[267] Epigramme

1.
Einst war ein freier Spott in unsrer Stadt erlaubt;
Jetzt soll man nicht einmal mehr scherzen können!
Ach, wenn das Volk, das uns ein schuldlos Lachen raubt,
Des Spottes sicher wär', es würd' ihn gern uns gönnen.
2.
Dein Advocat, sein Schreiber und Dein Richter,
Sie fordern Alle Geld für ihre theure Müh.
Freund, rechne kurz! Statt dieser Bösewichter
Bezahle Deine Schuld, und Du entbehrest sie!
3.
Von Erz sind alle Deine Kasten,
Und ihre Schlösser sind von Erz.
Narciß nun spricht: »Da kann ich sicher rasten!«
Ja wol! denn auch von Erz und Eisen ist Dein Herz.
4.
Du wunderst Dich, daß Du dem holden Kinde
Ismenen nicht gefällst wie ich?
O wundere Dich nicht! Du büßest Deine Sünde:
Ich liebe sie, Du liebst in ihr nur Dich.
5.
Sag' ich was Artiges, sogleich rückt man mir vor:
»Das hat ein Alter schon gesagt!«
Ei, warum sagte er's? Laßt mich drum ungeplagt!
Er lebete zu früh, der Thor!
6.
Und willst Du mir die Frühlingszeit,
Die kurze Jugendzeit, zur Freude nicht vergönnen?
O Freund, die Parze spinnt den Faden weit
Und schwarz und lang genug, um weise sein zu können.

Notes
Entstanden um 1768.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Epigramme. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-56DC-3