[306] Antwort auf Goethe's »Felsweihegesang an Psyche«

Nicht des verlebten Tages Zier,
O Psyche, keine welke Rose
Sei Traueropfer Dir
Auf todtem Moose!
Welch Opfer! welch Altar! und düster
Die Gegend! und ein irrer Götzenpriester,
Der diesen Fels erstieg und ungeweiht ihn sang
Und frecher Hand ihm ein den Namen zwang
Und traurig Opfer Dir befahl!
O Psyche, sieh von Fels und Oed' einmal
Gen Himmel! Wie er weit
Und blau und schön sich wölbt und ohne Maaß und Zahl
Umher die Strahlen Gottes streut
Und alle Welt umfaßt und weit und breit
Hier eine Hütte, dort ein kleines Thal
Zu Elyseer Freuden weiht
Und läßt den Felsen stehn!
Und, Psyche, siehe dort,
Wie Vögel hin zu fernen Himmeln ziehn
Und finden – Trauerort
Und – wohnen ihn!
Und lassen aus den Winter toben
Und lassen auf den Frühling blühn
Und erst ein Laubdach sich um diese Wilde ziehn;
Dann kommt mit Loben
Des Herrn die Nachtigall
Und füllt mit tausend neuem Schall
Die schöne Wilde! Busch und Thal,
Und Busch und Thal und Mitternacht
Ist Lobgesang. – O Du,
Dort an den Fels gelehnt, Du seufzend Mädchen, blicke
Mit Deinem schwimmenden, zerflossnen Thränenblicke
Nicht in die Ferne! Sie ist Nacht,
Ist Nebel! Aber Himmelsnacht,
O Mädchen, ist dem trüben Menschenblicke
Nur Strahlennebel vorgewebet, Ruh
Des Auges, daß dort ungesehn
[307]
Die Palmen blühn.
Und wenn Du nahst, und wenn die Nebel fliehn,
Und hier der Morgen schön,
O Psyche, schön erwacht,
Sieh, welch Elysium erwacht!
Dort an den Fels gelehnt, Du seufzend Mädchen, höre
In Deiner Oede ferne Chöre
Der Wehmuthslieb' und Trauersangs
Wie süßer Saiten – süßen Klangs
Der Thränen, wie, in Thränen
Gebadet, dort von fernher fließt
Die Lilie und Sehnen
Umher ergießt!
Wer seid Ihr Töne
Der Trauerlustharf'? »Sind die Söhne
Des edlen Nordens aus der Höhle
Gekommen Ossian's, und sehnen
Uns, suchen edle Seele
Zu trösten?«
An den Fels gelehnt, mein Mädchen geht
Und suchet, wo sie weinend steht,
Und tröstet ihre Seele!
Und singet ihr den Jüngling, der ihr fern
Und öder noch, wie! mit ihr lebt,
Jetzt ansieht diesen Stern
Der Liebe, schwebt
Auf Mondstrahl hin – vom einzigen
Seeletzten Hügel – im sterbenden,
Schon matten Nachtigallensang.
Ach! er ermattet mir
Zum zweiten Male hier
Nun wieder! wird er's abermal?
Weissagerin, o Lila (Rosenduft
Ist ihre Seel' und Mondesstrahl
Aus andrer Welt und Engelthräne!), ruft
Umsonst Dich, himmlische Gestalt,
Mein Geist, und der dort um Dich wallt,
Und Psyche klagend Dir zur Seite? –
[308]
Ich irr' im matten Nachtigallenstreite,
Wohin? in welche Welt? – Und bald – –
O meine Psyche, nicht umarme
Den wüsten Fels! er hört Dich nicht.
Nicht wende Dein Gesicht
Zum Nebel, daß der Steinkloß nicht
Von einer Thrän' erwarme!
Nimm auf das Saitenspiel
Der Freud- und Hoffnungen! Wie sind der Saiten viel
Und Töne viel auf ihm! und eine Welt Gefühl
Des Lebens in ihm! Komm! Sei Gegenwart
Der Sängerin des Lebens mir
Durchs Leben! Weine nicht! und sieh,
Wie, wo noch nichts hier blüht, sich bald ein Knöspchen Rose
Voll Hoffnung offenbart!
Die sende mir, die send' ich Dir,
Das Knöspchen Hoffnungsrose!
Dann opfr' ich sie! dann opfre sie
Auf schönstem, kühlstem Wäldchenmoose
Den Göttern – Psyche, Dir!

Notes
Entstanden zwischen 1770 und 1773.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Antwort auf Goethe's »Felsweihegesang an Psyche«. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-57D9-1