[28] Selbsterforschung am Abend

Auch heut hab' ich Dich oft vergessen,
Nach meinem Heil nicht viel gefragt:
Getrunken hab' ich und gegessen
Und Dir, o Gott, nicht Dank gesagt.
Wie kann es sein, daß meine Seele,
O einzig Gut, Dich so vergißt?
O richte nicht, bis meine Seele
In Dir, o Gott, befestigt ist!
Du hast die Stimme mir gegeben,
Daß ich Dich preisen soll, mein Hort!
Und Andern auch das Herz erheben
Durch frommes und einfält'ges Wort.
Weh' mir, wenn ich zurücke zähle,
Was ich Unnützes heut gesagt!
O richte nicht, bis in der Seele
Der Wahrheit reiner Morgen tagt!
[29]
Doch nein, Du woll'st auch dann nicht richten!
O nein, Du mußt auch dann verzeih'n:
Gerechtigkeit wird mich vernichten,
Nur Gnade kann mein Leben sein.
Wie bald ist doch ein Wort gesprochen,
Das unser Mund nicht wieder fängt;
Wie leicht ein Vorsatz, ach! gebrochen,
An dem des Herzens Ruhe hängt!

Berlin, 1816.


Notes
Entstanden 1816.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Selbsterforschung am Abend. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5356-1