[26] »Sechsläuten«

Altes Züricher Volksfest zur Feier des Frühlingsanfangs


Heut haben sie den Winter verbrannt;
In höllischen Flammen stand
Der Tannzweighügel. Funken flogen
Rosasprühend. Rauchwolken zogen,
Schmutzgrau aufwirbelnd. Hoch auf der Stangen
Die Puppen wollten nicht Feuer fangen.
Aber jetzt ein Knall. Leuchtkugeln stiegen,
Die Puppen huben an, sich zu wiegen,
Von Glut gekrümmt und gefoltert,
Nickten sie stumm sich zu –
Lichterloh sind sie heruntergepoltert
Und verkohlt im Nu.
Um das Freudenfeuer im Kreise
Zogen die »Zünfte« nach Ahnenweise,
Zwar heut alles nur Spiel und Schein,
Muß doch jährlich gezunftet sein.
Meistens »bessere« Züricher Herrn,
Die da mit Zange und Knieriem marschierten,
Unter dem blauen Vergnügungsstern
Sich gewerkschaftlich amüsierten.
Käseblaß Schneiderlein neben mir,
Eben mit Frau und Kind noch gekommen,
Lächelte trüb ob der sauberen Zier
[27]
Dieser fröhlichen Innungsfrommen.
Und die »Schneider« schwangen die Scheren,
Tanzten wie Ziegenböcke vorbei,
Und den Amboß, den zentnerschweren,
Schleppten der stattlichen »Schmiede« drei.
»Bäcker« in mehlweißen Schürzen,
Schulternd mit Brezeln und Brot,
»Kaufherrn« mit Safran und Würzen
Schlugen den Winter feierlich tot.
»Wenn ich an meinem Amboß steh
Und hämmre lustig drein« –
Rot wehte der Flammberg in die Höh,
Becken und Pauken schmetterten ein.
Und das neugierige Publikum
Bummelt' in hellen Haufen herum.
Mädchenaugen noch einmal so keck,
Verliebten Mäusen der wahre Speck.
Schau! am Bäumchen zu meiner Seiten
Lehnten zwei Schwestern – Halleluja!
Da soll einen der Teufel nicht reiten –
Nektar und Ambrosia!
Äste prasselten laut zusammen,
Grünlich ringelten sich die Flammen.
Zu der fröhlichen Frühlingsmette
Schimmerte hell die Alpenkette ...
Lenzfrohes Lachen ... Teterete!
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Bekränzte Nachen tanzten im See ...
Und die Züricher kreuzfidel
Spritzten ins Feuer der Freuden Öl.
Während der Mond aus blauen Fernen
Silberglanz auf die Türme goß,
Zogen die Zünfte mit Buntlaternen
Einzeln herum zu Fuß und zu Roß.
Immer von einem Zunfthaus zum andern
Mit Musik marschierend im Schritte,
Kommen und Holen, Reden und Wandern,
Grüßen, Zutrinken nach alter Sitte.
Freudenhäuser von vorn bis zuletzt
Krabbeldicht alle Türen besetzt.
Vier Polizisten leibwachten einen
Epileptischen Trunkenbold,
Kläglich fing der Mensch an zu weinen,
Daß er mit auf die Wache sollt'.
Aus allen Schenken Klaviergeklimper:
»Ach, ich hab' sie ja nur auf die ...« Lärm und Geschrei.
Harmonikaquieken, Gitarrengestümper ...
So ging der Winterkehraus vorbei.
Juchzer knatterten wie Raketen
Durch die ganze geschlagene Nacht,
Und von Trommeln und Trompeten
Bin ich am Morgen noch aufgewacht.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Lebens. Züricher Bilder. »Sechsläuten«. »Sechsläuten«. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-51AE-D