[291] Zur neuen Welt 1

Die Flut geht hoch. Ein mächtiger Dampfer zieht
Zur Welt der Zukunft, die mein Auge sieht.
Die Flut geht hoch ...
Einst ward ein schwaches Boot
Gebaut von wenigen im Land der Not.
Das Land der Not lag öde, sonnenleer,
Mammon hieß Herrscher dort, sein Fluch hing schwer.
Unwissend eignen Elends, eigner Kraft,
Verkam das Volk. War ausgepreßt der Saft,
Das arme Blut der Kinder, Männer, Fraun,
Warf man die Menschen weg. Im Dämmergraun
Gewohnten Wahns, mit scheu geducktem Sinn,
Schlich der Heloten stumme Herde hin.
Fern, weltenfern dem Leben, wo das Licht
Der Menschenwürde durch die Notnacht bricht,
Verbannt von allem, was das Atmen lohnt,
Lohnsklaven haben fremden Herrn gefront,
Und jeder sorgte für sein nacktes Los,
Verwehtem Flugsand gleich am Meeresschoß.
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Da, wie das Unrecht berghoch sich gestaut,
Zuckt durch die Tiefen ein verworrner Laut.
Wer weiß, von wannen jener ihn vernahm?
Wer weiß, wie er zuerst zu diesem kam?
Zeugt' ihn die Zeit aus frechem Übermaß
Der Gütergier, die den Erzeuger fraß?
Erst murrt es dumpf, dann rang ein Drohn sich frei:
»Weh, Welt, dein Bau muß stürzen!« gellt der Schrei.
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Doch Männer, drin die Menschheit mächtig war,
Sie traten vor und trotzten der Gefahr.
Der Forscher, der Geschichte schrieb und schuf,
Warf in die Arbeitswelt den Losungsruf:
»Vereinigt euch!« Der jugendfeurige Held
Stürmt mit dem Schwert der Wissenschaft ins Feld.
Des Volkes Sohn und Führer, kühn und treu,
Trug bis zum Tod die Fahne ...
Da ward neu
Geboren in dem Geist der Arbeit Sinn,
Sie wagt's und wächst zur Weltbefreierin.
Aus wüstem Chaos, eklem Untergang
Der Menschlichkeit, schamlosem Willenszwang
Der Schaffenden, zermürbendem Gebot,
Aus Volksverachtung, Überfluß und Not,
Aus rohem Wettstreit, der in Waffen starrt,
Aus Habgier, die das Volk mit Teurung narrt,
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Aus Herrschsucht, die den freien Geist erschlug,
Steigt endlich die Erlösung ...
Nun genug
Des Übermuts und der verpraßten Kraft!
Der Erde Grollen sprengt des Unheils Haft.
In allen Ländern keimt Verkündigung,
Der neue Heerbann schwillt, die Zeit wird jung –
Das schwache Boot, der Pioniere Kahn
Im Land der Not, auf wildem Ozean
Als Rettungsdampfer zieht er stark hinaus
Durch Wahnsinns Wogen, Schreckens Gischt und Graus.
Die kühn und klar den Kurs hindurch genommen,
Du Kämpferschar der Weltfreiheit – willkommen!

Fußnoten

1 Geschrieben Anfang Mai 1914 für die Festschrift des Internationalen Sozialisten-Kongresses in Wien, der durch den Weltkrieg vereitelt wurde.

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TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Kampfes. Zur neuen Welt. Zur neuen Welt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-522D-9