wo Mücken nicht fliegen,
Und schlüpfen hinweg,
Kommt Liebe! Sie wird siegen
Und finden den Weg!
Sprecht, Amor sei nimmer
Zu fürchten das Kind!
Lacht über ihn immer
Als Flüchtling, als blind!
Und schließt ihn durch Riegel
Vom Tagstrahl hinweg.
Durch Schlösser und Riegel
Findt Liebe den Weg!
Wenn Phönix und Adler
Sich unter euch beugt!
Wenn Drache und Tiger
Gefällig sich neigt!
Die Löwin läßt kriegen
[293]
Den Raub sich hinweg.
Aber Liebe wird siegen
Und finden sich Weg!

Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Lassen Sie den dummsten Menschen das Lied dreimal hören: er wird's können, und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber ebendieselbe Sache auf einförmige, dogmatische Art, in hübsch abgezählten Strophen, und seine Seele schläft.

Alle unsre alte Kirchenlieder sind voll dieser Würfe und Inversionen: keine aber fast mehr und mächtiger, als die von unserm Luther. Welche Klopstocksche Wendung in seinen Liedern kommt wohl den Transgressionen bei, die in seinem »Ein feste Burg ist unser Gott!« »Gelobet seist du Jesu Christ!« »Christ lag in Todesbanden!« und dergleichen vorkommen: und wie mächtig sind diese Übergänge und Inversionen! Wahrhaftig nicht Notfälle einer ungeschliffenen Muse, für die wir sie gütig annehmen: sie sind allen alten Liedern solcher Art, sie sind der ursprünglichen, unentnervten, freien und männlichen Sprache besonders eigen: Die Einbildungskraft führet natürlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der studierende Gelehrte, fühlt sie, zumal von Jugend auf gelernt, und sich gleichsam nach ihnen gebildet, so innig und übereinstimmend, daß ich mich z.E. wie über zehn Torheiten unsrer Liederverbesserung, so auch darüber wundern muß, wie sorgfältig man sie wegbannet, und dafür die schläfrigsten Zeilen, die erkünsteltsten Partikeln, die mattesten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der große ehrwürdige Teil des Publikums, der Volk heißt, und für den doch die Gesänge kastigiert werden, eine von den schönen Regeln fühle, nach denen man sie kastigieret! Und Lehren in trockner, schläfriger, dogmatischer Form, in einer Reihe toter, schlaftrunken nickender Reime mehr fühlen, empfinden und behalten werde, als wo ihm durch Bild und Feuer, Lehre und Tat auf einmal in Herz und Seele geworfen wird.

Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine Schutzschrift etwa für die Klopstockischen Lieder schreiben wolle? Ich glaube sehr gerne, daß auch sie nicht immer Lieder des Volks sind, und daß sie seltner ganze Gegenstände, als kleine Züge aus diesen Gegenständen, seltner ganze Pflichten, Taten und Gestalten des Herzens, [294] als feine Nuancen, oft Mittelnuancen von Empfindungen besingen, daß also ein sehr sympathetischer, und zu gewissen Vorstellungen sehr zugebildeter Charakter zum ganzen Sänger seiner Lieder gehöre. Aber dem ohngeachtet ist das, was viele sonst gegen ihn sagten, und noch mehr, was man ihm entgegenstellet, so trocken, so mager, so unkundig der menschlichen Seele, daß ich immer wetten will, das kühnste Klopstockische Lied, voll Sprünge und Inversionen, einem Kinde beigebracht, und von ihm einigemal lebendig gesungen, werde mehr für ihn sein, und tiefer und ewiger in ihm bleiben, als der dogmatischte Locus von Liede, wo ja keine Zwischenpartikel und Zwischengedanke ausgelassen ist. – Mein Gott! wie trocken und dürre stellen sich doch manche Leute die menschliche Seele, die Seele eines Kindes vor! Und was für ein großes, treffliches Ideal wäre mir dieselbe, wenn ich mich je an Lieder dieser Art versuchte! Eine ganze jugendliche, kindliche Seele zu füllen, Gesänge in sie zu legen, die, meistens die einzigen, lebenslang in ihnen bleiben, und den Ton derselben anstimmen, und ihnen ewige Stimme zu Taten und Ruhe, zu Tugenden und zum Troste sein soll, wie Kriegs-, Helden- und Väterlieder in der Seele der alten, wilden Völker – welch ein Zweck! welch ein Werk! und wieviel wahrhafte Bestrebungen zu solchem Werke haben wir denn? Reimgebetlein und Lehrverse genug!

Wenn Luther über jene beide wegen der Religion Verbrannte anstimmt:


Die Asche will nicht lassen ab,
Sie stäubt in allen Landen
Hier hilft kein Bach und Grub und Grab,
Sie macht den Feind zuschanden!
Die er im Leben durch den Mord
Zu schreien hat gezwungen,
Die muß er tot an allem Ort
Mit heller Stimm und Zungen
Gar fröhlich lassen singen – –
oder wenn er schließt:
Die laß man liegen immerhin
Sie haben's keinen Frommen!
Wir wollen danken Gott darin
Sein Wort ist wieder kommen,
[295]
Der Sommer ist hart für der Tür
Der Winter ist vergangen.
Die Gartenblumen gehn herfür,
Der das hat angefangen
Der wird es auch vollenden –

so wollte ich fragen, wie viele unsrer neuern Liederdichter dergleichen Strophen (ich sage nicht dem Inhalt, sondern der Art nach) gemacht haben? und wie viele haben Luthern verbessert?


... Auch Sie beklagen's, daß die Romanze diese ursprünglich so edle und feierliche Dichtart bei uns zu nichts, als zum Niedrig-Komischen und Abenteuerlichen gebraucht, oder vielmehr gemißbraucht werde – ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer, tiefer und daurender ist das Vergnügen, das eine sanfte oder rührende Romanze, des alten Englands oder der Provinzialen, und eine neuere deutsche voll niedrigen abgebrauchten, pöbelhaften Spottes und Wortwitzes nachläßt. Aber noch sonderbarer ist's, daß in dieser letzten Gestalt die Romanze uns fast nur bekannt geworden zu sein scheint.

Gleim sang seine »Marianne« so schön – ich sage, er sang sie schön: denn eigentlich ist das Stock Zug vor Zug eine alte französische Romanze, die Sie (wenn Sie das noch nicht wissen), wie mich dünkt, auch in dem neuen choix des Romances anciennes et modernes finden werden – und so sang man ihm nach. Seine beiden andern Stücke neigten sich ins Komische; die Nachsinger stürzten sich mit ganzem plumpen Leibe hinein, und so haben wir jetzt eine Menge des Zeugs, und alle nach einem Schlage, und alle in der uneigentlichsten Romanzenart, und fast alle so gemein, so sehr auf ein einmaliges Lesen – daß, nach weniger Zeit, wir fast nichts wieder, als die Gleimschen übrig haben werden.

Dazu kommt nun noch das, daß die wenigen fremden, die übersetzt sind, so schlecht übersetzt sind (ich führe Ihnen nur die »Schöne Rosemunde«, und »Alkanzor und Zaïde« an, welche letztere noch den Vorzug hat, zweimal elend übersetzt zu sein), und da der Ton nun einmal gegeben ist: so singt man fort, und verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart haben könnte, nämlich unsre lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu [296] gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck zu befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden.

Sehen Sie einmal, in welcher gekünstelten, überladnen, gotischen Manier die neuern sogenannten philosophischen und pindarischen Oden der Engländer sind, die ihnen als Meisterstücke gelten! Von Gray, von Akenside, von Mason usw. ob wohl in ihnen Silbenmaß, oder Inhalt, oder Einkleidung die mindste Odenwürkung tun könne? Sehen Sie, in welche gekünstelte horazische Manier wir Deutsche hie und da gefallen sind – Ossian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf bessern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wollten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebei stehen, und da wird wieder nichts. – Irre ich mich, oder ist's wahr, daß die schönsten lyrischen Stücke, die wir schon jetzt haben, und längst gehabt haben, schon mit diesem männlichen, starken, festen deutschen Ton übereinkommen, oder sich ihm nähern – was wäre nicht also von der Aufweckung mehrerer solcher zu hoffen! –

Nachschrift

Ja Nachschrift! wo keine Schrift, wo lauter Umrede rings um das leider! halb erloschne und entstellte Schaustück der menschlichen Natur Ossian, ist, oder es höchstens ewige Vorrede wird, zu dem was kommen will und kommen soll und nie kommt. Lassen Sie uns also, m. Fr., da die Sache einmal so liegt, dem klügern? oder blödern? Teil des Publikum wenigstens ein favete linguis ins Ohr lispeln, wie nichtig es mit Einkleidung des Briefwechsels, der versprochnen Psychologie Ossians (wenn der Druckfehler anzumerken wert ist), die Fabelreise zu seinen Inseln völlig zu geschweigen, stehen müsse! wie untreu eine skandinavische Übersetzung sei, wo der Autor nur aus Übersetzung und höchstens Wortansicht translatierte, zumal endlich wie solch Geschwätz, außer dem vielleicht, was es hie und da sage, so wenig Muster sein könne und wolle, wie etwas der Art in der Welt zu sagen sei? Überhaupt schien damals die lyrische Natur, zu der auch Ossian gebrochne Endtöne liefert, dem Briefwechsler, noch so fernher zu tönen, daß er natürlich in die Miene des Lauschers fallen mußte, der zu hören glaubt, wo andre vielleicht nichts hören, oder das sausende Kind der Lüfte.

[297] Glücklich, daß er alle seinen kritischen Wahn- und Ahndungsglauben jetzt durch eine Erscheinung 1 übertroffen sieht, der er mit pindarischem Schwunge seinen Kranz zuwerfen wollte, wenn der Kranz nicht dahin verdorrte. Kein kritischer Schöpfeimer, und alle Fässer der Danaiden geben Wasser, wo kein Quell ist – und es ist und wird ewig allein jener wundertätige Huf des Flügelrosses von Genie bleiben, der anschlägt und der siebenfache Quell strömet.

Siebenfacher Quell! Wenn deutsches Ohr noch mehr als Wortklanges und Silbenbaues fähig ist! wenn's kein Märchen vom ersten April sein und bleiben darf, daß die Göttin Harmonie


– des griechischen Himmels Kind –


noch einmal mit der Asträa oder Uranischen Venus unser tiefes Cimmerien besuchen würde. Am meisten aber, wenn die volle, gesunde, blühende Weltjugend wiederhergestellt werden kann und soll, daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelnkodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dürfe – eine Göttererscheinung auf dem Blumengürtel der Grazien und Genien des menschlichen Geschlechts bedarf so wenig Aus-und Zurufs, als sie den Augen solcher Hinzugerufnen auch nur sichtbar sein kann


– vulgus et arceo!


Allerding war's nur immer, »lyrischen Stabs Ende«! wie unsre Lehrbücher sich zeither mit Ode, Hymne, Psalm, Elegie, und womit nicht? getragen! – Gemälde zu liefern, ohne Subjekt, bloß des künstlich angelegten und so wohl unterhaltnen Gesichtspunkts, Kompositionsgeistes, Kolorits und alles andern feinern Details wegen! Dies allein aus der Autorität eines fremden Vorbildes zu lernen, bei dem doch hundert konventionelle Befremdnisse eben der Schleier sind, in dem wir's zuerst und zuletzt sehen, es mit deutschem Kopf, Fleiß, Glück und Ehrlichkeit zu studieren, und sich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohlklang nur in Silbenbau, Strophenbau und Regionen der Perioden-Deklamation zu setzen, und alles durch die Kunst zu heben,


– die wie die Flöte
tönet, oder –
über die Flöte sich hebt.

[298] Aus alle diesem muß nur immer ein Rembrandt werden, und obgleich Rembrandt ein großer Meister – –

Heil uns, m. Fr. zu unserm – wie soll ich sagen? Guido, Correggio oder Raffael! Aber Engelgesichte hat er gemalt in Menschengestalt! Siehe dies Bild! welche Wahrheit! Leben! tiefe Seele! wie heben sich die Figuren von der Leinwand hervor, und sprechen (nicht mit uns! uns sehen sie nicht an! denn sie sind nicht für uns gemalt!) aber unter sich, wie handeln, wie sprechen sie, und enthüllen uns Gesicht und Seele. Wehe, der hier ausruft: »das war noch einmal gesungen!« sondern der es still fühlt, »das muß so empfunden gewesen sein, oder –«

Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur.

Wohlklang! er wird was er war. Kein aufgezähltes Harmonienkunststück! Bewegung! Melodie des Herzens! Tanz! In Fehlern und Eigenheiten, wie ist ein Genie noch überall lehrend!

Daß wir doch schon, m. Fr. eine Komposition »über den Allgegenwärtigen! die Frühlingsfeier« und dergl. hörten! oder vielmehr, daß diese Stücke der Musik schon Gepräge wiedergegeben hätten, was sie – ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Lassen Sie mich um vom eklen Lobe abzukommen, mit ein zwei Wünschen hierüber schließen.

Unser jetzige musikalische Poesienbau – welch ein gotisches Gebäude! Wie fallen die Massen auseinander? Wo Verflössung? Übergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beider Schwestern herrsche oder diene – ihr Pieriden und Kastalinnen, wo?

Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben noch eine erbärmlichere Gestalt. Das erste, das berühmteste von allen, Ramlers »Tod Jesu«, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menschenverstandes (s.v.v.), welch ein Werk! Wer spricht? wer singt? erzählt sich etwas in den Rezitativen – so kalt! so scholastisch! als kaum jener Simon von Kana würde getan haben, da er vom Felde kam, und vorbeizustreichen Lust hatte. Und nun zwischeninne in Arien, in Choral, in Chören – wer spricht? wer singt? auf einmal eine nützliche Lehre aus der biblischen Geschichte gezogen, locus communis in der besten Gestalt! und dazu beinahe in allen Personen und Dichtungen des Lebens! und von einer zur andern mit den sonderbarsten Sprüngen! [299] Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fortgehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks – R. »Tod Jesu« ist ein erbauliches, nützliches Werk, das ich in solchem Betracht tausendmal beneidet habe! Jede Arie ist fast ein schönes Ganze! Viele Rezitative auch – aber als poetisches Werk des Genies – für die Musik! – Hr. R. hat selbst ein viel zu feines Gefühl, als daß er das nicht weit inniger bemerke.

Seine »Hirten bei der Krippe«! Welche Poesie für die Musik? welch ein Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zuhinterst, und es ist fast noch immer derselbe Eindruck! Idylleneindruck, wo lauter Schäferbilder und Worte und von Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenseele ist! bloß eine Maske Jesaias, Virgils und Pope in Schäferkleidern! – Und endlich Poesie zur Musik – wo im ganzen Stück nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder für die Leinwand (da die Lanze z.E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, emporstrebt, steht, grünt, wird ein Palmbaum usw.), durchaus nicht für den Tonschöpfer! So weiterhin und was wäre von seiner »Auferstehung« zu sagen?

Und nun, wie bearbeiten unsre Tonkünstler das alles nach dem einmal hergebrachten Leisten: Da doch eben der Ursprung dieses Leistens, die Umstände, unter welchen er entstanden usw. wo nicht jedermann, so doch gewiß uns Deutschen zurufen müßte: »Nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hinten! und es wird ewig Schande sein, einen Münter an Metastasio zu messen!« Was das aber nun für eine Gattung Poesie sei, die wahre Mittelgattung zwischen Gemälde und Musik! und was das für eine Gattung Musik sei, die über Poesie nicht herrschet – –

2. Shakespeare

II. Shakespeare

Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füßen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!« so ist's bei Shakespeare! – Nur freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn – erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleumden, übersetzen und lästern! – und die Er alle nicht höret!

Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben! – die ich nun auf keine Weise zu vermehren Lust habe. Ich [300] möchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreise, wo dies gelesen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, über, für und wider ihn zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, noch zu verleumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und – wo möglich! – uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei!

Die kühnsten Feinde Shakespeares haben ihn – unter wie vielfachen Gestalten! beschuldigt und verspottet, daß er, wenn auch ein großer Dichter, doch kein guter Schauspieldichter, und wenn auch dies, doch wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sei, als Sophokles, Euripides, Corneille und Voltaire, die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. – Und die kühnsten Freunde Shakespeares haben sich meistens nur begnüget, ihn hierüber zu entschuldigen, zu retten: seine Schönheiten nur immer mit Anstoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensieren; ihm als Angeklagten das absolvo zu erreden, und denn sein Großes desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen mußten. So stehet die Sache noch bei den neuesten Herausgebern und Kommentatoren über ihn – ich hoffe, diese Blätter sollen den Gesichtspunkt verändern, daß sein Bild in ein volleres Licht kommt.

Aber ist die Hoffnung nicht zu kühn? gegen so viele, große Leute, die ihn schon behandelt, zu anmaßend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beiden Seiten bloß auf ein Vorurteil, auf Wahn gebauet, der nichts ist, wenn ich also nur eine Wolke von den Augen zu nehmen, oder höchstens das Bild besser zu stellen habe, ohne im mindesten etwas im Auge oder im Bilde zu ändern: so kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar schuld sein, daß ich auf den Punkt getroffen, darauf ich den Leser nun festhalte, »Hier stehe! oder du siehest nichts als Karikatur!« Wenn wir den großen Knaul der Gelehrsamkeit denn nur immer auf- und abwinden sollten, ohne je mit ihm weiterzukommen – welches traurige Schicksal um dies höllische Weben!


Es ist von Griechenland aus, daß man die WörterDrama, Tragödie, Komödie geerbet, und so wie die Letternkultur des menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, so ist in dem Schoße und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewisser Regelnvorrat überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich [301] durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit: so sind ganze Nationen in allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem griechischen und nordischen Drama.

In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland war's, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ist's also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles' Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, Shakespeares sehr zu entziffern. Man wird Genese einer Sache durch die andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt.


Die griechische Tragödie entstand gleichsam auseinem Auftritt, aus dem Impromptus des Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: Äschylus brachte statteiner handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne – aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in Sophokles und Euripides bewundern können.

Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprunge gewisse Dinge erklärlich werden, die man sonst, als tote Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit – das alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich im Ursprunge griechischer Tragödie, daß diese ohne Veredlung zu alle jenem nicht möglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs.

Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zurück:Simplizität [302] der Fabel lag würklich so sehr in dem, was Handlung der Vorzeit, der Republik, des Vaterlandes, der Religion, was Heldenhandlung hieß, daß der Dichter eher Mühe hatte, in dieser einfältigen Größe Teile zu entdecken, Anfang, Mittel und Ende dramatisch hineinzubringen, als sie gewaltsam zu sondern, zu verstümmeln, oder aus vielen, abgesonderten Begebenheiten ein Ganzes zu kneten. Wer jemals Äschylus oder Sophokles gelesen, müßte das nie unbegreiflich finden. Im ersten was ist die Tragödie als oft ein allegorisch-mythologisch-halbepisches Gemälde, fast ohne Folge der Auftritte, der Geschichte, der Empfindungen, oder gar, wie die Alten sagten, nur noch Chor, dem einige Geschichte zwischengesetzt war – konnte hier über Simplizität der Fabel die geringste Mühe und Kunst sein? Und war's in den meisten Stücken des Sophokles anders? Sein »Philoktet«, »Ajax«, »Vertriebner Ödipus« usw. nähern sich noch immer so sehr dem Einartigen ihres Ursprunges, dem dramatischen Bilde mitten im Chor. Kein Zweifel! es ist Genesis der griechischen Bühne.

Nun sehe man, wieviel aus der simpeln Bemerkung folge. Nichts minder als: »das Künstliche ihrer Regeln war – keine Kunst! war Natur!« – Einheit der Fabel – war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit-, Vaterlands-, Religions-, Sittenumständen, nicht anders als solch ein Eins sein konnte. Einheit des Orts – war Einheit des Orts; denn dieeine, kurze feierliche Handlung ging nur an einem Ort, im Tempel, Palast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor: so wurde sie im Anfange, nur mimisch und erzählend nachgemacht und zwischengeschoben: so kamen endlich die Auftritte, die Szenen hinzu – aber alles natürlich noch eine Szene, wo der Chor alles band, wo der Natur der Sache wegen Bühne nie leer bleiben konnte usw. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging – welchem Kinde brauchte das bewiesen zu werden? Alle diese Dinge lagen damals in der Natur, daß der Dichter mit alle seiner Kunst ohne sie nichts konnte!

Offenbar siehet man also auch: die Kunst der griechischen Dichter nahm ganz den entgegengesetzten Weg, den man uns heutzutage aus ihnen zuschreiet. Jene simplifizierten nicht, denke ich, sondern sie vervielfältigten : Äschylus den Chor, Sophokles denÄschylus, und man darf nur die künstlichsten Stücke des letztern, und sein großes Meisterstück, den »Ödipus in Thebe« gegen den »Prometheus«, oder gegen die Nachrichten vom [303] alten Dithyramb halten: so wird man die erstaunliche Kunst sehen, die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber niemals Kunst aus vielen ein Eins zu machen, sondern eigentlich aus einem ein vieles, ein schönes Labyrinth von Szenen, wo seine größte Sorge blieb, an der verwickeltsten Stelle des Labyrinths seine Zuschauer mit dem Wahn des vorigen einen umzutauschen, den Knäuel ihrer Empfindungen so sanft und allmählich loszuwinden, als ob sie ihn noch immer ganz hätten, die vorige dithyrambische Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Szene aus, behielt ja die Chöre bei, und machte sie zu Ruheplätzen der Handlung, erhielt alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Werdens, des Schon-Habens (was der lehrreiche Euripides nachher sogleich, da die Bühne kaum gebildet war, wieder verabsäumte!). Kurz, er gab der Handlung (eine Sache, die man so erschrecklich mißverstehet) Größe.

Und daß Aristoteles diese Kunst seines Genies in ihm zu schätzen wußte, und eben in allem, fast das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt haben, müßte jedem einleuchten, der ihn ohne Wahn und im Standpunkte seiner Zeit gelesen. Eben daß er Thespis und Äschylus verließ, und sich ganz an den vielfach dichtenden Sophokles hält, daß er eben von dieser seiner Neuerung ausging, in sie das Wesen der neuen Dichtgattung zu setzen, daß es sein Lieblingsgedanke ward, nun einen neuen Homer zu entwickeln, und ihn so vorteilhaft mit dem ersten zu vergleichen; daß er keinen unwesentlichen Umstand vergaß, der nur in der Vorstellung seinen Begriff der Größe habenden Handlung unterstützen konnte. – Alle das zeigt, daß der große Mann auch im großen Sinn seiner Zeit philosophierte, und nichts weniger, als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollen. Er hat offenbar, in seinem vortrefflichen Kapitel vom Wesen der Fabel »keine andre Regeln gewußt und anerkannt, als den Blick des Zuschauers, Seele, Illusion!« und sagt ausdrücklich, daß sich sonst die Schranken ihrer Länge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln bestimmen lassen. O wenn Aristoteles wieder auflebte, und den falschen, widersinnigen Gebrauch seiner Regeln bei Dramas ganz andrer Art sähe. – Doch wir bleiben noch lieber bei der stillen, ruhigen Untersuchung.

[304] Wie sich alles in der Welt ändert: so mußte sich auch die Natur ändern, die eigentlich das griechische Drama schuf. Weltverfassung, Sitten, Stand der Republiken, Tradition der Heldenzeit, Glaube, selbstMusik, Ausdruck, Maß der Illusion wandelte: und natürlich schwand auch Stoff zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung, Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar das Uralte, oder gar von andern Nationen ein Fremdes herbeiholen, und nach der gegebnen Manier bekleiden: das tat alles aber nicht die Würkung: folglich war in allem auch nicht die Seele: folglich war's auch nicht (was sollen wir mit Worten spielen?) das Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Statüe, in der nur noch der andächtigste Kopf den Dämon finden konnte, der die Statüe belebte. Lasset uns gleich (denn die Römer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmäßig, um ein völlig gräzisierendes Theater zu errichten) zu den neuen Atheniensern Europens übergehen, und die Sache wird, dünkt mich, offenbar.

Alles was Puppe des griechischen Theaters ist, kann ohne Zweifel kaum vollkommner gedacht und gemacht werden, als es in Frankreich geworden. Ich will nicht bloß an die sogenannten Theaterregeln denken, die man dem guten Aristoteles beimißt, Einheit der Zeit, des Orts, der Handlung, Bindung der Szenen, Wahrscheinlichkeit des Brettergerüstes, usw. sondern würklich fragen, ob über das gleißende, klassische Ding, was die Corneille, Racine und Voltaire gegeben haben, über die Reihe schöner Auftritte, Gespräche, Verse und Reime, mit der Abmessung, demWohlstande, dem Glanze – etwas in der Welt möglich sei? Der Verfasser dieses Aufsatzes zweifelt nicht bloß daran, sondern alle Verehrer Voltaires und der Franzosen, zumal diese edlen Athenienser selbst, werden es geradezu leugnen – haben's ja auch schon gnug getan, tun's und werden's tun, »über das geht nichts! das kann nicht übertroffen werden!« Und in den Gesichtspunkt des Übereinkommnisses gestellt, die Puppe aufs Bretterngerüste gesetzt – haben sie recht, und müssen's von Tag zu Tage je mehr man sich in das Gleißende vernarrt, und es nachäffet, in allen Ländern Europens mehr bekommen!

Bei alledem ist's aber doch ein drückendes unwiderstrebliches Gefühl »das ist keine griechische Tragödie! von Zweck, Würkung, Art, Wesen kein griechisches Drama!« und der parteiischte Verehrer der Franzosen kann, wenn er Griechen gefühlt hat, das nicht leugnen. Ich will's gar nicht einmal untersuchen »ob sie auch ihren Aristoteles den Regeln nach so beobachten, wie sie's [305] vorgeben«, wo Lessing gegen die lautesten Anmaßungen neulich schreckliche Zweifel erregt hat. Das alles aber auch zugegeben, Drama ist nicht dasselbe, warum? weil im Innern nichts von ihm dasselbe mit jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Sprache, Zweck, nichts – und was hülfe also alles äußere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß ein Held des großen Corneille ein römischer oder französischer Held sei? Spanisch-Senecasche Helden! galante Helden, abenteurlich tapfere, großmütige, verliebte, grausame Helden also dramatische Fiktionen, die außer dem Theater Narren heißen würden, und wenigstens für Frankreich schon damals halb so fremde waren, als sie's jetzt bei den meisten Stücken ganz sind – das sind sie. Racine spricht die Sprache der Empfindung – allerdings nach diesem einen zugegebnen Übereinkommnisse ist nichts über ihn; aber außer dem auch – wüßte ich nicht, wo eine Empfindung so spräche? Es sind Gemälde der Empfindung von dritter fremder Hand; nie aber oder selten die unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden. Der schöne Voltairesche Vers, sein Zuschnitt, Inhalt, Bilderwirtschaft, Glanz, Witz, Philosophie – ist er nicht ein schöner Vers? Allerdings! der schönste, den man sich vielleicht denken kann, und wenn ich ein Franzose wäre, würde ich verzweifeln, hinter Voltaire einen Vers zu machen – aber schön oder nicht schön, kein Theatervers! für Handlung, Sprache, Sitten, Leidenschaften, Zweck eines (anders als französischen) Drama, ewige Schulchrie, Lüge und Galimathias. Endlich Zweck des allen? durchaus kein griechischer, kein tragischer Zweck! Ein schönes Stock, wenn es auch eine schöne Handlung wäre, auf die Bühne zu bringen! eine Reihe artiger, wohlgekleideter Herrn und Dames schöne Reden, auch die schönste und nützlichste Philosophie in schönen Versen vortragen zu lassen! sie allesamt auch in eine Geschichte dichten, die einen Wahn der Vorstellung gibt, und also die Aufmerksamkeit mit sich fortzieht! endlich das alles auch durch eine Anzahl wohlgeübter Herrn und Dames vorstellen lassen, die würklich viel auf Deklamation, Stelzengang der Sentenzen und Außenwerke der Empfindung, Beifall und Wohlgefallen anwenden – das alles können vortreffliche und die besten Zwecke zu einer lebendigen Lektüre, zur Übung im Ausdruck, Stellung und Wohlstande, zum Gemälde guter oder gar heroischer Sitten, und endlich gar eine völlige Akademie der Nationalweisheit und Décence im Leben und Sterben werden[306] (alle Nebenzwecke übergangen), schön! bildend! lehrreich! vortrefflich! durchaus aber weder Hand noch Fuß vom Zweck des griechischen Theaters.

Und welches war der Zweck? Aristoteles hat's gesagt, und man hat gnug darüber gestritten – nichts mehr und minder, als eine gewisse Erschütterung des Herzens, die Erregung der Seele in gewissem Maß und von gewissen Seiten, kurz! eine Gattung Illusion, die wahrhaftig! noch kein französisches Stück zuwege gebracht hat, oder zuwege bringen wird. Und folglich (es heiße so herrlich und nützlich, wie es wolle) griechisches Drama ist's nicht. Trauerspiel des Sophokles ist's nicht. Als Puppe ihm noch so gleich; der Puppe fehlt Geist, Leben, Natur, Wahrheit – mithin alle Elemente der Rührung – mithin Zweck und Erreichung des Zwecks – ist's also dasselbe Ding mehr?

Hiemit würde noch nichts über Wert und Unwert entschieden, es wäre nur bloß von Verschiedenheit die Rede, die ich mit dem Vorigen ganz außer Zweifel gesetzt glaube. Und nun gebe ich's jedem anheim, es selbst auszumachen, »Ob eine Kopierung fremder Zeiten, Sitten und Handlungen in Halbwahrheit, mit dem köstlichen Zwecke, sie der zweistündigen Vorstellung auf einem Bretterngerüste fähig und ähnlich zu machen, wohl einer Nachbildung gleich- oder übergeschätzt werden könne, die in gewissem Betracht die höchste Nationalnatur war?« ob eine Dichtung, deren Ganzes eigentlich (und da wird sich jeder Franzose winden oder vorbeisingen müssen) gar keinen Zweck hat – das Gute ist nach dem Bekenntnis der besten Philosophen nur eine Nachlese im Detail – ob die einer Landesanstalt gleich geschätzt werden kann, wo in jedem kleinen Umstande Würkung, höchste schwerste Bildung lag? Ob endlich nicht eine Zeit kommen mußte, da man, wie die meisten und künstlichsten Stücke Corneillens schon vergessen sind, Crébillon und Voltaire mit der Bewundrung ansehen wird, mit der man jetzt die »Asträa« des Hrn. von Urfé, und alle »Clelien« und »Aspasien« der Ritterzeit ansieht, »voll Kopf und Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es wäre aus ihnen so viel! viel zu lernen – aber schade! daß es in der ›Asträa‹ und ›Clelia‹ ist«. Das Ganze ihrer Kunst ist ohne Natur! ist abenteuerlich! ist ekel! – Glücklich wenn wir im Geschmack der Wahrheit schon an der Zeit wären! Das ganze französische Drama hätte sich in eine Sammlung schöner Verse, Sentenzen, Sentimens verwandelt – aber der große Sophokles stehet noch, wie er ist!

[307] Lasset uns also ein Volk setzen, das aus Umständen, die wir nicht untersuchen mögen, Lust hätte, sich statt nachzuäffen und mit der Walnußschale davonzulaufen, selbst lieber, sein Drama zu erfinden: so ist's, dünkt mich, wieder erste Frage: wenn? wo? unter welchen Umständen? woraus soll's das tun? und es braucht keines Beweises, daß die Erfindung nichts als Resultat dieser Fragen sein wird und sein kann. Hole es sein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb her: so kann's auch nichts Chormäßiges, Dithyrambisches haben. Läge ihm keine solche Simplizität von Faktis der Geschichte, Tradition, häuslichen, und Staats-und Religionsbeziehungen vor – natürlich kann's nichts von alledem haben. – Es wird sich, wo möglich, sein Drama nach seiner Geschichte, nach Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurteilen, Traditionen, und Liebhabereien, wenn auch aus Fastnachts- und Marionettenspiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) erfinden – und das Erfundne wird Drama sein, wenn es bei diesem Volk dramatischen Zweck erreicht. Man sieht, wir sind bei den


toto divisis ab orbe Britannis


und ihrem großen Shakespeare.

Daß da, und zu der und vor der Zeit kein Griechenland war, wird kein pullulus Aristotelis leugnen, und hier und da also griechisches Drama zu fodern, daß es natürlich (wir reden von keiner Nachäffung) entstehe, ist ärger, als daß ein Schaf Löwen gebären solle. Es wird allein erste und letzte Frage: »wie ist der Boden? worauf ist er zubereitet? was ist in ihn gesäet? was sollte er tragen können?« – und Himmel! wie weit hier von Griechenland weg! Geschichte, Tradition, Sitten, Religion, Geist der Zeit, des Volks, der Rührung, der Sprache – wie weit von Griechenland weg! Der Leser kenne beide Zeiten viel oder wenig, so wird er doch keinen Augenblick verwechseln, was nichts Ähnliches hat. Und wenn nun in dieser glücklich oder unglücklich veränderten Zeit, es eben ein Alter, ein Genie gäbe, das aus seinem Stoff so natürlich, groß, und original eine dramatische Schöpfung zöge, als die Griechen aus dem ihren – und diese Schöpfung eben auf den verschiedensten Wegen dieselbe Absicht erreichte, wenigstens an sich ein weit vielfach Einfältiger und Einfach-Vielfältiger – also (nach aller metaphysischen Definition) ein vollkommenes Ganzes wäre – was für ein Tor, der nun vergliche und gar verdammte, weil dies zweite nicht [308] das erste sei? Und alle sein Wesen, Tugend und Vollkommenheit beruhe ja darauf, daß es nicht das erste ist: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs.

Shakespeare fand vor und um sich nichts weniger als Simplizität von Vaterlandssitten, Taten, Neigungen und Geschichtstraditionen, die das griechische Drama bildete, und da also nach dem ersten metaphysischen Weisheitssatze aus nichts nichts wird, so wäre Philosophen überlassen, nicht bloß kein griechisches, sondern wenn's außerdem nichts gibt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und hätte werden können. Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so war's ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegengesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervorzurufen, Furcht und Mitleid! und beide in einem Grade, wie jener erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! – Glücklicher Göttersohn über sein Unternehmen! Eben das Neue, Erste, ganz Verschiedne zeige die Urkraft seines Berufs.

Shakespeare fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats – und Marionettenspiele – wohl! er bildete also aus diesen Staats – und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks-und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Spracharten – der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen, was wir, wenn nicht Handlung im griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (événement) großes Eräugnis nennen wollen – o Aristoteles, wenn du erschienest, wie würdest du den neuen Sophokles homerisieren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dichten, die jetzt seine Landsleute, Home und Hurd, Pope und Johnson noch nicht gedichtet haben! Würdest dich freuen, von jedem deiner Stücke, Handlung, Charakter, Meinungen, Ausdruck, Bühne, wie aus zwei Punkten des Dreiecks Linien ziehen zu können, die sich oben in einem [309] Punkte des Zwecks, der Vollkommenheit begegnen! Würdest zu Sophokles sagen: male das heilige Blatt dieses Altars! und du o nordischer Barde alle Seiten und Wände dieses Tempels in dein unsterbliches Fresko!

Man lasse mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn ich bin Shakespeare näher als dem Griechen. Wenn bei diesem das Eine einer Handlung herrscht: so arbeitet jener auf das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit. Wenn bei jenem ein Ton der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nötig sind, den Hauptklang seines Konzerts zu bilden. Wenn in jenem eine singende feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Sprache aller Alter, Menschen und Menscharten, ist Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen – und auf so verschiedenen Wegen beide Vertraute einer Gottheit? – Und wenn jener Griechen vorstelle und lehre und rühre und bildet, so lehre, rührt und bildet Shakespeare nordische Menschen! Mir ist, wenn Ich ihn lese, Theater, Akteur, Kulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! – einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle – was wir in der Hand des Weltschöpfers sind – unwissende, blinde Werkzeuge zum Ganzen eines theatralischen Bildes, einer Größe habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen größern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken!

Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne. Die Auftritte der Natur rücken vor und ab; würken ineinander so disparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zerstören sich, damit die Absicht des Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde – dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodizee Gottes. Lear der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landkarte steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreiße – in der ersten Szene der Erscheinung trägt schon allen Samen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich. Siehe! der gutherzige Verschwender, der rasche Unbarmherzige, der kindische Vater wird es bald sein auch in den Vorhöfen seiner Töchter – bittend, betend, bettelnd, fluchend, schwärmend, segnend – ach, Gott! [310] und Wahnsinn ahndend. Wird's sein bald mit blassem Scheitel unter Donner und Blitz, zur untersten Klasse von Menschen herabgestürzt, mit einem Narren und in der Höhle eines tollen Bettlers Wahnsinn gleichsam pochend vom Himmel herab. – Und nun ist wie er's ist, in der ganzen leichten Majestät seines Elends und Verlassens; und nun zu sich kommend, angeglänzt vom letzten Strahle der Hoffnung, damit diese auf ewig, ewig erlösche! Gefangen, die tote Wohltäterin, Verzeiherin, Kind, Tochter auf seinen Armen! auf ihrem Leichnam sterbend, der alte Knecht dem alten Könige nachsterbend – Gott! welch ein Wechsel von Zeiten, Umständen, Stürmen, Wetter, Zeitläuften! und alle nicht bloß eine Geschichte – Helden und Staatsaktion, wenn du willt! von einem Anfange zu einem Ende, nach der strengsten Regel deines Aristoteles; sondern tritt näher, und fühle den Menschengeist, der auch jede Person und Alter und Charakter und Nebending in das Gemälde ordnete. Zween alte Väter und alle ihre so verschiedne Kinder! Des einen Sohn gegen einen betrognen Vater unglücklich dankbar, der andre gegen den gutherzigsten Vater scheußlich undankbar und abscheulich glücklich. Der gegen seine Töchter! diese gegen ihn! ihre Gemahl, Freier und alle Helfershelfer im Glück und Unglück. Der blinde Gloster am Arm seines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Füßen seiner vertriebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegscheide des Glücks, da Gloster unter seinem Baume stirbt, und die Trompete rufet alle Nebenumstände, Triebfedern, Charaktere und Situationen dahinein gedichtet – alles im Spiel! zu einem Ganzen sich fortwickelnd – zu einem Vater– und Kinder-, Königs– und Narren– und Bettler– und Elend-Ganzen zusammengeordnet, wo doch überall bei den disparatsten Szenen Seele der Begebenheit atmet, wo Örter, Zeiten, Umstände selbst möchte ich sagen, die heidnische Schicksals- und Sternenphilosophie, die durchweg herrschet, so zu diesem Ganzen gehören, daß ich nichts verändern, versetzen, aus andern Stücken hieher oder hieraus in andre Stücke bringen könnte. Und das wäre kein Drama? Shakespeare kein dramatischer Dichter? Der hundert Auftritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der einen durchhauchenden, alles belebenden Seele erfüllet, und nicht Aufmerksamkeit; Herz, alle Leidenschaften, die ganze Seele von Anfang bis zu Ende fortreißt – wenn nicht mehr, so soll Vater Aristoteles zeugen, »die Größe des lebendigen Geschöpfs darf [311] nur mit einem Blick übersehen werden können« – und hier – Himmel! wie wird das Ganze der Begebenheit mit tiefster Seele fortgefühlt und geendet! – Eine Welt dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur; aber der Schöpfer gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen!

In »Othello, dem Mohren«, welche Welt! welch ein Ganzes! lebendige Geschichte der Entstehung, Fortgangs, Ausbruchs, traurigen Endes der Leidenschaft dieses edlen Unglückseligen! und in welcher Fülle, und Zusammenlauf der Räder zu einem Werke! Wie dieser Jago, der Teufel in Menschengestalt, die Welt ansehen, und mit allen, die um ihn sind, spielen! und wie nun die Gruppe, ein Cassio und Rodrich, Othello und Desdemone in den Charakteren, mit dem Zunder von Empfänglichkeiten seiner Höllenflamme, um ihn stehen muß, und jedes ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht, und alles zum traurigen Ende eilet. – Wenn ein Engel der Vorsehung menschliche Leidenschaften gegeneinander abwog, und Seelen und Charaktere gruppierte, und ihnen Anlässe, wo jedes im Wahn des Freien handelt, zuführt, und er sie alle mit diesem Wahne als mit der Kette des Schicksals zu seiner Idee leitet – so war der menschliche Geist, der hier entwarf, sann, zeichnete, lenkte.

Daß Zeit und Ort, wie Hülsen um den Kern immer mitgehen, sollte nicht einmal erinnert werden dürfen, und doch ist hierüber eben das helleste Geschrei. Fand Shakespeare den Göttergriff eine ganze Welt der disparatesten Auftritte zu einer Begebenheit zu erfassen; natürlich gehörte es eben zur Wahrheit seiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealisieren, daß sie mit zur Täuschung beitrügen. Ist wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit seines Lebens Ort und Zeit gleichgültig? und sind sie's insonderheit in den Dingen, wo die ganze Seele geregt, gebildet, umgebildet wird? in der Jugend, in Szenen der Leidenschaft, in allen Handlungen aufs Leben! Ist's da nicht eben Ort und Zeit und Fülle der äußern Umstände, die der ganzen Geschichte Haltung, Dauer, Existenz geben muß, und wird ein Kind, ein Jüngling, ein Verliebter, ein Mann im Felde der Taten sich wohl einen Umstand des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann? wegschneiden lassen, ohne daß die ganze Vorstellung seiner Seele litte? Da ist nun Shakespeare der größte Meister, eben weil er nur und immer Diener der Natur ist. Wenn er die Begebenheiten seines Drama dachte, im Kopf wälzte, wie wälzen sich jedesmal Orter und Zeiten so mit umher! Aus Szenen [312] und Zeitläuften aller Welt findet sich, wie durch ein Gesetz der Fatalität, eben die hieher, die dem Gefühl der Handlung, die kräftigste, die idealste ist; wo die sonderbarsten, kühnsten Umstände am meisten den Trug der Wahrheit unterstützen, wo Zeit-und Ortwechsel, über die der Dichter schaltet, am lautesten rufen: »hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!«

Als z. E. der Dichter den schrecklichen Königsmord, Trauerspiel »Macbeth« genannt, als Faktum der Schöpfung in seiner Seele wälzte – bist du, mein lieber Leser, so blöde gewesen, nun in keiner Szene, Szene und Ort mitzufühlen – wehe Shakespeare, dem verwelkten Blatte in deiner Hand. So hast du nichts von der Eröffnung durch die Zauberinnen auf der Heide unter Blitz und Donner! nichts nun vom blutigen Manne mit Macbeths Taten zur Botschaft des Königes an ihn, nichts wider die Szene zu brechen, und den prophetischen Zaubergeist zu eröffnen, und die vorige Botschaft nun mit diesem Gruße in seinem Haupt zu mischen – gefühlt! Nicht sein Weib mit jener Abschrift des Schicksalsbriefes in ihrem Schlosse wandern sehen, die hernach wie grauerlich anders wandern wird! Nicht mit dem stillen Könige noch zu guter Letzt die Abendluft so sanft gewittert, rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe so sicher nistet, aber du o König – das ist im unsichtbaren Werk! – dich deiner Mördergrube näherst. Das Haus in unruhiger, gastlicher Zubereitung, und Macbeth in Zubereitung zum Morde! Die bereitende Nachtszene Bankos mit Fackel und Schwert! Der Dolch! der schauerliche Dolch der Vision! Glocke – kaum ist's geschehen und das Pochen an der Tür! – Die Entdeckung, Versammlung – man trabe alle Orter und Zeiten durch, wo das zu der Absicht, in der Schöpfung, anders als da und so geschehen könnte. Die Mordszene Bankos im Walde; das Nachtgastmahl und Bankos Geist – nun wieder die Hexenheide (denn seine erschreckliche Schicksalstat ist zu Ende!). Nun Zauberhöhle, Beschwörung, Prophezeiung, Wut und Verzweiflung! Der Tod der Kinder Macduffs unter den Flügeln ihrer einsamen Mutter! und jene zween Vertriebne unter dem Baum, und nun die grauerliche Nachtwanderin im Schlosse, und die wunderbare Erfüllung der Prophezeiung – der heranziehende Wald – Macbeths Tod durch das Schwert eines Ungebornen – ich müßte alle, alle Szenen ausschreiben, um das idealisierte Lokal des unnennbaren Ganzen, der Schicksals-, Königsmords- und Zauberwelt zu nennen, die [313] als Seele das Stück, bis auf den kleinsten Umstand von Zeit, Ort, selbst scheinbarer Zwischenverwirrung, belebt, alles in der Seele zu einem schauderhaften, unzertrennlichen Ganzen zu machen – und doch würde ich mit allem nichts sagen.

Dies Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. Lessing hat einige Umstände »Hamlets« in Vergleichung der Theaterkönigin »Semiramis« entwickelt – wie voll ist das ganze Drama dieses Lokalgeistes von Anfang, zu Ende. Schloßplatz und bittre Kälte, ablösende Wache und Nachterzählungen, Unglaube und Glaube – der Stern – und nun erscheint's! – Kann jemand sein, der nicht in jedem Wort und Umstande Bereitung und Natur ahnde! So weiter. Alles Kostüm der Geister erschöpft! der Menschen zur Erscheinung erschöpft! Hahnkräh und Paukenschall, stummer Wink und der nahe Hügel, Wort und Unwort – welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahrheit! Und wie der erschreckte König kniet, und Hamlet vorbeiirrt in seiner Mutter Kammer vor dem Bilde seines Vaters! und nun die andre Erscheinung! Er am Grabe seiner Ophelia! der rührende good fellow in allen den Verbindungen mit Horaz, Ophelia, Laertes, Fortinbras! das Jugendspiel der Handlung, was durchs Stück fortläuft und fast bis zu Ende keine Handlung wird – wer da einen Augenblick Bretterngerüste fühlt und sucht, und eine Reihe gebundner artiger Gespräche auf ihm sucht, für den hat Shakespeare und Sophokles, kein wahrer Dichter der Welt gedichtet.

Hätte ich doch Worte dazu, um die einzelne Hauptempfindung, die also jedes Stück beherrscht, und wie eine Weltseele durchströmt, zu bemerken. Wie es doch in »Othello« würklich mit zu dem Stücke gehört, so selbst das Nachtsuchen wie die fabelhafte Wunderliebe, die Seefahrt, der Seesturm, wie die brausende Leidenschaft Othellos, die so sehr verspottete Todesart, das Entkleiden unter dem Sterbeliedchen und dem Windessausen, wie die Art der Sünde und Leidenschaft selbst – sein Eintritt, Rede ans Nachtlicht usw. wäre es möglich, doch das in Worte zu fassen, wie das alles zu einer Welt der Trauerbegebenheit lebendig und innig gehöre – aber es ist nicht möglich. Kein elendes Farbengemälde läßt sich durch Worte beschreiben oder herstellen, und wie die Empfindung einer lebendigen Welt in allen Szenen, Umständen und Zaubereien der Natur. Geht, mein Leser, was du willt, »Lear« und die »Richards«, »Cäsar« und die »Heinrichs«, selbst Zauberstücke und Divertissements, insonderheit [314] »Romeo«, das süße Stück der Liebe, auch Roman in jedem Zeitumstande, und Ort und Traum und Dichtung – geht es durch, versuche etwas der Art wegzunehmen, zu tauschen, es gar auf ein französisches Bretterngerüste zu simplifizieren – eine lebendige Welt mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in dies Gerüste verwandelt – schöner Tausch! schöne Wandlung! Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit – du hast ihm Otem und Seele genommen, und ist ein Bild vom Geschöpf.

Eben da ist also Shakespeare Sophokles' Bruder, wo er ihm dem Anschein nach so unähnlich ist, um im Innern, ganz wie er, zu sein. Da alle Täuschung durch dies Urkündliche, Wahre, Schöpferische der Geschichte erreicht wird, und ohne sie nicht bloß nicht erreicht würde, sondern kein Element mehr (oder ich hätte umsonst geschrieben) von Shakespeares Drama und dramatischem Geist bliebe: so sieht man, die ganze Welt ist zu diesem großen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge – und das Ganze mag jener Riesengott des Spinoza »Pan! Universum!« heißen. Sophokles blieb der Natur treu, da er eine Handlung eines Orts und einer Zeit bearbeitete: Shakespeare konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal durch alle die Orter und Zeiten wälzte, wo sie – nun, wo sie geschehen: und gnade Gott, dem kurzweiligen Franzosen, der in Shakespeares fünften Aufzug käme, um da die Rührung in der Quintessenz herunterzuschlucken. Bei manchen französischen Stücken mag dies wohl angehen, weil da alles nur fürs Theater versifiziert und in Szenen Schau getragen wird; aber hier geht er eben ganz leer aus. Da ist Weltbegebenheit schon vorbei: er sieht nur die letzte, schlechteste Folge, Menschen, wie Fliegen fallen: er geht hin und höhnt: Shakespeare ist ihm Ärgernis und sein Drama die dummeste Torheit.


Überhaupt wäre der ganze Knäuel von Ort- und Zeitquästionen längst aus seinem Gewirre gekommen, wenn ein philosophischer Kopf über das Drama sich die Mühe hätte nehmen wollen, auch hier zu fragen: »was denn Ort und Zeit sei?« Soll's das Bretterngerüste, und der Zeitraum eines Divertissements au théâtre sein: so hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maß [315] der Zeit und der Szenen, als – die Franzosen. Die Griechen – bei ihrer hohen Täuschung, von der wir fast keinen Begriff haben – bei ihren Anstalten für das Öffentliche der Bühne, bei ihrer rechten Tempelandacht vor derselben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem Auftritt nach seiner Uhr sehen will, ob auch so was in soviel Zeit habe geschehen können? und dem es sodann Hauptelement der Herzensfreude würde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, sondern auf dem Gerüste nur ebensoviel gezeigt hat, als er in der Zeit im Schneckengange seines Lebens sehen würde – welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbeitete, und sich denn mit dem Regelnkram brüstete, »wie artig habe ich nicht soviel und soviel schöne Spielwerke! auf den engen gegebnen Raum dieser Brettergrube, Théâtre François genannt, und in den gegebnen Zeitraum der Visite dahin eingeklemmt und eingepaßt! die Szenen filiert und enfiliert! alles genau geflickt und geheftet« – elender Zeremonienmeister! Savoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! dramatischer Gott! Als solchem schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern du hast Raum und Zeitmaße zu schaffen, und wenn du eine Welt hervorbringen kannst, und die nicht anders, als in Raum und Zeit exsistieret, siehe, so ist da im Innern dein Maß von Frist und Raum; dahin du alle Zuschauer zaubern, daß du allen aufdringen mußt, oder du bist – was ich gesagt habe, nur nichts weniger, als dramatischer Dichter.

Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demonstriert zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, daß sie die relativeste Sache auf Dasein, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maß der Aufmerksamkeit in oder außerhalb der Seele sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; gegenteils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind? Hast du keine Situationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele einmal ganz außer dir wohnte, hier in diesem romantischen Zimmer deiner Geliebten, dort auf jener starren Leiche, hier in diesem Drückenden äußerer, beschämender Not – jetzt wieder über Welt und Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden überspringet, alles um sich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen dessen bist, dessen Exsistenz du nun empfindest? Und wenn das in deinem [316] trägen, schläfrigen Wurm- und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wurzeln gnug am toten Boden deiner Stelle festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest, dir langsames Moment gnug ist, deinen Wurmgang auszumessen – nun denke dich einen Augenblick in eine andre, eine Dichterwelt nur in einen Traum? Hast du nie gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit schwinden? was das also für unwesentliche Dinge, für Schatten gegen das was Handlung, Würkung der Seele ist, sein müssen? wie es bloß an dieser Seele liege, sich Raum, Welt und Zeitmaß zu schaffen, wie und wo sie will? Und hättest du das nur einmal in deinem Leben gefühlt, wärest nach einer Vierteilstunde erwacht und der dunkle Rest deiner Traumhandlungen hätte dich schwören gemacht, du habest Nächte hinweg geschlafen, geträumt und gehandelt! – dürfte dir Mahomeds Traum, als Traum noch einen Augenblick ungereimt sein! und wäre es nicht eben jedes Genies, jedes Dichters, und des dramatischen Dichters insonderheit erste und einzige Pflicht, dich in einen solchen Traum zu setzen? Und nun denke, welche Welten du verwirrest, wenn du dem Dichter deine Taschenuhr, oder dein Visitenzimmer vorzeigest, daß er dahin und darnach dich träumen lehre?

Im Gange seiner Begebenheit, im ordine successivorum und simultaneorum seiner Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiße? wenn er dich nur dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell und langsam er die Zeiten folgen lasse; er läßt sie folgen; er drückt dir diese Folge ein: das ist sein Zeitmaß – und wie ist hier wieder Shakespeare Meister! langsam und schwerfällig fangen seine Begebenheiten an, in seiner Natur wie in der Natur: denn er gibt diese nur im verjüngten Maße. Wie mühevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie laufen die Szenen! wie kürzer die Reden und geflügelter die Seelen, die Leidenschaft, die Handlung! und wie mächtig sodann dieses Laufen, das Hinstreuen gewisser Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leser ganz getäuscht und im Abgrunde seiner Welt und Leidenschaft verloren sieht, wie wird er kühn, was läßt er aufeinanderfolgen! Lear stirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist gleichsam Ende seiner Welt, Jüngster Tag da, da alles aufeinanderrollet und hinstürzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fallen; das Maß der Zeit ist hinweg. – Freilich wieder nicht für den lustigen, muntren Kaklogallinier, der mit heiler frischer Haut in den fünften Akt käme, um an der Uhr zu messen, wieviel [317] da in welcher Zeit sterben? aber Gott, wenn das Kritik, Theater, Illusion sein soll – was wäre denn Kritik? Illusion? Theater? was bedeuteten alle die leeren Wörter.


Nun finge eben das Herz meiner Untersuchung an, »wie? auf welche Kunst und Schöpferweise Shakespeare eine elende Romanze, Novelle und Fabelhistorie zu solch einem lebendigen Ganzen habe dichten können? Was für Gesetze unsrer historischen, philosophischen, dramatischen Kunst in jedem seiner Schritte und Kunstgriffe liege?« Welche Untersuchung! wieviel für unsern Geschichtbau, Philosophie der Menschenseelen und Drama. – Aber ich bin kein Mitglied aller unsrer historischen, philosophischen und schön-künstlichen Akademien, in denen man freilich an jedes andre eher, als an so etwas denkt! Selbst Shakespeares Landsleute denken nicht daran. Was haben ihm oft seine Kommentatoren für historische Fehler gezeihet! der fette Warburton z.E. welche historische Schönheiten schuld gegeben! und noch der letzte Verfasser des »Versuchs« über ihn hat er wohl die Lieblingsidee, die ich bei ihm suchte: »wie hat Shakespeare aus Romanzen und Novellen Drama gedichtet?« erreicht? Sie ist ihm wie dem Aristoteles dieses britischen Sophokles, dem Lord Home kaum eingefallen.

Also nur einen Wink in die gewöhnlichen Klassifikationen in seinen Stücken. Noch neuerlich hat ein Schriftsteller 2, der gewiß seinen Shakespeare ganz gefühlt hat, den Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fishmonger von Hofmann, mit grauen Bart und Runzelgesicht, triefenden Augen und seinem plentiful lack of wit together with weak Hams, das Kind Polonius zum Aristoteles des Dichters zu machen, und die Reihe von Als und Cals, die er in seinem Geschwätz wegsprudelt, zur ernsten Klassifikation aller Stücke vorzuschlagen. Ich zweifle. Shakespeare hat freilich die Tücke, leere locos communes, Moralen und Klassifikationen, die auf hundert Fälle angewandt, auf alle und keinen recht passen, am liebsten Kindern und Narren in den Mund zu legen; und eines neuen Stobaei und Florilegii, oder Cornu copiae von Shakespeares Weisheit, wie die Engländer teils schon haben und wir Deutsche gottlob! neulich auch hätten haben sollen – deren würde sich solch ein Polonius, und Launcelot, Arlequin und Narr, blöder Richard, oder aufgeblasner Ritterkönig am meiste [318] zu erfreuen haben, weil jeder ganze, gesunde Mensch bei ihm nie mehr zu sprechen hat, als er aus Mund in Hand braucht, aber doch zweifle ich hier noch. Polonius soll hier wahrscheinlich nur das alte Kind sein, das Wolken für Kamele und Kamele für Baßgeigen ansieht, in seiner Jugend auch einmal den Julius Cäsar gespielt hat, und war ein guter Akteur, und ward von Brutus umgebracht, und wohl weiß:


why day is day, night night

and time is time


also auch hier einen Kreisel theatralischer Worte drehet – wer wollte aber darauf bauen? oder was hätte man denn nun mit der Einteilung? Tragedy, Comedy, History, Pastoral, Tragical-Historical, und Historical-Pastoral, und Pastoral-Comical und Comical-Historical-Pastoral, und wenn wir die Cals noch hundertmal mischen, was hätten wir endlich? kein Stück wäre doch griechische Tragedy, Comedy und Pastoral, und sollte es nicht sein. Jedes Stück ist History im weitsten Verstande, die sich nun freilich bald in Tragedy, Comedy, usw. mehr oder weniger nuanciert. – Die Farben aber schweben da so ins Unendliche hin, und am Ende bleibt doch jedes Stück und muß bleiben –was es ist. Historie! Helden- und Staatsaktion zur Illusion mittlerer Zeiten oder (wenige eigentliche Plays und Divertissements ausgenommen) ein völliges Größe habende Eräugnis einer Weltbegebenheit, eines menschlichen Schicksals.

Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen großen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst Garrick, der Wiedererwecker und Schutzengel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslassen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als einmal umarmet, wo du noch den süßen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern [319] Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher stillsteht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten ägyptischen Geist wiederaufzuwecken vermag – dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen:


voluit! quiescit!

Fußnoten

1 Oden, bei Bode 1771. Die vorigen Flicke vom Aufsatz waren Jahre vorher dem Verf. entkommen.

2 Briefe über Merkw. der Liter. 3. Samml.

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Theoretische Schriften. Von deutscher Art und Kunst. Von deutscher Art und Kunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5A89-C