[214] Arbeit und Bildung

Festprolog für die Arbeiterbildungsschule in Berlin


Ihr Frauen und Männer, die im weiten Saal
Erinnerung und festliches Gefühl
Zur kunstbereiten Hörerschaft vereint,
Vor Spiel und Lied vernehmt ein rhythmisch Wort,
Vom Geist der Stunde zwanglos eingegeben!
Wenn aus dem Banne der Notwendigkeit
Und Tagesnotdurft sich der Mensch befreit
Zu Geistesübung, Wissenschaft und Kunst,
Die mannigfaltig, doch im Grunde eins,
Dann winkt dem Arbeitsmann, der für sein Brot
Um Lohn sich müht, ein lichter Sehnsuchtspreis,
Das Land der Wahrheit wirft die Schranken auf,
Und echtes Streben wählt sich seine Pfade.
Ihr Wirkenden am Webstuhl neuer Zeit,
Ihr Treibenden am Schwungrad neuer Welt,
Ihr Hämmernden am Schmiedherd neuen Volks,
Ihr Träger, die ihr hebt die Last der Erde:
Zu euch gekommen ist der Freiheit Reich,
Und eurem Geist entlastet sich das Leben.
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Wohl hört und fühlt ihr noch auf Schritt und Tritt
Den harten Ruf, des Lohntags rauhen Stoß,
Der gierig euch die freien Stunden stiehlt
Und eifersüchtig seine Herrschaft hütet –
Doch mählich weicht der Geizhals schon zurück
Und muß, freiwillig kaum, nur machtgedrängt,
Der tiefern Sehnsucht Frist und Spielraum geben.
Zeit, erstens Zeit und zweitens Zeit und drittens
Zeit heißt die Pförtnerin der Geisteswelt,
Die zähe sich der Mensch erobern muß,
Um nicht, ein dumpfes Tier, dahinzutraben.
Und habt ihr abgerungen sie der Not,
Der Überfron und der Gewinnbegier,
Die holde Zeit, das kostbar reiche Gut,
So haltet sie des besten Willens wert
Und füllt sie aus auf nicht gemeine Weise!
Ein hohes Wesen führt an ihrer Hand
Die Zeit euch zu: Empfangt sie schön und fein!
Freigebig drückt sie den gediegenen Kranz
Der Bildung auf dem strebenden Verächter
Sinnloser Zeitvergeudung, der, zu stolz
Für niedere Lust, sich treu der Wahrheit hingibt.
Unendlich mannigfach, im Grund doch eins
Sind Geistesordnung, Wissenschaft und Kunst,
Wer einen Punkt ergreift mit ganzer Seele,
Dem tritt im einen Punkt das Ganze nah.
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Und ob im bunten Wandel der Natur
Ihr nachgeht dem bestimmenden Gesetz,
Wodurch sich alles höher zu entfalten
Und passender emporzuringen scheint –
Ob an der Menschheit Heldenführern ihr,
Die selten nur mit Kron' und Zepter kamen,
Den eignen Sinn zu kühnem Mut entflammt –
Ob ihr die regelnde Gestaltung spürt,
Wie aus Vergangenheit zur Gegenwart
Gemeinschaftsleben sich im Wechselgang
Von Rückwärts, Vorwärts höhere Formen zeitigt,
Und ihr als wirkend Glied am rechten Platz
Euch selbsterziehend einzufügen trachtet –
Ob ihr des Menschen Körperbau studiert,
Das Ineinandergreifen der Organe,
Des Lebens Lauf, der Nerven dicht Gespinst
Und des Gehirnes meldungsflinke Leitung:
In allem Eifer, drin sich glühend regt
Erkenntnisdurst, ist Bildungssaat entsprossen,
Die schwachen Halme sammeln Kraft, zu tragen,
Aus grünem Saatfeld steigt der Ähren Gold.
Arbeiter aller Länder, bildet euch!
In solchem Zeichen kann der Macht ein Sieg,
Der nicht verderblich ist, verliehen werden,
Und neu von »unten« schichtet sich, die »oben«
Längst Risse zeigt, die menschliche Kultur.
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Unendlich tiefverzweigt, im Grund doch eins
Sind Geistessammlung, Wissenschaft und Kunst,
Wer liebend sie besitzt, kann sich erlösen.
So lauscht den Tönen, drin aus Kampf und Not
Stets höher sich die Harmonie erhebt,
Und laßt die Seele von des Dichters Liedern
Zum Flug ins Land der Schönheit euch befiedern!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Arbeit und Bildung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4F4C-D