[157] Wachtelruf

Es wohnt im tiefen Waizenfeld
Ein Vöglein, treu gesinnt,
Das eine ernste Frage stellt
Jedwedem Menschenkind:
Dic, cur hic?
Wenn kaum der junge Morgen graut
Und frisch die Frühluft weht,
Weckt dich des Vögleins muntrer Laut
Zu Arbeit und Gebet:
Dic, cur hic?
Eilst du dahin mit leichtem Fuß
Zu Tanz und Spiel und Scherz,
Schlägt ernst des Vögleins Mahnungsgruß
An's weltzerstreute Herz:
Dic, cur hic?
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Und schleichst du trüb' und laß daher,
Rufst frevelnd wohl den Tod,
Denkst deines lichten Ziels nicht mehr,
Tönt's hell durch deine Noth:
Dic, cur hic?
Vergaßest du, daß Gott dich schuf
Nur für ein ewig Sein,
Schallt laut des Vögleins Frageruf
Dir in die Seel' hinein:
Dic, cur hic?
O schütze Gott dich, Vöglein traut,
Daß deine Brut gedeiht
Und oft ihr frommer, frischer Laut
Uns mahnt zur rechten Zeit:
Dic, cur hic?

Aachen, 1862.


Notes
Entstanden 1862.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Wachtelruf. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-53AD-0