24.

Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde,
Weh Dir! da brüllt ein Leu.
»Wo sind nun unsre Hirten?
Ach, wie wir uns verirrten!
Der sel'ge Hund, er war so treu
Und stark dabei,
Und wir ergaben, dumme Heerde,
Dem Wolf ihn! Nun vorbei!
Da kommt der Leu!«
Ihr Deutsche, wo ist Euer Huß
Und Sickingen und Hutten blieben?
Sind aufgerieben!
Der deutschen Freiheit Morgengruß!
[330]
»Wir wollen unsre Rednerslust,
Den Widder, an ihn senden;
Er ist von guten Lenden
Und breiter Brust
Und bellt nicht so und treibt nicht so,
Als Hund und Hirte thaten.«
Deß seid Ihr wohlberathen,
Deß werdet froh!
Der Wollen-Cicero
Trabt zitternd stolz entgegen
Der brüll'nden Majestät.
»Da will ich recht, hilft's Gott, mein Exercitium
Als Rednerpatriot ablegen
In omne saeculi futuri gaudium:
›Heil Dir, o König! Welche Erde
Dich nur empfäht,
Die weiht Dir Segen! – –
Damit ich aber jetzt, o sanfte Majestät,
Auf meine Heerde,
Deretwegen
Ich denn –‹« Löwens Angesicht
Macht augenblicks ihn stumm.
»Nun, Seine Heerde –
Herr Demosthen, und weiter kann Er nicht
Im Exercitium?
Heraus nur! Seine Heerde
Weiht Uns von ferne Segen
Und will Uns nicht!
Wir aber wollen sie
Und geben Uns die Müh
Und kommen, Unsern Segen
Geruhend Höchst Wir selbst ihr nah vors Angesicht
In Gnaden vorzulegen.«
Schulciceronen
Der neuen Rednerei
An Rectorats- und Galatägen,
[331]
In Redners Munde Heil und Segen,
Musik dabei!
Und auf Kathederthronen,
Ihr Ciceronen,
Seid Ihr nicht frei???
»Wend' Er Sich hinter Uns, Ambassadeur!«
Und sieht ihn quer
Erschrecklich an. Der Bock geht ohn' Beschwer
Hinter ihm her.
Der Leu schritt weiter hin.
»Sieh, wie sie fliehn!
Dazu nun, bärt'ger Herr, verschoneten Wir Ihn.
Geh Er, und sag Er: Wir belieben,
Daß sie sich nicht zerstieben,
Und führ Er sie uns her!«
Der Bock thut's ohn' Beschwer;
Und sagt man, hat er sich hier mehr gebläht,
Orator jetzt für Königs Majestät,
Als einst für all sein Heer.
Demosthenes und Cicero –
Man sagt, sie machten's ohngefährlich so!
Und Du, Frau Freiheitkaklerin
Zu unsrer Zeit, kakl' immerhin!
Der Löwe hört Dich nicht,
Er spricht Dich nicht!
Und wir in jubilo,
Wir singen Löwens Angesicht
Und sahn es nicht
Und sehn es nicht,
Wie einst Octavio
Sein Freund und Zecher sang Io!
Und er versteht uns nicht.
Io! io!
[332]

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Alte Fabeln mit neuer Anwendung. 24. [Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde]. 24. [Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5614-1