An den abwesenden Freund

Wo bist Du, Zärtlicher, den mein Gedanke küsset,
Nach dem mein Seufzer seufzt und stille Sehnsucht brennt,
Wo bist Du? Sähest Du, wie Dich die Thräne misset,
Die aus dem Auge stirbt und sterbend Dich noch nennt!
Wie in der Einsamkeit, wenn, müde von Geschäften,
Der Geist kaum Athem schöpft, er nichts sieht als Dein Bild,
Wie uns der Himmel einst, als Jüngling', gleich an Kräften
Genährt, da floß er klar, jetzt ist er eingehüllt;
Da floß Dein Arm um mich, und Deine Lippen sprachen
Der Freundschaft sanften Ton, wie ihn das Herz gebar;
Empfindung seufzete, und Thränen unterbrachen
Des Herzens süßen Ton, der uns ein Himmel war.
Der Himmel ist nicht mehr! Hier wecket meine Zähre
Die Deine; Thräne, flieh und rühre ihn, den Freund!
Unmännlich ist sie nicht; sie ist der Freundschaft Ehre,
Weil sie die Zärtlichkeit, die Menschheit selbst geweint.
Wir sind nicht mehr vereint, uns trennen größte Weiten!
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Du, Schicksal, trenntest uns mit gar zu harter Hand.
So reißt ein früher Tod die Gattin von der Seiten
Des Gatten, der erst Lust, jetzt doppelt Schmerz empfand.
Hier seufze ich nach Ruh und seufze nur vergebens;
Er flieht, der traur'ge Gram, und kommt versteckt zurück.
Dort weinst Du vaterlos und weinest nur vergebens;
Bringt eine Thräne wol den Todten noch zurück?
Nein, auch den Vater nicht; er siehet von den Sternen
Dein, seines Kindes, Gram, der doch umsonst ihn klagt,
Hat Mitleid mit Dir, Freund, und wünscht in sel'gen Fernen
Dir Gottes Weisheit zu, die leeren Schmerz verjagt.
Auch ich, ich fasse mich; Geschick kann Leiber trennen,
Doch Herzen kann es nicht; die lieben ihm zum Trutz.
Wenn Dich mein Aug' nicht nennt, soll mein Gedank Dich nennen,
Und küßt Dich nicht mein Mund, küßt Dich die Phantasei.
Oft in der Einsamkeit will ich Dir Seufzer schicken:
»Nehmt, Zephyrs, leitet sie und drückt sie an sein Herz!«
Und Dein Gedank an mich, wie wird er mich erquicken!
Wenn Ahndung ihn mir sagt, dann lindert sich mein Schmerz.
Wenn schon die Zunge lallt, soll sie noch halb Dich sprechen;
Wenn einst das Auge bricht, sieht es Dich, Freund, und stirbt.
Noch flammt die Seele auf, denkt Dich und – und muß brechen,
Wie eine Flamme glimmt, auflodert und dann stirbt.
Ruht unser Aschenkrug dereinst getrennt im Grabe,
An dem mit stiller Pracht Cypressen einsam blühn,
So rausche sanfter Schau'r noch oft von Grab zu Grabe,
So sprech' ein frommer Greis: »Ruht! ich will zu Euch fliehn!«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Sechstes Buch. An den abwesenden Freund. An den abwesenden Freund. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5A52-8