Johann Jakob Wilhelm Heinse
Hildegard von Hohenthal

[3]

Vorrede

Vorrede.

Die Personen der folgenden Geschichte leben zum Theil noch; und selbst die Begebenheit hat sich in Rom wirklich zugetragen, ob man es gleich dort, aus begreiflichen Ursachen, nicht eingestehen will. Der Verfasser sah sich deßwegen genöthigt, den mehrsten andre Namen beyzulegen. Der Prinz befindet sich nun im Auslande, und ist ein berühmter Held, welcher schwerlich mehr an das leichtsinnige, gewöhnliche Unternehmen rascher Jugend denkt. Hohenthal führt, geliebt und wegen seiner kühnen und klugen Thaten bewundert, ein Geschwader Reiterey an.

Die vortreflichen Scenen einiger beschriebenen Opern, die jetzt wenig oder gar nicht mehr bekannt sind, können, so wie die andre Musik in dem nämlichen Fall, wenn sich eine hinlängliche Zahl Liebhaber dazu findet, leicht in Partitur herausgegeben werden. Die Nachwelt würde die kleine Anthologie wohl gern haben, wenn die großen Werke selbst, wie zu befürchten steht, bald ganz verschwunden sind.


Im Dezember 1794.

[5]

Erster Theil

»Die Sonne löscht alle Freuden der Nacht aus! wie die schönen Sterne, so die süßen Melodien und Harmonien der Phantasie, und die stärksten Gefühle der Vergangenheit und Zukunft. Die Nacht hat etwas Zauberisches, was kein Tag hat; so etwas Grenzenloses, Inniges, Seliges. Das Mechanische der Zeitlichkeit, das einen spannt und festhält, weicht so sanft zurück, und man schwimmt und schwebt, ohne Anstoß, auf Momente im ewigen Leben.«

Mit diesen Worten erhob sich Lockmann von seinem Lager, und sprang aus dem Bette. Sein Wesen war noch Widerhall der Musik zur Oper Achill in Skyros, von welcher er die Nacht den Plan geträumt, und wachend gegen Morgen ausempfunden hatte.

Er war vor wenig Wochen von Neapel zurückgekommen, und gestern mit seinem Fürsten aufs Land gezogen.

Die jungen Strahlen der Sonne über das Gebirge blitzten ihn von seinem Fortepiano weg, auf dem er einige Lustgriffe that. Er ging aus Fenster, betrachtete mit Entzücken, wie die Sonne im dünnen blendenden Purpur der leichten Streifwölkchen empor stieg; und weidete seine Augen, auch nach drey Jahren in Italien, aufs neue an der schönen Gegend.

[5] Ueberhaupt ist der Frühling in Deutschland bey seiner kurzen Zeit viel üppiger, und eben dadurch, und wegen des Kontrastes mit dem Winter, viel erfreulicher als in Italien. Die ganze Flur stand in stolzer Fruchtbarkeit von Kornsaaten und andern Feldfrüchten, die in der Ferne das Gebirg' in herrlicher Pyramidenform begrenzte, um dessen Rücken sich Eichen und Buchenwälder zogen, und an dessen Fuß und Seiten die köstliche Rebe sproßte.

Um und in dem Orte prangten Gärten, durch welche von verschiedenen Seiten zwey volle krystallhelle Bäche rauschten, die sich am Ende in einen Kanal für Mühlen vereinigten, und hernach mehrere aufnahmen, die zu einem ansehnlichen Fluß anschwollen, und dem Vater Rhein ihren Tribut brachten.

Das Schloß, worin Lockmann zwey schöne Zimmer bewohnte, war in edler Bauart zu Anfang des Jahrhunderts auf einen festen Felsen gegründet. Vorher stand eine Gothische Burg darauf, von welcher man die frischen geräumigen Keller der Vorfahren zu großen Weinlagern beybehielt. Es beherrschte mit seinen Aussichten die ganze Gegend, worin mehrere vom ältesten Adel ihre Rittersitze hatten.

Mildester Strich, Krone von Deutschland, bist du auch zu rauh für den Oelbaum und die noch zartere Zitrone und Pomeranze, und der Allgegenwart des göttlichen Meers von Neapel und Lissabon beraubt; so wirst du doch vom schönsten Strom in Europa, und vielleicht der Welt, getränkt, und er wallt langsam wie im Genusse durch dich, als seine anmuthigsten Ufer, wo doch auch in günstigen Jahren ein Nektar reist, der an Gesundheit, eigentlichem Mark und geselligem Wesen die zu heißen flüssigen Feuer vom Kap, von den Kanarischen Inseln, Griechenland und Spanien noch übertrift.

Lockmann hatte vor seiner Reise nach Italien die Gegend nur ein [6] paarmal in Gesellschaft zur Kurzweil durchzogen, und sich noch niemals in eigentlichen Besitz davon gesetzt; welches er sich nun fest vornahm. Er dachte einmal für allemal sich hier eine Hütte anzubauen, und in Muße bey einer lieben Gattin, wenn er eine für Herz und Geist finden könnte, der Vollkommenheit seiner Kunst für Deutschland nachzuhängen.

Indem er so sein künftiges Leben ausspähete, nahm er, in Gedanken verloren, ein Fernrohr in die Hand, das auf einem Tische liegen geblieben war; fand es vortreflich für sein Auge, richtete es nach dem Gebirge, durchstreifte damit Wald und Flur, und suchte wie ein Feldmesser die Hauptpunkte zu seinen Pfaden aus.

Unvermerkt drangen seine Blicke unter die Schatten des Lindengewölbes in einem Garten, etwa fünf bis sechs hundert Schritt entfernt, wo ein Frauenzimmer sein Morgengewand ablegte, nackend, göttlich schön wie eine Venus, da stand, die Arme frey und muthig in die Luft ausschlug, und, mit dem Kopf voran in fliegenden Haaren, sich in eine große Wasservertiefung stürzte, darin verschwand, wieder hervorkam, das nasse Köpfchen schüttelte, herumgaukelte, den Oberleib weit empor hielt, auf dem Rücken schwamm, sich auf die Seite legte, geschickt und gewandt mit dem Kopf sich wieder untertauchte, daß das himmlische Kolorit der gewölbten Hüften und Schenkel wie ein Blitz auf der Oberfläche hervor leuchtete, verschwand; dann die ganze zauberische Mädchengestalt wie ein Delphin sich wieder empor warf, und Wasserstrahlen und Schaum von sich schleuderte.

Eine Viertelstunde, die wie eine Minute vorüberflog, mochte dieses Schauspiel gedauert haben, als sie aus dem geschmeidigen Element, das stolzer von einer solchen Schönheit schimmerte, wieder unter die heilige Lindendämmerung trat, in der warmen Luft – es war ein [7] heißer Tag gegen Ende des May – auf dem grünen Schmelze sich trocken wandelte, sich ankleidete, und verlor.

Lockmann stand die ganze Zeit wie eine Bildsäule mit seinem Fernrohr, verwandte nicht einen Blick, und schaute, noch lange nachher das reizende Schauspiel im Auge, wie einer geblendet noch lange nachher die aufgehende Sonne hat, in die er zu lüstern hineinschaute. Die Nachtigallen im Schloßgarten, welche mit einander wetteiferten, immer stärker schlugen, und welche er bisher wie taub nicht gehört hatte, weckten ihn endlich von seinem Staunen. Er rief nicht mehr: »Die Sonne löscht alle Freuden der Nacht aus;« sondern: »Wie ist mir? wo bin ich?« taumelte in seinem Zimmer auf und ab, und sah oft wieder nach dem schönsten Plätzchen des weiten Paradieses.

Darauf strömte er seine Gefühle in die Saiten, und die höchst lebendige Scene ging von selbst in eine einzige Melodie von dem süßesten Charakter über, die er mit der schmeichelhaftesten Begleitung gleichsam durch alle Irrsale des menschlichen Lebens führte.

Er frühstückte, kleidete sich an, ging aus, und nahm den kürzesten Weg, den ihm die hohen alten Linden zeigten. Sie bildeten einen kleinen Hayn auf einer Anhöhe am Ende des Gartens, hinter welchem ein wohlangelegter Weinberg sich ferner fortstreckte.

Den Garten umschlossen hohe Mauern, über welche die gesundesten Fruchtbäume mit laubvollen Zweigen schatteten. Voran stand ein geräumiges Landhaus, so schön und schon dem Aeußern nach so zweckmäßig, wie irgend eins von Vignola. Er erfuhr bald von einem Bedienten, der ihm begegnete: es gehöre der Familie von Hohenthal; der Herr sey mehrere Jahre ***scher Gesandter zu London gewesen, und im vorigen Jahre dort gestorben; die Wittwe wohne [8] seit dem Merz hier mit einem Sohn, der bald auf Universitäten ziehen werde, und einer erwachsnen Tochter.

Diese Nachricht fiel ihm gewaltig aufs Herz; er wollte nichts weiter hören, ging hastig zurück, und suchte sich die ganze Morgenscene mit dem Fernrohr aus dem Sinne zu schlagen. Er kannte durch den Ruf und aus Handlungen den Herrn von Hohenthal als einen der geschmackvollsten und vortreflichsten Männer seines Standes, und hatte manches unpartheyische Lob von seinem Eifer für alles Schöne und Gute selbst zu Rom und Neapel gehört.

Den Nachmittag hielt er die erste Probe des berühmten Miserere von Gregorio Allegri, der im Jahre 1629 in die päpstliche Kapelle kam.

Der Fürst liebte die alte Musik, besonders Kirchenmusik, und konnte die Künsteleyen, das Bunte und Verzierte der neuern nicht vertragen. Auch mocht' es ihm an Gelegenheit gefehlt haben, die Meisterstücke der letztern in ihrer höchsten Vollkommenheit zu hören; oder er hatte, von weit wichtigern Geschäften abgehalten, nicht den gehörigen Fleiß darauf wenden können, die Fortschritte und den Wachsthum der Kunst bis zur höchsten Höhe zu verfolgen; und haftete, wie die Alten pflegen, bey diesen Nebendingen an dem Zeitvertreib und den Freuden seiner Jugend.

Er war ein Herr an die sechzig; klug, leutselig, gerecht, freygebig, standhaft, und voll Menschenkenntniß. Als Prinz war er Inhaber eines kaiserlichen Regiments, machte den siebenjährigen Krieg mit, und that sich hervor in der Schlacht bey Collin. Bald darauf kam er zur Regierung, und legte seine Stelle nieder; widmete sich ganz der Wohlfahrt seines Landes, strebte, die beste Kultur der Produkte und des Fleißes zu befördern, seine Unterthanen in jeder Klasse zu[9] treflichen Menschen zu bilden, und ihnen, eben dadurch aber auch sich, den angenehmsten Genuß des Lebens zu verschaffen. Auch waren sie stolz auf ihn, und man hörte keine Klage. Er suchte alle Talente hervor, unterstützte, und belohnte sie hernach, indem er jedes an seinen Posten stellte.

Sein Kriegswesen bestand nur aus zwey Regimentern; aber es waren die ausgesuchtesten Leute, und die Offiziere eine Pflanzschule für große Armeen: jeder in den kriegerischen Leibesübungen, in der Geographie, Mathematik, Geschichte für sein Fach, Behandlung der Untergebnen wohl unterrichtet. Sie wurden immer, so wie die Reihe an sie kam, zu den Musterungen nach Berlin und Wien geschickt, um die Bewegungen großer Massen zu studiren, und sich nicht ans Kleinliche, Unwesentliche, das bloß zur Parade dient, zu gewöhnen. Sein Grundsatz war, jeder Fürst müsse geübte Stärke nach Verhältniß seiner Volksmasse haben, und diese die Grundlage von allem an dern seyn.

Er erkannte inzwischen wohl, daß der Kaiser und der König von Preußen mit ihren geübten stehenden Heeren fast allein die Stärke und den Stolz von Deutschland gegen die Fremden ausmachen, und deren Unterthanen die Kosten für die Unterthanen der übrigen Stande tragen, die wenig Truppen halten, folglich auch nicht so viel bezahlen, und sich in großem Vortheil dabey befinden.

Der Erbprinz, sein einziger Sohn, – ältere und jüngre Prinzen und Prinzessinnen starben meistens in zarter Jugend – war wieder als General bey der kaiserlichen Armee, und hielt sich mit seiner Gemahlin gewöhnlich in Prag auf, kam aber oft nach Wien.

Es war Gebrauch, daß der Fürst und die Fürstin, so oft sie im Frühling aufs Land zogen (es mochte früher oder später geschehen), und [10] die von den Hofleuten, welche das Bedürfniß fühlten, gleich anfangs beichteten, sich der Sünden der Hauptstadt entledigten, das Abendmahl empfingen, und dem Volke so ein gutes Beyspiel gaben. Lockmann hatte die Musik zu der feyerlichen Handlung schon vorbereitet, und suchte sie nun so gut wie möglich aufzuführen.

Bisher hatte der Kapelle ein alter Meister Sebastian Stahl vorgestanden, welcher nun zur Ruhe gesetzt werden sollte. Dieser war noch aus der Bachischen Schule, und machte sich eine Ehre daraus, den Vornahmen ihres großen Stifters zu führen; übrigens ein herzensguter Mann, gründlich zwar, aber ohne viel Geschmack und besondern Erfindungsgeist in seiner Kunst.

Der Fürst hatte den jungen Lockmann auf einer Reise, in Erfurt, dessen Heimath, bey einem Fest kennen lernen, wo er in der Kirche auf dem Petersberge gerade die Orgel spielte, und alsdann eine Messe von seiner Komposizion aufführte. In einer glücklichen Stimmung, am Grabe und über die Geschichte des Ritters von Gleichen mit seinen zwey Weibern, ward er von dieser Musik bis ins innerste bewegt, so wie noch niemals von einer andern. Er erkundigte sich, wer das heilige gewaltige Instrument so zweckmäßig nach seinem Sinn gespielt, und die Messe so voll Andacht und Salbung gesetzt, und so meisterlich aufgeführt habe; ließ den Künstler vor sich kommen, unterredete sich mit ihm, und Person und Wesen und alles gefiel. Er nahm ihn mit sich, schickte ihn bald darauf nach Italien, mit dem besondern Auftrag, die größten Meisterstücke der Kunst dort zu sammeln und zurück zu bringen.

Bey der Kapelle waren brauchbare, dienstwillige Leute, die mehrsten aus dem Lande selbst, und darunter einige, besonders für blasende Instrumente, von der entschiedensten Anlage zu den größten Virtuosen; [11] und in dem engen Kreise, worin sie lebten, dachten sie glücklicher Weise über ihren wirklichen Werth noch bescheiden. Lockmann suchte die vorzüglichen sogleich durch die größte Aufmerksamkeit, gefälligen Unterricht und treffendes Lob bey Gelegenheiten, wo es sie am mehrsten freuen, und zum Wetteifer anspornen mußte, für sich einzunehmen; und machte jedem in der Stille, mit ihm allein, seine Fehler und bösen Angewohnheiten gutherzig, aber doch streng, begreiflich.

Er hatte sich vorgenommen, bey jeder Musik, die er aufführen würde, sie allemal vorher mit dem Geiste des Ganzen, und dann mit dem vorzüglichen Ausdruck einzelner Stellen recht vertraut zu machen, damit sie in Masse auf einen Zweck wirken, und er so endlich nach und nach das Ziel des Dichters sowohl, als des Tonkünstlers erreichen möchte. Daß die von langsamen Begriffen es mit Muße überlegen könnten, wollt' er das Wesentliche bisweilen zu Papier bringen, und es ihnen zum Abschreiben auch für die Zukunft mit nach Hause geben. Er machte also mit dem Miserere 1 von Allegri sogleich den Anfang.

»Diese Musik ist, nebst den Werken des Palestrina, vielleicht die älteste, die heutiges Tages noch aufgeführt wird; und, sonderbar! es macht ihr wohl, was Wirkung betrift, keine andre Musik ihrer Art den Rang streitig.«

»Sie ist abwechselnd für zwey Chöre, in fünf und vier Stimmen, geschrieben: zwey Sopranen, Alt, Tenor, und Baß; bey den vier Stimmen bleibt der Tenor weg. Dieses lautet etwas jugendlicher, und bringt Kontrast hervor.«

»Bey dem letzten Vers: Tunc imponent super Altare tuum vitulos, kommt der erste und zweyte Chor zusammen, und die Harmonie [12] wird neunstimmig. Dieser letzte Vers wird langsam und leise gesungen; die Töne schmelzen in einander, und verlieren sich gleichsam nach und nach.«

»Die Stimmen haben gar keine Begleitung von Instrumenten, nicht einmal der Orgel. Die bloße Vocalmusik ist eigentlich, was in den bildenden Künsten das Nackende ist.«

»Ich habe dieses Miserere zweymal in der Sixtinischen Kapelle zu Rom mit den besten Stimmen aufführen hören; und es hat so tiefen zerschmelzenden Eindruck auf mich gemacht, daß ich bis zu Thränen gerührt worden bin.«

»Dieß wird bewirkt durch die Einfachheit der Harmonie, den breiten Umfang derselben bis zu drittehalb Oktaven, und die Verwickelung und Auflösung der Stimmen; auch dadurch, daß meistens bloß die Länge und Kürze der Sylben, und der Sinn der Worte den Takt ausmacht; oder vielmehr, daß man das, was wir Takt nennen, fast gar nicht merkt.«

»Noch ein Umstand, keine Kleinigkeit, mag zur Wirkung beytragen, nämlich daß diese Musik alle Jahr nur einmal aufgeführt wird, und also immer neu und heilig bleibt.«

»Dieselben Strophen von Musik werden fünfmal wiederhohlt; und noch das sechstemal, jedoch mit Auslassung eines Gliedes.«

»Das erste Glied des Gesangs ist fünfstimmig, geht aus dem G moll in B dur, F dur; und kommt durch mancherley Windungen in die Quinte D mit der großen Terz.«

»Dann das zweyte Glied vierstimmig, wieder aus G moll, geht ebenfalls aus in D dur.«

»Dann das dritte Glied vierstimmig aus C moll, welches in G dur schließt.«

[13] »Und so wird dieselbe Strophe noch viermal wiederhohlt.«

»Die sechste Wiederholung läßt, wegen Mangel an Worten, das zweite G moll aus, und geht gleich in C moll über.«

»Da die Worte keine Verse sind, und keine gleiche Sylben haben, und dieselbe Musik doch fünfmal wiederhohlt werden soll: so werden sie bloß nach der Aussprache untergelegt. Darum müssen sich denn die Sänger mit einander dazu einstudirt haben, daß sie überein ihre Stimmen zur ganzen Harmonie passen.«

»Und aus diesem allen zusammen entspringt die höchste Wirkung, welche Musik leisten kann; nämlich der Sinn der Worte geht in die Zuhörer mit seiner ganzen Stärke und Fülle über, ohne daß man die Musik, ja so gar die Worte nicht merkt, und in lauter reine Empfindung versenkt ist.«

»Schauder der Reue, Auf- und Niederwallen beklommner Zärtlichkeit, Hofnung und Schwermuth, Seufzer und Klagen einer liebenden Seele. Das Zusammenschmelzen und Verfließen der reinen Töne offenbart das innre Gefühl eines himmlischen Wesens, welches sich mit der ursprünglichen Schönheit wieder vereinigen möchte, von der es Schulden trennen.«

»Der letzte Vers ist mit großer Kunst gemacht; jeder von den zwey Chören bildet für sich ein Ganzes, und beyde begatten sich gleichsam auf das innigste; und das Adagio, piano und smorzando, macht den Triumph der Kunst vollkommen.«

»Zwischen den Strophen des Gesanges werden immer Verse im bloßen Einklang von den Bässen und Tenoren declamirt; welches die ganze Gemeinde vorstellt.«

»Dieses möchte wohl die schicklichste Musik für Hebräische Poesie seyn, die aus kurzen lyrischen fast gleichförmigen Sätzen bestand, [14] welche meistens Chöre wechselten, und noch keine Verse von gezählten Sylben hatte.«


Darauf declamirte Lockmann ihnen den ganzen Text des Psalms in einer getreuen und kräftigen Uebersetzung; gab ihnen diese von Wort zu Wort dem Text untergelegt; und sang mit der vollen Harmonie des Fortepiano die erste Strophe vor, um ihnen die Art des Zeitmaaßes und die Natur des Ausdrucks bekannt zu machen; ließ dann zusammensingen, erst unter Begleitung des Instruments; und es ging das nächstemal ohne Begleitung gut über sein Erwarten.

Er fuhr nun fort durch alle Strophen bis zu Ende. Alle beeiferten sich, es recht nach seinem Sinn zu machen; kein Blick, kein Ohr, kein Herz ward von dem Ganzen verwendet, und es fing schon an gediegen und zu einem Gusse zu werden. Es freute Alle, und noch mehr ihn, inniglich.

Er sagte ihnen zur Aufmunterung, es sey ihm, als ob er in der Sixtinischen Kapelle wäre; wiederhohlte es einmal, zweymal und zum drittenmal, zeigte dazwischen dieser und jener Stimme Verbesserungen, machte sie ihnen vor, ließ sie einzeln nachsingen; und zum fünftenmal glückte es fast zur Vollkommenheit.

Er gab ihnen Lehren unter Lobsprüchen mit nach Hause, und morgen um dieselbe Zeit sollte die zweyte Probe seyn.

Was er jedoch für sein Ohr vermißte, waren die vortreflichen Römischen Kastratenstimmen. Dafür hatte er zwey Baßstimmen, Zorn und Damm, von so großem Umfang, solcher Stärke, Tiefe und Reinheit fast durch alle Töne, daß die besten, die er in Italien hörte, neben diesen hätten verschwinden müssen; mehrere gute, jedoch nicht ausgebildete, Tenore; und so drey bis vier brauchbare Altstimmen. [15] Mit den Sopranstimmen allein war er nicht zufrieden; keine hatte genug gebildeten Ton, Reinheit, Empfindung, und Charakter. Vier Buben hatten zwar Süßigkeit der Kehle, aber gar zu wenig Umfang, und ihr Ton sagte wenig; jedoch ließ sich aus diesen etwas machen. Drey Weiber waren die besten: die schöne junge Frau des Virtuosen auf dem Horn, Ewald, hatte nur einige reine silberne ausgebildete Töne, die auch rührten und entzückten, wenn Melodien dazu vorkamen; aber von wenig Geschmeidigkeit für Schwäche und Stärke. Die zwey andern, Töchter von geschickten Geigenspielern, hatten die Manieren und Läufe ihrer Herren Väter erlernt, nie die einzelnen Töne gehörig geübt, und verzierten alles, um ihre Kunst zu zeigen. Lockmanns Bitten und Ermahnungen, und der Eifer, ihm zu gefallen, brachten sie inzwischen dahin, daß sie sich nach seinem Willen fügten.

Das Gebirge leuchtete glänzend vom Widerschein der letzten Strahlen, der untergehenden Sonne. Er ging hinunter in den Schloßgarten, und gesellte sich auf einer Anhöhe, wo man die ganze Gegend übersah, zu dem alten Baumeister Reinhold, welcher lange in Rom gewesen, und ein eigner Denker war. Dieser liebte die Musik mit Leidenschaft, ohne selbst sie auszuüben, hatte die größten Meister persönlich gekannt, die vortreflichsten Werke aufführen hören und war dem jungen Lockmann von Herzen gewogen. Das Gespräch kam gleich auf dessen Probe und die Sopranstimmen. Nach einem angenehmen Wortwechsel fuhr endlich der Alte fort und behauptete:

»Eine schöne jugendliche völlig ausgebildete Kastratenstimme geht über alles in der Musik. Kein Frauenzimmer hat die Festigkeit, Stärke und Süßigkeit des Tons, und so aushaltende Lungen. Bey den Kastraten kann man recht sehen, daß es darauf ankommt, was gesagt wird, und nicht, in welchem Ton es gesagt wird. Die beste [16] Musik an und für sich ist weiter nichts, als die höchste Gefälligkeit und der bezauberndste Reiz des Ausdrucks.«

Lockmann ging in seinen Sinn ein: »Viel Wahres, besonders für die neuere Musik; doch nicht so ganz richtig. Gewiß, ich ward überrascht zu Venedig, als Pacchiarotti den Helden Giulio Sabino bey Weib und Kindern in der Sopranstimme so täuschend machte, daß alles, wie in der Stille der Mitternacht, helle Thränen vergoß.«

»Die Diskantstimme bleibt immer die passendste für Melodie; die Stimme der Melodie soll vor allen andern herrschen, und die hohen Töne herrschen über die niedrigen. Man vergißt deßwegen gar bald das Unnatürliche.«

»Inzwischen war es doch ein äußerst glücklicher Gedanke, daß Gluck in seinem berühmten Chor der unterirdischen Götter einmal den Grundton der Harmonie durchschneidend herrschen, und die Melodie diesen in allerley Sträubungen und Beugungen begleiten ließ. Ein ächter Zug des Genies. Nichts konnte die eiserne unerbittliche Gewalt dieser Dämonen besser ausdrücken.«

Reinhold fügte hinzu: »Was Rousseau in seinem moralischen Eifer gegen die Kastraten einwendet, ist höchst übertrieben. Ihre Stimme dauert freylich nicht so lange, wie Tenorstimmen, wegen der Stärke der Töne durch die kleine Oefnung der Kehle; aber immer lange genug, um auf allen Theatern von Europa zu entzücken. Daß sie unförmliche Bäuche bekommen, geschieht nicht immer, und auch andern Männern. Daß sie den Buchstaben R nicht aussprechen können, ist ganz falsch; eben so, daß sie ohne Feuer und Leidenschaft sängen. Daß Männer, die auch noch so mannbar sind, keine Kinder hinterlassen, ist bey unsern Regierungsverfassungen und zu starken Bevölkerungen etwas Gewöhnliches.«

[17] Lockmann erwiederte: »Ihr Hauptfehler bey lyrischen theatralischen Vorstellungen ist wohl der Mangel des Kontrastes zwischen Mann und Weib, und auch der Stufen des Alters; und daß die Vocalmusik überhaupt dadurch ärmlich wird: besonders auf den Römischen Theatern, wo lauter Mannspersonen spielen. Und diejenigen, deren Stimmen nicht gerathen, welches nicht selten der Fall ist, sind gewiß recht elende Geschöpfe.«

Reinhold zuckte die Achseln, lächelte und antwortete: »Die Vollkommenheit ist überall eine seltne Erscheinung. Und ist sie hier da, so denkt gewiß jeder für das allgemeine Vergnügen Empfindliche, wenn er es auch nicht, wie jener lebhafte Italiäner, öffentlich ausruft: Benedetto il coltello, u.s.w.«

Die Sonne war eben voll Pracht untergegangen, und der westliche Himmel schwebte mit Strahlenstreifen glühend in Brand und Segen, als eine andre schönere für Männeraugen und Herzen aufging. Hildegard von Hohenthal trat aus einem Park von Buchen und Eichen mit dem Fürsten hervor, leicht in Schritt und Gang, und stolzem Wuchs, voll Geschmack gekleidet, wie eine junge Königin der Amazonen. Ihnen folgte Hildegards Mutter mit dem jungen Herrn von Hohenthal, und die Fürstin.

Das Blut schoß Lockmannen ins Gesicht, und sein Herz wallte, wie sie den Blick ihrer schönen blauen Augen auf ihn lenkte.

Der Fürst ging mit ihr gerade auf ihn und Reinholden zu, und sagte lächelnd: »Ich mache Sie hier mit meinem jungen Kapellmeister bekannt, der die Sirenen von Neapel bezwungen, und so eben in unsre Gegend gebracht hat. Wenn sie nur kein Unheil da anfangen!«

Lockmann antwortete: »Unter der Regierung eines so weisen Ulysses, [18] neben welchem Pallas steht, würde dieß nicht zu besorgen seyn. Mein Bestreben war nur, einige von den guten Musen des Leo, Pergolesi, Traetta, Majo, Jomelli zu Begleiterinnen zu haben, und sie mit den Musen unsrer Händel, Bache, Graun und Gluck in Gesellschaft zu bringen.«

Hildegard faßte ihn so ganz mit ihrem seelenvollen Blick, und sagte: »Schon nach diesen wenigen Worten werden Sie mir ein treflicher Ersatz für London seyn.«

Inzwischen gingen sie auf den Wink des Fürsten zusammen weiter. Rosen und Schaßminen düfteten frischer und stärker umher, und die Nachtigallen thaten lebhaftere Liebesschläge; ein sanfter Wind wiegte sich auf den zarten Zweigen, und flisterte durch die Blätter, und der lichte Himmel spiegelte sich in den Brunnenbecken zwischen den braunen Schatten. Die Morgenscene lebte gewaltig in Lockmanns Einbildungskraft, und das Gewand der göttlichen Schönheit war ihm kaum ein dünner Schleyer.

Er selbst war einer der wohlgebildetsten jungen Männer; und wenn von den zehn Kreisen in Deutschland jeder den auserwähltesten zu einem Wettstreit der Schönheit auf eine Künstlerakademie unter dem Vorsitz eines Mengs abgesendet hätte: so würd' er vielleicht den Preis davon getragen haben. Füger machte aus Lust für sich sein Porträt zu Neapel in Miniatur, ein Meisterstück; und Battoni mahlte ihn zu Rom in Lebensgröße, unbezahlt, zu einem Kunstwerk, jedermann lieblich anzuschauen mit dem edlen Geniuskopf in seinen schwarzen natürlich herum und herabfallenden Locken, den grauen Mantel über die Schulter geworfen, im Schritt vom Winde verweht, zwischen Gesträuch auf neue Melodien und Harmonien sinnend, nachdem Lockmann einige Abende am Klavier ihn ergötzt, und ein [19] leichtes rasches entzückendes Spiel wie mit Bällen zwischen der süßen fertigen Kehle seiner Tochter, und seiner rührenden Tenorstimme in himmlischen Melodien getrieben worden war.

Hildegard und er weideten ihre Blicke an einander in den hellen Augen, an den reinen Stirnen, dem edlen geraden Zug der Nasen, dem lieblichen Suadamund, blühenden Oval der Wangen, und hohen üppigen Wuchse, so gut es unbemerkt geschehen konnte, voll Bewunderung und nie gefühlter Regungen.

Lockmann betrachtete nun auch die Mutter: eine schlanke Gestalt an die vierzig, und noch schöner Kopf in edlen Formen.

Der junge Herr von Hohenthal sah fast wie ein Zwillingsbruder seiner Schwester aus; doch war er an Alter etwas jünger: voll Lebhaftigkeit, Geist und Anstand.

Die Fürstin, eine gute Matrone, hatte vorzüglich ihr Geschlecht im Lande zum Augenmerk, und sorgte für alles, was dieses betraf. Sie unterhielt sich mit der Mutter, und wandelte langsamer mit dieser einen Seitengang hinter drein.

Der Fürst wendete sich wieder an Reinhold und Lockmann, und sagte: »Ihr zwey Italiäner wart im Gespräch begriffen. Fahrt fort, wenn es nichts Geheimes ist; vielleicht finden wir auch etwas dabey zu erinnern.«

Reinhold versetzte: »Wir sprachen von der Menschenstimme, vorzüglich vom Sopran; und bemerkten, daß in Deutschland nicht so viel Sorgfalt darauf verwendet wird, als in Venedig, Rom und Neapel.«

Hildegard nahm darauf bey einiger Stille das Wort, und sagte: »Alle gestehen ein, daß das Blühen der Künste in einem Lande dessen schönste Zierde sey; aber fast überall geht man damit verkehrt zu[20] Werke. Man giebt viel Geld aus, ohne Plan und Zusammenhang. Man kauft alte Gemählde auf, bezahlt theuer Porträte und Virtuosen; an Pflanzung, an das Lebendige und Volksmäßige wird wenig gedacht.«

»Musik ist unter den Künsten die allgemeinste; sie wirkt am mehrsten auf das Volk, und sieht oben an bey jeder Feyerlichkeit und Freude. Wenn die Regenten ihre Unterthanen glücklich machen wollen: so ist sie gewiß die vorzüglichste unter allen Künsten, und zugleich die wohlfeilste.«

»Die Menschenstimme ist unstreitig das Wesentlichste bey der ganzen Musik; und an vortreflichen Menschenstimmen fehlt es überall, auf dem Theater, in Kirchen, und im gemeinen Leben. In Städten von vielen tausend Einwohnern sind drey oder vier schöne reine nur einigermaaßen ausgebildete Menschenstimmen in Deutschland, und noch mehr in England und dem Norden, eine wahre Seltenheit.«

»Die mehrsten schönen Menschenstimmen findet man in Gegenden, wo reine heitre Luft und gutes Wasser ist; gewöhnlich gar keine, wo Kröpfe einheimisch sind. Man sollte einen Kenner ordentlich in Besoldung nehmen, und darauf herumreisen lassen. Ein Fürst, fuhr sie lächelnd fort, könnte sich allein mit dieser Anstalt verewigen. Und dieser Ruhm kostete ihm des Jahrs vielleicht nicht mehr, als er fremden Virtuosen für ihre Konzerte bezahlt. In seinem Lande dürfte ihm schlechterdings keine gute Stimme verloren gehen, und hätte sie ein Junker oder Fräulein vom ältesten Adel und größten Reichthum.«

Der Fürst hörte aufmerksam zu; er liebte, welches wohl bekannt war, bis auf den Grad, wo die gehörige Würde nichts leidet, freymüthige [21] +++Reden, besonders vom Frauenzimmer, und haßte Heuchler und Schmeichler. Hildegard gab Lockmannen mit Hand und Blick ein Zeichen fortzufahren. Dieser war erstaunt, entzückt sie so reden zu hören, und schon dadurch überzeugt, daß sie wenigstens Kennerin seyn müsse. Er benutzte die gute Stimmung und Gelegenheit, und fuhr so freymüthig fort, wie sie angefangen hatte.

»Da wir keine Kastraten machen, so sind alle unsre Sopranstimmen weiblich. Buben, auch mit den reinsten Kehlen, haben noch keinen Charakter, und sind von zu kurzer Dauer; ihr Uebergang in die Tenor-oder Baßstimme ist immer sehr mißlich. Doch könnte man sie auf Gerathewohl vortreflich in Kirchen und auf dem Theater bey Chören brauchen; und, so bald bey der Mannbarkeit die schöne tiefere Stimme entschieden wäre, ihnen die völlige musikalische Erziehung geben. So hat der Kurfürst Clemens von Bonn aus einem Bauerbuben den großen Raaf gebildet, zur Bewunderung auf den ersten Bühnen von Europa.«

»Die Stimmen von weitem Umfang und wichtigem Gehalt sind niemals gleich von Natur da; sie werden nur durch unaufhörliche Uebung gestärkt und gebildet. Zum Beweise kann einer der jetzigen größten Sänger, und eine der ersten größten Sängerinnen in Europa dienen, Marchesi und die Todi, welche nach ihrem eignen Geständniß anfangs sehr unbedeutend waren, und nach langer Uebung erst das wurden, was sie jetzt sind.«

»Die Hofnungen schlagen auch hier manchmal fehl; doch nicht so häufig, wie beym Genie. Mancher Knabe verspricht einen großen Mahler, Dichter, General, Staatsmann; und es wird hernach doch nichts aus ihm. Manches kleine Mädchen verspricht eine himmlische Schönheit, und verwächst sich hernach zu einem ganz gewöhnlichen [22] Dinge. Man darf bey einigen fehlgeschlagenen Versuchen den Muth nicht sinken lassen. So bald nur einmal ein verständiger Plan ins Werk gesetzt worden ist, geht alles leichter. Die Schulen sind ja überall schon da; man hat nur das Aussuchen, und das Mißlingen verursacht keinen großen Aufwand.«

»Bey Auswahl der Stimmen muß man hauptsächlich auf den Charakter sehen, ob Empfindung im Ton ist, Zärtlichkeit, Adel, heroisches Wesen; man kann solche auch mit wenig Umfang vortreflich brauchen.«

»Es ist erstaunlich, wie unendlich mannigfaltig der Mensch die wenige Luft verändert, die er mit einem Zug einathmet! Man muß zugleich die Geschmeidigkeit und Gewalt des Elements und der Werkzeuge, womit er es bildet, bewundern. Welche Menge von Stimmen, Tönen, Worten, Sprachen!«

»Die Werkzeuge sind der Thorax, oder Brustkasten, die Lungen, die Luftröhre, der Kehlkopf, vorzüglich dessen Stimmritze, die Zunge, der Gaumen, die Nasenhöhlen, die Zähne, der Mund, und die Lippen.«

»Bloß aus Ton und Wort kann ein feines und erfahrnes Ohr die Beschaffenheit aller dieser Werkzeuge an einem Menschen erkennen, und Gefühl und Verstand nicht wenig an ihm empfinden und über ihn urtheilen.«

»Das Auge ist ein reicher Sinn im Geben und Nehmen; aber gewiß sind es auch das Ohr und die Sprachwerkzeuge. Das Auge hat nur den Vorzug, daß Geben und Nehmen unmittelbar in demselben Sinne vereinigt sind. Dafür aber haben Ohren und Sprachwerkzeuge mehr Masse vom Lebendigen am Menschen, und lassen mit weit mehr Gewalt auf sich wirken.«

[23] »Der Brustkasten und die Lungen machen den Blasebalg; die Luftröhre mit ihrem Kehlkopf ist gewissermaaßen, nämlich was Höhe und Tiefe betrift, Orgelpfeife; der Kehlkopf und seine Stimmritze geben den Ton, wie ein zusammengesetztes Blas- und Saiteninstrument, indem sie durch Erzitterung ihrer vermittelst der Nerven und Muskeln gespannten Bänder und Knorpel die Luft in gleichförmige Bewegung setzen; das Gewölbe des Gaumens und die Nasenhöhlen verstärken denselben, wie die Röhren von Trompeten, Hörnern und Flöten, wie die Gewölbe von Geigen und Bässen; die Zunge bildet ihn am Gaumen, mit den Zähnen und Lippen, auf unendliche Weise zu Buchstaben, Sylben und Wörtern.«

»Meßbar und erklärbar wirken die Töne an und für sich durch ihre Höhe und Tiefe, Stärke und Schwäche; und dann durch ihre Dauer, Folge und Verbindung. Man könnte dieß die reine Musik nennen. Sie greift die Nerven und alle Theile des Gehörs an, und verändert dadurch das innre Gefühl außer allen andern Vorstellungen der Phantasie. Schon das Wasser pflanzt den Schall mehr als doppelt stärker und weiter fort, als die Luft; noch besser die festen Theile unsers Körpers. Der ganze Mensch erklingt gleichsam, und es entstehen Empfindungen nach dem Verhältnisse der Töne und der Beschaffenheit der Massen, wodurch sie hervorgebracht werden.«

»Unser Gefühl selbst ist nichts anders, als eine innre Musik, immerwährende Schwingung der Lebensnerven. Alles, was uns umgiebt, was wir Neues denken und empfinden, vermehrt oder vermindert, verstärkt oder schwächt den Grad ihrer vorigen Bewegung. Die Musik rührt sie so, daß es ein eignes Spiel, eine ganz besondre Mittheilung ist, die alle Beschreibung von Worten übersteigt. Sie stellt das innre Gefühl von außen in der Luft dar, und [24] drückt aus, was aller Sprache vorhergeht, sie begleitet, oder ihr folgt.«

»Göttliche Kunst, welche die Existenz fühlender Wesen so unmittelbar unter ihrem gewaltigen Scepter hat!«

»Bey dem gesungnen vollen Tone sind gleichsam alle Segel der Sprachwerkzeuge aufgezogen: alles ist gespannt, und der Thorax preßt mit Gewalt die Luft der Lungen durch die Röhre dahinein; der Kehlkopf schwebt und erzittert und bewegt sich alsdann nach den Leidenschaften des Herzens, dem Willen der Seele in beliebigen Graden, und übertrift mit den Melodien seiner kleinen Stimmritze aus dem Mund einesFarinelli, einer Faustina, die Wirkungen ungeheurer Orchester.«

»Bey der Fistel oder Falsetstimme wird der Kehlkopf mehr oder weniger überspannt hinaufgezogen, die Stimmritze mit Gewalt verengt, und nur ein Theil des Ganzen in der Höhe gebraucht. Dasselbe geschieht bey den zu tiefen Tönen durch gewaltsame Herunterziehung des Kehlkopfs und Erweiterung der Stimmritze.«

»Und so braucht man nur einen Theil der Tonwerkzeuge, wenn man spricht und nicht singt. So kann ein Redner eine schöne Aussprache haben, und ein schlechtes Organ zum Singen, weil er bloß die Theile übt, die zur Sprache gehören, vielleicht auch von Natur nur diese fest und rein hat: und so kann ein vortreflicher Sänger unangenehm sprechen, weil die Werkzeuge, die dazu gehören, bey ihm nur einen Theil zum Ganzen ausmachen, und an und für sich selbst mangelhaft zu einem für sich bestehenden Ganzen sind.«

»Unter allen Thieren hat der Mensch das vollkommenste Stimmorgan; die Nachtigall unter den Vögeln das einfachste.«

»Die Methode, die Stimme zum Gesang zu bilden und zu üben, ist [25] in Neapel, Rom, Venedig, Mailand, Turin so bekannt, wie bey den Preußen das Marschiren und Exerziren; jeder musikalische Korporal weiß sie.«

»Wer singen lernen will, muß fürs erste eine Anzahl Töne rein in der strengsten Bestimmung, und rund in höchster Stärke und leisester Schwäche, wie ein Despot in seine Gewalt zu bekommen suchen. Er fängt an mit dem Tone, der ihm am natürlichsten ist, woraus, wenn ich mich so ausdrücken darf, sein ganzes Wesen geht, und worin er gewöhnlich spricht. Wenn er diesen rein und voll hat: so geht er einen tiefer, und ebenso zwey und drey und vier tiefer; und dann einen, zwey, und drey in die Höhe, bis er eine Oktave richtig und rund hat, ohne bey irgend einem Tone Hinderniß und Schwierigkeit zu finden, zu straucheln und zu wanken.«

»Dann sucht er sie zu verbinden, zu verschmelzen.«

»Dann geht er immer weiter in die Tiefe und die Höhe; in die Fistel über; und sucht die ganz vollen Töne mit den Tönen dieser, so unmerklich wie möglich, zu vereinbaren.«

»Alles dieses geschieht mit dem bloßen Vokal A ohne Konsonanten.«

»Ein voller Ton mehr in der Höhe oder Tiefe, und sollte dessen Besitz Monate kosten, ist so wichtig, wie ein Zoll mehr beym Maaße der Menschenlänge.«

»Hat man einmal eine hinlängliche Anzahl von Tönen: so fängt man damit allerley einfache Uebungen an. Fürs erste schwellt man jeden vom Leisen bis zur höchsten Stärke, und läßt ihn so wieder bis zum Leisen sinken; steigt dann die ganze diatonische Leiter hinauf und hinunter; übt nun die Sprünge in Terzen, Quarten, Quinten, Sexten, und so weiter, hinauf und herunter, haarscharf abgemessen, bis zur größten Richtigkeit und Fertigkeit, Verbindung und Gleichheit. [26] Endlich steigt man die Leiter durch die halben Töne hinauf und herunter, welches das Schwerste ist, aber bis zur Richtigkeit erlernt werden muß.«

»Dabey darf keine Ungeduld und Uebereilung statt finden; mehrere Jahre gehören zu dieser himmlischen Reifheit der Kehle. Und dann erst kommen Triller, Verbindung der Töne mit den Sylben, Aussprache, Declamazion, Manieren, Läufe; Seele, Geist und Leben.«

»Die Hauptsache ist das Mundstück, der Kehlkopf und dessen Stimmritze, bey einem zarten und reinen Gehör. Wenn die Natur diese Mündung nicht überein geschmeidig und festsehnicht gebildet hat, der Ton wankend und falsch daraus hervorkommt: so ist alle Mühe und Uebung vergeblich. Und gutes Ohr und vortreflicher Kehlkopf sind nach der Erfahrung so selten, wie ächtes Genie und hohe Schönheit 2

[27] »Bey blasenden Instrumenten kommt es hauptsächlich auf die Lungen, Zunge und Lippen an; und bey den andern auf Arm und Hand. Gutes Gehör und Herz und Geist muß übrigens allezeit im Menschen seyn, sonst wird nie etwas Großes. Neapel und Venedig haben in Besorgung der musikalischen Erziehung den Vorzug vor allen Städten der Welt. Bey ihnen geht so leicht keine gute Stimme verloren. In Neapel sind drey Stiftungen, wo an die vierhundert Zöglinge aufgenommen werden, denen immer die besten Meister vorstehen. Auch sind beyde vorzüglich dadurch glücklich.«

»Doch vergeben Ew. Durchlaucht, und Sie reizende junge Dame. Die Aufmerksamkeit, deren Sie mich würdigten, hat mich über die gehörige Grenze, und vielleicht bis zum Pedantischen verleitet.«

Hierbey waren sie bis zum Eingang des Schlosses gekommen. Hildegard schöpfte frischen Athem, so voll Lust hatte sie zugehört. Sie sagte mit leiser süßer Stimme, wie für sich: »Vortreflich!« und [28] konnte sich nicht enthalten, mit unbeschreiblicher Grazie ihm flüchtig die Hand zu berühren; welches wie ein elektrischer Schlag ihm durch sein Wesen drang.

Der Fürst blickte heiter und freundlich auf ihn, und gab zur Antwort: »Es scheint, daß die Natur zu gewissen Zeiten für die Ersprießlichkeit und den raschen Wachsthum der Künste schöpferische Geister hervor und durch mancherley Umstände zur Reife bringen müsse, die hernach dem Ganzen Stoß und Richtung geben. Wenn man diese nicht hat, entsteht bey dem besten Willen nur ein ekelhaftes Nachäffen. Wahr aber ist es, der Verstand und die Pflegung eines mächtigen August und Ludwig, und Städte wie Neapel, Rom, Venedig, Paris, London, Wien, Berlin sind alsdann dafür gedeihliches Wetter, Sonne, Mond und Sterne.«

Die Fürstin und die Mutter, und andre Herren und Damen, theils vom Hofe, theils aus dem Orte, die da schöne Häuser und Gärten besaßen, und sich den Sommer über auch da aufhielten, hatten sich inzwischen eingefunden. Die Gesellschaft ging in den Speisesaal. Reinhold umarmte herzlich seinen jungen Freund, und Beyde schieden, jeder nach seiner Wohnung.

Lockmann ging auf seinem Zimmer, voll unaussprechlicher Empfindungen, langsam und oft stille stehend, auf und ab; aß ein wenig, trank aber desto mehr von einem alten wohlthätigen Hochheimer, und legte sich mit folgendem Stoßseufzer zu Bette: »Soll unsre hochgepriesene Vernunft die Staatsverfassungen nie dahin bringen, daß zwischen Menschen, die für einander geboren und erzogen sind, keine so ungeheure Kluft mehr seyn muß!«

Hildegard sprach sehr wenig an der Tafel; doch was sie sagte, war voll Sinn und Verstand, und aller Augen waren auf ihre [29] blühende Schönheit gerichtet. Der Fürst schätzte sich glücklich, einen solchen Meister, wie Lockmann, für seine Musik gefunden zu haben; er erzählte die Geschichte mit ihm auf dem Petersberge zu Erfurt, und beschrieb die schönen Knochen des Grafen von Gleichen und seiner zwey Weiber. Neben Hildegarden saß Herrvon Wolfseck, Sohn des Ministers, welcher sie mit allerley Tand und Aberwitz zu unterhalten suchte; er war ein geschickter Rechtsgelehrter, aber widrig von Gestalt in seiner langen Figur, und hatte keinen Funken Geschmack und Gefühl für alle Kunst. Sie sahen einander bey ihrer Ankunft, wo er gerad' in Geschäften auf dem Schloß ihnen einige Höflichkeitsbesuche abstattete.

Der junge Tag und das Schwalbengezwitscher weckten Lockmannen von lieblichen Träumen. Er sprang auf, und betrachtete die Morgenröthe, eine wahre Glorie der Sonne, wie sie kein Tizian undCorreggio mit Farben darzustellen vermag. Sie nähert sich selbst; und ein glühendes Roth durchdringt die Pforten des Aufgangs, wie die Wangen eines unerfahrnen Mädchens. Schon ist sie da, und wollüstig gleitet der Blick von ihrer feurigen Majestät ab, bis sie ganz in schöne Rundung sich erhoben hat, und das geblendete Aug' ihre Strahlen nicht mehr aushält. Frische Kühle mit dem Duft der Blumen durch das offne Fenster vom Garten stärkten alle Glieder aus dem warmen Bette bis zum lebendigsten Bewußtseyn.

Lockmann ergriff das vortrefliche Fernrohr von Ramsden; legte es aber schnell wieder hin, als ob er sich die Finger daran verbrannt hätte; und nahm den festen Entschluß, sich von der Zauberin entfernt zu halten, und seine Neigungen gleich anfangs zu unterdrücken, damit sie nicht zur Leidenschaft anwüchsen, die nicht anders als unglücklich seyn könnte.

[30] Um sich sogleich zu beschäftigten, und seinem Geist eine ganz andre Richtung zu geben, legte er die Stimmen des Messias von Händel für die erste Probe zurecht; nahm die Partitur, setzte sich ans Klavier, und schrieb Folgendes zum Unterricht für seine Leute auf, die um neun Uhr dazu bestellt waren.


Messias; ein Oratorium von Händel.


»Es enthält in drey Theilen die ganze Geschichte Jesu.«

»I. Verkündigung, Geburt. II. Leiden und Tod. III. Auferstehung, und Unsterblichkeit. Die Worte sind meistens aus den Evangelien genommen; sie haben viel Großes und Feyerliches, besonders für Chöre; und überhaupt für Musik vortrefliche Stellen.«

»Händels Melodie und Darstellung hat fast immer den herzlichen Deutschen Charakter; es ist etwas Kräftiges und Unschuldiges darin. Die neuere Neapolitanische Schönheit hat er nicht; damals war die Fertigkeit in Kehlen und auf Instrumenten noch nicht so weit getrieben. Gewiß aber gehört er unter die vortreflichsten Tonkünstler seines Zeitalters.«

»Darstellung, wenn man so sagen darf, wird merklich bey: blick auf, Nacht bedecket das Erdreich; stärker in der Arie: das Volk, das im Dunkeln wandelt

»Es waren Hirten beysammen auf dem Felde; hat ein schönes Schäfervorspiel.«

»Und die Klarheit des Herrn umleuchtete sie: ist treflich durch die Begleitung ausgedrückt, die ein sanftes Licht wallt; nicht loderndes Siriuslicht, wie das Lux perpetua bey Jo mellis Requiem. Die Glorie ist in dem Tone fort schön: die Menge der himmlischen Heere. Der Chor vortreflich: Ehre sey Gott

»Der Wechselgesang: er weidet seine Heerde, im Zwölfachteltakt [31] und B dur, ist ein Meisterstück, durchaus voll Sanftmuth, Liebe und Zärtlichkeit. Solche Musik dauert ewig; sie ist gerade so natürlich, daß man sie nicht merkt, sondern nur der Sinn der Worte übergeht. Es ist ganz Glucks Art; und dieser mag nicht wenig von Händeln in seine neue Bahn getrieben worden seyn.«

»Nur in der Begleitung kommen zuweilen die langen Manschetten, das Gedehnte, Schlotternde seiner Zeit vor.«


Zweyter Theil.


»Er ward verschmähet; ganz vortreflich ausgedrückt, in eben der Art, wie er weidet seine Heerde. Man merkt die Musik auch wieder nicht, so natürlich ist sie; und so wenig unterbricht die Begleitung.«

»Die Chöre sind fast immer meisterhaft. Und der Ewige legt auf ihn unser aller Missethat. Dieser kleine ist von der allerstärksten Wirkung; wie Glucks vortrefliche.«

»Die Schmach bricht ihm das Herz. Dieses begleitete Recitativ zeigt Händels Darstellungskraft am allerstärksten; und nur ein großes musikalisches Genie kann Melodie und Begleitung so tief und rein gefühlt erfunden haben. Die verkleinerte Sext, und der verminderte Septimenaccord spielen darin die Hauptrolle. Man kann dieß Recitativ unter das allervortreflichste stellen.«

»Die kurze Arie: schau hin und sieh, wer kennet solche Qualen! ist wiederGlucks Art.«

»Lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an; im Zwölfachteltakt, fast durchaus nur mit einer Geige und dem Basse begleitet; ganz vortreflich. Schöne Stelle: ihr Schall ging aus in alle Welt

[32] »Der Chor: Halleluja, mit Trompeten und Pauken, ist durchaus vortreflich; und beschließt den zweyten Theil mit einer prächtigen Fuge: und er regiert ewig; in einem reizenden Sextengange das einfache Thema.«


Dritter Theil.


»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt; aus dem E dur. Eine erstaunliche Zuversicht in der Melodie; bloß wieder mit einer Geige und dem Basse begleitet.«

»Göttlich, der Chor: Wie durch Einen der Tod, grave; so kam durch Einen die Auferstehung,allegro.«

»Denn wie durch Adam alle sterben, grave. Dieses ist beydemal bloß vierstimmig, ohne alle Begleitung, von großer Wirkung. Also wird wer starb durch Christum auferweckt, allegro.«

»Merkt auf, ich kündig' ein Geheimniß an; Recitativ mit Begleitung, von der Baßstimme vortreflich declamirt. Schöne Arie dazu, mit der Trompete Solo: sie schallt die Posaune. Der zweyte Theil ist ganz unbegleitet. Sie macht mit den andern guten Kontrast.«

»Die letzten Chöre sind vollendete große Meisterstücke. Würdig ist das Lamm, das da starb, Largo; und die Fuge: Preis und Anbetung und Ehre und Macht sey ihm, der da sitzet auf seinem Thron; im schönsten natürlichsten Thema zur Declamazion, Larghetto; sie zeigt recht die allerstärkste Gewandtheit in dieser Form. So wie gleich darauf die Fuge: Amen, allegro; welches einen muthigen wilden stürmischen Beschluß macht.«

»Die wahre Musik ist nur Eine, so lange der Mensch seine Natur, und die Accorde, Konsonanzen und Dissonanzen ihr ewiges Verhältniß [33] behalten. Sie ist dieselbe bey dem Miserere von Allegri, und bey Leo, Pergolesi, bey Hasse, Traetta, Jomelli, Majo; Händel, Gluck; nur bey den letztern von mindrer Schönheit und Mannigfaltigkeit, als bey den Neapolitanern. Sie geht überall auf den Zweck los, den Sinn der Worte und die Empfindung in die Zuhörer überzutragen, so leicht und angenehm, daß man sie selbst nicht merkt; und das Ohr, wo möglich, dabey zu bezaubern.«


Um neun Uhr ging er in den Konzertsaal. Alle waren schon da versammelt. Wie ward er aber überrascht, als Hildegard, ganz zur Andacht weiß gekleidet, nur eine kaum aufgeblühte Rose in den schönen blonden Locken, unter den Sängerinnen hervortrat und ihn mit diesen Worten anredete: »Auch ich bin gekommen, mich in die hohe Kunst, als eine gehorsame Schülerin von einem so vortreflichen Meister einweihen zu lassen, wenn er meine Stimme und geringen Fähigkeiten würdig genug dazu findet.«

Lockmann antwortete ernsthaft darauf: »Gehorsamst bitten wir vielmehr um Ihren guten Unterricht, gnädiges Fräulein, bey der Aufführung des Meisterstücks von unserm großen Landsmann, der die himmlische Kunst so entzückend unter die Britten verpflanzte, daß noch jetzt seine Melodien und Harmonien ihm wie einem Heiligen in ihren Tempeln widerhallen. Von den Jubelorkanen, Donnerwettern, Niagarakatarakten in Westminster können Sie hier freilich nur einen äußerst schwachen Nachlaut hören.«

»O, ich glaube nicht, versetzte sie eben so ernsthaft, daß der Instrumentensturm, der die Menschenstimmen, immer doch die Seele des Ganzen, so überrauscht, dem Unsterblichen gefallen könne, der die rührendsten Melodien, die er ihr gegeben hat, meistens nur, wenn [34] ich mich so ausdrücken darf, gleichsam in ein zartes Griechisches Gewand hüllte; und hoffe bey Ihrer Aufführung mehr wahre Nahrung für Herzen und Religionsgefühle zu finden. Doch war die Begleitung auch in Westminster nicht so stark, als man auswärts sich vorstellt; die Stimme steht weit voran, und alles gleichsam nach der Ohrenperspektiv.«

Beyder Blicke glänzten in einander bey diesen Reden, wie von einem gemeinschaftlichen Geistesquell.

Er ließ sich inzwischen nicht stören, theilte die Stimmen aus, und überreichte ihr die Sopranstimme; sie nahm diese gefällig an, und stellte sich an den gehörigen Posten.

Darauf machte er Alle nach seinem flüchtigen kurzen Aufsatze mit dem Ganzen bekannt, zeigte jedem, wie die Hauptstellen vorzutragen wären; setzte sich an den Flügel, und fing an. Die Gegenwart und Mitwirkung der Schönheit selbst, von der Themse her über, brachte die gespannteste Aufmerksamkeit zuwege. Er führte wie ein junger Apoll an, und die Probe war in der That ein reizendes Schauspiel.

Sie gelang auch sogleich zum Verwundern. Niemand unter ihnen, und selbst Lockmann hatte noch je so reine, volle, süße, Ohr und Herz schmeichelnd ergreifende Töne gehört, als bey den Worten:er weidet seine Heerde; und: lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an; aus der gewaltigen Kehle und von den holdseligen Lippen der Hildegard, wie der Cäcilia selbst aus dem Himmel auf Erden, hervorströmten, in Bescheidenheit und Unschuld, ohne die allergeringste Künsteley, nur mit den Accenten hoher Grazie und den netten Läufen rascher Jugend und Fertigkeit da und dort verziert und geschmückt.

So wie sie ihn, entzückte er sie; er sang mit ihr den zweyten Sopran, [35] anstatt der Sängerin, die ihn singen sollte, zuweilen im Tenor, mit der Entschuldigung, ihr für die nächste Probe nur den gehörigen Ausdruck zeigen zu wollen. Beyde hatten solche Vollkommenheit von einander nicht erwartet; er nur viel weniger von ihr. Nach ihren ersten Arien sprang er vom Flügel, fiel vor ihr nieder voll Gluth des Enthusiasmus, faßte ihre zarten Hände, küßte sie inbrünstig, und stammelte: »Wunderwesen, ich bete Sie und Ihre Kunst an. O, die Italiäner haben Recht, daß sie einer Gabrieli, einem Pacchiarotti, Marchesi fünf- und zehnmal mehr dafür geben in einer Oper zu singen, als einem Sarti, Paesiello, die ganze Musik dafür zu setzen. Die vortreflichsten Noten sind dürres Geripp, wenn ihre Melodien nicht durch solche Stimmen schön und reizend und jugendlich lebendig in die Seelen gezaubert werden.«

Sie ergriff ihn bey der Hand, zog ihn in die Höhe, und sagte lächelnd: »Zu viel, zu viel Lob für eine Anfängerin! ich werde sonst Nichts lernen.«

»Nichts lernen? Muthwillige!«

Dieser Vorfall kam allen so natürlich vor, daß er fast nicht bemerkt wurde. Mann und Jüngling und so gar die Weiber sagten wie aus Einem Munde: solche göttliche Stimme hätten sie noch nie gehört, mit so viel Fertigkeit und Ausdruck.

Darauf ging die Probe fort, von ihrer Seite immer mit neuer Schönheit überraschend bis zu Ende.

Sie hielt sich nicht lange mehr auf, bat nur, daß man nichts von ihrer Anwesenheit sagen möchte; verneigte sich vor Lockmann und der Gesellschaft, und verschwand wie eine Gottheit. Ein freudiges Murmeln entstand im Saal, wie von den Wogen an den Ufern des Meers, wenn die Weste nicht mehr in den Lüften gehört werden.

[36] Lockmann bestellte Sänger und Sängerinnen zur zweyten Probe des Miserere auf den Nachmittag; und zugleich zu einer neuen für ein kleines Werk von dem Patriarchen der Kirchenmusik, Palestrina. Und die Gesellschaft ging höchst vergnügt aus einander.

»Das ist wieder ganz etwas anders!« sagt' er laut für sich, als er nach seinem Zimmer ging. »Aber was will daraus werden!« endigte er mit einem tiefen Seufzer.

Er dachte schon auf Plane; aber es war ihm, wie einem Wandrer, der in ein reizendes Thal sich verirrt, voll Bäche, Quellen, und Wasserstürze und anmuthiger Waldung, wo er aber lauter unersteigliche Gebirge vor sich sieht, und keinen andern Ausweg findet, als wieder zurück zu kehren. Sie dachte auch auf Plane, mit viel erfreulichern Aussichten.

Kurz vor der Probe schrieb er die wenigen Worte nieder:

»Fratres, ego enim accepi a Domino. Di Palestrina.«

»Der Text sind die Einsetzungsworte beym Abendmal.«

»Fratres, ego enim accepi a Domino, quod et tradidi vobis; quoniam Dominus Jesus, in qua nocte tradebatur, accepit panem, et gratias agens fregit et dixit: Accipite et manducate, hoc est corpus meum. Hoc facite in meam commemorationem.«

»Vortrefliche Musik. Der Anfang besteht aus den reinsten Konsonanzen, zweystimmig; Quinten, Oktaven, Quarten, Terzen, Sexten. Darauf imitirt der Alt und Baß.«

»Es wechseln immer zwey Chöre ab, und verflechten sich zuweilen bey den Hauptstellen. Sie bestehen beyde aus zwey Sopranen, Alt und Baß. Die Harmonie geht nur zweymal drittehalb Oktaven auf dem tiefen B im Basse aus einander, bey ›gratias agens‹ und ›in meam commemorationem.‹«

[37] »Der Hauptton ist G moll.«

»Der Name Jesus wird durch die Harmonie meisterlich herausgehoben; Dominus ist im Accord C dur, Je in B dur und fällt durch eine Kadenz in F dur. Und im ersten Chor sogleich von Dominus in F dur,Je in Es dur, und die Sylbe sus in B dur. Dieß scheint Kleinigkeit, ist aber bey der Aufführung von der größten Wirkung, und stellt das Gefühl der Gläubigen dar. Es ist gerade dasselbe, als wenn der Prediger auf der Kanzel bey dem Namen sein Käppchen abnimmt.«

»Bey Accepit panem, et gratias agens, winden sich beyde Chöre wie im Taumel achtstimmig voll Kunst durch einander. Accipite et manducate: hoc est corpus meum; ist am öftesten wiederhohlt, und vortreflich ausgeführt durch die schönsten Verflechtungen.«

»Hoc facite in meam commemorationem, wird mit aller Pracht ausgeführt in C dur, F dur, B dur, F dur, C dur, G moll, D dur, und G dur.«

»Ich habe diese Musik in der Peterskirche zu Rom aufführen hören. Die Kapelle saß in einem Gegitter, und man konnte keinen Sänger sehen. Die Harmonie ward dadurch noch mehr zu einem Ganzen; welches in seinen Windungen und gleichsam verwirrtem Dialog von Chören das Geheimnißvolle der Handlung, und die Gefühle gläubiger Christen dabey vortreflich darstellt. Jeder Chor scheint ein Ganzes für sich zu machen; das Zusammenpassen und Schmelzen ist eben die große Kunst bey so vielstimmigen Sachen.«


Die Probe des Miserere ging gut genug, so daß keine mehr nöthig war; und in das kleine Werk von Palestrina studirten sie sich bald [38] ein. Freytag Morgens, es war Mittewoch, sollte noch einmal eine Probe von allem gehalten werden.

Darauf machte Lockmann einen Strich ins Feld hinein, ergötzte sich an der Fruchtbarkeit und Schönheit des Landes, sah auf den Höhen von fern den Vater Rhein wie einen breiten Lichtstrom prächtig vom Himmel hernieder blinken; und pries sich glücklich, in dieser herrlichen Gegend zu leben. Dazwischen war aber immer sein geheimes heftiges Verlangen Hildegard; doch konnt' er noch nichts Klares darüber in seinem Kopf hervorbringen. Er hatte den Tag Bewegung genug gehabt, und ging, als schon die Lyra über ihm durch das blaue Heiter der Luft glänzte, nach Hause, um gut zu essen, zu trinken und zu schlafen.

Den folgenden Morgen war die Sonne so eben über das Gebirg' empor, als ihn ihr starkes Licht weckte. Das Fernrohr fiel ihm ins Auge, und mit einem Sprung hatte er es in der Hand, das Fenster offen, und schaute. Er konnte an den Linden Stamm und Zweig und jedes Blatt unterscheiden, als ob er sie auf wenig Schritte vor sich hätte; sah ein klares und helles Bächlein zwischen Blumen auf grünem Rasen darunter weg in die Wasservertiefung rinnen, und entdeckte endlich hinten in der Dämmerung erhoben eine Quelle, in schöner Rundung eingefaßt. Der Garten war lauter Frühling, Paradies und Reiz; aber das Schönste darin erschien nicht. Hildegard hatte vorgestern, als sie sich wieder ankleidete, zu spät mit ihrem scharfen Blick in die Ferne, ihn wie etwas Weißes und Buntes noch im Fenster des hohen Schlosses gesehen; wußte aber nicht, wer und was es war; und, wenn es ein Mann war, ob er sie vielleicht mochte beobachtet haben; und wählte nun, wenn sie sich zuweilen baden wollte, die Stunden der Nacht. Gestern, um dieselbe Zeit, ging sie [39] deßwegen im Garten spaziren, und betrachtete mit einem kleinen Fernglas die Fenster dieser Seite im dritten Stocke des Schlosses, von welchem allein die Wasservertiefung über die hohe Mauer und zwischen den Bäumen konnte gesehen werden. Da sie nichts bemerkte, so war sie ohne Sorge, blieb aber doch bey ihrem Entschluß.

Einige Stunden darauf kam ein Bedienter, und lud ihn, im Namen der Mutter, des Sohns, und der Tochter von Hohenthal, zum Mittagsessen ein. Er wollte um drey Uhr, die bestimmte Zeit, gehorsamst aufwarten. Dieses setzte sein ganzes Innres und seine Einbildungskraft heftig in Bewegung, und er ging hastig in seinem Zimmer auf und nieder.

Hildegard herrschte zu Hause, und that, was sie wollte; obgleich voll kindlicher Ehrerbietung und des zärtlichsten Gehorsams gegen ihre Mutter. Diese folgte ihr in allem; sie war aus einer Menge Proben überzeugt von der klugen Aufführung, Einsicht und Menschenkenntniß ihrer Tochter. Hildegard hatte schon manchem jungen Herrn in London und zu Spaa den Kopf verrückt, sich selbst aber nie bethören lassen; und war jederzeit den gefährlichen Gelegenheiten schlau und fein ausgewichen. Sie trieb ihr obgleich muthwilliges doch unschuldiges Spiel immer nur bis auf einen gewissen Punkt, über dessen Grenze sie bisher nichts verleiten konnte. Die Wörter, Phrasen und Dithyramben von ihrer Schönheit, ihren Talenten und Vollkommenheiten, von Grausamkeit, Kälte, Eis, Flüchtigkeit der Jugend hörte sie bald nur zum bloßen Zeitvertreib. Da sie London überstanden hatte, so konnte bey der Deutschen Redlichkeit fast keine Verführung mehr für sie möglich seyn.

Sie war der Augapfel ihres vortreflichen Vaters, seine Hauptfreude und Sorge gewesen, und ihre Erziehung in allen Punkten reiflich [40] überlegt worden; was sie jedoch unnöthig machte, da sie, gerade so wie er wollte und wünschte, sich fast gänzlich aus sich selbst bildete, und nur die besten Meister zum Unterricht, und die vorzüglichsten Personen besonders ihres Geschlechts zum Umgang erfordert wurden.

Das Glück begünstigte sie in allem. Schon als Kind war sie über Falschheit, Verstellung, Verrätherey, Neid und Bosheit bey den Menschenpflanzen, ihren Gespielinnen und Gespielen, ohne großen Schaden klug geworden; und hatte an die ersten aller Tugenden: Schweigen, und für sich zu bestehen, Bescheidenheit und gerechte Würdigung eines Jeden; und was auf die Dauer gefallen und mißfallen muß, ihr Herz, ihre lebhaften Sinnen und immer klare heitre Seele früh gewöhnt.

Nur ein schlimmer Zug war in England bey den Wettrennen und großen Spielen ihrem edlen Charakter gleichsam angeflogen; und dieser bestand darin, daß sie es zuweilen wagte, eine Summe, die sie jedoch aus ihrer Sparbüchse und von ihrem Taschengelde mußte entbehren können, auf ein Kartenblatt zu setzen. Das letztemal, als sie kurze Zeit mit ihrem Vater zu Spaa sich aufhielt, hatte sie unvermerkt im Pharao an die tausend Louisd'or gewonnen.

Ihr Vater, der davon erfuhr, und dem sie aus Furcht nicht die Hälfte angab, machte ihr zum erstenmal die bittersten Vorwürfe darüber. Er stellte ihr die entsetzlichen Folgen, die daraus entstehen könnten, zum Theil noch unter Augen, mit den schrecklichsten Beyspielen vor. Sie vergoß heiße Thränen bey der harten Strafpredigt, fiel vor ihm nieder, betheuerte und schwur: sie sey von einer guten Freundin gereizt und verleitet worden, und werde es nie wieder thun. »Dieß verlang' ich nicht,« sagte der strenge, doch zärtliche Vater; »ich habe die Hofnung und das Zutrauen zu deinem guten Verstande, [41] daß es in Zukunft allezeit dein eigner freyer Wille seyn wird, dich nie in ein solches Spiel zu mischen, wo ein blindes Ungefähr den Ausschlag giebt, die Bank offenbar den Vortheil hat, und nur zu oft Betrügerey obwaltet, die mit einigen glücklichen Fällen zur Leidenschaft hinreißt.«

Inzwischen ließ er ihr das gewonnene Geld, war aber – was ihr in der Seele weh that – auf der Reise nach London nicht mehr so gutherzig und freundlich; und starb dort bald darauf.

Ihre Hauptleidenschaft war Gesang und Musik, und lyrische und dramatische Poesie dafür; diese überwog bey ihr alles andre.

Als Lockmann am Hause schellte, fing ihm das Herz stärker an zu klopfen. Diese Bekanntschaft schien ihm schnell und plötzlich eine neue volle sprudelnde Quelle in sein Leben zu werden. Das Innre der Wohnung traf er so reinlich an, alles so schön angelegt, die Zimmer meistens mit kostbarem Englischen Hausrath versehen, zum Theil mit Gemählden und Kupferstichen behangen, und alles mit so viel Geschmack eingerichtet, daß es ihn ergötzte und aufheiterte.

Als er in das Besuchzimmer eingeführt wurde, fand er da die Frau von Hohenthal mit ihremSohn, dessen Hofmeister, und einem jungen schönen klug aussehenden Weibchen, welches sie ihm als Frau von Lupfen bekannt machte. Sie waren alle gleich um ihn, und empfingen ihn höflich und herzlich; besonders freute sich Frau von Lupfen und der Sohn für den Sommer auf seine Gesellschaft.

Hildegard kam bald nachher in einem Kleide von grüner Seide, das Haar leicht gelegt und gelockt, und brachte in einem Körbchen voll Blumen den schönsten Frühling zur Tischverzierung; redete ihn traulich an und sagte: »Wir werden Sie haben ein paar Stunden [42] fasten lassen; und doch geben wir schon eine Stunde von London nach. Nächstens wollen wir wieder gute Deutschen seyn. Zwar aßen die klassischen Nazionen, wie Herr Feyerabend sagt, (so hieß der Hofmeister) die Griechen und Römer, noch später, als die Engländer.«

»Gewiß, versetzte Lockmann, gewinnt man bey uns desto mehr brauchbare Zeit, je später man ißt. Jedoch scheint mir die neuere Lebensart der Italiäner viel natürlicher für ihr Klima. In der größten Hitze von zwölf bis vier Uhr ist man, besonders in Rom und Neapel, und noch weiter gegen Süden, nicht wohl zur Arbeit fähig; und schläft da sehr vernünftig.«

»Wahrscheinlich, fügte Hildegard hinzu, ist das späte Essen der Alten auch nur vom Winter und den angrenzenden Jahrszeiten zu verstehen, wo die gütliche Mittagswärme Körper und Geist den besten Ton gab zu handeln. Und so sollten auch wir uns nach den Jahrszeiten richten, der Natur gemäß leben, und bald früher, bald später essen; immer aber in den nördlichen Gegenden, dünkt mich, die Hauptmahlzeit zu Abend halten: denn was bleibt uns sonst während des Winters, besonders in Schottland, Dänemark und Schweden, vom Tag übrig? Und Sie, Herr Feyerabend, müssen diese Meinung, die zu Ihrem Namen paßt, mit mir behaupten. Aber zu Tische, zu Tische!«

Anfangs wurde nur gegessen, wenig oder nichts gesprochen, und die Blicke spielten gefällig um einander. Die Speisen, das Beste der Jahrszeit, waren schmackhaft zubereitet, kräftig und einfach. Hildegard legte vor, und besorgte alles.

Das Essen war für Lockmann das Geringste; er ließ sich besser, doch mäßig, einen köstlichen Markbrunner schmecken, und weidete [43] seine Augen an den herrlichen Verzierungen des Speisesaals, welcher in der schönsten Größe und Proporzion, die Höhe gerade die Hälfte der Länge und Breite, erbauet war und die angenehme Aussicht in den Garten hatte.

An der großen Wand hing die Hochzeit von Kanaan, die Figuren in Lebensgröße, lebendig in schönen erfreulichen Gestalten und voll Kleiderpracht, aus der Venezianischen Schule; an den Seitenwänden zwey Seestücke von Vernet: ein wüthender Sturm; und das zweyte die Brandung der Wogen am Ufer nach demselben. Die Kunst kam in beyden der Natur äußerst nahe; er glaubte das Rauschen des unbändigen schäumenden Wellenschlags zu hören, und sah die ungeheure Tiefe im grünlichen Seewasser. Die Lüfte glichen der Wirklichkeit. Alles war mit einem festen sichern Feuerblick aufgefaßt, und mit geübter Meisterhand fertig hingemahlt.

Er hatte das Beste der Mahlerey mit Ueberlegung fast durch ganz Italien gesehen; und erkannte gleich diese zwey Stücke für unschätzbare Kopien der zwey vortreflichsten Seestücke zu Rom von dem Niederländer Backhuisen im Pallast Colonna.

Nach allerley kleinen komischen und witzigen Neckereyen zwischen der Frau von Lupfen, Hildegard, und ihrem Bruder, wobey Persönliches und Häusliches mit unterlief, kam das Gespräch bald auf Italien, wohin die Mutter die letzte Reise mit ihrem Gemahl gemacht hatte. Sie erzählte interessante Anekdoten von dortigen Höfen, charakterisirte einige der vortreflichsten Menschen beyderley Geschlechts, die sie hatte kennen lernen, höchst lehrreich für ihre Kinder; kam dann, bey den Vergnügungen der Gesellschaften, auch auf die Musik, und rühmte den starken einfachen Ausdruck der Sänger und Sängerinnen, die sie gehört hatte, als den Guadagni, [44] Caffarelli, die Agujari und die noch sehr junge Gabrieli. Die Action, und was man in Gesellschaften den guten Ton nennt, der zuweilen bis zum Witz und zur Persiflage ging, bewunderte sie im Vortrag der letztern vorzüglich; und glaubte, daß sie dadurch einen nicht geringen Theil ihres Ruhms eingeärntet habe.

Lockmann erwiederte: »Gewöhnlich fehlt es in Italien den Sängern entweder an Action, oder den Acteurs an Stimme; und selten findet man beydes zusammen. Ueberhaupt ist jetzt die Musik dort fast nur Mode geworden; man will immer neue Manieren, Floskeln, und der große Haufe mag über das Ganze eines Stücks nicht nachdenken. Deßwegen sind die heutigen Opern der Italiäner meistens im Großen auch nicht viel werth. Das Publikum, und dann die Sänger sind Schuld daran; die Meister müssen schreiben, wie diese wollen. Zehn Töne nach einander schnell weg sind leichter zu singen, als ein einziger von Gewicht, der so lange, wie sie alle, dauert, in Geschmeidigkeit, Stärke, Schönheit. Wer eine schwache Stimme hat, oder durch die Fistel singt, sucht diese neuen Manieren, Läufe, überraschenden Sprünge. Wenn wir wieder die großen Sänger haben, so wird auch das Vortrefliche, wenn ich mich so ausdrücken darf, der antiken Musik wieder aufleben.«

»Gewiß hat Traetta seine schönsten Scenen großentheils der Gabrieli zu verdanken. Ohne sie würd' er die erhabnen Melodien: O di tranquilla pace amabil sede, ascolta, o sacro tempio, i voti miei; – Dove mi guidi, o Dio! – Ombra cara, che t'aggiri; und die ganze göttliche Oper Antigona nicht hervorgebracht haben. Solche vortrefliche Sängerinnen und Sänger sind dem Tonkünstler eben das, was Phryne dem Praxiteles, und die Kampaspe desAlexander, in jeder Rücksicht eines Helden, demApelles waren.«

[45] »Ihre geschmackvolle Bemerkung, gnädige Frau, bringt mich darauf, hier ein Wort darüber zu sagen, worin ich glaube, daß die Vollkommenheit der Sänger und Sängerinnen, oder überhaupt der Meister, die für die dramatische Kunst arbeiten, bestehe.«

»Zu den vortreflichen gehört wesentlich dreyerley: Genie; Kunst; und Welt, oder Kenntniß der ersten Menschen ihrer Zeit.«

»Erstens Genie. Der Meister muß sich in den Charakter seiner Personen und deren Leidenschaften versetzen können, und dieß mit Tönen ausdrücken.«

»Zweytens Kunst. Es muß den ganzen Umfang der Harmonie, der Kehlen und Instrumente kennen.«

»Drittens Welt. Er muß wissen, was schicklich, guter Ton und Vortrag ist.«

»Es giebt vielleicht keinen, oder doch nur wenige, die in allen diesen drey Stücken gleich vollkommen sind.«

»Selbst bey unserm Gluck kommt zuweilen der Pedant und der Wilde zum Vorschein. Bey Jomelli oft der Pedant, oder Musikmeister. Piccini, Sacchini, Sarti, Paesiello haben viel Welt; aber es fehlt ihnen oft bald an Genie, bald an Kunst.«

»Uebrigens kenn' ich kein glückseligeres Leben, setzte er hinzu, als mit so erstaunlichen Vorzügen, wie die Gabrieli, auf den ersten Theatern von Europa die Herzen, Ohren und Augen zu entzücken, zu glänzen, und auch nur die kurze Spanne ihrer Jugend so bewundert zu werden.«

Das Herz hüpfte Hildegarden im Leibe bey diesen Worten; die jungen Sphären hoben mächtiger das Gewand auf und nieder, und ihre schönen großen Augen strahlten ein hellbrennendes süßes Licht.

Auch Lockmann saß heiter; Leben und Seele glühte in ihm, und [46] er dünkte sich zum Halbgott im Olymp aufgenommen, als sie ihm gegen Ende der Mahlzeit einen feurigen lieblichen Syrakuser mit zarter Hand einschenkte, darauf den Andern, und sich selbst ein Spitzgläschen voll goß, anstieß, und scherzend sagte: »Neapel und die Musen! mir bald dahin eine glückliche Reise!«

Nach dem Lobe dieser anmuthigsten Stadt und Gegend von Europa, und nach andern Reden, wobey das Gespräch allgemeiner und lebhafter wurde, stand man auf und ging in den Garten, um unter den Linden den Kaffee zu trinken.

Lockmann bewunderte die schönen Anlagen, bequemen Spaziergänge, und auserlesenen Pflanzen, Blumen, Stauden und Bäume; besonders aber den himmlischen Platz der alten Linden um die klare frische volle Quelle, wovon der kleine Bach in die Wasservertiefung rann. Die angenehmsten Aussichten, welche die Gegend darbot, waren sowohl im Hause, als im Garten mit Kennerblick benutzt.

Der junge Hohenthal erzählte, wie sein Vater den ganzen Raum dazu, der Quelle, der alten Linden und der Anhöhe wegen, von verschiednen Besitzern zusammengekauft habe; und berührte dessen Grundsätze in Anlegung desselben.

»Ein Garten, fuhr er fort, ist das Pflanzenreich im Dienste des Menschen.«

»Die Engländer schwärmen, wenn sie in ihren Gärten die Natur haben wollen, wie sie ist, sich selbst überlassen. Die Anarchie kann hier eben so wenig statt finden, als in der bürgerlichen Gesellschaft. Richardson affektirt so die Natur in seinen Romanen, und wird unerträglich langweilig.«

Lockmann erwiederte: »Sie haben Recht; alle Kunst geht auf Zweck für Menschen.«

[47] Frau von Lupfen. Die Franzosen in ihren alten Gärten waren Tyrannen, und machten die Bäume zu Krüppeln, oder schnitten sie in alberne Figuren.Hirschfeld ist jedoch komisch, wenn er Alleen so haben will, wie die Bäume in Wäldern wachsen.

Hohenthal. Die Natur im Dienst des Menschen braucht nie zur Unnatur zu werden.

Feyerabend. Die Scipionen waren edel, groß und herrlich, erhabne Menschen, und dienten doch dem Römischen Volke; Sully Heinrich dem Vierten; Türenne Ludwigen; Schwerin und Winterfeld und Zieten dem großen König Friederich. Man kann aber gleich an einem großen Garten sehen, ob der Besitzer einMark Aurel, ein Tyrann, oder bloßer Affe ist.

Frau von Lupfen. Man muß die Natur nehmen, so wie man sie vor sich hat; und dann zum Nutzen und Vergnügen treflicher Menschen verschönern und brauchen.

Lockmann. Alpen und Genferseen, und die prächtigen Wasserfälle der Schweiz wird man dieser wohl lassen müssen; und so Rom seine Wasserleitungen, Tempel, Theater und Amphitheater in Trümmern. Ueberhaupt ergötzt das Spiel auch noch so gut nachgemachter Ruinen nur wenige Tage und Stunden. Die Evidenz des Unnatürlichen und Unzweckmäßigen ist für Verstand und Sinn zu auffallend.

Hohenthal. Aber nichts desto weniger kann man Bäche rauschen lassen, wo sie von Natur nicht rauschen; Brunnen springen lassen, um die Luft zu erfrischen, ohne Ißland gesehen zu haben, wo die Quellen von selbst so ungeheuer hoch springen sollen; und die Pfirsich- und Aprikosenbäume an die Wände ziehen und pfropfen, um köstlichere Früchte zu erhalten. – Auch das erhebt den Menschen, daß [48] die Natur ihm dienen muß, und ist gar kein schlecht Gefühl; wenn er nur ein guter und verständiger Herr ist.

Hildegard schwieg zu diesem allen, um ihr Geheimniß nicht zu verrathen; nämlich alle Kunst und Feinheit so viel wie möglich zu verbergen.

Sie sonderte sich unvermerkt mit dem jungen Meister von der Gesellschaft ab, wandelte mit ihm durch die schattigsten Gänge, und ließ sich in ein trauliches Gespräch ein. Frau von Lupfen, sagte sie, sey ihre Gespielin von Kindheit an gewesen; und noch ihre beste Freundin, von vortreflichem erprobten Charakter. Ihr Gemahl, hiesiger Oberjägermeister, habe sie vor einem Jahre geheurathet; sie wäre vor kurzem aus dem Kindbette von einem reichen Gut in Schwaben zurückgekommen. Unglücklicher Weise habe sie dabey ihre schöne Stimme fast gänzlich verloren, da sie vorher eine der besten Sängerinnen gewesen sey. Nichts desto weniger aber liebe sie noch die Musik mit Enthusiasmus, und errege Bewunderung auf dem Klaviere; spiele die schwersten Sachen von den Bachen, Mozart, Sterkel und Clementi mit einer seltnen Fertigkeit, und habe sehnlichst gewünscht, mit ihm bekannt zu werden.

Feyerabend sey stark in der Griechischen und Römischen Litteratur, mache artige Deutsche Gedichte, vertiefe sich zugleich in die Philosophie, habe viel Herzensgüte, eine wesentliche Eigenschaft für seinen Stand, und nichts von Schulmeisterdünkel.

Dann sah sie ihn nach einer Pause von etwa hundert Schritten mit schüchternem freundlichen Blick an, und sagte: »Wenn Ihre Geschäfte gestatten, die Woche wenigstens einmal zu uns zu kommen, um mir von Ihren Schätzen aus Italien etwas mitzutheilen, und ich einiges Unterrichts von einem so großen Meister nicht unwürdig [49] bin; so werden Sie von meiner Mutter und mir, jedoch ohne die geringste Zudringlichkeit, darum ersucht. Mein Bruder spielt ziemlich fertig die Geige, Herr Feyerabend die Bratsche; Sie könnten vielleicht manchen Abend, wo Sie nichts Besseres thun wollen, gesellschaftlich diesen Sommer bey uns zubringen.«

Lockmann antwortete: »Sie kommen meinem eifrigsten Wunsche, seitdem ich Sie sah und hörte, zuvor; nicht, um Ihnen Unterricht zu geben, sondern an Ihren Vollkommenheiten zu lernen und zu studiren. Hätte mir die Natur nur einige Funken von der schöpferischen Kraft eines Händel, Leo undJomelli verliehen, welche Schönheiten und Reize, welchen Reichthum fände ich da nicht für meine Kunst! Noch nichts auf der Welt, weder in Deutschland, noch in Italien, hat mich nur einigermaaßen so zur Verehrung und Anbetung hingezogen.«

Gewiß that ihr dieß von dem holden jungen Mann in ihrem Innern wohl. Sie nahm es aber, jedoch mit einer wie plötzlich entstehenden und wieder verschwindenden leichten Bewegung, einer Art von Rührung des schönen geistreichen Kopfes, bloß als höfliche Gefälligkeit auf; und versetzte, indem sie nicht weit von sich die Lupfen mit ihrer Mutter erblickte: »Wenn Sie Lust haben, so gehen wir gleich auf unsern Musiksaal.«

»Mit Freuden!« war die Antwort.

Die Gesellschaft vereinigte sich wieder, und nahm den Weg dahin.

Im Saale, welcher schön ausgetäfelt zur reinen Verstärkung des Tons fast eben so eingerichtet war, wieLockmann in Florenz Nardini's Zimmer gesehen hatte, stand eins der schönsten Englischen Pianoforten, und, was ihn sehr freute, mit Pedal.

Er setzte sich gleich daran; probirte erst die einzelnen Töne und [50] Tasten; that einige Griffe, machte Läuft mit beyden Händen, dann überraschende Gänge von Harmonie, und brauchte dabey wie ein geübter treflicher Organist das Pedal; pries das ganze Instrument sehr, vorzüglich aber zur Begleitung, rühmte den Ton und die Gleichheit. Alle aber kamen darin überein, daß die Klavierinstrumente von dem AugsburgerStein angenehmer wegen Beziehung und Proporzion der Saiten, Leichtigkeit des Anschlags und des Spiels über die Tasten wären.

Nur die Stimmung billigte Lockmann nicht so ganz. Er meinte: es sollte in der gleichschwebenden Temperatur gestimmt seyn. Jedoch sey dieß das Unglückliche von dem Instrument überhaupt, und die größten Meister wären hierüber noch nicht einig. Jeder Klavierspieler sollte billig sein Instrument leicht selbst stimmen können.

Frau von Lupfen bat ihn inständig deßwegen um Unterricht.

Er fuhr fort.

»Wenn der Klavierspieler ein ächter Freund der Musik ist, und reine Begriffe und Empfindungen liebt, so muß es ihm den angenehmsten Zeitvertreib gewähren; besonders wenn er an einem vortreflichen Instrumente sitzt, nachher die Töne mit fertiger Kunst und glücklicher Phantasie zusammengreifen, und ihre Wirkung in Melodie und Harmonie versuchen kann. Mit je mehr Lust und Liebe er es thut, desto tiefer wird er in die geheimste Wissenschaft, gleichsam die erste Schöpfung der Musik, eindringen.«

»Nehmen wir hier den harten Dreyklang von C. Die Quinte ist ein wenig zu niedrig, und die Terz E zu hoch; obgleich vielleicht treflich abgemessen nach der gleichschwebenden Temperatur.« –

»Jetzt hab' ich die Quinte und große Terz vollkommen rein gestimmt, wie sie die Natur schon selbst angiebt auf der tiefen Saite. Gewiß [51] hat der Accord einen andern Ausdruck, und die höchste Reinheit vollkommner Existenz lebt und regt sich, wie ein Alkibiades, eine Phryne aus dem Bade nur je dem Auge könnte, für ein zartes Ohr in der Luft.«

»Wir können nicht alle Accorde so rein stimmen, weil es mit der Anzahl von zwölf Tönen nicht möglich ist in einer Oktave auf dem Klavier, und weil derselbe Ton, wie ihn die Reihe trift, alle Konsonanzen und Dissonanzen machen muß.«

»Um Ihnen dieses deutlich für den Sinn des Auges vorzustellen, wünscht' ich ein Monochord zu haben. Doch wenig Zahlen und Beschreibung sind für den Verstand schon genug.«

»Wenn man auf dem Monochord eine Saite von vier oder fünf Fuß zum Beyspiel so spannt, daß der Ton das so genannte ungestrichene C entsteht, und ich einen Steg gerad' unter die Hälfte derselben stelle: so giebt jede Hälfte den Ton des eingestrichnen C, folglich die Oktave; und diese verhält sich also genau wie 1 zu 2.«

»Bringt man einen andern Steg unter den vollkommen richtig gemessenen dritten Theil der Saite: so giebt dieser den Ton des eingestrichnen G, oder die reine Quinte zu dem eingestrichnen C. Diese verhält sich also wieder genau zu diesem C wie 2 zu 3.«

»Bringt man einen dritten Steg unter den vierten Theil: so erhält man die Quart F zu C; und diese verhält sich wie 3 zu 4.«

»Die große Terz verhält sich wie 4 zu 5; die kleine Terz wie 5 zu 6.«

»Durch gehörige Mittel hat man dem Auge sichtbar gemacht, daß der Ton durch Schwingung elastischer Körper entsteht, die dem zarten Elemente der Luft eine gleichförmige Bewegung mittheilen, und daß die Zahl der Schwingungen sich gerade verhält, wie die angegebnen Längen.«

[52] »Drey große Terzen, als C E, E Gis, Gis His (= C) müssen auf unserm Klavier gerade eine Oktave ausmachen. Wenn sie aber rein sind, wie das Ohr und ihr Verhältniß sie erheischen: so fehlen zur Oktave drey Vierundsechzigtheile, wie in Zahlen leicht zu sehen ist;



Und vier kleine Terzen, als C Es (Dis), Dis Fis, Fis A, A C auch genau eine Oktave. Wenn sie für das Ohr und nach Verhältniß gestimmt sind, so übersteigen sie dieselbe;



»Der Fortschritt von zwölf Quinten, woraus alle Accorde unsers musikalischen Systems entstehen, muß gleichfalls eine reine Oktave ausmachen. Wenn sie aber alle rein sind: so kommt ein Abstand hervor in dem Verhältniß von 531441 zu 524288.«

»So beschwerlich dieß für die Polizey der eingeführten Ordnung unsrer neuen Harmonie ist: so muß Sinn und Verstand, von dem erhabnen Trieb alles Lebendigen, nirgendwo stehen zu bleiben, doch dabey zur Bewunderung hingerissen werden. Die Quinten der Natur gleichen den Monaten der Sonne; sie läuft in einem Jahre immer etwas weiter, als die zwölf Gestirne des Thierkreises. Alles Wesen strebt ewig fort nach dem Unendlichen.«

»Um diese Kinder der Natur, die reinen Quinten, großen und kleinen Terzen, nach dem schlechterdings nothwendigen bürgerlichen Gesetz unsrer Kirchen, Theater und Konzertsäle zu modeln und zu erziehen: haben Philosophen und Meister der Kunst verschiedne Methoden angegeben; und die der gleichschwebenden Temperatur hat so ziemlich die Oberhand gewonnen. Man hat in der Verzweiflung den Knoten aufgehauen, nicht gelöst, und [53] alles muß in das Bett des Prokrustes passen. Man theilte die Oktave mit dem Maaßstab in zwölf halbe vollkommen gleiche Töne ein; und die reinen Quinten, großen Terzen, kleinen Terzen und Sexten in Kehlen und Instrumenten mögen sehen, wie sie sich dazu fügen. Mit dem Unkraut, den Dissonanzen, macht man vollends gar keine Umstände. Kein Accord ist mehr oder weniger als der andre. Die verworfnen Bösewichter Ges dur und Es moll treten so heiter und sanft einher, wie Unschuld, Friede und zärtliche Rührung in C dur und A moll.«

»Für unsre neueste Musik, wo man anfängt, alle Charakter zu vermischen, und in demselben Stück, besonders mit bloßen Instrumenten, um neu zu thun, die Kreuz und die Quer in alle vier und zwanzig Tonarten ausschweift, mag es gut seyn. Keine Quinte ist vollkommen rein, alle etwas zu niedrig; alle große Terzen sind etwas zu groß, und alle kleinen etwas zu klein. Die süße kleine Septime hat gerade dasselbe Verhältniß, wie der herbe Schmerz der übermäßigen Sexte. Wer ein zartes Gefühl für Schönheit in ihrer ganzen Reinheit hat, möchte wohl den geringen Umfang der Kunst beym Pythagoras oder Plato zurück wünschen, und sich an der Melodie von wenig reinen Quinten, Quarten, Terzen in dem abwechselnden mannigfaltigen Takt der Griechischen lyrischen Versarten einer Sappho, eines Alkaios undSophokles, und dem einfachen Nachklang der Harmonie eines Barbitons, einer antiken Guitarra, begnügen.«

»Das Ohr ist gewiß unser richtigster Sinn; und selbst das Gefühl, welches man bisher für den untrüglichsten gehalten hat, bildet sich nach ihm. Das geübteste Aug' eines Mahlers und Meßkünstlers ist bey weitem nicht im Stande, nur so die leichten Verhältnisse der [54] Hälften, Drittel, Viertel, Fünftel und Sechstel einer Linie, irgend einer Länge und Größe in Wirklichkeit auf ein Haar zu treffen; geschweige die schweren Verhältnisse, welche die nach dem Gehöre lange geübten Fingerkoppen eines Tartini, Pugnani, Lolli, Kramer, Viotti in verwegnen Sprüngen, Läufen, Uebergängen zum Erstaunen der Kenner auf ihrer Geige, dem vollkommensten unter allen Instrumenten, richtig greifen. Deßwegen sind die Taubgebornen auch um so vieles trauriger und unglücklicher, als die Blinden, weil sie den Hauptsinn des Verstandes, der die andern zur Richtigkeit gewöhnt, nicht haben; und so giebt die Musik unter allen Künsten der Seele den hellsten und frischesten Genuß 3

»Wahrscheinlich übertrift das Ohr des Menschen an feiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterscheidung der Töne auch das Ohr aller andern Thiere. Mich dünkt, schon die Menge der Sprachen allein wäre hinlänglicher Beweis. So wie der vortrefliche Lehrmeister des Gefühls, ist es noch Lehrmeister der Zunge und der Kehle. Ein vollkommen zartes, festes, reines, und noch mehr, ausgebildetes Gehör ist freylich auch eben so selten, wie alle hohe Schönheit; und durch böse Gewohnheiten kann man diesen [55] göttlichen Sinn sehr verderben. Wer ihn aber nicht einigermaaßen in Vortreflichkeit hat, soll sich nicht mit Gesang und Instrumenten plagen, wo er nothwendig entscheidet.«

»Doch ich muß um Vergebung bitten, daß ich Ihre Geduld ermüde.«

Alle betheuerten, daß sie keine angenehmere Unterhaltung haben könnten. Hildegard erwartete ihn bey seiner Methode, das Klavier zu stimmen, und war aus mehrern Gründen schon für die gleichschwebende Temperatur entschieden. Sie sagte: »Es freut mich innig, daß Sie sogleich das wahre Wesen unserm Geist vorhalten. Ohne strenge Untersuchung der ersten Elemente dieser hohen Kunst kann man zu keiner Sicherheit darin gelangen.«

Er fing aufs neue an.

»Die gleichschwebende Temperatur gefällt, weil sie einige stolze, hoch daher fahrende, grelle große Terzen, einige schlaffe Quinten und unglückliche kleine Terzen nicht hat, und alles bey ihr galant und gewandt ist. Dafür fehlt ihr aber auch die vollkommne Schönheit, und der mannigfaltige Ausdruck.«

»Wenn man das Klavier nach Quinten stimmt: so ist sie mit bloßem Gehör schwerlich vollkommen zu erhalten; man muß ein Zwölftel Ueberschuß von 524288 zu 531441, um wie viel zwölf Quinten die Oktave überschreiten, jeder gerade abnehmen; und das Verhältniß einer solchen temperirten Quinte ist selbst nicht leicht für die Rechnung.«

»Die beste Methode dazu, wenn man kein dafür berechnetes Monochord hat, dünkt mich: man bringt fürs erste die drey großen Terzen C E, E Gis, Gis His (= C) so gleich getheilt wie möglich in die Oktave. Dann stimme man zu C die Quinte G ein wenig[56] schwebend, und zu G eben so die Quinte D. Zwischen diese nun rein gestimmten Töne C D E theile man die zwey halben Töne Cis (nach der schon gefundnen Quinte Gis) und Dis nach G und C ein; und wenn dieses geschehen ist: bringe man die neun großen Terzen von Cis, D und Dis, von jedem Tone drey, eben so wie bey C, in ihre Oktaven; und man hat äußerst geschwind, und so gut, als mit bloßem Gehör möglich ist, die ganze gleichschwebende Temperatur. Die großen Terzen sind die Probe derselben: die Quinten entstehen von selbst zahm, und man braucht sie nicht erst mit vieler, oft vergeblicher Mühe, wo sie zuweilen gar übermäßig werden, gleich wilden Füllen zu bändigen.«

»Die andern Arten von Temperatur unterscheiden sich, nachdem man mehr oder weniger vollkommen reine Quinten, vollkommen reine große und kleine Terzen erhält, und nach den Accorden, in welche man sie bringt.«

»Die Mitte der gesammten Anzahl von Tönen, welche das menschliche Ohr bestimmt zu fassen vermag, ist das eingestrichne C. Bey diesem hat man die Grenze der Diskantstimme angenommen; weil sie bey mannbaren Jungfrauen und unschuldigen Jünglingen wirklich so weit reicht.«

»Wer Musik treibt und versteht, hat seine Wissen schaft nach unserm Notensystem von C dur angefangen. Von diesem Tone steigen wir durch Quinten in die Höhe und in die Tiefe weiter zu andern. Die Tonleiter C dur bleibt uns also gleichsam Stand der Natur; jungfräuliche Keuschheit und Reinheit, holde Unschuld des Jünglings, patriarchalisches Leben, goldnes Zeitalter.«

»Dieses C im Kammerton, eingestrichen, macht also den Mittelpunkt der ganzen musikalischen Sphäre aus. Das reife Leben im [57] Jüngling und Mädchen erreicht diese Grenze. Die folgenden Stufen des menschlichen Alters treten beym Mann auch in der Musik tiefer. Die Erfinder der Noten, welche unser musikalisches System anlegten, haben nach der Natur den ersten harten Dreyklang mit ihm angefangen.«

»Das Klavier, das herrschende Instrument in der Harmonie, ist ganz darnach eingerichtet. C ist der Ton, nach welchem wir alle andern messen, und mit welchem alle andern in Kontrast stehen.«

»Die Quinte davon, G, ist gleichsam die erste Stufe über dem Stande der Natur; D die zweyte; A die dritte; E die vierte.«

»Bis dahin können wir steigen; der Ausgang und Kontrast von C ist noch sehr merklich; E ist die große schöne Terz davon. Wir geben deßwegen dem E dur den Charakter himmlisch. Er ist das Höchste, wohin die schöne Natur steigt. Im H dur verschwindet schon der Stand der Natur einigermaaßen; und noch mehr in Fis dur, das völlig gekünstelt ist.«

»Das nämliche Verhältniß herrscht beym Niedersteigen. F dur ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, schon um einen Grad besonnener, als das junge frohe Leben im C dur. B dur hat gleichsam die Würde von Magistratspersonen; und Es dur geht in das Feyerliche der Priesterschaft. As dur ist Majestät von König und Königin. Des dur geht in den Schauder über vor verborgnen Persischen Sultanen, oder Dämonen. Des dur und Fis dur bleiben deßwegen auch die Grenze der musikalischen Welt.«

»Diese verschiednen Charakter äußern sich jedoch in ihrer Stärke nur bey Musiken von weitläufigem Umfang, als in ernsthaften Opern und großen Kirchenstücken, wo der Ton C dur auf irgend eine Weise als die reine vollkommen schöne Natur in die Seelen[58] gebracht seyn sollte. Bey kleinen Sachen werden und sind diese besondern Charakter nicht sehr merklich. Ein Lied ohne Begleitung singen Mädchen und Jüngling ohne viel Unterscheidung aus dem Tone, der sich am besten für ihre Kehlen schickt.«

»Auf diese Weise betrachtet geben also die zwölf Dur- und zwölf Moll-Töne schon allein durch ihre bloßen Accorde vier und zwanzig Arten verschiedner Existenz; und es erwächst der Musik daraus ein erstaunlicher Reichthum von Ausdruck, wenn der Tonkünstler Kopf und Herz genug hat, die Kontraste in einem großen Ganzen fühlbar zu machen.«

»Die Musik überhaupt hat Kontraste, wie Tag und Nacht, wie schwarz und weiß, süß und bitter, hart und weich. Die auffallendsten sind die enharmonischen Gänge. Aus dem C dur in Cis dur, plötzlich, ist ein Ruck, wie in eine andre Welt. Diese sind nur bey starken Katastrophen zu brauchen; man darf nie bloß damit spielen, sonst verlieren sie ihre Wirkung. Bey Texten: er kann ihn nicht mehr fassen, den Schmerz, der ihn allmächtig drückt; in jeder Ader wühlt ein Dolch 4 ! oder: Mors stupebit et natura, dum resurget creatura 5, ist ihre rechte Stelle.«

»Der so genannte harte Dreyklang drückt überhaupt volle Existenz aus.«

»Der weiche Dreyklang zeigt an, daß uns etwas fehlt; und darüber Zärtlichkeit, Rührung, Traurigkeit allerley Art.«

»Der verminderte Dreyklang, wo zur kleinen Terz noch die kleine oder falsche Quint hinzukommt, zeigt einen so großen Mangel der Existenz in dem Wesen, daß es damit nicht bestehen kann.«

[59] »Der vergrößerte Dreyklang, wenn man ihn annehmen will, wo zur großen Terz die übermäßige Quinte kommt, zeigt Zorn und Wuth und Grimm in voller Existenz, oder fast gänzliche Veränderung derselben.«

»Nur die zwey erstern Arten können lange Dauer haben, weit mindre die vorletzte; und die letzte ist nur ein plötzlicher Uebergang.«

»Alle drey Arten von Existenz entwickeln sich aus einem Grundton, und werden durch die Melodie zu Leben und Handlung.«

»Die Terz darin entscheidet hauptsächlich den Charakter, und gestattet eine weit größere Mannigfaltigkeit, als die Quinte, welche nur ein wenig vermindert von ihrem reinen Verhältniß noch erträglich ist.«

»Ein musikalischer Shakespear sollte den verschiednen Ausdruck der Terz in den verschiednen Accorden von dem geringsten Grad ihrer Kleinheit, wo sie an die Sekunde grenzt, bis zur höchsten Größe, die sie verträgt, aus seinem Herzen schildern: die tiefste Angst und Bangigkeit, die rührendste Zärtlichkeit, die Heiterkeit gesunden frohen Lebensgenusses, und die höchste Süßigkeit, dann Muth und Tapferkeit bis zur Wuth, welche Batterien stürmt beym wilden Schall der Kriegstrompete 6. Die Terz ist gleichsam das Herz, der Sitz der Leidenschaft; und die Quinte der himmlische Geist, den der Schöpfer dem Menschen einhauchte. Sie verträgt gar wenig Veränderung, wenn sie nicht aus einem Engel des Lichts zum Teufel, oder zur elenden kranken Kreatur werden soll.«

»Wenn man die verschiednen Accorde nach den vorhin beschriebenen Charaktern stimmen könnte: so wäre diese Temperatur ohne Zweifel [60] die beste für den Ausdruck. Die alte Methode, nach welcher unsre Orgeln und Klaviere gestimmt wurden, bringt diesen auch hervor; und es scheint, daß die verschiednen Charakter der Grundtöne durch Gewohnheit und Erziehung endlich nach und nach auch in die Ohren der Sänger, Geiger und in die blasenden Instrumente wären verpflanzt worden. Ein guter Geiger, der aus C dur spielt, greift gleichsam aus Instinkt die Terz rein; und wenn er aus E dur spielt, sie höher. Wenn Dichter und Tonsetzer die Leidenschaft gut getroffen haben: so treibt das zarte Gefühl einer Gabrieli sie von selbst, Terzen zu erhöhen und zu schwächen nach diesem Charakter.«

»Man stimmt also den Accord C dur rein mit vollkommner Quint, und der Terz in dem natürlichen Verhältniß. Damit die große Terz E zu A eine noch gute Quinte mache, mildert man die Quinten von G zu D und D zu A etwas. Die Quinte von A zu E sollte nach der Strenge in folgendem Verhältniß seyn:


C 1, G 3, D 9, A 27, und E 81.«


»E zu C als reine große Terze giebt aber folgendes Verhältniß: 4/5, die doppelte Oktave nämlich als 4, die Terz als 5; nun vervielfältigt: 5, 10, 20, 40, 80.«

»Also ist der Unterschied der Terz E zwischen der Quint E wie 80 zu 81; und diesen Unterschied muß die Temperatur mildern.«

»Alsdann stimmt man die Quinte H zu E vollkommen rein; und die Quinte Fis zu H mildert man.«

»Jetzt hat man schon die Hälfte der zwölf Quinten; und sechs Grundtöne zu zwölf Dur- und Mollaccorden vortreflich für den gehörigen Charakter und Ausdruck von jedem.«

»Nun stimmt man die Quinten rückwärts in die Tiefe von C zu F: die erste ganz rein; die andern mildert man nach und nach fast [61] unmerklich, am stärksten die Quinten As zu Es, und Des zu As; so daß die Terzen C zu As und F zu Des zwar herbe, doch erträglich werden. Und so paßt man noch die Quinte Fis zu Des oder Cis.«

»Auf diese Weise erlangt man die allerreichste Mannigfaltigkeit von Harmonie, deren unser musikalisches System nur fähig ist: kleine Terzen, große Terzen, reine und gemilderte Quinten, und so die Sexten und Dissonanzen für jede Leidenschaft und jeden vorübergehenden Ausdruck. Das zärtliche A moll hat eine reine kleine Terz, E moll eine ähnliche; eine büßende das traurige F moll, und so weiter.«

Hildegard hatte noch aufmerksamer zugehört, als ihre Freundin. Das gutherzige, freymüthige Wesen, womit Lockmann alles vorbrachte, das Verlangen, aus seinen Kenntnissen und eignen Ideen noch viel Nutzen zu schöpfen, und die Zuneigung, die sie für ihn fühlte, machten, daß sie Anstand nahm, ihm so in Gesellschaft ihre andre Meinung zu gestehen. Vom Gespräch verleitet, und die Sache mehr aufgeklärt zu sehen, that sie es endlich doch.

»Das Instrument hat mir schon so viel Vergnügen gemacht, sagte sie, daß ich wohl wagen möchte, zum Scherz seine gleichschwebende Temperatur zu vertheidigen, wenn ich nicht befürchtete, für so viel Schönes, was Sie uns aus Ihrer Fülle mitgetheilt haben, undankbar zu scheinen. Inzwischen hoff' ich, daß Sie dabey nur die wißbegierige Schülerin leicht erkennen werden.«

»Ich weiß nicht, ob mein Gefühl mich täuschte: die Orgeln und Klaviere, die nach einer andern Temperatur gestimmt waren, kamen mir nicht selten verstimmt vor; die Töne verbanden sich nicht recht, und hatten keinen natürlichen Lauf in der Melodie. Es mag seyn,[62] daß die Stimmung nicht nach der guten Methode verrichtet wurde.«

»Der Harmonie bey Begleitung, wo Violinen sind, scheint die Ihrige auch nicht günstiger, als die gleichschwebende. Giebt man diesen den Ton A zur Stimmung an, so paßt keine ihrer Quinten zum Klavier: E ist zu hoch, und D und G zu tief.«

»Was den Ausdruck betrift: so wird er auf Instrumenten überhaupt immer ziemlich unbestimmt bleiben; und einige unglückliche wimmernde kleine Terzen, oder trübe Quinten, die ihre stolze Schönheit verschleyern, werden ihn nicht entschiedner machen.«

»Die kindliche Liebe zum Vortreflichen des Alterthums, die den Menschen so erhöht, kann einen doch auch zuweilen verleiten und von der wahren Vollkommenheit zurückhalten. Sollt' Ihnen dieß nicht ein wenig widerfahren seyn, als Sie Sänger und Virtuosen die großen Terzen rein und höher und so heftig, als sie nur seyn können, und so die kleinen Terzen zärtlich rein und dann engbrüstiger und immer schwermüthiger nach den verschiednen Tonarten der alten Orgelstimmung singen, blasen und geigen hörten?«

»Mich dünkt, diejenigen, welche gute Instrumente und gute Ohren haben, bringen sie so rein hervor, wie möglich, es sey in einer Tonart, in welcher es wolle; so rein in Es und E dur, als in C dur.«

»Den Charakter der Grundaccorde, und die Entstehung ihrer Verschiedenheit haben Sie treflich angegeben; ich glaube, die Ursach ist hinlänglich für einen guten Philosophen, und es bedarf nicht der Zierung der größern und kleinern großen und kleinen Terzen. Gewiß erhalten die andern Dur- und Mollaccorde hauptsächlich ihren Charakter, nachdem sie in dem Verhältnisse mit dem Ton C stehen. Es dur ist so edel, so feyerlich, so würdig, weil Es als kleine Terz[63] dem sanft klagenden C diente, nun aber von seinem traurigen Geschäft zu der herrlichen eignen Existenz erhoben worden ist, daß ihr selbst dessen schöne Quinte G als reizende große Terz, und dessen rührende kleine Septime, als prächtige Quinte dient. Zärtlich erinnert sie sich bey ihrem Glück zuweilen ihres vorigen Zustandes.«

»Auf gleiche Art ist das Schooßkind die große Terz des C in E dur zu seinem erhöhten himmlischen Leben gekommen.«

»So dessen Quart, die so klug den Zweifel ausdrückt, in F dur zur frohen Gewißheit und Zuversicht; in F moll hingegen ganz zur Verzweiflung.«

»So klagt C selbst in A moll, seiner schönen großen Sext, und geht dahin über, wenn es Kummer drückt.«

»Was C am stärksten abhärmte, und sich am mehrsten mit ihm entzweyte, H, die tragische große Septime, und Cis, die schmerzliche kleine Sekunde, sind auch von ihm am entferntesten, als eigne Existenzen.«

»Das an und für sich kleine nothwendige Uebel, unter die zwölf gewaltigen Götter des himmlischen Tonreichs gleich vertheilt, würde so vielleicht am leichtesten zu ertragen. C dur soll Saturnus, das goldne Zeitalter bleiben; Cis dur Jupiter seyn; D dur Bacchus; Es dur Königin Juno; E dur Urania Venus. Aber ich will mit meinen Gleichnissen und Grillen Sie nicht länger in Ihrem meisterhaften Unterrichte stören.«

»Vortreflich!« rief Lockmann lächelnd; »und mit dem zartesten Gefühl aufgefaßt! Wer könnte der Beredtsamkeit von so zauberischen Lippen widerstehen! Jedoch der Wahrheit zur Steuer hab' ich Sie selbst schon gestern mit erhöhten großen Terzen und verminderten [64] kleinen von Ihrer göttlichen Stimme beflügelt die Herzen in die tiefste Rührung und gewaltigste Erschütterung setzen sehen.«

»Die Quinten sollen forthin von mir unverführt, der besten Ordnung gehorsam, auf den Klavieren gleichschweben; nur gestatten Sie Sich selbst und der Musik die reichste Mannigfaltigkeit der Intervallen, so wie einem Tizian und Correggio der Farben, die feinsten Tinten des Lebendigen auszudrücken. Eine der seltnen Dissonanzen, die verkleinerte Sext, ward selbst von Emanuel Bach, eben kalt in der Theorie, mit Geringschätzung angesehn; und der Gebrauch derselben vom ächten Genie entschied wesentlich für den Triumph unsterblicher Scenen von Meistern wie Händel, Jomelli und Traetta. Wieder Sie selbst haben gestern mit ihr, wie mit einem bittern Pfeil, bey der Stelle: ›aber da war keiner, keiner der da Trost dem Dulder gab 7;‹ das Gefühl durchbohrt. Vortreflich braucht sieGraun in seinem Tod Jesu: ›seine Tage sind abgekürzet.‹«

Er sang im Reden dieser Worte, und begleitete sich nur mit dem Grundton und der Terz.

Hildegard erröthete, blickte ihn an, und legte unbemerkt von den Andern den Finger auf den Mund. Auch er erröthete. Und so endigte sich reizend der Streit.

Frau von Lupfen fügte hinzu: »Wenn man beyde Stimmungen mit einander vereinigte, so würde wohl die vollkommenste entstehen; wenigstens kann sie leicht jeder nach seinem Belieben mit dem vortreflichen Maaßstab der großen Terzen finden. Viermal drey große Terzen ist ohne Vergleich sichrer und bequemer, als der trügerische Zirkel von zwölf Quinten. Und dann kann man zur völligsten [65] Gewißheit mehrere Maaße anwenden, Quinten, große Terzen; und warum nicht auch noch kleine Terzen und Quarten? Auf solche Weise muß wohl endlich jedes Intervall seine mögliche Reinheit erhalten, Sinn und Verstand einander zur Idee der Vollkommenheit verhelfen, und die falsche Hypothese weichen.«

»Ich bitte Dich, Hildegard, sing einmal Deine Leiter, eine Oktave, oder zwey, wie Du willst; aber geschwind, ohne Dich lange zu besinnen.«

Hildegard folgte, wie ein Kind; zwey Oktaven hinauf und herunter; und fragte dann: »Und nun?«

»Nun die Terzen.«

Sie folgte wieder; und fragte weiter.

»Nun die Quarten.« Und die Lupfen sagte dann: »Die fatalen Quinten schenk' ich Dir.«

Lockmann bewunderte die erstaunliche Richtigkeit, und sagte: »Sie haben Sich doch von Ihrer gleichschwebenden Temperatur nicht verführen lassen. Schade, daß man die Intervallen nicht so rein, nach keiner Temperatur, auf dem Klaviere haben kann! und daß kein Monochord da ist, um zu zeigen, wie haarscharf richtig Sie Ihre Tonleiter sangen! die Sekunde C D in dem Verhältniß von Acht zu Neun; die Sekunde D E wie Neun zu Zehn; die halben Töne E F, und H C wie Funfzehn zu Sechzehn; wie C D die Sekunden F G und A H; und wie die Sekunde D E so G A.«

»Dieß sind auch genau die Verhältnisse unsers neuern diatonischen Systems. Man leitet sie her aus den harmonischen Hälften. Die harmonische Hälfte der Oktave giebt die reine Quinte; die harmonische Hälfte der Quinte die große Terz; und die harmonische Hälfte der großen Terz den großen und kleinen Ton.«

[66] »Die nähere Ursach ist: das Ohr verlangt die Konsonanzen in der Leiter vollkommen rein; deßwegen nehmen wir dabey ein doppeltes Maaß an: der Quinte, und der großen Terz.«

»Ein Französischer Gelehrter, der Abt Roussier, glaubte beweisen zu können, die Aegyptier, Griechen und Chinesen hätten bey ihrer diatonischen Leiter nur den einfachen Maaßstab der Quinte gebraucht; die ganzen Töne wären durchaus der Ueberschuß von zwey Quinten gewesen, in dem Verhältnisse von Acht zu Neun; die große Terz und die halben Töne hätten sich darnach richten müssen.«

»Hauptsächlich daraus erklärt er die wunderbaren Wirkungen der Musik der Alten, daß ihr heroisches Ohr sich das weichliche Vergnügen der neuern großen Terz versagt habe; und diese Hypothese putzt er aus mit den Aegyptischen Planeten und Tagen der Woche.«

»Einige Französische Geistlichen hielten dafür, daß diese Meinung eine Revoluzion in der Musik hervorbringen müsse; und daß die Kapelle Davids undSalomons dadurch wieder hergestellt werden könne. Es hat aber natürlich kein Hahn darnach gekräht.«

»Gewiß bringt die große Terz in dem Verhältnisse von 64 zu 81 eine andre Wirkung hervor, als in dem von 4 zu 5; und es ist nicht zu leugnen, daß die diatonische Leiter einen einfachern männlichern Schritt, und dabey einen erhabnern Charakter erhält, welcher mit dem zu vergleichen wäre, was Winkelmann in den bildenden Künsten den severen Griechischen Styl nennt: aber wahr bleibt es immer, daß die große Terz in dem Verhältnisse von 4 zu 5 dem Ohr in der reinsten, freyesten Schönheit lautet, und daß sie die tiefe Saite im Nachklang darin schon selbst, wie in ihrer gehörigen Natur und Vollkommenheit, wo nichts zu viel und zu wenig seyn kann, angiebt, und die alte in einem angestrengten Zustand ist.«

[67] »Gegen seine Beweise möchte übrigens bey einer so dunklen Sache, wie die Musik der Alten, manches einzuwenden seyn. Die gewaltige Wirkung, die sie zuweilen soll hervorgebracht haben, läßt sich leichter aus mehrern andern Ursachen erklären; und Gegenden, Menschen, und Umstände, wo die Leidenschaften reger waren, geringer Umfang der Kunst, und Reiz der Neuheit müssen dabey in Rechnung kommen. Auf ähnliche Weise machte wohl der Chor der Scythen inGlucks Iphigenia in Tauris auf einen Amerikanischen Wilden zu Paris einen stärkern Eindruck, als dessen Se mai senti spirarti sul volto lieve fiato je auf einen Neapolitaner.«

»Dabey glaub' ich jedoch selbst, daß die Alten die Verhältnisse der Töne weit lebendiger und tiefer in ihren langsamern Bewegungen und der einfachen Begleitung gefühlt haben, als wir.«

Hier mischte sich Feyerabend ins Gespräch, und sagte: »Die Musik der Griechen ist uns ganz fremd und unbekannt, und wir können nicht einmal ihr klassisches Zeitalter bestimmen. Welch ein ganz andres Ansehen hat nicht die Musik nur seit funfzig Jahren in Neapel gewonnen!«

»Wahrscheinlich war die Dorische Tonart ungefähr das, was bey uns C ist; und die Phrygische, die Lydische, Aiolische, Ionische u.s.w. hatten schon daher, (noch außer der besondern Lage der Halbtöne, den eingeführten langsamem oder raschern Bewegungen, der verschiedenen Poesie, auch den verschiednen Instrumenten, die sie begleiteten, und den verschiednen Völkerschaften,) ihren besondern Charakter. Ohne Zweifel hat die Griechen hauptsächlich die beschwerliche Art, die Töne und ihre Dauer zu bezeichnen, von einer höhern Vollkommenheit und unsrer Harmonie zurückgehalten.«

Lockmann antwortete darauf: »Man erzählt von unsern Urgroßvätern [68] im zehnten, elften und zwölften Jahrhundert, daß sie in ihrem musikalischen System nur die sieben Töne c, d, e, f, g, a und h gehabt hätten, aus welchen sechs verschiedne Tonarten entsprangen, nachdem jeder von denselben der Grundton wurde; das H, welches damals B hieß, ausgenommen, weil dieses keine reine Quinte hatte. Der Ton, welchen wir jetzt B nennen, soll zuerst zu den sieben Tönen erfunden worden seyn, um eine reine Quarte zu F zu erhalten, und damit das F zugleich eine vollkommne Quint in der Tiefe hätte. Alsdann wären nach und nach Cis und Dis, Fis und Gis noch dazu erfunden worden, und unser heutiges System erst spät in dem sechzehnten Jahrhundert zu Stande gekommen.«

»Diesen sechs Tonarten gab man alte Griechische Namen, und nannte C als Grundton die Jonische, D die Dorische, E die Phrygische, F dieLydische, G die Mixolydische, und endlich A die Aiolische Tonart.«

»Nach der Lage der zwey Halbtöne in der Leiter entstand für jede Tonart ein besondrer Charakter, der auch in den ältesten Chorälen herrscht. Wie viel davon wirklich Griechisch sey, ist wohl schwerlich zu entscheiden. Vom Himmel hoch da komm' ich her, ist Jonisch. Mit Fried und Freud fahr ich dahin, Dorisch, und s.w.«

»Der Hauptmangel bey diesem rohen System war der Halbton, womit die Natur verlangt, in die Oktave der Leiter überzugehen, gleichsam die glänzende Morgenröthe der wieder neu aufgehenden Sonne. D hatte ihn nicht, weil das Cis fehlte; E nicht, weil das Dis fehlte; und so G und A bey dem Mangel von Fis und Gis. Die Franzosen nennen diesen Halbton la note sensible, weil man den Hauptton schon zum Voraus darin empfindet; und den Accord [69] der kleinen Septime auf der Quinte des Grundtons, welche sie mit gleich richtigem Gefühl die Dominante nennen, l'Accord sensible, weil er die Harmonie dazu ist.«

»Da ferner die Töne darin entweder nur eine große, oder eine kleine Terz hatten, und dem H die Quinte fehlte: so konnte man sich gar wenig regen und bewegen, und mußte sich in der Musik gleichsam mit Wasser und Brod behelfen.«

»Nachdem man die zwölf Töne erfunden hatte: fing man an, auf verschiedene Weise zu temperiren, damit jeder Ton, wenigstens erträglich, jedes Intervall seyn könnte; bis man endlich zur gleich schwebenden Temperatur gelangte.«

»Doch betrift dieß hauptsächlich nur Instrumente, wo man den Ton nicht in seiner Gewalt hat, und besonders das Klavier; bey der Stimme und auf Geigen entscheidet das Gehör im lebendigen Vortrag.«

»Sänger und Virtuosen sollten aber vorher die Wirkung der verschiednen Verhältnisse der Intervallen wohl untersucht haben. Und dafür giebt es keinen bessern Lehrmeister, als ein zartes reines Gehör und lebendiges Herz bey einem guten Monochord. Schon der Stammvater der neuern Musik, Guido von Arezzo, preist dieses in seinem kurzen Unterricht über die Musik auf der ersten Seite vorzüglich an 8

[70] »Pythagoras, der erhabne Erfinder desselben 9, empfahl es auf dem Sterbelager seinen Freunden, als den einzigen untrüglichen Wegweiser in dieser göttlichen Kunst.«

»Der große Haufe der gewöhnlichen Tonkünstler bekümmert sich darum sehr wenig, und hält dieß für Grillen; sie bringen aber auch oft so falsche Intervallen hervor, daß sie ein reines geübtes Ohr foltern.«

»Unser Klavier sollte hauptsächlich gleichsam zum Kompaß auf dem weiten Ozean der Musik dienen. Wir finden darin jede Seite ihrer Sphäre in höchster Richtigkeit, so vollkommen, wie die Alten sie nicht kannten; und können sie die Kreuz und die Quere, wie das geschmeidigste Element, nach Belieben, ohne zu irren, umschiffen. Aber bey einzelnen Intervallen und Melodien aus wenig Grundtönen kann gar wohl die reine Natur über die gesammte Kunst herrschen. Gabrieli, Pacchiarotti, Tartini und Pugnani können ihre Konsonanzen und Dissonanzen so rein wie möglich und in den ausdruckvollsten Verhältnissen hervorbringen, ohne sie nach dem Bedürfnisse der zwölf Töne in eine Oktave zu modeln. Dieses thun sie auch zum Entzücken; und es bleibt wahr, das Höchste der Kunst besteht im lebendigen Vortrag und in der Aufführung.«

[71] »Die Griechen hatten die Musik noch nicht für die allgemeine Natur ausgearbeitet; und ihre Tonleitern, möcht' ich sagen, waren nur für besondre Charakter. Für Melodie könnten sie einem musikalischen Genie übrigens noch sehr ergiebig seyn.«

Hildegard dankte Lockmannen aufs verbindlichste für diesen Anfang; und sagte dann zur Frau von Lupfen: »Ich will Dir nicht umsonst gesungen haben, und Du sollst dafür Dich auch hören lassen. Also geschwind aus Klavier.«

Frau von Lupfen sträubte und weigerte sich; aber man suchte Musik. Sie wählte aus; inzwischen stimmte Lockmann in kurzer Frist das Klavier wieder in die gleichschwebende Temperatur. Und nach einigen angenehmen Modulazionen spielte sie eine meisterhafte Phantasie von Mozart so fertig, mit so viel Ausdruck und Gewalt über alle Eigenschaften des Fortepiano, dessen leiseste Zartheit und allerhöchste Stärke, daß Lockmann einmal über das andre ihr Beyfall zurief.

Sie war kaum zu Ende, als sie den jungen Hohenthal ergriff, und zu ihm sagte: »Nachdem Sie Ihre Stimme wie ich verloren haben, so sollen Sie Sich mit mir auf Ihrer Violine hören lassen.«

Sie spielten dann mit einander noch eine der schönsten Sonaten von demselben Meister zu allgemeiner Freude. Man hörte wohl, daß Hohenthal Sänger gewesen war; er griff die Töne so rein, trug alle Melodie so geschmeidig vor, und begleitete sie überhaupt mit so viel Geschmack, daß Lockmann am Ende leise für sich in folgende unerwartete Apostrophe ausbrach: »O vortreflicher Vater, das muß dich noch im Himmel freuen! Warum durftest du das Glück einer so musterhaften Erziehung mit einer so würdigen Gattin nicht länger auf Erden genießen!«

[72] Dieß rührte alle bis zu Thränen; die Mutter begab sich weg, und man ging darauf bald aus einander.

»Welch eine Familie! was für ein Mädchen!« sprach er oft für sich unterwegs, eine Symphonie von Empfindungen durch sein ganzes Wesen.

Den andern Morgen war Generalprobe. Hildegard stellte sich mit ihrem Bruder dazu ein; sie hatte den Abend zu Hause erzählt, daß sie dem Verlangen nicht habe widerstehen können, dem unsterblichen Händel mit ihrer Stimme ein Opfer zu bringen.

Miserere und Fratres gewannen unbeschreiblich durch sie; und Messias entzückte doppelt aufs neue.

Das Miserere ward Sonnabends zur Vesper in der großen Kirche aufgeführt, so gut, und vielleicht mit mehr Andacht und Gefühl, als zu Rom.

Hof und Volk und Herren und Damen aus dem Ort und der Nachbarschaft wurden von der rührenden Neuheit des Gesangs überrascht und entzückt; sie hätten ihn beym Schlusse gern noch einmal und zweymal hören mögen. Der Fürst war davon im Innersten durchdrungen.

Sonntags früh hörte man mit gleicher Andacht und Seelenlust die heiligen Chöre des Palestrina bey der Messe; aber der Messias übertraf den Nachmittag bey weitem die Wirkung der beyden vorigen Werke.Hildegard trat darin auf mit allem Zauber jugendlicher Schönheit in himmlischer Stimme, Gestalt und Kleidung; eine wunderbare, entzückende Erscheinung. Alle Gefühle der Religion wallten nach und nach mit hohem Leben in die Herzen der Zuhörer; die bittern Dolchstiche des Leidens verstärkten die Süßigkeit der Erlösung, und den Vorgeschmack ewiger Wonne; und bey [73] der Fuge: Preis und Anbetung und Ehre und Macht sey ihm, der da sitzet auf seinem Thron, wollten Alle mit singen, wenn sie nur gekonnt hätten. Es war ein allgemeiner Jubel. Beym Ausgang aus dem Tempel sagte jeder: so etwas Himmlisches haben wir noch nicht gehört, solch ein Fest noch nicht gehabt.

Der Fürst belohnte Abends Lockmannen mit einer goldnen Repetiruhr von großem Werth, und mit gefühlten und verdienten Lobsprüchen. Aber Hildegard erhielt die mehrste Bewunderung: ein Engel des Lichts vom Himmel auf Erden könnte nicht mehr Erstaunen erregen. Der Fürst wußte zwar, daß sie Musik trieb, sang und eine schöne Stimme hatte; aber solche Ausbildung und Vollkommenheit mit so wahrem Ausdruck hatte er nicht erwartet. Noch gefiel ihm über die Maaßen, daß sie ihm eine so unverhoffte Freude hatte machen wollen, und nicht zu stolz gewesen war, zugleich auch das Volk zu ergötzen. Gleich nach der Musik dankte er ihr tief gerührt herzlich für sich und für alle; und beglückte mit seinem kräftig ausgedrückten Beyfall den Meister und die ganze Kapelle.

Gleich den Montag darauf Nachmittags gingLockmann zu Hildegarden, und nahm Musik mit sich. Er traf sie bey ihrer Mutter; sie stickte an einer Weste für ihren Bruder, und hatte Feldblumen von den schönsten Blüthen und Farben vor sich liegen. Sie sagte: »Es muß bey der Mode immer etwas Seltnes seyn; und wer die Botanik nur ein wenig versteht, findet Vorrath von den schönsten Blumen in Menge.«

Die Mutter fragte ihn dann, was er für Musik mit sich bringe.

Er antwortete: »Miserere und nichts als Miserere! Weil wir vorgestern mit dem von Allegri großen Beyfall erhalten haben, und es für ein heilig gesprochnes Werk gehalten wird: so hab' ich die [74] Musik einiger andern großen Meister zu denselben Worten mit mir genommen, um sie mit der von Allegri zu vergleichen, damit wir Sinn und Verstand uns nicht durch fremdes Urtheil bestechen lassen.«

»Wohl, sehr wohl, vortreflich!« sagten Beyde, standen auf, und gingen mit ihm nach dem Musiksaal.

Das erste war das Miserere von Leo.

»Was das von Allegri für Rom ist, ist das vonLeo für Neapel; jenes nur ungefähr um hundert Jahr älter.«

»Nur was Wirkung, aber nicht was Kunst betrift, lassen sich beyde vergleichen. Wenn Allegri ein holder schöner Jüngling ist, der in einem Schäfertanz mit wenig gemeßnen Schritten in dem süßen Reize der Unschuld erscheint, und, denselben Tanz wärmer und glühender wiederhohlend, entzückt: so ist Leo ein Vestris, ihm nichts damit zum Nachtheil gesagt, der die höchste Kunst und deren ganzen Reichthum in seiner Gewalt hat. Seine Musik ist so recht eine Quelle von Klang, und erquickt Ohr und Seele. Dieses Werk gleicht in seiner Art der Arbeit am Torso des Herkules.«

»Das Ganze ist nicht zusammengereiht und gestickt; es ist eine erhabne Einheit, die wie ein Strom von unzählbaren reinen Quellen und Bächen immer mehr anschwillt, und in Wonnefluthen und Strudeln bald die Herzen herumtreibt, woraus Entzücken entsteht und ein neues Leben kommt.«

»Welche Rührung überwallt das Gefühl gleich beym Anfang: Miserere mei Deus! so recht die reuende Klage sinnlicher verführter Menschheit in sich schämender holder Nacktheit. Secundum magnam misericordiam tuam; wie die Töne bey dem misericordiam gleichsam die Knie umschlingen!«

[75] »Wie die Feyerlichkeit des Volksgebetes beym dritten Verse immer mehr sich verstärkt, und das Ganze in den Lüften tiefe Wurzel faßt! und das ab iniquitate, wie ein eingebohrter Pfeil des Uebels aus dem Leben gezogen, oder wie der Schlamm und Koth von dem Kinde scharf abgerieben wird, daß es weint, und ihm die Augen dabey übergehen!«

»Beym fünften fängt der Strom schon an zu schwellen, und der zweyte Chor tritt in die Harmonie ein; oder vielmehr zwey Ströme wallen neben einander fort, und vermischen sich bey et vincas und cum judicaris.«

»Der siebente Vers Ecce enim gleicht einem tiefen Genfersee voll Majestät, doch überall noch im Zuge des Stroms, und tausendfach lebendig. Wie klar und entzückend sich das verschlingt und in einander quillt: ecce enim veritatem dilexisti, und das incerta et oculta wie eine Offenbarung hervorgeht! Es ist ganz erhaben. Und der Jubel dabey mit vollem Gefühl: manifestasti mihi! Es ist ganz groß, und wie ein prächtiger Triumph; die Seele wird gleichsam untergetaucht, und am Ende kommt sie aus den tiefen Wonnestrudeln hervor, und schwebt still im Schwimmen, und schaut mit entzückten Blicken in den heitern Aether des unendlichen Himmels.«

»Das laetitiam geht wie Nektar herunter. Welch ein lyrischer Schwung bey et exultabunt ossa, wie die Stimmen zu ihrem Anstand gar nicht mehr auf einander Acht zu geben scheinen, und jede nach der andern wie Strahlen von Brillanten hervorbricht!«

»Und wie das humiliata bis in den Mittelpunkt des Wesens Kontrast alter Kränkung macht; gerad' auf die letzt die Momente eines Gefangnen, wo er sich wieder ganz frey und glücklich fühlt; wie sich das bindet und löst und in einander schmilzt!«

[76] »Cor mundum crea ist reine liebliche Schönheit mit Rosen gekränzt; et spiritum rectum innova, wie Thetis im Homer den Zevs bittet; und so fort bis zu visceribus meis.«

»Libera me; das lyrische Feuer schlägt in höhere hellere Flammen, und die Begeisterung erreicht den höchsten Flug.«

»Quoniam si voluisses ist hohe Tempelpracht; man glaubt in dem zu Ephesos zu sitzen und zu hören; es ist alles schon so ganz eingeweiht und heilig.«

»Sacrificium Deo spiritus contribulatus: cor contritum et humiliatum Deus non despicies: ist der concentrirteste Lebenspunkt vom Ganzen. Dieser Vers ist wie der Kopf der Mutter Niobe in der Gruppe, nur alles von Skopas selbst; und gehört unter das Erhabenste der Musik. Es ist so bittend, so voll Seele schmeichelnd, daß ein Phalaris nicht dagegen aushalten könnte. Man meint, einen Chor auserwählter Griechischer Jünglinge und Jungfrauen im Tempel des Apollo bey einer allgemeinen Landplage zu hören.«

»Der Schluß vollendet so recht in Majestät das große Ganze voll Plan und Ueberlegung, wozu ein göttlicher Verstand die Idee entwarf. Wie voll Heiligkeit, tiefer Andacht und Ehrfurcht das Tunc imponent super altare hervorgeht! Man kann davon sagen, daß dieß so recht voller Klang ist, und jeder geheime schöne Ton aus der Natur dazu hervorgelockt und gezaubert.«

»Aber man muß auch würdiger Mensch genug seyn, um so etwas klar genießen zu können. Die hohe Kunst erfordert Verstand und Wissenschaft, und geläuterte Sinne. Sie ist deßwegen nicht Künsteley, weil sie der Bauer oder rohe Mensch nicht faßt; der zwar auch ein angenehmes und oft rührendes Geschwirr von Tönen hört, aber nicht den auf jede Fiber eindringenden erquickenden Genuß [77] hat. Nur Wenige sehen das Weltsystem an wie Keppler und Newton; aber ist die Natur, die es hervorbrachte, deßwegen eine Grillenfängerin, und sind sie Pedanten, weil sie sich ganz anders darüber freuen, als der große Haufen? Unwissende, eingebildete Gecken möchten freylich bey hoher Kunst zuweilen so etwas behaupten.«

»Es ist in diesem Werk alles vereinigt, tiefes Gefühl, erstaunlicher Reichthum der Kunst, reine Schönheit und Proporzion im Ganzen und in den Theilen; keusche Verzierungen und edler Schmuck.«

Hildegard mußte zuweilen über Lockmanns schwärmerische Ausdrücke lächeln; sagte aber, nachdem sie alles mit ihm durchgegangen war, und das Schönste mit ihm gesungen hatte: »Das Miserere von Allegri, so himmlisch es ist, und so vielen Seelenklang es hat, der voll schmelzender Süßigkeit ins innerste Wesen hinunter steigt, muß doch diesem weichen. Es ist bloß Traube oder Most, und dieß ist Wein.«

Lockmann fügte hinzu: »Verschiedne neuere Lieblingsdissonanzen sind sehr sparsam bey ihm ausgesät, als die übermäßige Sext, verkleinerte Septime; aber dafür hat das Ganze auch einen männlichern ununterbrochnern Charakter. Die übermäßige Sext ist wenigemal da, und immer sehr vorbereitet, so daß sie mit ihrem Stachel nur einschleicht; als bey spiritum rectum, in visceribus, und bey contribulatus, wo kurz voran zugleich die übermäßige Sekund' ihre herrliche Wirkung thut.« etc.

Sie sprachen alsdann von Leo überhaupt, mitDurante dem größten Stifter der Schule von Neapel, dem Lustort der Sirenen. Hildegard selbst hatte von ihm nur die Solfeggi und La Morte d'Abel, ein Oratorium nach der Poesie von Metastasio, und hohlte beydes.

[78] Sie gingen geschwind das letztre durch. Er bemerkte dabey: »In der Poesie ist nicht genug Stoff zu einem Morde da; es fehlt ganz die poetische Wahrscheinlichkeit. Nach dem Grundtrieb im Menschen, der Geselligkeit, mußte Abel die andre Hälfte von Kain seyn, da dieser ihn allein als männlichen Spielkameraden auf der weiten Erde hatte. Die Einbildungskraft des damals zu jungen Metastasio war noch nicht stark und reich genug, so etwas Schweres täuschend darzustellen; die Poesie ist zu gekünstelt und hat nicht die Natur der ersten Menschen. Für musikalischen Ausdruck ist wenig da; moralische und theologische Sentenzen erlauben wenig Abwechslung der Stimme. Auch gehen in der Musik altväterisch die Formen gar wenig hervor. Die immer trocknen Recitative, ohne alle Begleitung, ermüden; ob sie gleich in der Harmonie Abwechslung, und oft glückliche Declamazion haben. Die Arien, wo lange Läufe auf unbedeutenden Worten sind, ermüden noch mehr; bloße Musik in ernsthaftem Styl. Im Ganzen, das in zwey Theilen besteht, ist nur ein einziges Recitativ mit Begleitung; das der Eva am Ende, wo Abel erschlagen gefunden wird. Der Kontrast thut Wirkung, als ob es eins von Jomelli wäre.«

»Die Meisterstücke darin aber sind die zwey Chöre am Ende des ersten Theils, und am Ende des zweyten. Solche erhabne Musik hören wir nicht mehr in unsern Kirchen; solche feyerliche Modulazionen, rührende und herzergreifende Verschmelzungen, die so wahr die Gefühle einer leidenschaftlichen Seele ausdrücken. Der erste Chor fängt an:

Oh di superbia figlia, d'ogni vizio radice, nemica di te stessa invidia rea.«

»Der Anfang in lauter Oktaven ist prächtig, der Ausdruck sinnlich.«

[79] »Der letzte Chor: Parla l'estinto Abelle, ist noch feyerlicher; die Harmonie geht Pindarisch ins Außerordentliche, aus D dur in E dur, Cis moll und Cis dur; und ist so recht erhabner Kirchenstyl.«

Lockmann hatte angefangen, Hildegarden dabey das Italiänische ins Deutsche zu übersetzen; sie sagte ihm aber zu seiner großen Freude, daß dieß nicht nöthig sey, und sie die Sprache hinlänglich verstehe.

Dann sang sie zur Uebung einige von den Solfeggen vortreflich ohne Fehler, wozu Lockmann sie begleitete.

Sie sprachen wenig über das Miserere, oder Pietà Signore, von Jomelli, welches Hildegard schon kannte. Lockmann sagte: »Es wäre ohne Zweifel besser, wenn Jomelli die bekannten Lateinischen Worte genommen hätte. Die Lingua volgare, auch in einer treflichen Uebersetzung, wie hier nicht immer der Fall ist, paßt nicht zu dem feyerlichen Psalm.«

»Die Musik ist merkwürdig, weil Jomelli sie in seiner letzten Passionszeit, kurz vor seinem Tode, geschrieben hat. Es ist auch, meinem Gefühl nach, wenig Lebendiges mehr darin; aber sehr viel strenge einschneidende Kunst der Harmonie. Wenn man die Worte nicht schon weiß, so wird man ihren Sinn wenig merken. Der wahre Geschmack, oder die eigentliche Schönheit ist dieß gewiß nicht.«

»Mit den großen klassischen Werken der Kirchenmusik, seinem Requiem aeternam, und seinem erhabnen erschütternden Benedictus dominus Deus Israel für die Peterskirche zu Rom, läßt es sich, was Vollkommenheit betrift, in gar keine Vergleichung stellen.«

Flüchtig zum Beschlusse nahmen sie noch das Miserere von Sarti vor. Die Begleitung machen drey Bratschen, und das Violoncell Solo, mit Abwechslung der ersten Bratsche.

[80] Lockmann nannt' es ein Meisterstück der neuern Kirchenmusik, worin das alte Vortrefliche mit dem neuern vereinigt wäre: Geschmeidigkeit und Geschwindigkeit der Kehlen und Instrumente in den Solos, und volle ernste Harmonie in den Chören; und durchaus gefälliger Vortrag, und rührende reizende Melodie in der schönsten Ausbildung. Die Begleitung bloß von drey Bratschen und dem Violoncell, sagte er, benehme der Musik das Theatralische. Auch auf den Ausdruck sey immer gesehen; das Ganze mit einer angenehmen und vortreflich ausgeführten Fuge beschlossen.

Unterdessen fand sich Hildegards Bruder ein. Sie gingen, weil es kühl geworden war, und der Abend einsank, in den Garten; und unterredeten sich über die Frage: ob man die neuern Erfindungen in der Musik, und das Ausgebildete der Melodie und Begleitung auch bey Kirchenmusik brauchen solle?

Lockmann fuhr, nach wechselseitiger Erzählung von verschiednen Beyspielen, ferner fort: »Die mehrsten und wichtigsten Stimmen sagen nein. Die Ursache, welche man dazu angiebt, ist, daß es an das Theater erinnere, und die Kirche entweihe.«

»Wenn man aber reizende Melodie und ausgebildete Harmonie brauchte, die nicht auf dem Theater vorkäme? Es ist doch höhere Vollkommenheit; und sie würde sehr für eine liebenswürdige schwärmerische Frömmigkeit passen.«

»Die wahre Ursache mag wohl seyn, daß die höchste Ausbildung der Kunst sich nicht für unsern Glauben schickt; und daß so, wie die Lateinischen Worte dieselben sind, auch immer die Musik gewissermaaßen dieselbe bleiben müsse. Wahr ist es jedoch auch, daß man schon, wenn man mit einer hohen Person, einem Fürsten und Monarchen, spricht, sich ernst und würdig ausdrücken soll; zierlich kann [81] man wohl dabey seyn, aber es dürfen keine Luftsprünge, oder Seiltänzereyen vorkommen. Inzwischen giebt es Feste von Heiligen, die Witz und Laune und alle Feinheiten der neuern Kunst vertragen sollten.«

»Bey den Italiänern, wo die Musik am mehrsten lebendig und volksmäßig ist, braucht man sie auch oft in ihrem ganzen Umfang in den Kirchen; jedoch besonders ausschweifend zu Venedig. Es ist ein erstaunlicher Kontrast, wenn man eben von den erhabenen Psalmen des Benedetto Marcello zu Hause weg manche neuere Musik in ihren Ospitaletten hört;Sarti ist dagegen noch sehr bescheiden zu Werke gegangen.«

Hildegard erwiederte darauf: »Ihre Bemerkungen scheinen gegründet zu seyn. Wenn man aber bey einem solchen Text, wie die Worte des Miserere, die Musik des Allegri und Leo mit der von Sarti vergleicht, so kann wohl kein Mensch von Verstand und Geschmack zweifeln, wo Wahrheit, Würde und Schönheit, und wo Ziererey und oft nur leeres Tongepränge sey. Und doch ist Sartis Werk ein Meisterstück der neuern Kunst; und ohne den Allegri oder Leo gehört, oder noch in frischem Gedächtnisse zu haben, hört es wahrscheinlich jedermann mit Vergnügen. So viel kommt auf Gewohnheit und Vorurtheil in der Musik an.«

Sie dankte ihm dann mit holdem Blick für die Mittheilung und Erklärung der besondern Schönheiten in dem Meisterstücke des großen Leonardo Leo. Er sagte ihr, durchdrungen von Zärtlichkeit und Bewunderung, als die Dämmerung die Aussichten schon in ihren magischen Schleyer hüllte, mit gedämpftem Ton der Stimme: »Kein größeres Glück für mich, als wenn ich alles, was ich weiß und vermag, Ihnen zu Füßen legen kann, und Sie es gütig annehmen wollen.«

[82] Sie waren eine Strecke voran, und bey der Umkehr in einen andern dunklen Gang, faßt' er ihr, geschwind wie der Blitz, die zarte Rechte. Hildegard wollte sie zurückziehn, vermochte es aber nicht. Er drückte die Hand feurig an seine Lippen, indeß sie, halb spottend und halb in Furcht gesehen zu werden, sich zurück wandte, und empfahl sich.

Er war kaum auf seinem Zimmer, und sah zum Fenster hinaus nach der Wasservertiefung, als ein Bothe, der schon einmal da gewesen war, vom Fürsten kam, daß er ihn sprechen wolle.

Der Fürst sagte: »Ihr Ruhm verbreitet sich schon im Lande. Die Aebtissin im Gebirge verlangt von Ihnen, daß Sie ihr eine Musik aufführen sollen, und bittet mich darum, und um die Leute, die Sie dazu brauchen. Es ist große Wallfahrt zu einem alten wunderthätigen Marienbild in ihrem Kloster, und nächsten Donnerstag halten sie Fest und Prozession damit. Die kurze Spazierfahrt dahin wird Ihnen ganz angenehm seyn.«

Lockmann antwortete, daß er es mit Freuden thun werde.

Den andern Morgen ließ er einen großen Theil der Kapelle um zehn Uhr bestellen; und ging bey guter Zeit zu Hildegarden.

Sie spielte Federball mit ihrem Bruder im Speisesaal, und beyde waren munter und heiter. Er erzählte gleich den Auftrag des Fürsten; und fragte, ob sie wohl Lust hätten, eine Spazierfahrt insgesamt mit nach dem Kloster zu machen. Es wurde mit froher Begierde der Mutter vorgetragen; welche zwar anfangs einige Bedenklichkeit äußerte, doch endlich es erlaubte. Sie kannte die Aebtissin; hatte aber sie und das schön gelegne Kloster seit ihrer Rückkehr aus England nicht wieder gesehen, und wollte selbst dabey seyn.

[83] Darauf ging es nach dem Musiksaal. Lockmann zog zuerst das Salve regina von Pergolesi hervor. Sie kannten es alle; und Hildegard sang es vortreflich. Darauf das vom LondonerBach. Auch dieses kannten sie; und es wurde gleichfalls vortreflich gesungen. Man sprach über den Unterschied beyder Musiken; und kam im Urtheil ziemlich überein.

»Wahrheit und Verstellung. Bach schrieb die seinige bey Champagner und Burgunder, gesund und in Wohlleben; Pergolesi, als er selbst bald seine Seele aushauchen wollte. Dieser für schwärmerisch fromme Lazzaroni und ihre Weiber, Söhne und Töchter; jener, ohne einen Funken Glauben, für eine Hofkapelle. Bach steht durchaus an Wahrheit des Ausdrucks unter dem Italiäner; hat aber dafür mehr Anstand, fromme Hofmiene, die er jedoch hier und da vergißt, als bey lacrimarum valle, wo man eben so gut Paradies, Bajä und Tempe unterlegen könnte.Pergolesi weint bey diesen Worten im Gegentheil zu sehr, gegen die Regel der Schönheit.«

»Gefühlvolle Menschen, denen es in dieser Welt wirklich übel geht, und die sich nach etwas Besserm sehnen, würden ohne Zweifel mehr in den Ausdruck des Pergolesi einstimmen. Aber auch bloß als Musik betrachtet, ist ohne Vergleichung mehr Kern und schöne Natur in seiner Komposizion.«

»Wie wahr und schön gefühlt im ersten Largo:Vita, dulcedo, et spes nostra, Salve! und mater, vita, dulcedo, Regina! so lyrisch am Ende. Und hernach das Ostende Jesum, wie eine Madonna von Raphael! Und das letzte: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria! Wahre Accente einer Heiligen; so innig, daß der Umfang der ganzen Melodie nur wenig Töne beträgt.«

»Bach hat inzwischen doch auch schöne Züge, und sein Werk ist [84] mehr gerundet zur Aufführung: Gementes et flentes ist vortreflich; und Eja ergo advocata hat selbst Pergolesischen Ausdruck, wenn es nur nicht wie das meiste andre zu gedehnt wäre. Welch ein Pomp gleich der Anfang vier Takte im Largo auf die Sylbe Sal----ve! wenn dieß nicht theatralischer Prunk ist, was soll es sonst seyn? Und gleich hernach wieder zwey Laufe darauf, und hernach gegen Ende noch ein ellenlanger. Und eben so ist das Clamamus.«

Nachdem eins um das andre dieß bemerkt hatte, und inzwischen die Zeit verstrichen war: bat er Hildegarden und ihren Bruder, sie möchten mit ihm in den Konzertsaal kommen; dort wolle er sie noch ein drittes Salve hören lassen, welches er aufzuführen gedenke; jedoch solle ihre Wahl entscheiden.

Hildegard wünscht' es noch vor der Probe zu sehen. Lockmann sagte, er habe dieß bey ihrer großen Fertigkeit nicht für nöthig erachtet; jedoch zog er die Partitur aus seiner linken Rocktasche nun auch hervor. Er setzte sich wieder ans Klavier, und sie sang.

Salve Regina, mater misericordiae, vita, dulcedo; dulcedo et spes nostra; et spes nostra salve! Salve Regina! Salve mater! Salve mater misericordiae! Salve Regina! Salve! Salve!

Alle riefen fast einstimmig aus: »Göttlich! göttlich! Nichts kann schöner seyn! es ist das Höchste! Wie weit bleibt Pergolesi zurück, auch an Ausdruck!«

»Dieß ist ein Werk,« sagte Lockmann, um alles Mißverständniß zu vermeiden, »von dem himmlischen Genius der Musik, dem jungen NeapolitanerFrancesco Majo, der in einem kurzen Zeitraum den größten und bewundertsten Meistern seiner Zeit den Rang ablief, und leider zu früh Italien und Europa durch den Tod entrissen ward.«

[85] Hildegard sang und mußte gleich diese erste Stelle noch einmahl singen. Sie that es mit der Begeisterung einer jungen schwärmerischen Priesterin zum Entzücken. Lockmann strengte mit Gewalt allen seinen Verstand an, um nicht vor ihr auf die Knie zu fallen. Die Feuchtigkeit der Wonne quoll tropfenweise in seine Augen; so zauberisch hatt' er ihr inneres schönes Wesen noch nicht in den Lüften vernommen. Melodie und Harmonie war ganz wie aus ihrer Seele.

Er sagte nach der Wiederholung: »Hohe, süße Schönheit muß an und für sich schon bey allen Künsten sehr in Anschlag gebracht werden. Dieß gilt bey diesem Werk in vollem Maaße. Pergolesi übertrift ihn vielleicht, und kaum, bey einer oder zwey Stellen im Ausdruck; Majo aber steht an Schönheit weit über ihm. Bey dieser ersten Hauptstelle steht er auch an herzergreifendem Ausdruck im begleiteten Recitativ, welches für die Worte viel natürlicher ist, über seinem deßwegen allgemein bewunderten Landsmann. Der letztere gleicht in seinem Ausdruck einer leidenden abgehärmten Matrone; und Majo der schönsten Tochter der Niobe.«

Sie sang weiter.

In hac lacrimarum valle dünkte alle über die Maaßen rührender im schönsten Ausdruck; er hält darauf im eingestrichnen C, und die Begleitung spielt und weht pittoresk darum.

»Eja ergo advocata nostra illos tuos misericordes oculos ad nos converte; ist, obgleich mit aller Pracht der Begleitung von zwey obligaten Trompeten, zwey Fagotten, und einer Hoboe Solo, nebst noch zwey Ripientrompeten, doch äußerst zärtlich bittend vorgetragen, in solcher glänzenden Stimme der Begeisterung wie der ihrigen, die freylich dazu gehört, um dadurch immer hervor zu strahlen. [86] Pergolesi ist dagegen kleinlich und ängstlich; im Majo athmet überall mehr Schönheit, und ohne Vergleich mehr Würde des Menschen.«

»Man muß diese Begleitung als ächten herrlichen festlichen Schmuck ansehen, der jedermann erheitern und erfreuen soll; es ist gleichsam eine Volkshymne zur Ehre der Jungfrau. Solche Gesänge sind schlechterdings nicht, die Gefühle eines Lazareths auszudrücken; sondern die eines Volks, das nach Drangsalen Hofnung schöpft, und wieder glücklich wird.«

»Et Jesum benedictum fructum ventris tui nobis post hoc exilium ostende ist bey Pergolesi wie eine Madonne von Raphael; gewiß aber auch bey Majo, wie eine Madonne von Correggio mit allem Zauber des Kolorits und Helldunkeln.«

»Wahr ist es, im O clemens bleibt Pergolesi unübertroffen. Uebrigens muß man noch dessen Zeiten bedenken; er ist hier gleichsam Mantegna, wie schon gesagt, zu Correggio

»Jeder setzt seinen Charakter durch. Gestehen muß man inzwischen immer, daß Pergolesi tieferes Gefühl von Leiden gehabt hat; verkleinerte Sekunden, Quarten, Nonen – damit ist alles bey ihm verschmolzen. Es ist kein großer Styl, aber ein äußerst darstellender bis ins Feinste. Zu seiner Zeit war man noch nicht so weit in der freyen Schönheit von Melodie und Harmonie gekommen.«

»Man weidet sich recht an menschlicher Kunst, und menschlichem tiefen hohen und schönen Gefühl, wenn man von einer so süßen und gewaltigen Kehle beyde nach einander hört und vergleicht.«

»Im Schlusse noch ist Majo göttlich; die Wiederholung des Anfangs: Salve! rundet recht das reizende vollkommne Ganze.«

Selbst die Mutter stimmte meistens mit diesem Urtheil Lockmanns [87] überein; und freute sich auf die Aufführung mit voller Begleitung.

Hildegard kleidete sich zum Ausgehen an. Die Probe war ein allgemeiner Jubel. Besonders entzückte der Wettstreit des beliebten Virtuosen Frank auf der Hoboe mit Hildegards unvergleichlicher Stimme; und das prächtige Spiel der Trompeten und Fagotten dazwischen wurde gleichsam von den Ohren angestaunt, wie ein neues himmlisches Wunder.

Lockmann studirte alsdann, auf jeden Fall, mit seinen Leuten noch andre Sachen ein, einige bloß für blasende Instrumente zur Begleitung der Prozession; und eine der vortreflichsten Symphonien vonHaydn, die zum Beschlusse für das Volksfest sich wohl schicken konnte.

Den folgenden Tag bereitete man sich recht darauf vor, besonders der junge Hoboist und die Solotrompeten; und den Donnerstag in aller Frühe fuhr Lockmann mit seinen Leuten voraus, und Hildegard mit Mutter und Bruder zu gehöriger Zeit nach.

Das Kloster war nur drey kleine Stunden entlegen, höchst erfreulich in der Tiefe eines fruchtbaren Thals, das ringsum bis zum Eingang desselben waldiges Gebirg' umschloß. Ein Bach rann durch eine Seitenvertiefung hinter dem Kloster herunter, erfrischte mit Fruchtbäumen eingefaßte kleine Teiche voll Forellen und Krebse; alles war reinlich, saftig grünend, und erschien für klösterliche Betrachtungen eingeweiht.

Sie trafen schon eine Menge Landvolk an, und einzelne Züge strömten noch herbey.

Lockmanns Leute erhielten gleich ein gutes Frühstück; und ihn bewillkommte die Aebtissin mit gefälligem Anstand und vieler Freundlichkeit. [88] Er meldete die Ankunft der Frau von Hohenthal mit Sohn und Tochter, welche sie höchlich freute; zugleich aber, daß sie Mittags wieder zurückkehren würden. Sie war eine Dame vielleicht an die Vierzig, aus der Familie von Friedeborn, und hatte ihre angenehme Gestalt wohl erhalten. Die vornehmsten Klosterfrauen gesellten sich bald zu ihnen; auch fürLockmann ward ein Frühstück gebracht, wovon er nur ein Paar Gläser Xeresersekt, den er noch nie getrunken hatte, mit einigen Bissen Brod zu sich nahm.

Er verlangte gleich nach der Kirche und Orgel; und eine blühende junge Elsasserin, die das Werk für das Kloster dirigirte, begleitete ihn dahin mit zwey viel altern Schwestern, welche die Balge treten sollten.

Die Kirche war ein ziemlich großes altes Gothisches Gebäude mit Kreuzgängen, und bemahlten Glasscheiben von prächtigen Farben in den Fenstern; die Orgel aber ein neueres Werk.

Die sittsame reizende junge Nonne zeigte ihm bescheiden die besten und am reinsten gestimmten Register. Er setzte sich auf die Bank, versuchte verschiedne einzeln, und dann zusammen. Sie lächelte dem jungen treflichen Meister bald Hochachtung, und dann Bewunderung zu, und ein lange zurückgedrängtes Gefühl fing an in den schönen schwarzen Augen zu wetterleuchten, als er sich von mehrern andern umringt sah, die, gleich den Schwalben beym warmen Hauch der Frühlingslüfte, aus ihren Zellen hervorgeflattert kamen. Er phantasirte ihnen zu gefallen die rührendst verflochtensten Gänge, mit kurzen zärtlichen Melodien und Imitazionen ausgeschmückt, die man für warme Andacht nehmen konnte; und ehe man sichs versah, war fast die ganze Kirche schon voll Leute, die [89] durch Seitenthüren geschlüpft waren, bevor man die großen Pforten noch geöfnet hatte.

Lockmann mußte plötzlich aufhören; die Nonnen zogen sich zurück. Die blühende Elsasserin, welcher er unterwegs nur mit einem Händedruck seine Verwunderung bezeigen konnte, ein so liebliches Kind wie sie von der Welt geschieden zu sehen, begleitete ihn, mit einem schmachtenden Blick gen Himmel, wieder zur Aebtissin, gerad' als diese ihnen selbst entgegen kam. Sie ordneten alsdann den ganzen Gottesdienst mit dem Pater, einem Kapuziner.Lockmann sagte, er habe Musik genug bey sich; wenn ihnen das Salve Regina vielleicht zu kurz schiene, so woll' er noch eine Messe aufführen. Beyde baten inständig darum; das Volk, sagten sie, wolle immer gern recht viel Musik.

»Lassen Sie uns also gleich anfangen, fuhr der Pater fort, da die Kirche schon voll Menschen ist.«Inzwischen waren Hildegard, Mutter, Sohn und Hofmeister angekommen, und wurden freundschaftlichst empfangen.

Lockmann theilte zuerst die Stimmen der Messe von Jomelli aus D dur herum, die mit Hoboen und Hörnern durchaus für ein Freudenfest bestimmt ist.

Messe und Musik wurde angefangen.

Das Kyrie eleison machte ein prächtiges Ganze schon an und für sich, und füllte Ohr und Seele. Die Begleitung, welche das Nähern zu Gott ausdrückt, bindet es meisterhaft. Das Thema zur Fuge ist gleichsam im Korinthischen Styl.

Das Gloria voll Jubel. Et in terra pax, voll Ausdruck. Qui tollis – miserere nobis eben so, die Begleitung überall glänzend in herrlicher Musik.

[90] Cum sancto spiritu in Gloria Dei patris vortrefliche Fuge die ganze Oktave von unten herauf; wahres Meisterstück mit der Begleitung.

Das Credo wieder ein Ganzes für sich. Stimmen einzeln, Stimmen verflochten auf mancherley Weise, und was nur etwas für die Musik darbietet, schön ausgedrückt. Damit es nicht zu einförmig werde, gehtJomelli mehrere Töne durch, aus dem D dur bis ins C dur und C moll. Et resurrexit voll Ausdruck; et ascendit in coelum eben so; wie resurrectionem mortuorum. Das Credo ist immer Chorus, und stellt in Oktaven die Gemeinde vor.

Das dona nobis pacem machte prachtvollen Beschluß.

Ein schönes Werk des Meisters, welches mit allgemeiner Lust und Freude angehört wurde, aber noch weit von seiner Todtenmesse absteht.

Die Messe war vorbey. Das wunderthätige Marienbild wurde von den vier jüngsten Nonnen herbeygetragen und vor den Hauptaltar gestellt. Alles fiel auf die Knie.

Das Bild war uralt, wenigstens aus dem vierzehnten Jahrhundert. Im Kopf der Mutter Gottes ist wirklich etwas Erhabnes, und dabey etwas stolz jungfräulich Mütterliches; ob er gleich verzeichnet, die Nase zu lang, und das Kinn zu klein ist. Die Kleidung Griechisch. Maria sitzt auf einem Sopha wie auf einem Thron. Auch das Kind hat Majestät im Gesicht, legt das Köpfchen ins Genick, wie ein junger Despot, und schlägt in seinem grünen Röckchen, welches unter den Armen ein rother Streif Seide zusammen hält, auf ihrem linken Arm getragen, die Beine übereinander. Sie hat ein rothes Unter- und ein himmelblaues Obergewand.

Man war wirklich im Himmel, nicht mehr auf Erden, als nun von [91] Hildegards reiner und gewaltiger Stimme durch die weiten geräumigen Gewölbe des Tempels in lieblichster Begleitung schmeichelnd bittend die Worte drangen: Salve regina, mater misericordiae, vita, dulcedo; dulcedo et spes nostra; et spes nostra salve! Salve Regina! Salve mater! Salve mater misericordiae! Salve regina! Salve! Salve!

Zu den Thronen des Himmels keine andre Tochter der Sterblichen, als Hildegard; diese Empfindung lebte und schwebte in aller Herzen.

Bey den letzten Worten: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria; und dem letzten Gruß: Salve regina, dulcedo et spes nostra, salve, salve! wollten diejenigen, die ihre Augen wieder von der Musik zurück auf das Bild hatten wenden können, einen lichten Glanz um die Köpfe strahlen, und die Mutter Gottes sich wirklich bewegen und nicken gesehen haben.

Als die Musik eine lange Weile zu Ende war, und die Prozession schon ihren Anfang hätte nehmen sollen: hörten alle immer still zu, als ob die Musik noch fort währte; besonders sahen sie gleichsam in den Lüften die göttliche Menschenstimme die obgleich vortrefliche Hoboe, wie den Falken einen andern Vogel überflügeln, und dann die heroischen Trompeten und alle Instrumente der entzückenden Schönheit huldigen.

Endlich zog die Prozession aus. Der ganze Himmel war heiter, und ein kühles Lüftchen spielte mit den Zweigen. Mit dem Wunderbilde voran, führten die Aebtissin und die Nonnen, ungefähr dreyßig an der Zahl, in ihren schönen Gewändern und Schleyern vom Orden des heiligen Benedikt, den Zug. Ihnen folgten die Kinder, nach einem Zwischenraum, den die Klarinetten, Hörner und Fagotten einnahmen; dann Hildegard und ihre Mutter mit einer [92] langen Reihe Mädchen und Weiber. Nun schmetterten abwechselnd die Trompeten und wirbelten die Pauken in die Wälder, und nach diesen kamen Jünglinge und Männer, alle in festlichem Schmuck.

Es ging um das Kloster herum, und dann die sanfte reine grüne Wiese am rechten Ufer des klaren Bachs hinab, bis zur Oefnung des Thals, wo an einem Wirthshause für die Ortschaften, welche zur Kirche gehörten, die Jäger des Forsts paradirten, die, als die Prozession ihnen zu Gesichte kam, sie mit dem Donner ihrer Büchsen begrüßten, daß es weit und breit, und mit verschiednen Schlägen, im Gebirge widerhallte. Als der Zug vor ihnen vorüber war, feuerten sie noch mehrmals ab. Es ging nun über die Brücke, und am linken Ufer des Bachs die Anhöhe hinauf durch ein Stück Wald hoher starker Buchenstämme wieder nach der Kirche. Unter der feyerlichen Musik der Klarinetten und Hörner, Trompeten und Pauken, und dem Donnerschall des Gewehrs murmelte, wie das Brausen der Meeresfluth zwischen Felsen, immer: »Gegrüßet seyst du Maria! und, heilige Mutter Gottes bitte für uns!« mit inbrünstigen Schlägen an die Brust, von allem Volke.

Der Himmel schien sich aufzuthun, und ein hellerer Glanz von ihm herab zu leuchten. Hehr und heilig und friedlich stand die Gegend, als sie zum Tempel hinein zogen.

Sie stellten das Bild wieder an den alten Ort. Die Aebtissin kniete davor nieder, nach ihr alle, und jagte mit so starker Stimme, als sie vermochte: »Sey gegrüßet große Fürsprecherin! walte ferner über uns, wende alles Uebel ab, segne die Früchte, und beschütze das Land!«

Lockmann hatte unterdessen seine Schaar auf dem Chor wieder [93] zurecht gestellt, und die Symphonie von Haydn mit einer Menge von Geigen und Bässen und allen blasenden Instrumenten vortreflich aufgeführt, schloß bezaubernd und berauschend.

Wenn das Volk die Sitte der höchst sinnlichen Römer und Neapolitaner verstanden hätte: so würd' es ihn und Hildegarden auch noch um das Kloster und durch das Thal in Prozession unter Jubel herumgetragen haben; so voll Bewunderung und Dankbarkeit war alles für beyde.

Sie und Mutter und Bruder wollten nun nach Hause zurückkehren; aber Aebtissin und Nonnen baten und flehten, und es ward ihnen nicht gestattet.

Man hatte sich für diesen Tag mit einem reichlichen Vorrath von Speisen versehen, und einige geschickte Köchinnen waren schon aus der Nachbar schaft herbey gerufen worden. Es mangelte außerdem im Kloster nie an allerley köstlich Eingemachtem, so wie an niedlichem Zuckerwerk, welches selbst zuzubereiten, verschiedne Schwestern ausgelernt verstanden. Die Aebtissin nahm für diesesmal an ihre Tafel, außer den zwey vornehmsten Alten, die immer mit ihr speisten, drey der schönsten und wohlerzogensten Nonnen, unter welchen sich die Elsasserin befand, und Hildegard wie die himmlische Venus neben ihren Grazien saß, wenn man Vestalinnen mit diesen vergleichen darf. Sie trug ein weiß seidnes Kleid über einem rosenfarbnen Untergewande; und überblühte alle an Gestalt, wie die königliche Rose die andern Blumen.

Unten im Kloster und in den Seitengebäuden waren mehrere Tafeln für die Kapelle und andre Gäste.

Der Kapuziner war lange in Rom gewesen, fing bald das Gespräch mit Lob über Hildegards Stimme an, und sagte, daß er binnen [94] zwölf Jahren nie eine schönere in Italien gehört habe, nicht eine, die damit zu vergleichen wäre.

Wie erstaunte Lockmann, als er sie im besten Toskanischen mit der wohllautendsten Römischen Aussprache antworten hörte: »Guter Vater, es schickt sich nicht für Sie, eine von Evens Töchtern, die sich leicht verführen lassen, mit Ihren Lobsprüchen eitel machen zu wollen.«

Der Kapuziner streichelte seinen grauen langen Bart vor Freude, und erwiederte im Italiänischen ferner: »Sie sind ohne Zweifel, obgleich so jung, schon in Italien gewesen, da Sie dessen Sprache so gut reden?«

»Nein, noch nicht, antwortete sie; aber ich habe gute Lehrmeister und Lehrmeisterinnen gehabt: Vater und Mutter, und Virtuosen und Sängerinnen aus diesem Lande der Schönheit und Künste. Jedoch nichts weiter in dieser Sprache! die frommen Schwestern hier möchten sonst glauben, Sie, ehrwürdiger Vater, hätten Ihren Zweck erreicht.«

Geschwind wie ein Blitz war dieß vorbey; Lockmann aber himmelweit davon entfernt nur die geringste Ahndung zu haben, warum sie gerade jetzt mit diesem neuen Reiz erschien.

Wie sich die Weiber selten einander etwas der Art gönnen, und auch die besten und wirklich keuschen eifersüchtig sind: so hatte Hildegard schon auf dem Chore bemerkt, daß die Elsasserin und der schöne junge Mann sich einander verstohlen lüstern angafften, indeß sie ziemlich fertig, doch immer Nonnenmäßig gehudelt, die Einleitungen und Antworten zur Declamazion des Priesters am Altare auf der Orgel griff, und sich deßwegen öfter, als nothwendig war, mit dem Köpfe rücklings wandte. Als sie zur Tafel traten, bemerkte Hildegard [95] dieß noch stärker; und so ging das Spiel, allen andern Augen verborgen, daran fort. Auch hatte die allerschlaueste nicht undeutliche Spuren von Absichten der Aebtissin selbst wahrgenommen. Als sie die wenigen Italiänischen Worte sprach, richtete sie nicht einen Blick aufLockmannen; aber hernach redete sie bey Gelegenheit freundlich und gefällig mit ihm, jedoch ohne die mindeste Verletzung jungfräulicher Sittsamkeit und ihrer Würde.

Dieser konnte nicht unterlassen, ihr in eben der Sprache lebhaft sein Vergnügen zu bezeigen, daß sie so gut Italiänisch sprach. Die Nonne war für ihn ein bloßes neues Augen-, höchstens leichtes Sinnenspiel der warmen Jahrszeit; und von einer Vergleichung zwischen ihr und Hildegarden in seinem ganzen Wesen nicht die geringste Spur. Die Aebtissin pries beyde, sie und ihn, höchlich, und sagte, daß sie noch niemals auch nur eine ähnliche Musik gehabt hätten.

Der Kapuziner rühmte den schönen Ausdruck und das Glänzende der ganzen Musik im Salve Regina von Majo. Er kannte die größten neuern Kirchenkomponisten in Italien, wie er sie nannte, den PaterMartini zu Bologna, Pater Vallotti zu Padua, und Pater Zuccari zu Assisi persönlich. Ihre Musik, sagte er, sey strenge, heilig, gleiche der ehrwürdigen der unsterblichen Palestrina undMarcelli, und reiße, wenn sie von Sängern wie Guadagni vorgetragen werde, wie ein Strom mit sich fort; aber mit solcher Melodie, mit so etwas Himmlischem, kurz mit solcher Schönheit hätten sie sein Herz nie in Bewegung gesetzt, als Majo mit seinem ersten Salve. Guadagni und Pacchiarotti würden es aber auch nicht wagen, so etwas nach ihr, alles andere dazu gerechnet, singen zu wollen.

[96] Hildegard gab dem guten Pater einen neuen Verweis; aber er ließ sich von ihrem Lobe nicht abbringen.

»Man glaubt fälschlich, fuhr er fort, daß das Klima von Italien allein die bey weitem allervollkommensten Organe zum Singen hervorbringe, die zarten und zugleich höchst elastischen Fibern, Nerven und Muskeln zur Lunge, Brust und Kehle; und daß eine außerordentliche Stimme so wenig außerhalb Italiens zu finden sey, als eine andre mit einer vortreflichen Cremoneser Geige könne verglichen werden.«

Er beschrieb dann mit einer wirklich angenehmen Beredtsamkeit verschiedne große Feste dort, wobey er zugegen gewesen war; als das Fest des heiligen Franziskus zu Assisi, das Fest der Portiuncula, wobey er die schöne Kirche, und die Hütte des Heiligen noch unter der Kuppel, worin ihm der erste Gedanke zu seinem Orden war eingegeben worden, und die zwölf springenden Brunnen aus der einen Mauerwand der Kirche für die ungeheure Menge Volks von allen Landen her, nicht vergaß; so wie das fruchtbare Paradies das ganze lange Thal hin um Assisi. Er erzählte ferner die letzte Wahl des ersten Vorstehers seines Ordens, eines Deutschen, zu Rom; und beschrieb die schöne Lage ihres Klosters da, und den Reichthum der berühmten Gemählde in demselben.

Lockmann fiel hier ein, und sagte: »Der Erzengel Michael daselbst ist wirklich eins der schönsten Bilder von Guido, und noch lebendig in meiner Einbildungskraft. Der große Meister gefälliger Schönheiten hat einen himmlischen Jüngling darstellen wollen von zauberischer Gewalt. Der Kopf desselben ist die innigste Vereinigung reizender Männlichkeit und Weiblichkeit mit dem süßesten Ausdruck von Unschuld, besonders im Munde. Alles aufgeblüht an ihm wie [97] Blume ohne Anstrengung zeigt von der reinsten Seele, fähig alles Vollkommnen. Die Röthe auf den Wangen giebt ihm allein etwas Zorniges; sonst sieht er bloß aus, als ob er die Befehle eines Andern ausführte, gehorsam nicht eigenwillig. Das in die Höhe wallende Haar bildet reizend die Bewegung und das Niederschweben.«

Der Pater fügte hinzu: »Alles Nackende ist von hoher Schönheit, das linke Bein, der rechte Arm, die linke Faust voll göttlicher Kraft. Die Rüstung zeigt das Wunderbare seiner Stärke; so wie der Satan unter seinen Füßen.«

Lockmann fuhr weiter fort: »Die Bekleidung allein, dünkt mich, ist ein wenig zu mahlerisch, und hat nicht genug Wahrscheinlichkeit. Aber das Ganze bleibt immer eins der reizendsten Gemählde voll hoher Schönheit; es vergnügt, entzückt, und erweckt Heiterkeit in der Seele.«

Der Pater unterbrach ihn: »Man kann den Jüngling nicht ansehen, ohne ihm hold zu seyn; er ist so recht der Inbegriff von Schönheit und Güte mit hohem Geiste vereinigt; was man auf dieser Erde fast nicht findet. Mit einem Worte: Guido hat das Centrum getroffen; jeder Mensch, weß Standes er sey, würde sagen, wenn er so etwas in Wirklichkeit sähe, und kennen lernte: es ist ein wahrer Engel.«

Einmal im Zuge, könnt' er nicht aufhören, die reichen Klöster und prächtigen Kirchen in Italien zu beschreiben; das Wohlleben, das gute Essen und Trinken, die köstlichen Fische und wohlfeilen vortreflichen Weine.

Die Elsasserin unterbrach ihn mitten in seiner Begeisterung mit der naiven Frage: ob sie dort auch wohl einen so schönen Thurm hätten, wie den Straßburger?

[98] »Nein, war die Antwort nach einiger Ueberlegung, nur das nicht; und keine solche Sängerin.«

Hildegard mußte laut auflachen über die Kapuzinade; welche die andern auch andächtig anhören wollten.

Das Gespräch ging dann über auf das Kloster, die Zeit seiner Stiftung, was es für Einkünfte, Prozesse habe, u.s.w.

Mittlerweite legte die Aebtissin selbst Lockmannen freundlichst den größten, und ausgesucht grünen Spargel vor, und nöthigte ihn zum Trinken; und der Ton von bloßer Höflichkeit, womit sie den jungen Herrn von Hohenthal und dessen Hofmeister nöthigte, entging Hildegarden nicht.Lockmann fing an stiller zu werden, und saß in Gedanken, zuweilen vor sich hin blickend. Sie legte es mit Recht für sich aus; aber auch die blühende Elsasserin legte es für sich aus, und nicht weniger die Aebtissin.

Feyerabend suchte bey Gelegenheit der Musik das Gespräch auf England zu lenken, und pries dessen Wohlstand und vortrefliche Regierungsform. Mutter und Sohn stimmten zwar ein; aber es wollte natürlicher Weise nicht haften. Man ergötzte sich zu guter letzt an dem unvergleichlichen Zuckergebäck, den köstlichen eingemachten Aprikosen, und andern frischen Früchten. Dann trank man verschiedne Gesundheiten in ächten ausländischen Weinen der besten Arten. Die letzte Gesundheit war: noch viele solche frohe Feste! und lange leben und gesund seyn!

Man stand auf. Die Aebtissin zog Lockmannen bey Seite, und steckte ihm ein Geschenk zu für seine Musiker; für ihn selbst zwar nur eine schildkrötene Dose, worauf aber eine meisterhafte Kopie in Miniatur von Raphaels berühmtem Gemählde der heiligen Cäcilia zu Bologna stark mit Gold eingefaßt war. Er weigerte sich anfangs [99] sie anzunehmen; aber bey dem Blick auf die Schönheit der Vorstellung ließ er sich doch leicht dazu bewegen. Er küßte ihr aus Dankbarkeit die schöne Hand, und fühlte wohl den sanften Zug und Druck derselben auf seine Lippen.

Selbst Hildegard mußte den Werth und das Passende des Geschenks loben. Die Aebtissin hatte die Miniatur von einem jungen durchreisenden Mahler Brand, welcher ihr Porträt machte, und bald darauf zu früh verstarb, für wenig Geld erkauft. Das letztre verschwieg sie schicklicher Weise.

Es entstanden während des Kaffeetrinkens verschiedne Gruppen im Saale. Herr von Hohenthal scherzte mit den drey jungen Nonnen; die Mutter, die Aebtissin, Feyerabend, und die zwey alten blieben am Tische sitzen, und unterhielten sich von ernsthaften Dingen; Hildegard, Lockmann und der Pater standen am Fenster, und sprachen lebhaft Italiänisch über Musik mit so geläufiger Zunge, daß man es in dem Kaffeehause zu Monte Citorio in Rom, wo gewöhnlich eine auserlesene Gesellschaft Advokaten es am besten in ganz Italien spricht, nicht reiner und schöner hätte hören können. Die Elsasserin blickte und bewegte sich immer nach ihnen.

Hildegard schlug endlich der Mutter einen Spaziergang durch das schöne Thal vor, und beyde kamen überein, daß sie den Wagen an das Wirthshaus vorfahren lassen, und dort einsteigen wollten, um wieder zurück zu kehren.

Der Zug ging alsdann die Treppe hinab; Lockmann wurde von Hildegarden am Arme gefaßt. Als sie unten waren, hatte er sein schönes Rohr vergessen; er flog zurück, um es auf dem Wege zu haben, und traf im Zimmer die blühende Elsasserin allein, welche am Fenster stand, ihnen traurig nachzusehen. Die zwey andern [100] jungen Nonnen waren schon durch Seitenthüren wieder bey ihren Gespielinnen, um diesen den Abzug anzuzeigen, und alles zu erzählen. Als Lockmann die Thür aufriß und hineinsprang, drehte sie sich um. Wie konnt' er der vollen Gewalt der Natur widerstehn? ein Kuß auf ihre süßen zarten Lippen: o es war erquickendes Labsal für den Brand, den Hildegard in ihm erregte! und noch ein Kuß, wo er ihre schmachtende Unterlippe an seine feuchte Zunge schlürfte: Zähren glänzten über das Wonnelicht ihrer Augen, und die jungen Brüste wallten hoch in sein Wesen. Der zweyte Kuß hielt an; er mußte fort. Den dritten gab das reizende Mädchen, als Nonne, die nicht lange spröde thun und sich verbergen darf, ihm selbst, glühte über und über, und sagte dann: »Ach, ich Unglückliche!« und so schieden sie von einander.

Er stolperte die Treppe hinunter. Hildegard wartete auf ihn; sie bemerkte wohl an seinem verirrten Blick und an den röthern Lippen, daß etwas vorgefallen seyn mochte; ließ sich aber klug nichts merken, und verfügte sich mit ihm zu der Gesellschaft.

Lockmann fing wieder an zu denken: du hast mit einem seligen Augenblick die Langeweile ihres Zustandes beseelt; was ist es weiter! Hildegard ging neben ihm, wie die stolzeste Zierde der Schöpfung. Die Nonne, und der fatale Kreis, wohinein sie gebannt war, verschwand nach und nach; wie erfrischt und gestärkt, ward er lebendiger, fröhlicher und heitrer.

Vor dem Wirthshause und im großen Saal desselben mit ausgehobnen Fenstern machten sich seine Leute, Mädchen und Weiber, und das junge Landvolk lustig, und tanzten bey fürstlicher Musik von Klarinetten, Hörnern und Fagotten, wozu zuweilen die Trompeten in Wald und Gebirge schmetterten. Er wollte mit Feyerabenden [101] zu Fuß nach Hause, um sie nicht zu stören: aber Hildegard gestattete es nicht; der Wagen war geräumig, und Platz genug, daß die drey Herren beysammen sitzen konnten.

Man dankte, nahm Abschied, stieg ein; die Aebtissin empfahl zuletzt sich und ihre Kirche noch einmal dem schönen, jungen, wohlgebauten Lockmann. Der Wagen rollte fort, daß der Staub flog; und Kloster, Thal und Wald und Gebirge blieben zurück.

Die Mutter verlangte nun noch einmal die Dose zu sehen; sie rühmte das Gemählde. Nach ihr nahm sieHildegard in die Hand; und bemerkte: »Die Heilige und Paulus sind die zwey besten Figuren, voll tiefer schöner Empfindung im Ganzen, in Stellung und Geberde. Sie ist verzückt in himmlische Melodien; Paulus mit etwas mehr Gedanke. Aber alle Gestalten sind nicht so edel und schön, als man sie von dem Meister aller Meister erwarten sollte. Cäcilia und Johannes haben ganz gemeine Gesichter; nur der Ausdruck erhebt sie über das Gewöhnliche. Vermuthlich ist dieß jedoch Schuld des Kopisten.«

Lockmann versetzte: »Selbst zu Bologna ist es keins von seinen besten Gemählden; Ihre Bemerkungen würden vielleicht auch dort gegründet seyn. Aber die Empfindung des Göttlichen macht alles von ihm anziehend.«

Dann erhielt Feyerabend die Dose, und sagte: »Wenn es ein andrer gemahlt hätte, so würd' es nicht so berühmt seyn. Selbst für Raphael mag das Vorurtheil zuweilen nicht wenig thun.«

Er schöpfte frische Luft, gab die Dose zurück, und sagte: »Aber wie es Menschen, vernünftige Geschöpfe geben kann, die im Ernst an wunderthätige Marienbilder glauben, das fällt mir hart auf.«

»Warum nicht? antwortete Lockmann, nachdem er um sich her [102] gesehen und überlegt hatte; sie durften nur erst an die Mutter Gottes selbst glauben, das andre war leicht. Da die mahlerischen Phantasien so selten sind, selbst bey den Mahlern, und sie ihre Gestalt im leeren Luftraum sich nicht vorstellen konnten: so sahen sie sich bald das Bild lebendig, und endlich völlig verkörpert. Unerwartetes Glück, unverhofte Befreyung von Uebeln, Krankheiten, weßwegen sie zu ihr unter dieser Gestalt flehten, da sie keine andre hatten, alle günstige Zufälle, wovon sie die Ursachen nicht erkannten, wurden dann, zuverlässig kindisch, aber doch wahr und aufrichtig, und wenn Sie wollen, Griechisch, dem Bilde selbst zugeschrieben. Alte und erwachsene Kinder sahen es wohl noch die Augen bewegen; vielleicht den Kopf gar, durch klösterliche Betrügereyen, denen doch solche Erfahrungen, auf die man sich verließ, vorhergehen mußten.«

»Der gewöhnliche Mensch kann sich überhaupt kein Wesen, sey es noch so mächtig, als Sonne, Luft und Elemente, anders vernünftig und verständig und hülfreich auf Bitten in der Noth vorstellen, als unter seinem Bilde. Selbst die größten Philosophen sehen alles in der Natur als nothwendige Erscheinungen an, und die Thoren verzweifeln endlich an ihrem eignen freyen Willen.«

Feyerabend erwiederte: »Vielleicht mehr werth, als der ganze dicke Atlas Marianus; aber gerade die klösterlichen Betrügereyen, um goldne und silberne Opfer zu gewinnen, sollte man nicht gestatten. Die Religion soll nicht allein glücklich, sondern den Menschen auch besser und rechtschaffener machen; und nicht auf der einen Seite fetten Müßiggang, und auf der andern magern und armen Fleiß ins Land bringen.«

Hildegard suchte das Grelle des Hofmeisters zu mildern, und sagte: »Man darf überall nie zu streng seyn. Auch die guten Künste der [103] Einbildungskraft leben auf Kosten der Stärke. Wenn das Unkraut nur nicht zu häufig unter dem Weizen ist! mit allzu genauem Ausjäten zertritt und verderbt man endlich selbst die Saat. Da so viele Mädchen an keinen Mann kommen können: warum wollte man zwanzig oder dreyßig alten Jungfern ein wenig Feinheit übel nehmen, die sie sich erlauben, eine bequeme Pflegestätte zu haben? Und dann unterstützen sie wieder die Armen und Kranken; und ihre Ceremonien sind ein erfreuliches Schauspiel für das Volk.«

Ihr Bruder stand nun seinem Feyerabend bey: »O ja, die Klöster sind gar etwas Erbauliches. Wenn es auf die Damen ankäme: so hätten wir ihrer noch einmal so viel. Inzwischen als gemeinschaftliche Hülfsquellen, und nicht zu zahlreich besetzt, könnte man immer ein Paar auf einige Meilen in der Runde dulden.«

Lockmann saß Hildegarden gegenüber, liebenswürdiger, als sie ihn noch gesehen hatte; obgleich ihre Augen in der Bekanntschaft den Worten weit voraus waren. Ein Geist der Liebe umleuchtete seine Locken, glänzte auf seinen Wangen, und röthete süß die Lippen. Sie betrachteten oft einander, und ihre Seelen unterhielten sich lebhaft im Stillschweigen. Nicht weit vom Hause warf ein Stoß des Wagens von einer Anhöhe herunter sie fast in seine Arme; ihre Knie berührten die seinigen, und ihre rechte Hand kam gerade flach mit dem zartesten Sinn des Gefühls auf seine gewölbte breite warme Brust. O, wie ihm das wohl that! O, wie auch ihr das wohl that! Aber sie war geschwind wieder auf ihrer Stelle. Man scherzte über den Zufall, kam an, und ging aus einander.

Daß Hildegard so fertig und gut Italiänisch sprach, war für Lockmannen die angenehmste Entdeckung, das unverhofte Glück, und das Liebste der ganzen Spazierfahrt. Die drey Küsse, recht schmackhaft, [104] frisch und voll, waren auch etwas werth, und er fühlte sich noch mit der blühenden Weiblichkeit verschlungen und verdoppelt; aber der Gedanke: Nonne! verdarb alles; und dann war es nur Schatten gegen Hildegarden, ein Husarenraub, geschwind erhascht, genossen und vergessen.

Er wählte noch denselben Abend Musik für sie aus, um sie in allerley Gestalten erscheinen zu sehen, und verlangte sehnlichst, sie von ihr zu hören. Um ungestörte Muße zu bekommen, wandt' er die folgenden Morgen zu Proben an für die nächsten Sonntage und Feste; und vertheilte das Geschenk der Aebtissin. Eine prächtige Messe im hohen Styl von Piccini, welche dieser jüngst für die Spanische Kirche zu Rom gesetzt, als man ihn zum Kapellmeister daran ernannt hatte, mit der Freyheit abwesend bleiben zu dürfen, und der bloßen Pflicht, nur zuweilen dafür zu schreiben, war das Schwerste und Schönste.

Den andern Tag nach der Klosterfeyerlichkeit traf ihn wieder im Schloßgarten der Fürst mit Hildegarden, Mutter und Bruder, der Frau von Lupfen und ihrem Gemahl, welche am Hofe gespeist hatten, und, nach einer Spazierfahrt, nun zu Fuß durch den Garten wieder zurückkehrten. Die Rede kam gleich auf die beste Einrichtung eines wöchentlichen Konzerts, welches allezeit Mittwochs sollte gehalten werden; und der Fürst befragte Lockmannen um seine Meinung.

Der Inhalt ihres Gesprächs war ungefähr folgender.


»Konzert


ist eine musikalische Versammlung, Akademie; nach der ursprünglichen Bedeutung des Worts, ein Wettstreit, Concertatio, Certamen. In der neuern Bedeutung kommt das Wort aus dem Französischen, [105] und heißt so viel, als musikalische Probe; Tonkünstler kommen zusammen, verabreden sich, und probiren die größern Musiken, bevor sie dieselben vor dem Volke aufführen. Jetzt ist die ursprüngliche und neuere Bedeutung zugleich in dem Worte. Man fand die Proben so angenehm und bequem, daß man sie selbst zu wirklichen Vorstellungen machte.«

»Jetzt ist ein Konzert ungefähr das, was bey den Griechen Rhapsodie war: ein einzelnes Stück, oder mehrere einzelne Stücke, aus einem oder mehrern großen Ganzen, von Virtuosen und Liebhabern vorgetragen.«

»In Paris und London sind sie zuweilen ein förmlicher Wettstreit, ein Olympisches musikalisches Spiel, wo die berühmtesten Sänger und Sängerinnen und Virtuosen aus allen Ländern von Europa zusammentreffen. Man sieht dabey weiter gar nicht auf ein Ganzes, sondern nur auf angenehme Abwechslung und schickliche Eintheilung für den bestimmten Zeitraum.«

»In kleinern Städten und an Höfen ist es eine wöchentliche Zusammenkunft, wo eine Gesellschaft sich unterreden will, und die leeren Augenblicke mit Musik ausfüllt; oder das stumme Spiel der Karten mit Musik begleiten läßt, und dadurch die öde Stille wegbringt.«

»Man könnte sie auf mancherley Art zu wahren Schulen der Musik machen.«

»1. Mit einem Theil der Einkünfte die größten Meisterstücke der Musik aller Zeiten und Gegenden, die noch übrig sind, da sammeln, aufbewahren, und nach einander studiren, aufführen, und mit einander vergleichen. Dieß wäre unstreitig der allerhöchste Zweck, den man dabey sich vorsetzen könnte. Die Geister der großen Erfinder [106] in der Musik kämpften hier mit einander; und man hätte den Genius verschiedener Zeiten und Völker am sinnlichsten vor Ohr und Seele. Um diesen Zweck vollkommen zu erreichen, gehören freylich Städte dazu wie London, Paris, Neapel, Wien, Berlin; und Unterstützung von Königen, Fürsten, und reichen Liebhabern.«

»Wenn man inzwischen nur einmal den Anfang damit machte! Man brauchte nicht ganze große Komposizionen aufzuführen, sondern nähme nur die schönsten und bedeutungsvollsten Stücke daraus. Künstler und Kenner könnten nachher die Partituren für sich besser studiren. Man brauchte anfangs auch nicht bis zu den Griechen und Chinesen zurückzukehren und auszuschweifen; sondern nähme nur die Hauptsachen von Palestrina an bis auf unsre Zeiten.«

»Durch starke Kontraste würde das Vergnügen sehr erhöht werden. Zum Beyspiel nach einander ein Stück von Durante oder Vinci; und darauf eins von Paesiello oder Cimarosa; eins von dem berühmten Kapellmeister Karls des Sechsten Fux: und darauf eins von Gluck oder Naumann

»Ein Konzert, auf diese Art mit Geschmack eingerichtet, würde bald alle mittelmäßige theure Opern zu Schanden machen. Das nämliche verstände sich auch von Instrumentalmusik. Die Virtuosen müßten sich in den Genius der Zeit so viel wie möglich einstudiren, wenigstens anfangs von Corelli und Vivaldi an, und Tartini, bis zu unserm Ariost Haydn. Die Kunst der Musik würde dadurch nach und nach mehr Tiefe in der Geschichte der Menschheit gewinnen.«

»2. Was noch geschieht, aber mehr von ungefähr, als aus Zweck: alle Anfänger da prüfen durch das Publikum; und leicht die Stimmen sammeln, ob sie fortfahren sollen in dieser Kunst, unterstützt [107] zu werden verdienen, oder nicht; und ihnen guten Rath ertheilen, so wohl was Komposizion, als Ausübung betrift.«

»3. Nachrichten einsammeln von neuen Werken und Virtuosen in den verschiednen Städten Deutschlands und andrer Länder durch musikalische Korrespondenzen.«

»4. Sich unterreden, wie Kirchen-, Theater- und andre Musik in einen bessern Zustand zu versetzen sey.«

»5. Die berühmtesten Sänger, Sängerinnen und Virtuosen auf ihren Reisen da hören, ihr Vortrefliches und ihre Eigenheiten prüfen.«

»Um diese und mehrere Zwecke zu erreichen, müßten Kenner und in der Geschichte der Musik Erfahrne an der Spitze stehen, regieren und leiten.«

»Die angenehmsten Konzerte heutiges Tags sind solche, wie sie die Italiäner haben. In ihren häufigen Opern jedes Jahrs werden gewöhnlich nur einige Scenen vorzüglich gut ausgearbeitet; und diese aus verschiednen Städten führen sie darin nach einander auf. Ihre Konzerte sind also gleichsam die Ernte von jedem Jahre. Und so geht es noch mit der Instrumentalmusik.«

»Unsre gewöhnlichen Konzerte erfordern nothwendig wenigstens diese Verbesserung, daß man bey den Scenen und Arien, welche da in fremden Sprachen gesungen werden, die Worte übersetze, und das Ganze angebe, worin sie sich befinden; denn sonst ist ein bloßes Gurgeln und Trillern, mit Lärm von Instrumenten, wobey die mehrsten schlechterdings nicht wissen, was sie denken und empfinden sollen.«

Der Fürst endigte die Unterredung, indem er sagte: »Ritterliche Wettstreite werden wir an unserm Hofe halten, wenn sich Gegner für [108] solche Bradamanten und Marfisen finden sollten; und die andern guten Ideen zur Ausführung zu bringen, wird nicht wenig von dem treflichen Meister abhangen, der sie uns mittheilte. Aufmerksame Zuhörer, wahrscheinlich; einen eifrigen Befördrer hat er gewiß.«

Hildegard gewann immer mehr des Fürsten Gunst; wenn er sie einmahl bey sich hatte, konnte sie so leicht nicht wegkommen. Sie betrug sich mit gehörigem Anstand gegen Lockmann, und sprach weniger mit ihm, als das erste mal, doch immer gefällig. Statt ihrer aber gesellte sich besonders die Frau vonLupfen zu ihm, welche ihn mit ihrem Gemahl bekannt machte. Diesem mußte er Duetten für Waldhörner versprechen; wofür er freye Jagd und ein vortrefliches Gewehr dazu bekommen sollte.

Montags gleich nach dem Frühstück war Lockmann bey Hildegarden. Sie empfing ihn wieder bey ihrer Mutter. Er brachte eine Oper mit sich, die er für eine der besten unter allen Italiänischen hielt: die Armida von Jomelli. Er fing an.

»Die Kirchenmusik ist viel allgemeiner, als die Musik der Oper, welche weit mehr ein Werk des Genies ist, und einzelne Menschen und deren Leidenschaften darstellen soll.«

»Darstellen überhaupt heißt Merkmale von etwas geben, wodurch es der Seele gegenwärtig wird.«

»Jeder, der sich Kenntnisse sammeln und andern mittheilen will, muß diese Kunst besitzen; und alle Wissenschaften und andre Künste beruhen auf ihr. Sie ist die erste und unentbehrlichste von allen. Die andern sind gleichsam nur ihre Kinder, und theilen sich in ihren Reichthum, ihr Vermögen.«

»Die Bildhauerkunst hat die Form zum Erbtheil erhalten; die [109] Mahlerey die Farbe; die Tanzkunst, im weitläuftigen Verstande genommen, die Bewegung am Menschen; die Musik den Ton; die Poesie die Sprache; deren Vasallen sind Beredtsamkeit, Geschichte, und alle Wissenschaften, die durch die Sprache mitgetheilt werden. Mathematik, die durch den bloßen Raum darstellt, hat das weiteste Reich.«

»Wenn sich aber auch die Kunst der Darstellung mit ihrer ganzen Familie vereinigt: so kann sie doch die Wirklichkeit nicht ganz geben; es wäre gegen den Satz des Widerspruchs und des nicht zu Unterscheidenden. Dieß soll sie auch nicht. Alle Kunst der Darstellung geht immer auf den bestimmten Zweck, das besondre Wesen einer Sache und ihr Bild tief in die Seele zu prägen, zu deren Nutzen und Vergnügen. Ob sie gleich die Wirklichkeit nicht ganz giebt: so giebt sie doch das Brauchbare davon, das Gediegne für den Menschen herausgehoben, von allen Schlacken gereinigt; und ergreift mehr, als die Wirklichkeit selbst, weil sie alles Zerstreuende davon entfernt, und die Merkmale jeder Art in einen Brennpunkt bringt.«

»Die Darstellungskunst kann sich mit dem größten Theil ihrer Familie am mehrsten im Schauspiel vereinigen. In ihrer höchsten Vortreflichkeit wird sie sich aber da vielleicht so selten zeigen, als Sonne, Mond, Merkur und Venus, Mars, Jupiter, Saturnus und Uranus am Himmel um die Erde in einem harmonischen und lieblichen Kranze auf einer Stelle zusammenkommen. Ein Sophokles, ein Gluck, ein Tizian, die Gabrieli, Marchesi, Pugnani, dieNoverre, die Vestris stehen in Zeit und Ort immer weit von einander.«

»Die besten Merkmale sind diejenigen, welche den besondern Charakter einer Sache bezeichnen; denn eben dadurch wird sie der Seele [110] am gegenwärtigsten. Wer täuschen will, muß diese treffen; und derjenige trägt den Preis davon, der sie am besten trift.«

»Homer hat die höchsten Muster persönlicher Tapferkeit mit allen Schattirungen aufgestellt; und ist deßwegen als Heldendichter der erste. Achill, Ajax, Diomed, Odüsseus, bleiben noch unübertroffen. Ein Dichter, welcher einen Alexander, Hannibal, Cäsar darstellte, einenTromp und Ruyter, Türenne, Friederich, meisterhaft das Unterscheidende träfe, wodurch sie sich von andern Heerführern auszeichneten, würde gewiß einen höhern Rang einnehmen; aber dazu gehört so viel Leben und Erfahrung, daß es noch keiner gethan hat. Sie lassen sich eben nicht so sinnlich darstellen, als ein Achill. Wie leicht und ergreifend fängt die Iliade an, die Sie in der Uebersetzung von Pope gelesen haben werden, mit einem Wortwechsel! und wie schmachtet alles auf die Wiederversöhnung, wie dürres zerrißnes Land auf einen Sommerregen!«

»Das höchste aller Kunst besteht in dem von allem andern Unterscheidenden, Individuellen, Täuschenden; nicht gerad' in der Vollkommenheit der Formen, Farben, Töne, Worte, Harmonie und Schönheit derselben. Deßwegen sagt man von den Figuren, welche bloß fleißige Künstler den Antiken nachmachen: es ist keine Seele darin; das ist: es ist nichts darin, was das Ganze zusammenhält und individuell lebendig macht. Die Formen können schön, proporzionirt; die Farben, Licht und Schatten harmonisch, kurz, alles nach der Regel treflich seyn: und stellt doch nichts dar, und täuscht nicht.«

»Was einer darstellen will, muß er erst in Natur recht gefaßt haben. Welch ein sichrer scharfer Blick, welche feste geübte Hand gehört nicht dazu, eh einer nur den Umriß von der geringsten Sache rein aufnimmt!«

[111] »Die Griechische Kunst war weit reicher, als die unsrige, an individuellen Formen. Die alten Griechen und Römer stellten die alten Griechen und Römer am besten dar. Wir Neuern haben die vollkommne Natur aller Art nicht so beysammen; deßwegen sollten unsre Künstler herumreisen, das Vortrefliche studiren und aufnehmen.«

»Um das Unterscheidende zu treffen, muß man erst das Allgemeine der Klasse kennen; und folglich viel Individuelles. Deßwegen setzt ein Meisterstück die Schönheit, Vollkommenheit des Allgemeinen schon voraus. Die feinen Abweichungen sind am schwersten aufzufassen. Wie ist der Charakter der Aspasia von dem der Phryne unterschieden? wie von jedem schönen Weibe? Wer dieß in einem Hauptzuge, oder in wenigen angiebt, der ist für den Mann von Verstand und Kenner der Meister; durch die neue Idee, wie auf einen hohen Berggipfel hingezaubert, übersieht dieser nachher selbst alles. Solche Züge, aus der edeln Natur gleichsam hervorgeblüht, sind hernach Brillanten und Sterne in jedem Kunstwerk.«

»Homer läßt die Helden ihr Leben erzählen. Dieß ist freylich am wirksamsten; nur muß man das Langweilige vermeiden.«

»Porträte, vortrefliche, von berühmten Personen, besonders die man aus ihren eignen Worten kennt, sind wahre Schätze für den Künstler. Die Charakter großer Menschen von treflichen Geschichtschreibern sind Schätze für den Dichter.«

»Was stellt die Musik dar«

»Masse, und zugleich Bewegung derselben, durch Töne; das reine, von allem abgesonderte, Leben in der Natur und im Menschen.«

»Ton ist die sinnlichste Darstellung der Seele, und gleichsam das [112] wahrste Bild ihres reinen sich in sich selbst regenden Wesens. Veränderung desselben, Melodie, Harmonie, Disharmonie zeigt ihr Leben.«

»So wie die Seelen, sie mögen bestehen, woraus man will, an und für sich selbst in ihrem Wesen verschieden sind: so sind es auch die Töne nach Art der Massen und der Gefäße, die sie hervorbringen, und worin sie hervorgebracht werden.«

»Jeder, der nur einigermaaßen ein gutes Gehör hat, wird im Dunkeln seine Bekannten und Freunde auch am bloßen Ton der Stimme kennen, und von einander unterscheiden. Im Ton der Stimme liegt etwas Charakteristisches, was die besondre Art der Nerven anzeigt, woraus ein Mensch besteht. Für einen Blindgebornen ist er die sinnliche Schönheit. Eine quikende, grelle, heisere, schreyende Stimme benimmt einerHelena, einem Paris an Gestalt den Reiz. Ein erfahrnes zartes Ohr ist eben so gut physiognomischer Sinn, als ein erfahrnes scharfes Auge.«

»Die mehrsten Instrumente sind Nachahmungen vom Ton der Menschenstimme; erreichen sie aber an Mannigfaltigkeit bey weitem noch nicht, geschweige an lebendigem Vortrage.«

»Die verschiedne Art des Tons allein verändert schon den Ausdruck eines und eben desselben Zweyklanges. Die große Terz zum Beyspiel in stiller Nacht auf einer Laute in Andalusien vor dem Schlafzimmer einer holden Jungfrau geklimpert; und die große Terz in stiller Nacht von einer Trompete an die Felsen eines Lagers vor dem Feinde geschmettert: welch ein Unterschied!«

»Durch die Klaviere besonders scheinen wir in der neuern Musik das Gefühl für Mannigfaltigkeit von Ton gestümpft zu haben; und doch giebt es einen Unterschied zwischen einem und demselben, sogar [113] schönem und reinem, wie zwischen Wasser und Kapwein. Das meiste bey unsrer Musik besteht endlich bloß in einer Abwechslung von Konsonanzen und Dissonanzen.«

»Die erste Eigenschaft eines Komponisten muß immer seyn, daß er ein äußerst seines und zartes Gehör für Ton hat, für die Harmonie und Disharmonie, den besondern Charakter von verschiednem Einklang. Dann kommen erst die Konsonanzen und Dissonanzen; dann deren Zusammensetzung und Abwechslung zu einem Ganzen, klein und groß. Darauf kommt es an, daß jede Art von Ton ist, wo es die Natur, Empfindung und Leidenschaft erfordert.«

»Dieselbe Oper von einer andern Gesellschaft vorgestellt, ist nicht mehr dieselbe. Deßwegen hat man in einem so musikalischen Lande wie Italien eingeführt, daß Dichter und Komponisten für bestimmte Sänger und Sängerinnen schreiben.«

»Warum machen zwey gleich vortrefliche Meister, oder mehrere, zu denselben Worten verschiedne Musik, auch wenn die Worte die bestimmteste Leidenschaft enthalten?«

»Man darf nicht mehr von der Kunst verlangen, als sie leisten kann. Zwey gleich vortrefliche Bildhauer können, ohne von einander etwas zu wissen, von derselben Person dasselbe Porträt machen. Nicht so wohl zwey gleich vortrefliche Mahler; die bloße Form, die jene nachbilden, bleibt ganz dieselbe: bey diesen wechselt schon Kolorit, Wendung und Stellung in Licht und Schatten.«

»Nun nehmen wir zwey gleich vortrefliche Tonkünstler, zum Beyspiel Sarti und Paesiello. Diese sollen das Leidenschaftlichste, was eine große Monarchin, die sie beyde persönlich kennen, bey der wichtigsten Begebenheit ihres Lebens sagte, in Melodie und Harmonie bringen. Wie weit werden diese am Individuellen [114] von der Bildhauerkunst abstehen, und von einander selbst abweichen!«

»Wenn sie ein Drama von dieser großen Begebenheit zu Neapel aufführen sollten, was vermöchten sie vom Individuellen oder Eigenthümlichen, dem wahren Charakter und dem ächten Ausdruck der Leidenschaft darzustellen?«

»Das Sinnlichste und Täuschendste unter allem ist: sie suchen


1. eine Sängerin aus, die der Monarchin an Gestalt und damaligem Alter gleicht;

2. hauptsächlich denselben Ton der Stimme hat. Was aber

3. Melodie und Harmonie betrift: diese müssen sie aus ihrem eignen Gefühl schöpfen; denn sie hat bloß gesprochen und nicht gesungen. Die Erhöhung und Erniedrigung der Stimme, den Accent können sie bezeichnen, höchstens! das ist alles. Uebrigens ahmt die Sängerin

4. noch ihr Mienen- und Geberdenspiel nach.«


»Also bleibt der Ton der Stimme, deren Umfang und Geschmeidigkeit, das Wesentlichste vom Individuellen, was ein Tonkünstler nachzuahmen hat. Deren Charakter muß durch das ganze Drama herrschen; süß für die Edeln, heroisch für die Kriegsschaaren, nie furchtsam und verworfen.«

»Menschen von vieler Biegsamkeit, Geschmeidigkeit haben auch einen weiten Umfang von Stimme; wenigstens muß man dieß in der Kunst annehmen. Einem so rauhen Charakter wie Cato war, kann man nur einen geringen Umfang von Tönen geben;Piccini, der ihn wie einen Kastraten gurgeln läßt, hat ihn ganz verfehlt. Eben so verfehlte Sarti den Kaiser Titus im Giulio Sabino.«

[115] »Die begleitenden Instrumente müssen alle zum Charakter der Stimme und des Ausdrucks passen.«

»Gewaltige Leidenschaften treiben die Stimme aus einander. Wenn sie bey einer Armida, Sophonisbe, einem jungen Achill, Orest, den Umfang von drittehalb Oktaven haben kann: so doch nicht bey einem Themistokles, der sein Innres mehr in Gewalt haben soll; und bey Personen in ruhigem Zustande.«

»Ferner hat der Tonkünstler zur Bezeichnung des Charakters das Konvenzionelle unsers musikalischen Systems, welches jedoch auf Natur gegründet ist. Männer, durch ihren Stand erhaben, bezeichnet treflich Es dur; Weiber und deren süße Leidenschaften E dur, A dur. Und so die Molltöne bey Traurigkeit und Leiden nach eben dieser Stufe.«

»Das Leben der Tonkunst ist übrigens so sinnlich, daß zwey vortrefliche Komponisten voll Gefühl leicht dieselben Konsonanzen und Dissonanzen in Melodie und Harmonie treffen könnten, wenn sie auf den wahren Ausdruck arbeiten wollten. Aber bey keiner andern Kunst herrscht so stark die Sucht, neu zu seyn und zu überraschen durch fremde Melodie und Harmonie.«

»In der Melodie ist jedoch weit mehr Willkürliches und Augenblickliches als in der Harmonie.«

»Und dann denkt sich der Dichter sowohl, als der Tonkünstler eine Dido, einen Alexander jeder nach seinem Fassungsvermögen und seiner Erfahrung; so wie manche Gans von Schauspielerin eine Elisabeth, eine Roxelane macht. Und die Zuschauer und Zuhörer haben eben so wenig ein ächtes Bild davon in der Seele.«

»Die meisten Tonkünstler suchen also überhaupt etwas Angenehmes für das Ohr, und Rührendes für das Herz zu machen; und, wenn [116] zwölf Musiken auf denselben Text gemacht worden sind, die dreyzehnte verschiedne neue, sie mag dazu passen oder nicht. Sänger und Sängerinnen wagen auf die Unwissenheit des Publikums endlich gar so viel, daß sie andre Scenen von ganz anderm Inhalt und Charakter, die sie fertig singen können, in Opern und Operetten einflicken. Ein so ganz bloßes Ohrenspiel ist die Musik für den großen Haufen.«

»Da die Auswahl der Stimme nach Ton und Umfang so äußerst selten in des Komponisten Gewalt steht: so fällt das Hauptindividuelle von selbst weg. Derselbe Sänger, und dieselbe Sängerin stellen mehrere Personen von dem verschiedensten Charakter vor. Der Dichter muß alles thun; und der Komponist trachtet bloß nach schöner Melodie und Harmonie, und schweift aus nach Belieben, wie bey Instrumentalmusik. Leere Bewunderung ist alles, was er verlangt.«

»Pergolesi drückt in seinem Se cerca, se dice die reinste gefühlvollste Natur aus, und entzückt die Kenner. Ein andrer zieht mit einem Pomp von Instrumenten, und einem Schwall von Harmonie und Disharmonie auf, die nichts sagt, und bezaubert den Janhagel. Der Schwarm mittelmäßiger Komponisten richtet sich nach dem letztern, und nicht nach dem ersten; und die vortreflichen Meister endlich selbst nach dem großen Haufen. Und so stehen denn die Komposizionen nach denselben Texten himmelweit von einander; die Musik zu einer Oper von Metastasio könnte man zu allen seinen andern brauchen, wenn man nur das Sylbenmaaß darnach veränderte; so wenig Charakter und eignen bestimmten Ausdruck hat die heute gewöhnliche Musik.«

»Das Klassische gleicht einem Wald von hohen Stämmen; es faßt [117] nur mit der Zeit tiefe Wurzel, und strebt hoch in die Lüfte. Homer, Sophokles, und Euripides wurden durch die Zeit bewährt;so Horaz und Virgil; so Petrarca, Ariost, und Tasso; Raphael, Tizian und Correggio; so Corneille, Racine und Moliere. Und so hat es die Zeit schon an Allegri, Leo, Händel und Jomelli gethan; und so wird sie es bald thun mit Traetta, Majo, Gluck und andern. Neid und Kabale, seichtes Gefühl und schwache Einbildungskraft, obgleich zuweilen bey guter Theorie, welche mittelmäßige Werke ausposaunen, und vortrefliche lästern; kindische Liebhabereyen des rohen gemißleiteten Pöbels müssen endlich vor dem Urtheil der Kenner und der großen dauernden Wirkung verstummen. Das Klassische, wenn es keine teufelische Zerstörung angreift, hält sich mit der Zeit selbst fest. Verstand und Klugheit aber ist es, der Zeit zu Hülfe zu kommen, und dessen Wirkungen zu vervielfältigen. Man sollte die entschiednen großen Meisterstücke wenigstens jährlich einmal wieder in die Seelen bringen; aber nicht verhunzt sondern vortreflich. Bey den Kirchenmusiken geschieht es mit einigen; bey den Opern noch nicht. Das Brodstudium der lebenden Komponisten wird es aber nicht lange mehr hindern.«

Hildegard antwortete: »Es ist eine wahre Lust für mich, solche Unterredungen zu hören, und darüber nachzudenken. Ein verzweifelter Streich aber wär' es, wenn die Monarchin, von der Sie sprachen, keine gute Stimme hätte!«

Lockmann versetzte: »Nach aller Ohrenphysiognomik muß sie eine haben, oder sie könnte die große Frau, das Wunder ihres Jahrhunderts nicht seyn.«

Hildegard erwiederte: »Wie aber, wenn sie nur die Sprachorgane, und nicht die Singorgane ausgebildet hätte?«

[118] Lockmann sagte lachend darauf: »Nun, so muß man sie bey dem lyrischen Drama für passend und ausgebildet annehmen; es bleibt nichts anders übrig.«

Hildegard hohlte alsdann ihren Bruder undFeyerabenden herbey, für die Bratsche und Geige; und es ging nach dem Musiksaal.

Sie kannte schon die schönsten Scenen dieser Armida, und hatte sie zu London mehr als einmal gesungen.

Er sagte darüber noch Folgendes.

»Die Armida abbandonata von Jomelli ist die schönste Rhapsodie aus dem befreyten Jerusalem desTasso, und macht ein großes reiches Ganze für die lyrische Bühne. Es gleicht einem Gewitter in schönen Frühlingstagen, das mit fürchterlichen Blitzen und Wetterschlägen schnell vorüber rollt.«

»Um eine volle Oper zu machen, hat der Dichter noch einige andre Personen aus dem großen Gedicht in diese Episode hineingezogen, den Widerstand gegen die Armida durch den Tankred verstärkt, und mit dem bezauberten Walde pittoresk beschlossen.«

»Das Wesen, der Hauptcharakter derselben ist die Leidenschaft der Liebe mit ihren Leiden und Freuden in dem Herzen einer gewaltigen jungen Zauberin, durch die treffendsten Seelenklänge dargestellt und ausgedrückt; Eifersucht, Genuß, und Friede, Verlassung und Verzweiflung, Zorn und Rache, mit dem höchsten Reiz und brennendsten Feuer; und diese Oper mag wohl unter dem Klassischen über diese Leidenschaft den ersten Rang behaupten. Es ist wenig Pracht und Pomp darin, aber Melodie, Rhythmus, und Begleitung, die so rein und scharf und schön und sicher die Gefühle darstellt, wie die Kunst des Praxiteles oder eines Apelles die Formen und Gestalten auserwählter Menschen.«

[119] »Der ganze erste Akt ist nur Vorspiel und Einleitung, bis auf das göttliche Duett am Ende, wo die volle Gluth der Liebe in den reinsten Himmelsmelodieen und Harmonieen die Herzen in Entzücken schmelzt. Rinald wird vorher reizend mit tanzenden Mädchen aufgeführt in Eifersucht unter der Anführung einer schönen Ciacconne.«

»Ueberhaupt sind Rinald und Armida zwey ächt lyrische Personen, immer in Leidenschaft, und nie in Ruhe. Die erste Arie des Rinaldo, und die erste der Armida sind fast nur zur Bravour, um ihre Kehlen in Bewegung zu setzen. Besser wär' es gewesen, wenn sie gleich ins Ganze gegriffen hätten. Das Duett samt dem Recitativ gehört unter die schönen der Italiänischen Musik; die edelste und süßeste Melodie, die reizendste Begleitung, und Abwechslung in den Stimmen; und vortreflicher Ausdruck durchaus.«

»Der zweyte Akt ist der Kern vom Ganzen. Nach meinem Gefühl gehört er unter das allerhöchste der Musik.«

»Schon geht das Heitersüße in Bangigkeit über, und es entsteht Kampf, der noch einmal sich selig auflöst in der wahrhaft zärtlichen Arie des Rinaldo Caro mio Ben, mia Vita, deh! non turbar que' rai 10

»Nun kommt die Ahndung der schrecklichen Katastrophe bey der Armida in dem meisterlichen Recitativ mit Begleitung Misera me! und der kummervollen Arie Ah, ti sento mio povero core 11! Alles ist so recht ausgearbeitet, immer in neuer Melodie und Harmonie! nach dem Texte, nichts von Schlendrian.«

[120] »Die Arien des Ubald und Tankred dienen zur Abwechslung, und sind voll harmonischer Künste.«

»Endlich rückt die große Katastrophe heran, bey der Scene, wo Armida zu Rinalden sagt: dove corri o Rinaldo? Wie vortreflich alles declamirt ist! Griechischer Rhythmus. Und nun kommt das Tragische, wo Rinald von Instrumenten begleitet spricht: Jo gia ti lascio, gia ti lascio Armida; alles lauter innigst gefühlte Seelenaccente tiefer Zärtlichkeit.«

»Die heftigen Ausbrüche von Armidens Leidenschaft darauf gehören unter das erhabenste Lyrische der Musik; und ich kenne wenig, das sich ihm an die Seite stellen kann, recht hell und heftig brennendes Feuer; wahr klassisch, keine Note zu viel und zu wenig.«

Vivi felice? – Indegno, perfido, traditore –

»Wenn man hier so fühlt, wie die Instrumente den Ausdruck verstärken, und wie mit Blitzen in die Seele brennen: so läßt sich an dem Vorzug der neuern Musik vor der Griechischen nicht mehr zweifeln. Welche Stellen: l'inferno tutto svolgero contro te! Vanne, vanne! ma pensa, che nudo spirto ed ombra m'avrai sempre seguace! 12 und wie ganz vollkommen sinnliche wahre Natur sichs schließt: Chiamarmi a nome, e sara tardi allora 13. Göttliche Darstellung durchaus.«

»Diese Scene mit der Arie Rinalds: Guarda chi lascio, guarda! ist der Triumph der Italiänischen Musik über alle andre. Man kann nicht mit mehr wahrer Leidenschaft, mit reinerer Keuschheit und zartem Gefühl von Harmonie und schönerm Kontur und [121] treflicherm Rhythmus in der Melodie, mit mehr Fülle von Leidenschaft, und Adel, Grazie im Ausdruck solche Worte und Situazion in Töne bringen. Deh, amato Bene, non partirò! – oh pene, oh barbaro dolore! ah mi si spezza il cor fra tanti affanni 14! Wie göttlich! welche Begleitung! Man fühlt so recht lebendig, wie der Meister die Sprache der Töne in seiner Gewalt hat.«

»Und eben so ist das Misera Armida der Verlaßnen der Triumph der Italiänischen Musik; klassisch durchaus mit dem Odio, furor, dispetto. Und das Udite, o Furie, udite! vi muova il mio tormento 15. Donnerkeil des Aischylos

»So wie das Folgende ein wahres ganzes tragisches Gewitter, lauter reine Stärke und Gewalt ohne Ueberladung. Il ciel s'oscura – bis auf or che farà lo sdegno? Wie pittoresk die Abfahrt der Armida durch die Luft!«

»Im dritten Akt ist die Scene vom bezauberten Wald die Hauptscene; der Uebergang über den Fluß pittoresk, Hörner und Hoboen begleiten wie Strom; die Zaubergegend lieblich; die Nymphen aus den Büschen naive Mädchenmusik; u.s.w.«

»Diese Oper rundet sich schön zu einem Ganzen. Die Hauptpersonen strahlen immer hervor, und die andern weichen zurück. Bey den wenigen Instrumenten ist doch die Einförmigkeit vermieden; sie sind aber auch meisterhaft gebraucht.«

Sie fingen gleich mit dem Duett an, und es ging vortreflich; Lockmann machte den Rinald.

Im zweyten Akt aber bey der großen Scene dünkte diesen, als ob er Hildegarden noch gar nicht gehört hätte. Sie konnte die Scene [122] auswendig, und spielte sie, als ob sie auf dem Theater wäre, mit einer Leichtigkeit, Freyheit, mit solcher Leidenschaft, so starkem Ausdruck, ganz die wollüstige verführerische junge reizende Zauberin in ihrem nachlässigen Morgenanzug, mit so neuen eignen überraschenden Läufen und Manieren, einer solchen Süßigkeit, Reinheit, Gewandtheit, Gewalt der göttlichen Stimme, wo die Töne wie Perlen groß und klein entzückend im reichsten erstaunlichen Umfang hervorrollten, daß er gar nicht mehr wußte, wo er war, ob in Neapel bey derGabrieli, oder in einem Zauberrevier bey derTodi; und beyde verschwanden bey Hildegards himmlischer Gestalt und vor ihren Reizen.

Kurz, so etwas hatte er noch gar nicht gehört. Er wußte nicht, wie er in Gegenwart der beyden andern seine Gefühle auslassen sollte; seine Brust schwoll, seine Wangen glühten, seine Augen brannten. »Was verliert die Welt, daß Sie nur uns in solchen Wonnestrudeln herumtreiben! welche Kehle, welcher Vortrag, welches wahre leidenschaftliche Spiel! und wie eine gebohrne Römerin die Sprache! welcher neue glänzende passende Reiz in den Verzierungen!« war ein Ausruf über den andern.

Ob es sie gleich inniglich freute, so lachte sie doch muthwillig darüber; und war überhaupt ausgelaßner in Abwesenheit der Mutter, als er sie noch gesehn hatte. Während der Action öfnete sich bey der heftigen Bewegung das Gewand: und beyde Brüste blickten hervor in herber jungfräulicher Ründlichkeit, zart und schwanenweiß. Die Fenster standen alle offen, ein Lüftchen blies herein, und verwehte das Haar, nur in einen Knoten gebunden, reizend darüber. Die wahre Armida, wie Tasso seine schönste Tochter schilderte! Der Bruder und Feyerabend waren auf die Noten erpicht, und [123] bemerkten es nicht;Lockmann aber war ganz lüsternes Auge, nur versteckte sie die Unschuldigen zu geschwind wieder.

Man wurde zu Tische gerufen; wie schnell verstrich die Zeit! Hildegard faßte ihn heiter und huldreich am Arm. Er sagte, mit kühnem Blick in ihre Seele: »Als Armida wird Ihnen keine Sängerin auf der Erde den Rang streitig machen; als solche können Sie auftreten, wo Sie wollen.«

Bey Tische sprach er nur wenig von ihr, rühmte aber desto mehr die Fertigkeit im Lesen, das gute Ohr, und den reinen Griff ihres Bruders, und auchFeyerabends.

Hohenthal antwortete: »Die Musik ist, als Liebhaberey betrachtet, mehr eine Sache für Frauenzimmer, als für Mannspersonen. Die Stimme der Melodie, oder der Sopran ist überhaupt das Vorzüglichste der ganzen Musik; und diesen haben natürlicher Weise die Frauenzimmer allein: denn von Kindern ist nicht die Rede. Wenn ein guter Kopf das Vortrefliche nicht haben kann: so giebt er sich mit dem Geringern weniger ab.«

Hildegard widersprach ihm hierin, und sagte: daß eine schöne Tenorstimme bey Männern dasselbe sey, was beym Frauenzimmer der Sopran.

»Gewiß nicht so ganz für das Ohr, erwiederte er, und das Tiefere darf und kann nicht die leichte Schnelligkeit haben. Doch darüber wollen wir nicht streiten. Ferner, und was das Wichtigste ist, müssen wir unsre Zeit zu andern Dingen anwenden; und vollkommen kann keiner in irgend einer Kunst werden, wenn er nicht seine ganze Zeit darauf verwendet. Also ist die Musik bey mir nur Erhohlung, Zeitvertreib, den ich aber unendlich höher schätze, als Kartenspiel und andre elende Beschäftigungen.«

[124] »Wenn einer leistet, was er vermag und im Stande ist, nicht heuchelt und schmeichelt, und sich nicht über seinen Grad von Vollkommenheit erhebt, und sollte er auch mittelmäßig seyn: den muß man schonen. Freylich kommt es einem schwer vor, wenn andre dieß rühmen und preisen. Wenn einer aber bey seiner Mittelmäßigkeit übermüthig ist, die Vortreflichen lästert und Kabalen schmiedet: da muß man streng seyn. Es ist nichts unerträglicher, als wenn Pigmäen auf Stelzen einher schreiten, und es für natürliche Größe ausgeben wollen.«

»Sie, Herr Lockmann, und alle Künstler, meine Schwester und alle Frauenzimmer, die es so gemächlich haben, wie Sie, sind weit besser daran, als wir, wenn wir das leisten wollen, wozu uns unsre Bestimmung fordert. Sie können frey nach Vollkommenheit streben: wir müssen es nach Verdienst und Nutzen.«

Hildegard, die neben ihm saß, drückte ihm die Hand dafür, und sagte: »Wie freut es mich, Dich so sprechen zu hören! Es ist schön, edel und wahr. Doch müssen wir etwas genauer bestimmen, was eigentlich Vollkommenheit und Verdienst, und Nutzen und Vergnügen von einander unterscheide.«

Ihr Bruder erwiederte: »Um mich durch ein Exempel zu erklären; ein Europäer am Kap giebt zehn und mehr Negern für ein Arabisches Pferd, weil es das ausnehmende Verdienst hat, daß er schnell und bequem darauf reiten kann; denn es ist doch wohl keine Frage, welches das vollkommnere Geschöpf ist.«

Feyerabend fügte hinzu: »Wenn ein König gesund und stark und der Wollust ergeben ist, und ihm mangelt der Verstand und die Tugend der Gerechtigkeit: so haben die Pompaduren, die dü Barry das erste Verdienst; liebt er die Jagd: vielleicht schon ein [125] guter Büchsenspanner; fürchtet er sich vor Tod und Hölle: vielleicht ein Scharlatan von Mediziner, ein Kapuziner. In Rom war ein Marius mehr, alsHomer und Aristoteles. Bey Verdienst kommt es immer auf das Bedürfniß der andern an: bey Vollkommenheit auf den Grad der Vortreflichkeit unter seines gleichen, unter seinem Geschlecht, in der ganzen Natur.«

Hildegard. Wohl! ich begreife. Es gehört mehr warmer zarter Sinn, scharfer Verstand, Kunst und Erfahrung dazu, eine Armida wie Jomelli zu machen, als diese und jene Schlacht zu gewinnen, wo oft das Glück entscheidet. Nur Menschen vom ersten Range können richtig über Vollkommenheit urtheilen; der Janhagel weiß von nichts als Verdienst.

Lockmann. Es giebt Staaten, wo die vollkommensten Menschen fast nicht gebraucht werden, und man sie als unnütz betrachtet. So hat ferner ein mittelmäßiger Mensch in jeder Kunst bey einem rohen Volke mehr Verdienst, als ein vortreflicher. Kanonenstücke und Staatsactionen kann manches Publikum besser fassen, als einen Tartüffe oder Misanthrop. So findet ein Niederländer mehr Vergnügen an einem Gemählde von Ostade, als an der Verklärung Raphaels.

Feyerabend. Nutzen überhaupt bezieht sich mehr auf die Dauer der Existenz; und Vergnügen auf Genuß derselben. Beyde greifen in einander ein. Wir sind nicht bloß da, daß wir leben, sondern daß wir auch das Leben genießen sollen. Wenn der Vogel sich gesättigt, und seine Jungen gefüttert und ausgebrütet hat: so singt und spielt er, und fliegt zur Lust in den Lüften herum. Ein Mensch, der auf weiter nichts denkt, als Geld und Gut zusammen zu scharren, vergißt ganz, weßwegen er da ist. Es giebt keine Freude, die nicht, [126] wenn sie in gehörigem Mvaße genossen wird, auch wieder zur Erhaltung des Lebens beytrüge.

Die nützlichen Wissenschaften und Künste dienen den schönen Wissenschaften und Künsten zur Grundlage; so wie in den Staaten, die vom Ackerbau leben, auf dem Bauer alles ruht. Poesie, Mahlerey und Musik in hoher Vortreflichkeit sind in jeder bürgerlichen Gesellschaft Phänomene von Wohlstand. Auch haben sie sich immer auf die Erdstriche eingeschränkt, wo man für Nahrung, Kleider und Wohnung wenig zu sorgen hat, wo die Schooßkinder der Natur sind.

Lockmann. Sie sind Aufbewahrerinnen der stärksten und süßesten Gefühle der Menschen, und der höchsten Vollkommenheiten der Natur. Nach großen und schönen Thaten zur Erhaltung und Verstärkung der Existenz schmeckt das Vergnügen am besten. Wo große Kräfte reifen, und in ihrer höchsten Gewalt sich äußern, da sind die Zeiten der Kunst. Wo kein Stoff, kein Gehalt ist, ist bey der schönsten Form nur Traum und Schatten, und ein leeres Luftgebilde.

Hildegard. Das größte Vergnügen, die größte Freude, Glückseligkeit, und wie die Worte alle lauten, bleibt immer, seine Fähigkeiten im höchsten Grad anzuwenden; so wie hingegen der größte Schmerz, das größte Leiden, wenn eines Menschen oder Geschöpfes Kräfte im höchsten Grad unterdrückt, oder gar vernichtet werden. Die Künste wiederhohlen diese Gefühle an erdichteten Gegenständen.

Diese Worte sagte Hildegard mit vielem Nachdruck.

Die Mutter beschloß diese Materie, indem sie sagte: »Es scheint, daß die Natur Freude und Leid jedem Wesen mit gleicher Wagschale zugewogen habe.«

[127] Dieser Anfang des Gesprächs hatte alle etwas angegriffen. Hildegard suchte es auf leichtere, und ganz leichte Gegenstände bis zum Scherz zu leiten; und erzählte: daß Sacchini, der ihr einige Zeit zu London Unterricht gab, ihr die schönsten Scenen aus der Oper des Jomelli mitgetheilt, wie er sie bewundert;

und die Mutter erzählte ferner, wo sie dieselben mit Pacchiarotti gesungen habe, mit mehrern Umständen.

Lockmann bemerkte, daß er Pacchiarotti'n in derselben Oper, aber mit der alltäglichen Musik von Bertoni, zu Venedig die Rolle des Rinaldo recitiren gehört; und wie leid es diesem habe thun müssen, sich in Erinnerung aus Neapel vom Pferd auf den Esel zu setzen.

Man sprach dann von dem äußerst angenehmenCantabile des Sacchini, von der Mara undTodi; und die jetzt so bekannten Anekdoten von den Wortspielen über ihre Namen zu Paris: c'est bientôt dit; und Bravo und Brava, Mara, und Maro, mit der Bedeutung des letztern im Französischen, wurden beygebracht.

Man sprach nun über Namen überhaupt; undLockmann fragte hierbey, wie sie den schönen Namen Hildegard bekommen habe.

Die Mutter antwortete: »Er ist alt in meiner Familie; meine Großmutter hieß so, und meine Tochter hat ihn von meiner Mutter Schwester, ihrer Pathe.«

Feyerabend fügte hinzu: »Man sollte mehrere altdeutsche Namen wieder einführen, die so bedeutend wären, wie die Griechischen, und selbst neue nach dem Charakter der Personen endlich einmal wieder erfinden. Es ist gar zu leer und gedankenlos, an allen Ecken und Enden nichts als Anna, Maria, Elisabeth und Lotte, Johann und Peter zu hören.«

[128] Hohenthal fuhr ferner fort: »Dieß schickte sich wohl für uns, da wir überhaupt in Europa die erfinderische Nazion sind. Die Erfindungen in England werden mehrentheils von Deutschen gemacht, welche sich dann mit einem reichen Londoner in Verbindung setzen, um sie in Gang zu bringen.«

Hildegard bestätigte dieß mit wichtigen Beyspielen; und sagte: »Ohne Eitelkeit! der Deutsche ist unter allen neuern Nazionen der beste von Natur für eigne erste Ideen.«

Sie schenkte dann aus einer Flasche alten Hochheimer die Gläser voll. Man stieß an: »Zum rühmlichen Andenken der Schwarz, Gutenberg, Kopernik, Leibnitz, Kant, Händel, Gluck, Herschel! und auf glückliche Nacheifrung der Unsterblichen!«

Man stand auf, und trank den Kaffee in einem Zimmer der Mutter. Hier sah Lockmann zuerst das Porträt des verstorbnen Vaters in Lebensgröße; es war durchaus so vortreflich, wie lebendig, von Reynolds, und schien recht mit Liebe gemahlt zu seyn, so meisterhaft und entschieden in der Nähe die Arbeit.

Die Mutter sah es mit zärtlicher Rührung an, und sagte: »Sie werden vielleicht einmal in London wenig Gemählde von diesem großen Mahler so wohl erhalten sehen. Es wurde gleich nach der Verfertigung hieher gebracht. Die Fettigkeit vom Rauch und Dunst der Steinkohlen füllt dort die Zwischenräume der Lasur an. Dadurch bekommen die Gemählde in kurzer Zeit ein verdorbnes Ansehen; und man weiß noch kein Mittel, diese Fettigkeit herauszubringen.«

Lockmann weidete Sinn und Herz an der geistreichen, edeln und einnehmenden Gestalt.

Hildegard nahm ihn dann mit ihrem Bruder bey Seite, und sagte [129] zu ihm: »Wenn Sie noch einige Zeit haben, und nichts Bessers zu thun wissen, so gehen wir wieder auf unsern Musiksaal. In meiner Sammlung finden Sie noch eine gute Gesellschaft Armiden; und überhaupt ist es dort luftiger und kühler.«

Alle und die Mutter selbst gingen dahin. Hildegard hohlte ihrer mehrere hervor. Die erste war:


Armide par Gluck. Text von Quinault.


Lockmann kannte sie gar gut, und sagte darüber: »Ob sie gleich in Paris am mehrsten ist aufgeführt worden; so steht sie doch, selbst im Theatralischen, weit unter seiner Iphigenia in Tauris. Im Ganzen ist wenig Natur; die Teufel und die Person Haß sind zu künstlich; und die Chöre meistens hinein gezwungen. Nur einige Scenen ragen hervor; die, wo Armida den schlafenden Rinald tödten will, noch eine andre, und die letzte, wo sie allein bleibt von Rinalden verlassen.«

»Glucks Musik ist hier meistens Declamazion; und die Begleitung oft voll wie ein Wasserfall. Tänze und Chöre geben seinen Opern vor den Italiänischen großen Reichthum. Was ihn darin von allen unterscheidet, ist die Einheit der Instrumentalmusik durch das Ganze; und die immerwährend eigne Declamazion der Stimmen voll Rhythmus. Es ist Gluckischer Accent, Gluckische Originalität. Der vortrefliche Ausdruck des Heftigen, Gewaltigen und Leidenden setzt ihn unter die ersten tragischen Meister. Wir werden nächstens seine Bahn durchgehen, und wollen uns das Vergnügen nicht unterbrechen.«

»Glucks Armida muß mit allem ihrem Pomp doch der von Jomelli weichen. Die einzige Scene, wo sich Armida in den schlafenden Rinald verliebt, fehlt diesem. Sie macht einen reizenden Anfang [130] der Leidenschaft. Der Italiänische Dichter ließ sie aus, um das Ganze nicht zu weitläuftig zu machen. Der Schluß ist bey Glucken voll Feuer; kommt aber dem im zweyten Akt von Jomelli an Schönheit, Pittoreskem und Leidenschaft nicht gleich.«


Renaud. Tragédie lyrique en trois Actes, par Sacchini.


Auch diese kannte Lockmann.

»Eigentlich die Aussöhnung der Armida mit Rinalden. Das Gedicht ist nach dem Tasso, und hat nichts Hervorstechendes; doch ist es oft gut für die Musik mit einzeln schönen Stellen.«

»Die Musik ist rein, Neapolitanisch schön durchaus; nichts beleidigt, oder greift zu rauh an; sie macht Vergnügen, ergreift aber selten, und erschüttert fast nie. Sich an den süßen Tönen schöner Kehlen zu weiden in den geschmeidigsten Melodien und Harmonien, scheint immer Sacchini's Zweck für die Zuschauer gewesen zu seyn.«

»Der dritte Akt ist das Vortreflichste darin. Die erste Scene, die einen Wald beym Schlachtfeld vorstellt, hat Pathos und Pittoreskes; aber doch mehr angenommenes, als eigentliche Natur. Für die Menge bleibt sie jedoch von großer Wirkung; besonders die Arie der verzweifelnden Armida: Ciel injuste! Die darauf folgende Cavatine: Et comment veux tu, que je vive! ist voll ächter Zärtlichkeit und Grazie, und eine Perle, so wie das Duo hernach. Sacchini'n kann man als den ersten ansehen, der den lieblichen Styl der neuern Italiänischen Musik eingeführt hat. Und nächst ihm seine zwey berühmten Schulfreunde Piccini und Guglielmi; sie sind noch nicht so weichlich und zierlich, als Paesiello und Cimarosa

»Unter den Stücken zum Tanze sind die reizendsten Sachen. Das Schönste unter allen ist Seite 74 aus dem E dur.«

[131] »Bey den Chören merkt man, daß er die vonGlucken gehört hat. Sogar bey Arien; als eben bey der angeführten Cavatine, die ganz in Glucks Geist ist, nur mit süßerer Melodie und Begleitung.«

»Den Charakter der Armida haben alle drey besser getroffen, als den des Rinald. Doch ist er beymTasso selbst nicht natürlich; das Heroische erscheint zu wenig in ächten Zügen.«

»Unter dem Allervortreflichsten dieser drey Opern behauptet Glucks Non, jamais de l'amour tu n'as senti le charme; und die letzte Scene Le perfide Renaud me fuit, an wahrem tragischen ungekünstelten Ausdruck und leidenschaftlicher Erhabenheit mit Jo melli's vortreflichen Scenen den ersten Rang.Sacchini hat nichts, was diesem gleich zu stellen wäre.«


Il Trionfo d' Armida di Traetta.


Der Text nach Quinault.

Man fand die ganze Oper mager, und meistens Schlendrian; die Scene allein, wo sich Armida in Rinalden verliebt, indeß sie ihn ermorden will, vortreflich; und nebst der Ankunft des Rinald, seiner Bezauberung und seinem Einschlafen, das einzig Gute.

»Die ältern Opern, fuhr Lockmann fort, sind fast alle bloß so bearbeitet, daß eine oder zwey Gruppen, wie Gemählde, hervorspringen; das Uebrige ist Ausfüllung, um in den Logen dabey spielen zu können. Ländlich, sittlich. Diese Scene gewinnt viel, wenn man weiß, daß sie für die Gabrieli geschrieben ist. Zur Zeit selbst, wo sie neu und Erfindung war, muß sie entzückt haben. Der Ausdruck ist meisterhaft. Aber wahr ist es, alles andre wäre jetzt unerträglich.«


Armida von Salieri.


»Gute Italiänische Musik; nichts Neues, und wenig Vorzügliches. [132] Die einzige gute Scene des Traetta zeigt mehr Genie. Salieri hat viel bessere Werke hervorgebracht. Die letzte Arie der Armida ist das Beste; und doch scheint auch im Leidenschaftlichen der Begleitung Jomelli nachgeahmt zu seyn.«

»Righini, der jüngst denselben Text von Coltelini, jedoch nur im Auszuge, zu Wien bearbeitete, und einige Scenen von andern Meistern einschaltete, übertrift ihn bey den Hauptscenen, hat neue Melodie, neue Begleitung, und ist zuweilen stark im Ausdruck.«

»Coltelini hat eine glänzendere poetische Sprache, als Jomelli's Dichter, und plündert hier und da den Metastasio; aber dieser hat das Natürliche des Ganzen reiner herausgegriffen.«

Noch gingen sie einige Scenen einer Armida vonHaydn durch, und das Terzet: Partirò, ma pensa ingrato; und der bezauberte Wald, die beyde jedoch nicht zum Wesentlichen gehören, gefielen. Doch dünkten sie ihnen nicht originell Haydnische Musik, sondern nachgeahmte Italiänische. Der Göttliche kam ihnen beym Texte zuweilen vor, wie ein zusammengekuppeltes Windspiel im Laufen.

Gegen Abend wurden Hohenthal und Feyerabend von einem guten Freund in Gesellschaft abgehohlt; und Lockmann empfahl sich gleich darauf. Als er unten im Hofe war, sah er die Gartenthür offen; und im Betrachten, daß sie von beyden Seiten konnte verschlossen, und innen verriegelt werden, lockte ihn das muthwillige Spiel der himmlischen Gestalt, auf einmal wieder höchst lebendig im Gedächtnisse, zur Wasservertiefung am Ende unter den hohen alten Linden. Lauter süße volle Empfindung, wandelte er schüchtern durch die schattigen Gänge dahin; sah die erste reizende Scene nur noch viel gegenwärtiger, und setzte sich in eine Laube von duftendem [133] blühendem Geisblatt, recht wie ein verliebter Schäfer in Gedanken versunken und verloren.

Nachdem er lange so gesessen, traten ihm die Thränen in die Augen, und er brach in die Worte aus: »Wie willst du sie losreißen aus dem Schooß ihrer Familie, aus dem Zirkel der Bewunderung! wie willst du dich losreißen! Mit wie viel schönern Aussichten stiegst du den Gotthard herunter, an Begierde den kühnen Stürzen der Reuß nach in das Paradies deines Vaterlandes! Aber o wallendes klopfendes Herz, du kannst ohne sie nicht leben.« –

Und sie rauschte vor ihm hin, und streifte sich schon das leichte Gewand ab, sich in der Dämmerung von der Gluth des Tages abzukühlen in dem reinen Quellwasser.

Sie konnten keine Worte finden, die Ueberraschung auszudrücken.

Der Obertheil ihres Leibes war entblößt. Sie wollte fliehen; aber verwegne Leidenschaft ergrif sie, und hielt sie fest.

Sie trieb ihn mit beyden verschränkten Armen auf seine Brust mit aller Gewalt von sich: »Lockmann, Lockmann! Würdiger, Vortreflicher! nichts Laffenmäßiges!«

Ihre Augen blitzten Gewitterzorn, und der Donner des furchtbarsten Einschlagens rollte vor seinen Ohren. Er mußte sie loslassen; doch hatt' er ihr einige Küsse auf Mund und Wangen gedrückt.

Sie blieb. Kaum war das Gewand, noch immer offen, nur wieder über die Schultern gezogen: so faßte sie seine Rechte mit ihrer Rechten, hielt sie warm und herzlich, und sprach, indeß er Entschuldigungen und Ueberfülle von Liebe stammelte, mit feyerlichem Ernst die Worte: »Freundschaft, wahre ächte Freundschaft bey jedem Wechsel des Glücks, diese sollen Sie von mir haben; und Traulichkeit, wenn Sie Sich ihrer werth machen, wie ich hoffe und wünsche; aber nichts [134] weiter. Befürchten Sie jedoch nicht, daß ich einem Andern so bald zu Theil werde. Die hundische Liebe, wenn ich das edle Wort mißbrauchen darf, hat wie eine Pest die ganze neuere Welt angesteckt, hemmt die schönsten Thaten, und erdrückt den Adlerflug himmlischer Geister. Wohl mir, wenn ich den Deinigen, wahrhaftig schöner junger Mann, davon retten kann! Zage nicht; der Lohn für diese Anstrengung wird allen, bald schalen, wie selbst die Ninons und die neuern Gedichte und Romane zeigen, welche ich kenne, gewöhnlichen Genuß übertreffen. Eine immer reine edle Jungfrau als Freundin am Herzen kannst Du noch einen schönen Strich durch das Leben machen, und mit erhabnen Melodien und Harmonien die Sterblichen bezaubern. Und damit Du überzeugst seyst, daß meine Worte die Wahrheit der innern Empfindung selbst sind: so empfange von mir diesen keuschen Kuß zum Siegel.«

So schloß sie ihn an sich, und ihre Seele hing an seinen Lippen, und ihr schöner jugendlicher Körper an dem seinigen, wie zu lauter verklärtem Geist geworden.

Sie drückte ihm noch einmal zärtlich die Hand, mit den Worten: »Freundschaft und Traulichkeit, aber nichts weiter! Nun bedenke, und überlege.« Und entwich.

Wenigstens hatte sie sich damit gut aus der Schlinge gezogen. Ein Richelieu würde die Gelegenheit, jedoch umsonst, besser zu gebrauchen gesucht haben. Es war der allergefährlichste Auftritt: die Gartenthür verriegelt, sie schon halb entkleidet, der Ort entlegen, sie völlig in seiner Gewalt. Vielleicht sah sie dieß alles, gab gleich gute Worte; sonst würd' er wahrscheinlich sie so geschwind so weit nicht gebracht haben; und entschlüpfte.

Erstaunt, gerührt, betroffen, und doch nicht zufrieden mit sich, sprach [135] er, als sie mit behendem Gang ihm aus den Augen war: »Bloße Freundschaft; und eine Jungfrau mit solchem Körperbau, solchen Reizen in meinen Armen! Die Wirklichkeit der Fabel vom Tantalus. Jetzt so kalt und keusch wie der Mond: und diesen Morgen ganz Wollust, Gluth und Leidenschaft mit allem Verführerischen einer Armida? Unbegreiflich! Inzwischen hat sie doch Wahrheit gesagt; ich fühl' es, o ich fühl' es. Immer ein großer Schritt weiter; die Freundschaft wird das Eis zur Liebe aufthauen und schmelzen.«

Nachdem er dieß mit vielen Pausen für sich gesprochen, und überlegt hatte: fand er die Thür offen, und begab sich nach Hause; denn er mußte von diesem allen ausrasten.

Kaum hatte sie ihn fortgehen sehen: so war sie auch schon unten wieder im Garten; aber mehr um frische Luft zu schöpfen, als sich zu baden.

Sie setzte große Hofnung auf ihn: »Er ist gut und folgt, auch im Sturm der Leidenschaft; das hast du gesehen. Das letztre hättest du vielleicht nicht thun sollen! aber es war Zug der Natur; und doch es ist gut, auf einmal, ungekünstelt, rein und rund. Es wird alles leichter, edler und schöner.« Ihre Mutter allein lag ihr im Sinn.

Sie kam an die Wasservertiefung, betrachtete die Stelle des Auftrittes, und stand voll tiefer Empfindung und weiter Ahndung unbewegt eine lange Weile; eine wahre Minerva von Phidias. Endlich kleidete sie sich doch aus, warf sich hinein, und schwamm nur einigemal hinüber und herüber, herum, und stieg wieder heraus; kleidete sich an, und ging zurück.

Kaum eine halbe Stunde allein, ließ die Mutter sie rufen.

Welch ein neuer Auftritt!

[136] Diese wandelte in ihrem Zimmer auf und ab, und empfing sie mit Blicken, die Unruhe und etwas Wichtiges anzeigten. Hildegard glaubte schon, ihr Eingang und Ausgang im Garten, und Lockmann nachher wäre von ihr bemerkt worden; mit reiner Seele war sie auf alles gefaßt.

»Liebe Tochter,« sprach die Mutter freundlich zu ihr, nachdem sie mit einander einigemal auf und ab gegangen waren, »Du hast nun alle Eigenschaften, eine vortrefliche Gattin zu werden, und einem Hauswesen wohl vorzustehen. Zwar bist Du noch jung; aber die Schönheit bey uns ist eine Blume, die bald vergeht, und welcher mancherley Gefahren drohen. Herr von Wolfseck, ein stattlicher Mann, von altem Adel, großem Reichthum und vielen Gütern, dessen Vater des Fürsten rechte Hand ist, verlangt Dich zu besitzen, und sich mit unsrer Familie zu verbinden. Die Fürstin unterstützt ihn, und hat gleich bey ihrer Ankunft mir den Antrag gethan, immer mit mir darüber gesprochen, und so eben geschrieben. Ich habe alles wohl überlegt, Dein Bestes darin gefunden, und thue den Antrag jetzt Dir; Dein seliger Vater selbst würde ihn billigen.«

»O nein, theure Mutter, das würd' er nicht!« versetzte Hildegard, indem sie die Rechte ihrer Mutter faßte, tief bewegt küßte, und an ihr Herz drückte.

»Ich erkenne das alles, was Sie am Herrn vonWolfseck rühmen; aber er ist der Mann nicht, mich glücklich zu machen. Unsre Neigungen sind ganz verschieden. Und dann fühl' ich noch nicht den mindesten Trieb und Beruf in mir zu heurathen.

Lassen Sie mich, liebe theure, verehrte Mutter, noch einige Zeit froh und vergnügt, wie ich bin. Bey allen andern Dingen, nur in diesem wichtigsten aller Punkte nicht, kann ich Ihnen leicht gehorchen.«

[137] »Prüfe Dein Herz,« antwortete sie, mütterlich gerührt und erschrocken, »ob es nicht bloße vorgefaßte Meinung bey Deinem gewöhnlichen Zeitvertreibe sey, dem Du auch gewiß nichts desto weniger ungestört wirst nachhängen können; und sieh Dich mit Deinem guten Verstand um. Bey unserm Stande sind solche Gelegenheiten selten. Herr von Wolfseck hat das nicht, was beym ersten Anblick und Umgang jungen Frauenzimmern gefällt; jedoch gründliche Kenntnisse in seinem Fache, um als ein Mann von Ehre zu bestehen. Und die andern Vortheile überwiegen solche Kleinigkeiten weit.«

»O liebe Mutter, liebe Mutter«, sagte sie, warf sich vor ihr nieder, und umfaßte ihre Knie, »dringen Sie damit nicht in mich; es ist mir unmöglich. In Ketten und Banden könnt' ich meine Einwilligung dazu nicht geben.«

Frau von Hohenthal hob sie auf, und schloß sie erweicht an ihren Busen. »Wie kannst Du solche Worte brauchen gegen Deine gute Mutter, deren Augapfel Du bist!«

Hildegard bat um Vergebung, daß sie nicht länger bleiben könne, und begab sich auf ihr Zimmer.

Sie schlief die ganze Nacht nicht. Den andern Morgen ließ sie zum Frühstück sagen: sie befinde sich nicht wohl, und könne nicht hinunter.

Mutter und Bruder waren gleich bey ihr. Sie lag noch im Bette; die Wangen glühten, und ihr Puls ging voll und heftig. Man schickte schleunig zum Arzte; die Mutter rang die Hände.

Er kam geschwind; es war der Leibarzt des Fürsten, ein bejahrter Mann, mit Namen Schweiger. Nach Erkundigung, daß sie noch nie krank, und immer gesund und stark gewesen wäre: schrieb er die Krankheit einer Verkältung zu; und dachte bey sich, indem er scharf [138] in die Sonne ihrer Augen blickte, und Verlegenheit bemerkte, vielleicht heftiger Gemüthsbewegung.

Und so wars auch. Nach den verschiednen Anstrengungen des gestrigen Tages war ihr das Quellenbad höchst schädlich. Er verschrieb die gehörigen Mittel, empfahl Ruhe; und versprach baldige Wiederherstellung.

Unterdessen kam Lockmann, um sie und ihren Bruder zu bitten, bey der Probe des Konzerts zu seyn, wo sie die Scenen der Armida nur mit halber Stimme singen möchte.

Wie erschrak er, als der Bediente ihm sagte: das Fräulein sey die Nacht plötzlich krank geworden, und der Arzt bey ihr. Er besann sich, was für ihn zu thun wäre; und ging zu Feyerabenden. Bey diesem traf er Hildegards Kammerjungfer, welcher er nur einigemal begegnet war, die er aber noch nicht gesprochen hatte; ein Londoner Mädchen, wohl gebildet und wohl gewachsen, fast eben so jung als Hildegard, mit einem Auge voll Geist, und Leben in jeder Bewegung. Sie hieß Fanny, sprach schon fertig Deutsch, und sagte: es sey weiter nichts, als eine starke Verkältung. Hohenthal kam dazu, und versicherte dasselbe. Etwas getröstet ging Lockmann fort, und begegnete auf der Treppe der Mutter, welche das nämliche wiederhohlte; aber mit einer Thräne im Auge bekümmert aussah.

Er probirte mit seinen Leuten aus der Armida, so viel ohne die Hauptperson zu probiren war; und dann inzwischen Symphonien von Pugnani, vonHaydn, und leichte Scenen von neuern Meistern für seine Sängerinnen und Sänger zu einem gewöhnlichen Konzerte; hatte aber bey der ganzen Probe gar nicht die gewöhnliche Gegenwart des Geistes.

[139] Hildegard, welche fühlte, daß es nöthig war, nahm ohne Ueberredung von den verordneten Arzeneymitteln ein, und fiel, unter immerwährender Ueberlegung der Verbindung, die mit aller Gewalt sie bestürmen, und in jeder Rücksicht ihr Verdruß verursachen würde, in einen unruhigen Schlaf, welcher der Absicht gemäß mehrere Stunden dauerte.

Der Arzt, ein Mann, wie sie seyn sollen, ein philosophischer Kopf aus der Schule des Hippokrates, blieb im Hause, und suchte während der Zeit alles zu erforschen; welches ihm aber nicht gelang. Er erfuhr nur von ihrem Bruder, daß sie gestern Morgen, wie so oft, Musik gemacht, wobey sie sich etwas mehr angegriffen habe. Eine Hauptperson fischte er doch gut heraus, den jungen schönen Kapellmeister; hinter die andern Gänge und Wege und Vorfälle konnt' er aber nicht kommen.

Er befühlte darnach den Puls, fand das Fieber etwas vermindert; beobachtete das Athemhohlen, und ihre Gesichtszüge. Einige Minuten mit ihr allein, sprach er ihr zu, als ein Mann von Charakter, der Zutrauen verdient: sie möchte alle Gedanken zu entfernen, und alle Gemüthsbewegungen zu stillen suchen, die sie vielleicht beunruhigten, durch andre, die ihr gewöhnlich Vergnügen machten, und ihre blühende Jugend und Schönheit nicht verderben. Es that ihr wohl, daß er ihr dieß allein sagte; sie antwortete ihm freundlich und gefällig: sie hoffe, unter Besorgung eines so würdigen Mannes bald wieder hergestellt zu seyn.

Er bat sie, nun aufzustehen; verordnete, was sie essen und trinken sollte. Nach Tische könne sie leichte Musik machen, sich aus ihrem liebsten Buche etwas vorlesen lassen, mit ihren angenehmsten Freunden scherzen; und so möchte sie sich des Schlafs bis zur [140] gewöhnlichen Zeit erwehren. Gegen Abend werd' er wieder aufwarten, und mit Vergnügen vernehmen, daß sie sich viel besser befinde. Bey allem, was die Gesundheit des Menschen angreife, hebe man gleich anfangs das Uebel am leichtesten mit Verstand und Klugheit.

Sie versprach mit Hand und Mund, ihm in allem zu folgen.

Es kamen öftere Boten von dem Fürsten und der Fürstin, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Sie stand auf, ging auf ihrem Zimmer herum, aß dann ein wenig; und ihre Mutter blieb endlich bey ihr allein, und sagte: »Ich erstaune, wenn das, wovon wir gestern mit einander gesprochen haben, zum Theil Schuld an Deiner Krankheit seyn sollte. Wer wird Dich zwingen wollen! Man spricht nur fürs erste dar über, und giebt hin und wieder seine Gründe an.«

Hildegard antwortete: »Herr von Wolfseck hat seine Sachen gleich mit Form und Ceremonie angefangen. Hätt' er sich vorher beworben, meine Gesinnungen in Rücksicht seiner auszuforschen, so würd' er leicht erfahren haben, daß er wenigstens nicht für mich ist. Aber die Fürstin voran zu schicken! Die schlechtesten Ehen unter allen sind gewöhnlich die Hofehen. Doch, liebe Mutter, lassen Sie uns jetzt nicht mehr davon reden; es greift meinen Kopf an.«

»Liebe Tochter, das wollen wir auch nicht; nur versichre ich Dir, daß Du hierüber meinetwegen ohne Sorge seyn kannst. Sey wieder heiter und gutes Muthes.«

Hand und Mund küßte Hildegard ihr für diese erfreulichen Worte; denn sie enthielten alles, was sie verlangte. »O gute zärtliche Mutter, wie ich Sie liebe!«

Die Frau von Lupfen trat darüber herein: »Du krank? Du Göttin [141] der Gesundheit, Hildegard? und so plötzlich? Es ist nicht möglich!«

»Wer sollte nicht krank werden! Der fatale langeWolfseck will mich heurathen, und hat die Fürstin deßwegen an meine Mutter abgeschickt; weil weder er noch sie den Muth hatten, mir den Antrag ins Gesicht zu machen. Ihr Sinn war klüger als ihr Verstand, und versagte, wie ich oft bemerkte, beyden hierüber die Rede. Doch Verschwiegenheit! wir kennen uns. Auch Deinem Manne davon keine Sylbe.«

Der Bruder kam über den Musiksaal herbey, und spielte auf der Geige ein Solo für eine Bacchantin aus einem neuen Ballet, die nettesten Läufe, Staccato, mit so gewaltigem Bogen, wie Cramer selbst; wiederhohlt' es, immer reizender verändert, und sagte: »Singen sollst Du heute nicht, zartes Kind, aber vielleicht Deine Verkältung wieder aus dem Leibe tanzen.«

Von dem gestrigen kalten Bade hatte die Kluge noch nicht ein Wort gesprochen. Niemand kannte die Krankheit besser, als sie; am wenigsten Lockmann, der sich zu Hause die wunderlichsten Vorstellungen davon machte.

»Was das für ein reizbares Geschöpf ist! von einer Umarmung so krank zu werden, daß das ganze Haus in Allarm kommt, man den Doctor hohlt, und alles trauert. Es ist eben ein genialisches Wesen, bey welchem von einem einzigen Gefühl, einem Gedanken alles andre, Tage lang, verschlungen wird, und zuweilen Blut und Lebensgeister in die heftigste Wallung gerathen. Etwas schwärmerisch, aber edel und liebenswürdig, gewiß, o gewiß! im höchsten Grade.«

Man ging in den Musiksaal; und ihr Bruder und die Frau von Lupfen suchten sie mit kurzweiligen Dingen aufzuheitern und zu [142] zerstreuen. Erst spielten sie muntre Tänze voll Rhythmus von glänzenden Bällen zu London, wo auch sie von der Partie gewesen, und vor andern war bewundert worden.

Dann sangen sie Italiänische verliebte Kantaten, wechselsweise, sie den Sopran, er den Alt, mit Petrarchischen kläglichen Texten, welche beyder ausgeartete Stimmen zu Scenen einer Opera buffa machten. Es waren zwar die berühmten von Porpora, einem der größten Stifter der Schule von Neapel; aber nun so altväterisch in Melodie und Begleitung, daß Hildegard sich nicht erwehren konnte zu denken, es sänge sie ein Greis von siebenzig Jahren einem jungen Mädchen; oder, was noch ärger ist, ein Kastrat von sechzig bis siebenzig Jahren.

Darauf sangen sie doch zusammen einige neuere höchst schöne Duetten und Terzetten und Kanons.

Und nun erzählten sie lustige Anekdoten; einige damals ganz neu. Zum Beyspiel nur eine von der Frau von Lupfen, die bey der Begebenheit zugegen war.

»In einer benachbarten Residenz ward die letzte Charwoche in der Schloßkirche das Miserere vonSarti aufgeführt. Unten standen eine Menge Offiziere in Parade. Oben über diesen hatte der alte Staatsminister B** seinen Stand, welcher, schon an und für sich eine komische Figur, immer bey dem Gottesdienst in einem Pohlnischen Gebetbuche ziem lich laut zu lesen pflegte. Den vorigen Tag war in die Loge mit Fenstern ein schlafender Pudel eingesperrt worden. Als B** die Thür aufschloß, hineintrat, und sie wieder zumachte, bemerkte er mit seinem kurzen Gesicht diesen nicht; öfnete das Fenster und fing, als man mit der Musik in der Mitte war, und die feyerlichste Stille herrschte, an zu lesen. Kaum hörte der Pudel die Zauberformeln [143] der ungewohnten Sprache: so that er vor Angst einen Satz zum Fenster hinaus, und sprang, schwarz wie der exorzisirte Satanas, den Offizieren auf die gepuderten Köpft. Dem Minister fiel vor Schrecken die Brille von der Nase, der Hof erstaunte, die Helden fluchten, und die ganze fromme Versammlung brach aus in ein allgemeines Gelächter.«

»Zum Glück hatte der Pudel nur das Steife einiger Locken zertreten, sich selbst keinen Schaden gethan, und lief schreyend davon.«

Gegen Abend kam der Arzt, fand Hildegarden lebhaft und aufgeräumt, aber den Puls noch immer unregelmäßig, und das Fieber etwas stärker. Er verordnete, mit ein wenig Veränderung, dieselben Mittel; und sagte: so bald sie darauf Schlaf spüre, möchte sie sich zu Bette legen. Eine ruhige Nacht, mit der Heiterkeit in der Seele, und der junge Stamm von Gesundheit werde das Uebel gewaltig verdrängen.

Lockmann zauderte um das Haus herum, bis er, wie von ungefähr auf der Straße, von einem Bedienten erfuhr, daß es besser stände.

Den folgenden Morgen befand sie sich so gut, wie vollkommen wieder hergestellt; brauchte keine Arzeney mehr, und nahm ihre gewöhnlichen Beschäftigungen wieder vor.

Gegen Abend machte die Mutter der Fürstin einen Besuch, und erzählte, was geschehen war. Es blieb nichts anders zu thun übrig, als dem Herrn von Wolfseck das Körbchen auf die feinste Weise beyzubringen, und den Verliebten von fernern Bemühungen und Zudringlichkeiten abzuhalten. »Die Fürstin habe nur ihre Gesinnungen sanft ausgeforscht; sie fühle sich noch zu jung, das Joch der Ehe bis jetzt überhaupt nicht für ihren freyen Nacken.«

Der Mutter von der Fürstin weg begegnete Lockmann, als er zum [144] Konzert ging, und vernahm zu seinem größten Vergnügen, daß Hildegard sich wieder vollkommen wohl befinde. Er hatt' es noch nicht gewagt, ihr unter die Augen zu kommen. Während der Zeit war er aber oft die Beschäftigung ihrer Gedanken.

Den andern Tag um Abendzeit ging er wieder zu ihr, mit dem Vorsatze, das reine, himmlische, genialische Wesen, so selten unter ihrem Geschlecht, zu schonen; und traf sie allein auf dem Musiksaal, an welchen ihre Zimmer stießen. Er erröthete, näherte sich schüchtern, küßte ihr bescheiden die Hand. Auch sie erröthete, überließ sie seinem zärtlichen Druck und sagte: »Ohne den geschickten Herrn Schweiger und meine gute Mutter hätt' ich vielleicht gefährlich krank werden können. Gottlob, daß es vorbey ist!«

Er freute sich darüber unaussprechlich; scheute sich aber, nach der Ursache der Krankheit zu forschen.

»Lieber Freund, fuhr sie fort, doch dieß unter uns allein! denn die Welt versteht es nicht, und braucht es nicht zu wissen. Was bringen Sie hier mit sich?«

Die Mutter hatte ihn über die Straße kommen sehen, und die Kammerjungfer unten ihm sagen hören: »Mein Fräulein ist auf dem Musiksaal. Gehen Sie nur hinauf, Herr Kapellmeister; die Verkältung ist ganz vorbey, und sie so gesund und munter, wie vorher.«

Der natürliche Gedanke war ihr so gut wieSchweigern aufgestiegen, daß der schöne junge Mann, von Charakter, Kunst und Wissenschaft so ganz für sie, wahrscheinlich mehr Eindruck auf ihr Herz gemacht, als noch je ein andrer, besonders da sie in London mehr Zerstreuung gehabt hätte, und nach dem Tod ihres Vaters nun auch ein Jahr älter geworden wäre. Was sie bey ihrer Hildegard [145] noch nie that, that sie jetzt; sie schlich ihm nach, und wollte wenigstens die erste Zusammenkunft nach der Krankheit belauschen.

Für die letztern Worte Hildegards aber war sie zu spät gekommen; sie hörte nur an der angelehnten Thür, was Lockmann antwortete.

»Vorgestern Morgens war ich hier, Sie mit Ihrem Herrn Bruder zur Probe des zweyten Akts der Armida zu bitten. Diese heben wir also für das nächste Konzert auf, wenn Sie Lust finden. Für heute hab' ich etwas Leichtes mitgenommen, wobey Sie gar nicht zu singen brauchen; etwas für die Hofsängerinnen und Hofsänger; und was Sie wahrscheinlich beynahe schon vergessen haben: la buona figliola von Piccini

»Die Opera buffa ist ganz zu Neapel einheimisch, besonders unter dem jetzigen König, der sie liebt; und wird über die Alpen hin fast immer unglücklich verpflanzt.«

»Die Operetten der Franzosen stehen an entschiednem Charakter weit unter ihr, und sind meistens bloß kleine rührende Komödien, Mitteldinge zwischen Tragischem und Komischem. Die Opera buffa soll weiter nichts als Farce, Spaßmacherey seyn, die zuweilen verzweifelt ins Ernsthafte komisch übergeht; Karrikaturen, wo viel Talent dazu gehört, den Charakter der Natur beyzubehalten. Schade, daß die Neapolitaner noch keinen Moliere dafür haben! mit dem Aristophanes der größte komische Genius aller Zeiten.«

»Die Franzosen und auch die Deutschen möchten gern das edle Komische in Musik haben; aber dieses schickt sich selten dazu, es ist zu wenig Leidenschaft da. Witz und Ränke gehören in das Reich des Verstandes und der Feinheit; die Musik verlangt Abwechslung von Tönen, und die Gescheidtheit verträgt nur die meistens monotone gewöhnliche Aussprache.«

[146] Hildegard unterbrach ihn hier, und sagte: »Man scheint dieß so gefühlt zu haben, daß man das Recitativ ganz weggelassen, und nur Arien, Finalen und Chöre beybehalten hat.«

Er fuhr fort: »Unnatürlich genug! Die Italiäner beobachten die Einheit, und zeigen dadurch ein weit feineres Gefühl.«

»Die vornehmen gesitteten Leute, welche Spaßmacher nicht leiden können, sollten in keine Opera buffa gehen.«

»So bald die Leidenschaften nicht mehr schicklich sind in den Augen der Vernunft, werden sie komisch, ihr Vortrag mag auch noch so ernsthaft seyn. Ein häßlicher kleiner Kerl Scarron, das Z, und die hohe junge Schönheit Maintenon machen allezeit ein komisches Paar; das geistreichste Betragen auf seiner, und das sittsamste auf ihrer Seite können das Komische nicht wegbringen, sondern erheben es vielmehr. (Dieß schoß der guten Mutter auf.) Ein eifersüchtiger Alter, eine verliebte Alte, eine koquette Alte sind Personen der Opera buffa; ein Don Quischott, der allein eine Armee angreift. Das Lächerliche sowohl in der Poesie als Musik entsteht gewöhnlich durch Kontrast.«

»Die neuere Opera buffa hat durch Erfindung der Finalen eine ganz eigne Form erhalten. Sie sind eine Nachahmung der Katastrophen in den tragischen Opern; das heroisch-Furchtbare ist menschlich und gesprächig geworden; das schreckliche Tragische gar süß gemildert. Die Finalen von Sarti, Paesiello und Cimarosa sind Meisterstücke. Die Form ist so glücklich schön, daß man nun schon viele Jahre nach einander sich an derselben nicht satt hören kann.«

»Die ersten bekannten Finalen dieser Art sind eben in der buona figliola von Piccini; welcher sie von einem unbedeutenden Palermitaner aufgenommen haben soll.«

[147] »Der Stoff zu dieser Operette ist etwas Gewöhnliches, und es giebt viel bessere ältere Texte. Das gute Mädchen ist ein Findling, dient als Gärtnerin; der Marchese della Conchiglia verliebt sich in sie, und will sie heurathen. Seine Schwester ist mit dem Cavaliere Armidoro versprochen, welcher deßwegen die Ehe rückgängig machen, will. Sie wird also weggebracht; durch einen Deutschen Soldaten jedoch dabey bekannt, daß sie die Tochter eines Deutschen Obersten ist, die während des Kriegs in Italien verloren wurde; und alles läuft glücklich ab.«

»Paoluccia, die Kammerjungfer der Marchesin, und eine Bäuerin Sandrina machen die Intriguen; ein Bauer Mengotto den Liebhaber von ihr; und das gute Kind wird auf mancherley Weise gefoppt und verfolgt.«

»Der Gang des Stücks ist ziemlich gut gehalten; das Ganze aber mehr naiv als komisch; der Deutsche Soldat allein niedrig komischer Charakter. Sonst springt keine ächt komische Situazion hervor. Kurz, das Gedicht ist ein ziemlich ordentliches mittelmäßiges Werk, und zeigt wenig von komischem Genie. Schade, daß die Musik dazu unter die ersten Hauptwerke der Opera buffa gehört!«

»Piccini schreibt einen guten komischen Styl. Muster davon sind hier im ersten Akt die Arie des Marchese E pur bella la Cecchina, mi fa tutto giubilar. Und Muster zugleich des Naiven: Una povera ragazza, padre e madre che non a, die Arie der Cecchina. Hauptsächlich aber das Quintett, oder Finale.«

»Wenn dieß das erste, und Piccini der Erfinder dieser Form ist: so hat er's gleich sehr weit gebracht; denn nach ihm ist nur Abwechslung dazu gekommen.«

»Cecchina fängt an: Vo cercando e non ritrovo la mia pace e il [148] mio conforto, che per tutto meco porto una spina in mezzo al cor.«

»Aber gewiß hat man die Form von den Quintetten, Quartetten der Opera seria entlehnt, und nur komischen Styl hinzugebracht. Höchlich schön und ergötzend bleibt sie immer, und übertrift an Mannigfaltigkeit die Chöre.«

»Im zweyten Akt

hat die Arie des Deutschen, Tagliaferro, Charakter, und macht Spaß auf dem Theater mit den Instrumenten. Viel besser, rund und vortreflich ist die Erzählung der Paoluccia und Sandrina: per il buco della chiave.«

»Cecchina hat schöne Arien, die aber nicht ins komische Fach gehören; als Vieni il mio seno di duol ripieno dolce riposo a consolar 16. So wie auch im ersten Akt die Lucinde. Dieß giebt dem Ganzen eine gute Mannigfaltigkeit.«

»Das Quintett Si Signora di la sù si è veduto che quagiù col Soldato fortunato si badava a divertir, mag zu seiner Zeit sehr schön gewesen seyn; jetzt ist vieles zu gemein geworden. Hier gehört es zur Erfindung der neuen Form.«

»Noch ist das Duett schön und dramatisch zwischen dem Marchesen und der Cecchina, wo alles entdeckt wird: la Baronessa, amabile Idolo mio, sei tu. Und das kleine Quintett, womit sich das Stück schließt.«

Lockmann hatte von Verschiednem bey der Erklärung das Thema auf dem Klavier angegeben, und dazu gesungen.

Hildegard sagte nun: »Ein Paar Arien der Cecchina, die mir außerordentlich gefallen, möcht' ich wohl noch singen. Erlauben Sie, [149] daß ich meinen Bruder rufe und Feyerabenden, mich zu begleiten. Dann wollen wir den Untergang der Sonne im Garten genießen.«

»Das wird mir große Freude machen;« versetzteLockmann.

Die Mutter hatte bis jetzt zugehört, zum Theil auch gesehen, und begab sich weg, beschämt über ihren Argwohn.

Hohenthal und Feyerabend kamen. Mit dem rührendsten und süßesten Ausdruck sang Hildegard zuletzt die Arie: Vieni il mio seno di duol ripieno dolce riposo a consolar; und beschloß: »Dieß wäre mir vorgestern vielleicht so gut gewesen, als das Recept des Herrn Schweiger. Göttliche Tonkunst, du bist die beste Arzeney der Seelen!«

Ihr Bruder und Feyerabend überhörten dieß, indem sie ihre Instrumente bey Seite legten; undLockmannen quoll eine Thräne in die Augen, da er sich einbildete, daß dieß ihn beträfe.

Sie gingen in den Garten, wohin die Mutter folgte, sahen den prachtvollen Untergang der Sonne, welche die ganze Gegend mit ihrem Purpurlicht zu einem Eden überglänzte, hielten unter den Linden ein angenehmes Gespräch über die Gestade des Ozeans; und beym Weggehn erhaschte Lockmann noch, mitHildegarden allein in der Dämmerung, einen freundschaftlichen Kuß, der unterwegs seinem Wesen einigermaaßen die angenehme friedliche Stimmung gab, welche sie verlangte.

Die folgenden Tage fing er an, mit Eifer, Feuer und Fülle, den ersten Akt des Achill in Skyros in Musik zu setzen. Hildegards Stimme leitete ihn immer bey der Hauptrolle, sie war sein Modell; und die kriegerischen Ausbrüche des jungen Helden schöpfte er dabey aus seinem eignen Herzen.

Ob er gleich der junge schöne Mann war, so hatte bis jetzt die volle [150] Leidenschaft der Liebe doch noch nicht in ihm geherrscht; lüsterne Weiber verführten ihn nur einigemal zu Venedig und Neapel, wie auf den Raub. Sinnenlust und weiter nichts. Die Vollkommne durchaus für Herz und Geist und Sinn war noch nicht erschienen; und der gewaltige Trieb, die höchsten Gipfel seiner Kunst zu ersteigen, besiegte alles. Hildegard allein fesselte ihn zuerst mit den unsichtbaren unzerreißlichen Ketten, sanft aber unwiderstehlich. Alles, was er nun begann und that, that er für sie.

Das nächste Konzert führten sie die vortreflichen Scenen aus der Armida des Jomelli auf. Lockmann hatte in einem gedruckten halben Bogen den Plan angegeben, und den Text der Scenen mit der Uebersetzung beygefügt. Hildegard erregte Bewunderung und Erstaunen; betrug sich aber dabey sehr anständig, und war bey weitem nicht die Armida bey der Probe auf ihrem Musiksaal. Der alte Reinhold wankte sehr in seiner Meinung, daß eine schöne Kastratenstimme alle weiblichen überträfe. AuchLockmann ärntete als Rinald viel Lob ein. Allen fiel auf, wie wohl er sich für diese Armida schicke; am mehrsten aber der Fürstin und dem Herrn von Wolfseck. Dieser lernte nun bloße Höflichkeit von Gefälligkeit und Neigung besser unterscheiden. Fein, und aller äußern Bewegungen mächtig, stellteHildegard sich gegen ihn, als ob in Rücksicht seiner gar nichts vorgegangen wäre. Er aber vermochte dieß nicht, und hielt sich anfangs in Entfernung; er hatte geglaubt, wie auch die Fürstin, sie würde als ein kluges Frauenzimmer die vortheilhafte Partie mit beyden Händen ergreifen. Zwar besaß ihr Bruder reiche Güter in Franken und der Pfalz, die von ehrlichen und verständigen Pächtern verwaltet wurden; aber die Schwester hatte darauf keinen Anspruch zu machen. Sie kannten ihren Charakter nicht, der sich in [151] dem freyen London ausbildete. Was Lockmannen betraf: so wußten sie nicht die geringste Spur; und beyde schienen lediglich mit ihrer Kunst beschäftigt. Selbst Schweigern verging sein Verdacht bey der leichten Genesung. Inzwischen entstand nun erst durch den Widerstand eigentliche Leidenschaft bey dem Herrn von Wolfseck; die Fürstin hatte ihm nach Hofsitte nicht alle Hofnung benommen, und ihn nur zurückgescheucht.

Diese war als Vorsteherin der weiblichen Geschäfte bey dem mißglückten Brautwerben empfindlich gereizt worden, und brachte bey dem kalten Lobe des angenehmen gesellschaftlichen Talents der Hildegard unvermerkt die Rede auf die Erziehung überhaupt, und zog den Hofmeister Feyerabend, der zugegen war, in Beyseyn des Fürsten und der Mutter, mit in das Gespräch, um an ihm dieser ihre Unzufriedenheit zu zeigen; sie hielt die ganze Krankheit derHildegard für bloße Verstellung.

»Man klügelt jetzt so viel an der Erziehungskunst, daß die Eltern den Kindern bald werden gehorchen müssen; ich lobe mir die alte!« Dieß war nach einigen vorläufigen Bemerkungen der ziemlich bittre Ausfall.

Feyerabend antwortete: »Wenn Ihro Durchlaucht darunter vortreflich eingerichtete öffentliche Schulen verstehen, so war der selige Herr von Hohenthal ganz derselben Meinung: auch hat sein Sohn den öffentlichen Unterricht zu London genossen, und ich war mehr sein Gehülfe und Begleiter, als daß ich dessen Erziehung besonders und allein auf mich genommen hätte.«

»Das Wichtigste für den Menschen überhaupt ist Menschenkenntniß; denn der Mensch selbst bleibt doch der Hauptquell der Glückseligkeit für Menschen. Kinder können sie platterdings nicht besser erlangen, [152] als bey andern Kindern, die gleiche Neigungen und Bedürfnisse haben; die ältern Menschen können sie noch nicht fassen. Und so muß es immer stufenweise fortgehen, bis zu öffentlichen Aemtern, bey Frauenzimmern und Mannspersonen bis zur Vermählung. Wer den besten Mann, die beste Frau aussuchen will, muß erst viele andre kennen; sonst kann er sich leicht etwas weis machen lassen, und ist dann elend auf sein ganzes Leben.«

Die Mutter, ob sie gleich über die letzten Worte erschrak, hätte ihn doch küssen mögen für die Gegenpille, die er Ihro Durchlaucht so derb und rund in aller Unschuld beybrachte, daß sie vor widrigem Geschmack nicht wußte, wie sie die Lippen bewegen sollte. Da sie jedoch nichts sagte, so fuhr er ferner fort, um sich bey dieser Gelegenheit vielleicht zu empfehlen.

»Die öffentlichen Schulen bey uns haben nur den Fehler, (wenn auch ausgesucht vortrefliche Männer darin Unterricht ertheilen, welches bey manchen nicht immer der Fall seyn soll,) daß die Wissenschaften da zu sehr zerstückelt werden; früh Morgens um acht Uhr dieses, um neun Uhr jenes, um zehn Uhr wieder ganz etwas anders, u.s.w. Auf diese Weise kann nichts vollständig in einem Zug in die Seele kommen; kein vortreflicher Mann in irgend einem Fache ist es so geworden.«

»Dieser Fehler findet jedoch auch bey der gewöhnlichen Privaterziehung Statt. Die Meister geben ihre Lehren stundenweise; und lassen sich so dafür bezahlen. Der Sprachmeister geht diese Stunde dahin, die andre dorthin.«

»Ein Fehler unsrer Erziehung überhaupt ist, daß die Kinder mehr Worte als Sachen lernen. Wer Mann und Weib noch nicht kennt, wie soll der Geschichte verstehen und Nutzen daraus ziehen? Wer [153] noch nicht Meer, Gebirg und Thal, Lauf von irgend einem großen Strom, Ursprung der Quellen, vielleicht noch keinen Zimmermann und Maurer arbeiten sah, wie will der Geographie, Reisebeschreibungen verstehen? Wer weder Menschen noch Thiere und Pflanzen einigermaaßen kennt, wie will der vortreflich reden und schreiben lernen in irgend einer Sprache, wenn die Quelle der Beredtsamkeit und des guten Styls erfahrner Sinn und geübter Verstand ist?«

»Man soll Kinder lernen lassen, was sie lernen können. Das Wichtigste ist, Leibesübungen treiben, die sich für sie schicken; als tanzen, schwimmen, laufen, marschiren, exerziren, hungern, dursten, Hitze und Frost ausstehen, wachen; überhaupt den Körper lenken und bilden, und mit der Seele Gewalt darüber bekommen. Dieß war des seligen Herrn von Hohenthal Grundsatz. Und selbst unser Fräulein schwimmt trotz einem in Europa; und hat ihren schönen Körper dadurch abgehärtet.«

»Dann die Natur um sie herum kennen; und rechnen, Geometrie und zeichnen dabey. Die Elemente, so viel sie, und vielleicht wir alle, davon verstehen können; unser Sonnensystem, mathematische Geographie, unser Dutzend Fixsterne der ersten Größe; und dann erst die Geographie im Großen, und Wind und Wetter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Thiere, Pflanzen und Steine zur Nothdurft.«

»Und dann die andern Künste und Wissenschaften und Sprachen nach ihrer Bestimmung von Natur oder Stand.«

»Ferner ist noch ein Hauptfehler, daß man die Kinder mit Stunden überhäuft. Man läßt ihnen keine Zeit, sich selbst zum Urtheilen zu gewöhnen; und erstickt durch den zu frühzeitigen Wörterkram allen Trieb und Reiz.«

[154] »Was Religion und Theologie betrift, die leider in unsern Schulen die mehrste Zeit wegnimmt: so darf man mit Kindern darüber gar nicht räsonniren, sondern sie müssen ihren Morgen- und Abendsegen beten und in die Kirche gehen nach Landesgebrauch. Metaphysik, und das Schwerste derselben, ist wahrlich nicht für sie; und spotten über ältere sollen sie auch nicht. So wenig als möglich von Theologie; denn es bleiben doch bloße Worte für die Kleinen.«

Die Fürstin konnte nichts anders darauf antworten, so gern sie auch dem Freymüthigen den Kopf hätte waschen mögen, als: »Im Allgemeinen läßt sich so etwas wohl hören; aber die Ordnung, die Sie mir zu tadeln scheinen, ist bey der Erziehung die Hauptsache, man kann die Kinder nicht streng und frühzeitig genug dazu angewöhnen. Die Religion fertigen Sie gar zu kurz ab; und es ist gut, sie bey Zeiten gründlich zu verstehen.«

Feyerabend erwiederte: »Wenn Ihro Durchlaucht die gute Ordnung, oder die Ordnung nach der Natur der Dinge, meinen; so hab' ich mich vielleicht nur nicht deutlich genug ausgedrückt. Niemand kann mehr dafür seyn als ich. Und was die Religion betrift: so war es ganz auch meine Meinung, daß die Kinder das Wesentliche wissen sollen.«

Der Fürst legte sich dazwischen, und sagte: »Hohenthal wird auch fleißig die klassische Litteratur getrieben haben?«

Die Mutter antwortete: »Ich wünschte, daß Sie, gnädigster Herr, selbst einmal ihn prüfen möchten. Alles, was wir sagen, kann doch nur partheyisch lauten. Und so bitt' ich, wendete sie sich darauf zur Fürstin, mit gebührender Bescheidenheit um den höhern Unterricht einer so erhabnen Frau über ihr Geschlecht für meine Tochter.«

Darüber ging es zur Tafel. Herr von Wolfseck faßte doch den [155] Muth, Hildegarden wie gewöhnlich dahin zu führen, und sagte ihr einige aufgeraffte Worte über ihren Gesang. Sie begegnete ihm gerade so höflich wie sonst.

Die Rede kam bald auf das Vogelschießen, welches künftige Woche gehalten werden sollte. Hohenthal pries dieses Volksfest in Deutschland, und die vortrefliche Einrichtung des wöchentlichen Scheibenschießens mit Herrn von Lupfen. Man ging davon über auf den Zweykampf. Hierbey zeigte sich Herr von Wolfseck, und sagte:

»Was wird durch den Zweykampf entschieden? Nach der Vernunft platterdings nichts mehr, als wer der beste Fechter oder Pistolenschütze sey.«

»Wessen Ehre, vorzügliche Ehre, besteht darin? Die der Fechtmeister und Pistolenschützen. Auch die der Offiziere, Hauptleute, Generale, Edelleute?«

Hohenthal antwortete: »Vorzügliche Ehre? gewiß nicht. Es gehört bey diesen nur zur guten Erziehung, und ist theils nothwendig für ihre Laufbahn, daß jeder diese Kunst getrieben hat; und niemals wird verlangt, daß einer sie bis zur höchsten Vollkommenheit getrieben haben sollte, um wichtigere Eigenschaften dagegen zu vernachlässigen.«

Wolfseck erwiederte: »Wenn einer aus dieser Klasse von dem andern beleidigt worden ist, und denselben zum Zweykampf herausfordert, was will er dadurch erreichen? beweisen? Doch warlich nicht, daß er ein besserer Fechter, Pistolenschütze sey! sondern daß der andre ihn mit Unrecht beleidigt habe. Wird dieß durch den Erfolg entschieden? Auf keinen Fall; den einzigen ausgenommen, wenn die Beleidigung, das Unrecht darin bestände, daß der andre ihn einen schlechten Fechter, Pistolenschützen gescholten hätte. Was [156] will also die eingeführte Gewohnheit sagen? Der beste Fechter, der beste Pistolenschütze, oder der Stärkere kann thun, was er will, und er hat wahrscheinlich allezeit Recht.«

Herr von Wolfseck war hier in seinem Elemente, und sprach wie ein Buch. Hohenthal gab ihm hierin völlig Beyfall; und fügte noch hinzu:

»Um sich gegen die Frechheit, den Uebermuth dieser Gladiatoren zu schützen, wenn die Regierung nicht schützt und die Kultur der Gesellschaft, ist bey den gebildetern Nazionen, den Griechen, Römern, Italiänern, gegen die Barbaren der Meuchelmord entstanden.«

Er entwickelte diese Materie noch weiter.

»Man sagt: meine Ehre ist mir lieber als mein Leben. Deine Ehre besteht also darin, daß du die Tollheit hast, dich von einem Fechtmeister niederstoßen zu lassen?«

»Mit einem Fechtmeister braucht man sich nicht zu schlagen.«

»Also weißt du vorher, daß dein Gegner kein ausgelernter Fechter ist, oder daß du ihm in dieser Kunst überlegen bist? Bleibt dann, wenn du gewiß bist, ihn zu erlegen, der Zweykampf etwas anders als Mord? Wenn ein St. George einen ungeübten Deutschen Baron zu Paris vor sich hat, ist der Unterschied viel größer, als wenn einer den Dolch heimlich einem Unbewafneten, einem Weibe ins Herz stößt?«

»Heimlich? Dieß macht einen gewaltigen Unterschied! Der Junker kann die Ohrfeige einstecken, und braucht sich nicht zu schlagen.«

»So lang' er aber muß, wenn er in Gesellschaft, in eurer menschlichen Gesellschaft bleiben will? Ist dieß nicht auf alle Weise Mord?«

»Also Meuchelmord, Mord, Zweykampf ist nicht so sehr verschieden.«

[157] »Soll das Glück entscheiden, wie ungefähr auf dem Billard zwischen zwey gleich vortreflichen Spielern, oder zwey ganz ungeschickten: so ist der Würfel viel bequemer; und der Gewinner stoße den andern nie der.«

»Dieß mag wohl das Stärkste seyn, was sich gegen die eingeführte Sitte sagen läßt. Allein es ist nicht immer der Tod auf dem Spiel; sondern es soll oft nur ausgemacht werden, wer der Stärkere sey, und Ehrerbietung von dem andern zu fordern habe, wie in allen Künsten; und damit dieß nachdrücklicher eingeschärft werde: so nimmt man statt des Rappiers den blanken Degen. Ein offenbarer Krieg, nur zwischen Zweyen. Beym Pistolenschießen ist er zwischen zwey vortreflichen Schützen jedoch ein völliges Würfelspiel; wer den ersten Schuß hat, erlegt den andern. Und dieß sollte nie gestattet werden.«

»Mit dem Degen ist der Zweykampf aber oft nur Kampf, wie zwischen Stieren und Hirschen; man sucht dem andern nur ein wenig das hitzige Blut abzuzapfen. Dergleichen Sachen können nicht wohl vor Gerichten ausgemacht werden; und auch bey andern läßt es ein gewisser edler Celtischer Stolz nicht zu, daß Philister entscheiden dürfen, wie ich gerade Manches empfinden und darüber denken soll. Unsre Stärke äußert sich nun einmal mit Degen und Schießgewehr, und nicht mehr mit Prügeln, Ringen und Fauststößen. Wer sich selbst nicht vertheidigt, vertheidigt schwerlich auch mit Gefahr seines Lebens Vaterland oder das Recht seines Fürsten; und es zeigt allemal wenig Gefühl ursprünglicher Vortreflichkeit an, wenn man den Tod allzusehr scheuet, und seinen Balg allzusehr schont.«

»Wer das Recht hat, einen Degen zu tragen, mit dem muß man sich auch schlagen. Wer in einer Gesellschaft leben will, muß sich [158] nach den eingeführten Gewohnheiten richten, oder so wenig Neigung zur Geselligkeit haben, um sich von ihr verachten lassen zu können.«

»Ferner, wer das Recht haben will, einen Degen zu tragen, muß ihn auch zu gebrauchen wissen; um dieß zu zeigen, trägt er ihn. Wer nicht Griechisch lesen kann, braucht keine prächtige Ausgabe des Homer in seiner Handbibliothek zu haben; wenigstens darf er nicht damit prahlen.«

»Man soll die Leute kennen, mit denen man umgeht, und umgehen muß. Offiziere, Edelleute, die mit einander leben, sollen immer wissen, welches die geschicktesten sind im Fechten und Pistolenschießen, und sich in Acht nehmen, diese zu beleidigen.«

»Kriegerische Stärke behauptet immer den ersten Rang; denn sie ist zur Erhaltung die nothwendigste.«

»Wenn sich ein Mensch aber darauf verläßt, und muthwillig und frech Unschuldige beleidigt, verwundet und tödtet: dann werden sich mehrere bald gegen ihn verschwören, bis endlich Meuchelmord erfolgt, wo die Regierung nicht schützen kann. Oder man schickt einen stärkern, ausgelernten Fechtmeister unbekannt über ihn, wie in Frankreich geschieht; und vertilgt ihn aus der Gesellschaft.«

»Bey einem Volke, ja bey Ständen, wo der Zweykampf nicht im Gebrauch ist, herrschen auch grobe Sitten. Die berühmten Athenienser, Philosophen, Redner, Dichter, und noch zuweilen unsre Gelehrten, schimpfen sich einander wie die Sachsenhäuser. Die Messerstiche machen die heutigen Römer zu den feinsten Gesellschaftern. Und die Vernunft gewinnt dabey; man geräth nicht ins Wilde, die Leidenschaft wird im Zügel gehalten.«

Der Fürst antwortete auf dieses alles: »Ich liebe das jugendliche [159] Feuer, und schätze zugleich die Beredtsamkeit, womit Sie die Sitte Ihres Standes zu vertheidigen suchen. Aber in einem wohlgeordneten Staate darf kein Mitglied das Leben eines andern angreifen; besonders wegen Kleinigkeiten und Zänkereyen, wie meistens der Fall ist. Dieses Uebel ist uns noch aus den Faustrechtszeiten übrig, wo Ritter und Räuber unumschränkt und im Stande der Natur zu seyn wähnten.«

»Das Gelindeste, was man thun kann, ist, daß man bey sonst vortreflichen Männern, die das noch nicht ausgerottete Vorurtheil von Schande zwingt, sich so zu vertheidigen, zuweilen durch die Finger sieht.«

Hohenthal machte Miene, noch etwas, wahrscheinlich zum Lobe des Fürsten, darauf zu erwiedern; aber die Mutter winkte ihm zu schweigen; und so sprach man gleich von andern Dingen. Jedoch gefiel den mehrsten, besonders den Damen, die sich die Ritterzeiten gar reizend vorstellen, was er gesagt hatte.

Lockmann setzte einen neuen Marsch für die Schützengesellschaft und Jäger, worüber sie großen Jubel bezeigten; und suchte unter seinen alten Sachen Duetten für Waldhörner, Quartetten, Quintetten und Sextetten für mehrere blasende Instrumente hervor.

Montags Nachmittags zog man in aller Pracht aus.

Der Schießplatz war in einer angenehmen Gegend von den Bächen umflossen, und mit hohen Bäumen eingefaßt, der Sicherheit wegen beynah eine halbe Stunde weit; die Vogelstange stand auf einer Anhöhe. Der Fürst that in Person den ersten Schuß, und traf so glücklich, daß der Reichsapfel stürzte. Die Damen schmückten das Fest, und einige kamen zu Pferde,Hildegard mit ihrem Bruder heroisch und reizend auf zwey raschen schönen Engländern, sie auf [160] einem milchweißen Rammeskopp, er auf einem stolzen Rappen. Sie wurden von Trompeten und Pauken bewillkommt, womit Hörner und Klarinetten freudig abwechselten. Der Himmel war mit einem dünnen Gewölk überzogen, welches vom Donner der Büchsen bald aus einander ging, und den blauen Aether zeigte.

Aus der ganzen Gegend herum hatten sich Men schen herbeygesammelt. Buden mit allerley kostbaren Sachen waren aufgeschlagen. In allen Ecken Spiel und Tanz und Gelag. Manches schöne Kind in der Nachbarschaft entdeckte man hier zuerst. Die ganze liebenswürdige Geselligkeit des Menschen erschien bey Lust und Vergnügen.

Der Fürst und die Fürstin und Herr von Lupfen hatten ansehnliche Geschenke ausgesetzt.

Dann schossen zwey Offiziere die Krallen ab; gegen Abend Hohenthal den rechten Flügel; und dem Kapellmeister sprach man auf der Scheibe wenigstens den zweyten Preis zu.

Den andern Morgen wurde da herrlich gefrühstückt, und weiter fort geschossen; Musik gemacht, Preise gewonnen, gesotten, gekocht, gebraten, und geschmaust, Andenken eingehandelt, gespielt, getanzt und gezecht, erzählt, geküßt, und gelacht, bis am Abend der Körper des Vogels nach langem Wackeln und Täuschungen von einem Kernschuß endlich abfiel, und unter allgemeinem Jauchzen die Höhe herabrollte. Eine Stimme rief der andern Katt zu; Katt, der junge geschickte Jäger aus dem Hennebergischen, im Dienst des Herrn von Lupfen, that den Schuß für den kleinen Junker Wilhelm.

Man behängte ihn sogleich in dessen Namen als König mit der Pracht der Schilde. Die Trompete schmetterte das Zeichen zum Einzug; und nachdem alle sich einfanden, erscholl feyerlich froh der [161] Marsch. Man schritt in muthiger Heldenreihe voran, und so vom jubelnden Volk auf beyden Seiten und vorn und hinten umgeben, den nur zu kurzen Weg im Triumph wieder in den Ort, zum nächtlichen Schmaus und Ball.

Den folgenden Abend ging es in eben dem lustigen Tone bey der Buona figliola im Konzert fort, von welcher Lockmann das Beste aufführte. Die schöne junge Madam Ewald machte die Cecchina treflich, und eben so die Demoisellen Busch undLöffler die Paoluccia und Sandrina; Zorn denTagliaferro meisterlich. Das Stück war schon die vorige Woche probirt worden, und sie hatten es während der Zeit so einstudirt, als ob sie es auf einem Theater von Neapel spielen sollten. Hildegard sang diesesmal nicht mit, theilte aber reichlich Lob aus, besonders der Ewald und dem Zorn. Der Fürst kannte das Stück schon, und hatte besonders an den Finalen große Freude, so wie alle.

Während des Zwischenraums vor dem zweyten Akt wollt' er den jungen Hohenthal über seine Studien versuchen; er fing gleich mit der Römischen Litteratur an, und den Nachrichten Cäsars über den Gallischen und bürgerlichen Krieg, die er am besten kannte.

Der edle Jüngling hatte sie mehr als einmal mit vieler Aufmerksamkeit und Ueberlegung gelesen; und sagte: »Bey ihm kann man recht die Philosophie des Kriegs studiren. Er ist zwar nur der einzige unter den Römischen Schriftstellern dafür: aber an ihm und dem Feldzuge Xenophons, meinem liebsten Griechischen Buche, findet man genug zu denken.«

Der Fürst ging ins Besondre; es wäre äußerst anziehend, die Schweizer, Gallier und unsre Urväter daraus kennen zu lernen. [162] Zum Beyspiel gleich Anfangs den festen Charakter der Schweizer und ihre Beharrlichkeit.

»Aber auch Blindheit und Verwegenheit, versetzte der Jüngling. Bey der erstaunlichen Mauer zu Genf führten sie sich zwar ehrlich aber dumm auf. Eben so unvorsichtig lassen sie sich an der Saone schlagen; ihn darauf mit aller Bequemlichkeit über den Fluß gehen; und bekümmern sich weiter in ihrem Marsche weder um hinten, noch vorn, und auf den Seiten und oben und unten. Gewiß ein höchst tapferes, aber auch dummes und trotziges Volk; ich glaube, die Wilden in Amerika streiten mit mehr Klugheit.«

»Welch ein unendlich höherer Mensch ist Cäsar gegen sie in allem! Welche erstaunliche Thätigkeit, eigne Beständigkeit, sich auf Niemand anders zu verlassen, Menschenkenntniß, Geschwindigkeit in der Ausführung, Kühnheit und Klugheit, immer nur das Ziel vor Augen zu haben; ob er gleich bey dieser er sten Campagne sich auch wohl ein paarmal übereilte!«

Der alte Krieger mußte über die letztern Worte lächeln; doch hörte er ihm mit Lust zu, und fuhr dann ferner fort: »Für die Franzosen ist Cäsar nur ganz klassisch.«

»Wenn sie ihn fort lesen, versetzte Hohenthal, so werden sie nie einen mächtigern zu Hülfe rufen. Das kriegerische Genie Cäsars blickt hier immer mehr hervor; wie ein Fechter gerade das Fleckchen zu bemerken, den wesentlichen Punkt, auf den loszugehen ist. Beym Ariovist, der ohne Vergleich klüger war als die Schweizer, verpaßt er ihn einmal, und erzählt es ehrlich für diejenigen, welche durchsehen. Sein Styl ist nachlässig, wie ein großer Mann eben etwas für sich aufschreibt.«

»Es ist schön, wie er von allem Kundschaft einzieht, seine Feinde so [163] recht studirt, nie verachtet, seine Läger und die vortheilhaftesten Plätze zu Schlachten durchaus so vortreflich wählt, bey den größten Gefahren nie die Thätigkeit verliert, immer die kälteste Gegenwart des Geistes behält; und keine tapfre That seiner Leute, die er alle kannte, gut gezogen hatte, und mit denen er sich nichts für zu schwer hielt, unbelobt läßt.«

»Grausam war er gewiß einigemal gegen die Deutschen, aber noch mehr gegen die Gallier, und verbreitete oft mit Feuer und Schwert Schrecken und Verwüstung. Wer es tadelt, bedenke, daß die Römer das Siegen am besten verstanden, und so die Welt bezwungen haben; und überlege Cäsars Schilderung der Gallier, denen noch jetzt die Franzosen zum Verwundern gleichen. Wer anders verfährt, kann zwar ein besserer moralischer Mensch seyn; aber der Erfolg wird zeigen, ob auch so Held und Sieger.«

»Unter den barbarischen Nazionen zeichneten sich die Britten schon damals vorzüglich durch ihre Kriegskunst und ihren Verstand aus; sie verließen sich bloß auf Stärke und Menge, und wagten gegen den ausgelernten großen Heerführer und dessen erfahrne und geübte Legionen keine förmliche Schlacht.«

Der Fürst erstaunte über die Bemerkungen. Ihn entzückte das Feuer der Augen, womit Hohenthal sie vorbrachte; und er führte das Gespräch noch fort bis auf den bürgerlichen Krieg.

»Gerad' in diesem, verfolgte der seltne Schüler, erscheint Cäsar am dargestelltesten und größten; besonders nach der Schlappe bey Durazzo bis auf die Verfolgung des Pompejus nach Aegypten. Welche rastlose unermüdliche Kraft! welche kalte nüchterne Ueberlegung bey dem höchsten Glücke! Welche klare Uebersicht des ganzen ungeheuern Römischen Reiches! Er ist recht das Exempel zu Horazens


[164] – – Aequam memento

rebus in arduis servare mentem; non secus

in bonis ab insolenti temperatam laetitia.«


»In Alexandrien allein scheint ihm die junge reizende Kleopatra etwas Kraft und Zeit weggenommen zu haben; manserat in fide praesidiisque ejus, sagt Hirtius; sonst hätten die Alexandriner ihm gewiß nicht so lange zu schaffen gemacht.«

»Nach solchen Thaten war sie ihm ein voller Becher Nektar aus dem Olymp. Er ist auch so klug gewesen, den Alexandrinischen Krieg nicht selbst zu beschreiben. Nachdem er beynahe die ganze Römische Welt besaß, war es wenigstens Unklugheit, in einem solchen Mordloche Leib und Leben und sein ganzes Glück aufs Spiel zu setzen. Aber der Held wollte dem Himmelskinde, der Kleopatra, für den Genuß, den sie ihm gemacht hatte, ein Königreich geben; und führte es aus. Er wagte hier ein paarmal alles, so wie sonst nirgends; außer wie er über das Meer von Brundusium setzte.«

»Glück hat er viel gehabt, wie auch unser Friederich; ohne dieß kein berühmter Held. Seine großen Thaten vollbrachte er übrigens in dem reifsten Alter.«

Der Fürst konnte sich nicht enthalten, gewaltig von einem so jungen heroischen Geist ergriffen, ihn öffentlich zu umarmen, und ihm einen Kuß zu geben; worüber sich jedermann, als etwas ganz Außerordentliches, verwunderte.

Fußnoten

1 Dem 51sten Psalm.

2 Sömmerring, mein Freund, hat mir zu dieser Unterredung folgende meisterhafte anatomische Schilderung mitgetheilt, die alles erschöpft. »Zu einem guten Sänger gehört, außer guten und geübten Hörorganen, einem regelmäßig gewölbten, bequem, gemächlich und kräftig im eigentlichen Verstande nachdrücklich zu bewegenden Thorax, weiten, starken, leicht und frey ausdehnbaren Lungen, einem nicht zu gestreckten noch zu gestauchtem Halse, noch insbesondre: ein genau richtiges Verhältniß der Theile des Kehlkopfs zu einander, eine nicht zu straffe, noch zu schlaffe Zusammenfügung derselben, eine mäßige Biegsamkeit derselben, gleichmäßige Kraft der Muskeln desselben auf beyden Seiten, vorzüglich gleiche Dicke, Länge, Einfügung, Geschmeidigkeit und Spannung der Stimmritzenbänder, gleiche Höhe der Taschen, ein nicht zu hoch geendigtes, noch zu tief hinab hangendes, nicht zu schlotterndes, noch zu scharf angezogenes Gaumensegel, ein regelmäßig geformtes, nicht zu langes, noch zu kurzes, nicht zu breites, noch zu schmales, nicht zu rundes, noch zu parabolisches, nicht zu flaches, noch zu krummes Gewölbe des festen Gaumens, eine gehörig befestigte, zu einem regelmäßigen Gaumen vollkommen passende, schnell umzuformende, und doch kräftige Zunge, regelmäßig symmetrische, willig nachgebende Zungenbeine, gehörig offne, und doch an den Eingängen und Ausgängen gradweis leicht zu schließende rein widerhallende Nasenhöhlen, eine nicht zu dichte, noch zu sehr unterbrochne, nicht zu hohe, noch zu niedrige Zahnreihe, ein weder wülstig noch schmal gesäumter, nett und präcis geendigter Mund, der daher auch nett und präcis wirkt, folglich weder ein fremdes Gesprudel beymischt, noch der Schönheit, der Reinheit, dem Wohlklang der vollkommen schön geformten Töne den mindesten Abbruch thut. Selten sind aber der Kehlkopf und die übrigen Theile zusammen so regelmäßig und symmetrisch gebaut. Gesetzt nun, eins der Stimmritzenbänder ist länger oder kürzer, mehr oder weniger gespannt als das andre Stimmritzenband: so bewirkt es auch in der nämlichen Zeit eine andre Anzahl von Erzitterungen in der Luft, als das andre; folglich können auch seine Töne unmöglich mit den Tönen des andern übereinstimmen.«

3 Sömmerring glaubt in seiner neuesten, wichtigen, noch ungedruckten Schrift über das Sensorium commune den physischen Grund für die Wahrheit dieser Behauptung angeben zu können. »Unter allen Nerven nämlich, sagt er, ist keiner, der so unmittelbar, so nackt und bloß mit der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen (worin er das Organ des Sensorium commune sucht) in Berührung steht; folglich auch so unmittelbar das gemeinsame Sensorium rührt. Denn der Anfang, oder das äußerste Hirnende dieses Nerven ist so offenbar und deutlich von der Natur selbst dargelegt, daß es wahrlich ungereimt seyn würde, in Rücksicht der Hirnenden des Hörnervenpaars noch etwas mehr durch die Kunst entdecken zu wollen.«

4 In Ramlers Tod Jesu.

5 Im Requiem aeternam.

6 Zu Anfang des dritten Bandes wird man dieses deutlicher und mit klassischen Beyspielen erklärt finden.

7 In Händels Messias.

8 Qui nostram disciplinam petit, in monochordi usu manum exerceat, hasque regulas saepe meditetur, donec vi et natura vocum cognita ignotos vt et notos cantus suaviter canat. Sed quia voces, quae hujus artis prima sunt fundamenta, in monochordo melius intuemur, quomodo eas ibidem ars naturam vocum imitata discrevit, primitus videamus etc. Micrologus, id est, brevis sermo in Musica. Auffallend ist es, daß er alsdann die diatonische Leiter noch im elften Jahrhundert, wo er lebte, nach Quarten in denselben Verhältnissen, angiebt, wie Roussier sie den Aegyptiern und Griechen zuschreibt, und mit der letzten Quarte F beym runden B endigt.

9 Die Griechischen musikalischen Schriftsteller halten ihn einstimmig dafür. Die wissenschaftlichen Kenntnisse der ältern Aegyptier in dieser Kunst könnten alsdann nur gering gewesen seyn. Doch scheinen schon die Thebanischen Harfen, die Bruce abgezeichnet hat, dawider Zweifel zu erregen. Gewiß ist das Monochord der Eingang ins Heiligthum.

10 Mein Abgott, mein Leben, o trübe diese Blicke nicht!

11 Ach, ich Unglückliche! O, ich fühle dich mein armes Herz!

12 Die ganze Hölle will ich gegen dich aufbewegen! Geh nur, geh nur! aber gedenke, daß du mich als bloßen Geist und Schatten immer hinter dir haben wirst!

13 Du wirst mich bey Namen rufen, und es wird alsdann zu spät seyn.

14 Ach, mir bricht das Herz unter so viel Marter.

15 Hört, o Furien, hört! euch rühre meine Pein.

16 Komm, o süße Ruhe, meine Brust mit Kummer beladen zu erleichtern.

[165] [167]Zweyter Theil

[167][169]

Lockmann arbeitete fleißig an seiner Oper.

Den zweyten Tag darauf ging er wieder zu Hildegarden, und traf sie allein, zum erstenmal auf ihren Zimmern, die am Musiksaal offen standen. Er trat hinein, wie in ein Heiligthum. Sie empfing ihn traulich, hieß ihn willkommen, faßte ihn selbst bey der Hand, führte ihn herum, und zeigte ihm ihre ganze Einrichtung. Die Aussicht war gerade gegen Osten, wo im hohen Sommer die Sonne aufgeht, über Garten und Feld; ihr Schlafgemach ausgeziert mit den schönsten Woollets, und zwey herrlichen Landschaften vonClaude Lorrain und Salvator Rosa, zwey reizenden Gegenden am Pausilipp: die erste mit der Morgenbeleuchtung, wo der Wellenschlag grünlich strahlte und glänzte, unmittelbar nach der Natur mit Farben aufgetragen, und einem Schlagschatten über das Wasser von Bäumen und der Küste, welcher den Duft am Himmel, die weichenden Wolken und das Dunkelblau erhob. Der Salvator Rosa stellte die so genannte Schule Virgils dar, Felsen, Ruinen und Gesträuch wie Wirklichkeit.

Dann erblickte er ihre kleine Bibliothek in der Ecke wie versteckt, und fand die besten Englischen Dichter und Geschichtschreiber in schönen Ausgaben: denApostolo Zeno, Metastasio, und einige Bände [169] Sammlungen andrer Opern, den Petrarca, Tasso, und Komödien von Goldoni, die letztern wegen der lebendigen Sprache; den Corneille, Racine, Moliere; die Fabeln des La Fontaine; Verschiednes von Fenelon, von Voltaire und Rousseau; den Haller, Hagedorn, Kleist; die Kriegslieder, Halladat und andre Gedichte von Gleim; Klopstocks Oden und Hermanns Schlacht; Göthe'ns Götz von Berlichingen und Werther; Ramlers Oden und Kantaten; Lessings Dramaturgie, Fabeln, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan; Wielands Agathon, Musarion und andre Gedichte; Geßners Idyllen, Jacobis Werke, Bürgers Lieder,Vossens Odyssee, u.s.w. Neuere Meisterstücke der Deutschen Litteratur für sie waren damals noch nicht erschienen.

Die besten Uebersetzungen des Sophokles und Euripides; mit unter Kochbücher und Modejournale; Gespräche des Plato, die Leben des Plutarch im Französischen; Flora Parisiensis, Büschings Geographie, Reisebeschreibungen, Homanns kleinen Atlas, und einige Englische Karten.

Dabey nahm Lockmann eine Sammlung Zeichnungen in die Hand; es waren ihre eignen, lauter treu aufgenommene schöne Gegenden, durch die sie auf ihren Reisen gekommen war, und wo sie sich aufgehalten hatte. Er erkannte darunter nur zwey der schönsten vom Rheinstrom: eine bey Bingen, und die andre bey Kaub. Die letztre vorzüglich war mit Kennerblick im besten Standpunkt aufgefaßt, und voll Liebe ausgeführt. Der Strom drängte die breite Fülle seiner Wasser im Schlangenpfad allgewaltig durch das Gebirge hin, das vom Frühling geschmückt sich in süßem warmen Abendduft wie eine Braut des Himmels in ihrer Reinheit spiegelte, und verlor sich freudig in ferner Waldung.

[170] Sie sagte bescheiden: »Es sind nur Erinnerungen für mich; ich habe diese Kunst nie mit dem erforderlichen Fleiße getrieben. Die Zeichnungen von meinem Bruder, besonders was militärische Architektur betrift, werden Ihnen ohne Vergleich besser gefallen.«

Die musikalische Bibliothek mit einigen theoretischen Werken befand sich zum gemeinschaftlichen Gebrauch auf dem Musiksaal.

Lockmann wagte noch nicht, mehr zu sagen, als: »Ich muß Sie immer höher schätzen und bewundern!« aber seine Blicke konnten nicht verbergen, was er fühlte. Sie gingen einige Minuten auf und ab. Er schlang seinen Arm endlich um den ihrigen, drückte ihre Hand an sein Herz; und da sie es gütig und hold geschehen ließ: so war es ihm nicht möglich, sich länger zu bändigen; in einem Schwung war Brust an Brust und Mund an Mund, sie mit Gewalt ergriffen und aufgehoben.

»Nicht das, nicht das!« sagte sie, und zog sich aus seinen Banden; »das ist nicht freundschaftlich.« Ihr Blick war ernst und unwillig. Was geschehen war, mäßigte sein Feuer, und er entschuldigte sich mit einem starken Seufzer: »O, wären Sie minder schön, weniger im allerstrengsten Verstande liebenswürdig! so aber müßt' ich Stock und Stein seyn, um beständig so vielen Reizen zu widerstehen.«

»Trauter,« antwortete sie ihm lächelnd, »die Leidenschaften bilden sich viel ein, was nicht ist. Nur Verstand und Beschäftigung, bis wir mit der gehörigen Art unsers Umgangs in Gewohnheit kommen; und dann sind wir so glücklich, als ich wünsche.«

So leitete sie ihn bis zum Klaviere, auf das er eine neue Oper hingelegt hatte. Sie nahm sie in die Hand, las:


Sofonisba di Verazi, Musica di Tomaso Traetta; 1762.


und freute sich, weil sie von Kramern viel davon hatte sprechen [171] hören, und dabey auch von Dorothea Wendeling, der Deutschen Melpomene der goldnen Zeit zu Mannheim.

Dieß brachte ihn einigermaaßen wieder zu sich. Sie setzten sich zusammen, und er fing an, darüber zu reden.

»Sophonisbe ragt fast zu sehr über alle die andern Personen in der Musik hervor; eine junge Königin voll Gefühl, doch noch mehr Adel der Seele.«

»Sie ist weit mehr ein Geschöpf des Tonkünstlers, als des Dichters. Bey den Hauptsituazionen, den einzig bedeutenden, ist des erstern Ausdruck entschieden vortreflich, ganz Natur, so rein, daß nicht zu denken ist, wie er besser seyn könnte. Und nicht allein der Ausdruck ist vortreflich, sondern die Musik überhaupt: schöne neue Melodie, schöne neue glänzende Begleitung, gründliche passende abwechselnde Harmonie. Kurz, Traetta zeigt sich hier als ein wahres großes Originalgenie, das in der Musik als Erfinder da steht, und Andre geleitet hat. Diese Oper gehört aber auch unter seine besten Werke.«


»Im ersten Akt

ist die vierte Scene der Sophonisbe ein Meisterstück reizender weiblichen Schönheit voll Italiänischen Accents: Intesi; ti basti, s' io cesso d'odiarti 1. Hier ist so gar nichts von Schlendrian, alles neu, die süßeste Melodie, nichts überflüßig.«

Hildegard trug die Scene sogleich mit dem spröden Ton einer hohen Königin vor.

»Die zweyte Meisterscene in diesem Akt ist die zehnte letzte des Siface; hauptsächlich der Arie wegen. Die Geschichte der Musik muß entscheiden, ob sie das Original ist, oder Glucks Se mai senti spirarti sul volto, die der letztre hernach mit eignem Wohlgefallen in der [172] Iphigenia von Tauris wiederhohlt hat. Ueberhaupt braucht er die Art mehrmals, als beyOmbre, larve in der Alceste:


Terrore m'inspira, d'orrore m'ingombra

Un' ombra gelosa.«


»Deßwegen bleibt jeder doch ein großer Meister, und beydes göttliche Gesänge; keiner kann in einer Kunst alles erfinden. Inzwischen muß man jedem sein Recht angedeihen lassen.«


»Im zweyten Akt

ist die Arie der sechsten Scene von der Sophonisbe ganz in der Art, welche Majo so oft braucht. Ich sage nicht, daß Majo kopirt hat; aber man sieht dabey so recht, wie das Ganze der Kunst fortrückt.«

»Noch ist die zehnte Scene, die letzte in diesem Akt, schön und dramatisch; das Recitativ der Sophonisbe reiner tragischer Styl, und das Terzett leidenschaftlich.«


»Der dritte Akt

enthält das Vortreflichste vom Ganzen. Die vierte Scene ist ein rechter Strom und fruchtbarer Frühling von Musik, eine wahre Seelen- und Ohrenweide. Das Horn und die Hoboe Solo, die schon im herrlichen Recitativ eintreten, machen in der Arie entzückende Wirkung.«

»Dell' umana miseria, Sofonisba infelice, eccoti al colmo; die Arie Sventurata in van mi lagno 2; vortrefliche leidenschaftliche Melodie, und eine der schönsten Bravourarien; vortrefliche Begleitung mit ausgewählter Harmonie; und die Stelle der zweyten Violine, mit der kleinen Sekunde so anhaltend, rührend.«

[173] »Das Spiel mit dem Echo ist freylich gegen das Pathos, und der Dichter hat es zu verantworten; aber in der Musik ist es, mit süßer Kehle und Virtuosen auf der Hoboe und dem Horn, die lieblichste Fülle für das Ohr.«

»Ein neuer Meister hat diese Arie oft nachgeahmt, und damit, jedoch nicht unverdienter Weise, viel Lob eingeärntet.«

»Man muß diese Sachen als schöne musikalische Verzierungen betrachten, wenn sie nur im Ton des Ganzen sind; wie Zierrathen an Gebäuden, Säulen.«

»Mit der siebenten Scene fängt der Kern vom Ganzen an. Che fier destin, che strano caso è il mio 3. Das ganze Recitativ ist ein Meisterstück edler tragischer Declamazion; die verkleinerte Septime ist in der Begleitung höchst reizend angebracht. Vortreflich die Lesung des Briefs; bange Erwartung mit den Instrumenten ausgedrückt; und das Lesen selbst ohne alle Begleitung. Als sie das Gift nun hat, wie göttlich der Ausruf: Oh caro dono! oh fido amico! ein rechter Jubel der Errettung! mit wie wenig, und wie unübertreflich! es ist so recht die Empfindung, die sich nicht mit Worten sagen läßt, durch die Begleitung ausgedrückt, und man kann diese Zeile als ein Muster aufstellen.«

»Die achte und neunte Scene von Jomelli hineingearbeitet sind schön, und unterscheiden sich durch den netten Styl.«

»Die zehnte Scene der Sophonisbe aber gehört unter das Allerhöchste von Traetta, und ist ganz klassisch in der Italiänischen Musik.«

»Sofonisba, che aspetti? Wie herrlich der Uebergang aus dem C dur bey Ecco al mio labbro già la tazza letal in A moll, worin nun die Begleitung zu dem göttlichen Ma ohime! beginnt. La mano [174] perché mi trema! Qual si spande intorno fasco vapor! sotto l'incerte piante il suol perché vacilla! alles im Zwölfachteltakt, Pulsschlag des Schauderns von einem Gefühl ins andre. Und nun Besinnung und Entschluß in neuen Absätzen: dove son? che m'avenne? è questo forse il natural ribrezzo al tremendo passaggio? und nun aus dem E moll ins C dur, und durch den Accord der kleinen Septime auf der Dominante die ganz göttliche Stelle: ah, non credei, che si terribil fosse l'aspetto della morte in der ganzen Fülle mit dem Schauder durch alle Glieder; wohinein der Römische Marsch hinter dem Theater mit Hoboen, Hörnern und Fagotten fällt.«

»Und nach Stillschweigen, sie dazwischen: ma qual suono lieto insieme e feroce? donde? s' osservi! aprite!

Oh vista atroce! le navi, i prigioneri –

Invano m'attendete, o superbi. Jo non verrò; la mia difesa è questa. – Bevvasi!«

»Nun noch einmal Besinnung; wie treflich die Begleitung! Oh Dio, ma dunque ho da morir cosi! wie weiblich! und wieder der stärkre Adel: i ferri, le catene! – Wie göttlich: mi lascian tutti, misera, in abbandono; e sol m'avanza, che soccorso crudel! la mia costanza. Und sie trinkt gierig das Gift 4

[175] »Diese Scene behauptet gewiß mit den ersten Rang unter allem Klassischen, was je ist geliefert worden; und ich glaube nicht, daß die ganze Griechische Musik etwas gehabt hat, das mit dieser in Vergleichung kommen könnte.«

»Das Quintett, wo Sophonisbe stirbt, macht einen pathetischen Beschluß; voll Ausdruck in neuer einfacher Begleitung.«

»Auch die andern Personen in dieser Oper haben schöne Sachen, besonders Massinissa und Siface; aber es ist alles unter dem Angeführten.«

»Traetta hat ein erstaunlich reines zartes Gefühl. In seinem Herzen muß manche Leidenschaft in ihrer Fülle gekämpft haben; er trift auf ein Haar den Ton von Traurigkeit, Schauder, Schrecken, kühnen Entschlüssen, Uebergängen aus einer Leidenschaft in die andre; und besonders von dem Leiden edler Seelen.«

Hildegard hatte sich bey der erhabnen Scene nicht geregt: so ganz war sie Ohr und Empfindung. Sie versuchte nun deren Vortrag gleich selbst; und er gelang zu Lockmanns Entzücken. Alsdann rief sie Mutter, Bruder und Feyerabenden, um an dem neu entdeckten Schatze sich mit ihnen zu ergötzen. Alle bewunderten die Scene als eins der größten Meisterstücke, und sagten, diese Rolle sey ganz fürHildegarden gemacht.

Lockmann setzte hinzu: »Wenn es Ihnen beliebt, im nächsten Konzert [176] als die gefühlvolle und zugleich heroische Königin, die mit der Kleopatra der Stolz ihres Geschlechts in Afrika ist, aufzutreten; so will ich morgen Nachmittags meine Leute zur Probe versammeln.« Dieß wurde mit Freuden versprochen.

Hildegard bat ihn noch, ihr diese Oper, und die Armida von Jomelli, beyde ganz abschreiben zu lassen. Es sollte sogleich geschehen; er hatte mehrere gute Kopisten.

Probe und Aufführung gelangen nach Wunsch. Alle, die Musik liebten, bildeten dabey ihren Geschmack mehr; und wer sie noch nicht nach Würden schätzte, fing an Achtung für diese gewaltige Kunst zu bekommen.

Selbst die Fürstin mußte das Hohe des Charakters in Hildegards Darstellung, und ihre geschmeidige Zauberkehle bewundern. Hildegard und ihr Bruder waren die Lust des Fürsten.

Nach der Musik unterhielt sich der letztre mit dem jungen Hohenthal über die Zeitperiode der Sophonisbe. Die Rede kam auf den Sallust, und er forschte nach, wie ihn der Jüngling kannte. Dieser antwortete mit seiner gewöhnlichen Freymüthigkeit, wie folgt.

»Sein Jugurtha und Catilina sind die reinsten Quellen der Römischen Geschichte, und gehören zu dem Vortreflichsten der ganzen Römischen Litteratur.«

»Geschichte von Völkern überhaupt ist für Fürsten, Minister, Feldherren und Philosophen, für diejenigen, welche an der Spitze der Menschheit stehen; und für diese sind Sallusts Werke vollendete Meisterstücke.«

»Er erzählt kurz, wahr und klar, voll Darstellung hinreißend. Nichts ist bey ihm überflüßig, und alles ausgelassen, was den Blick auf das Ganze zerstreuen könnte; seine Sprache gedrängt und lauter [177] Kern; seine Beschreibungen von Charaktern und Ländern tief gegriffen und anschaulich; Reden und Handlungen so natürlich wie Früchte an Bäumen.«

»Er erzählt Begebenheiten der Zeit, wo Rom in seinem höchsten Leben und seiner höchsten Stärke war. Welche Männer: Metellus, Marius undSylla, Jugurtha und Catilina! Cicero, Cato, Pompejus, Cäsar

»Tacitus steht, was Materie betrift, weit unter ihm. Was sind ein Tiberius und Nero, eineAgrippina, ein Seneca, und Hofränke und ihre Handlungen gegen solche durch sich selbst große Menschen! Auch ist Sallusts Art zu erzählen und seine Schilderung von Charaktern natürlicher und wahrer. Beym Tacitus leuchtet schon Manier hervor; Sallust ist ganz rein, wie Bildsäulen Alexanders z von Lysipp

»Polybios schreibt in dem, was wir von ihm übrig haben, hauptsächlich für Feldherren. BeymSallust kann man die Staatsverfassung der Römer und ihr Genie zu Kriegen recht kennen lernen. Aus ihm spricht der Römer selbst; jener beschreibt bloß meisterhaft die Schlachten. Aber alle drey mit demCäsar sind Männer, die in der spätern Geschichte der Römischen Republik den ersten Rang behaupten.«

»Livius erzählt in dem, was wir von ihm übrig haben, längst vergangne Dinge, unter dem Au gust, als ein Welscher Gallier, und hatte wenig zur Darstellung unter Augen; obgleich ein heller scharfsinniger Kopf und vortreflicher Schriftsteller.«

»Die ganze Römische Geschichte ist ein langwieriges Studium. Es ist gut, sie einigemal durchgegangen zu haben, und die interessantesten Perioden derselben zu kennen; aber Sallusts kleines Buch giebt[178] einem in wenig Stunden die reichhaltigste Anschauung eines der lebendigsten Stücke vom Ganzen. Und die Zeit ist kostbar.«

»Was einer nicht gegenwärtig vor seinen Sinnen gehabt hat, kann er aus der Wirklichkeit, auch mit noch so viel Einbildungskraft und Verstand, nicht darstellen. Beydes ist zwar wesentlich für einen guten Geschichtschreiber; denn er kann nicht alles sehen und hören: aber auch höchst betrüglich, wenn er von vergangenen oder auswärtigen Dingen spricht; er täuscht und blendet die Unerfahrnen. Dieß mag zuweilen der Fall beym Livius seyn.«

»Sallust kannte fast alle Männer, deren Thaten er beschreibt, persönlich, und Menschen und Gegenden, mit denen, und wo sie handelten; kannte sie nicht bloß, sondern studirte sie mit allem Fleiße. Die Staatsverfassung seines Landes verstand er bis aufs Innerste; von der Kriegskunst so viel, als ein vortreflicher politischer Geschichtschreiber nöthig hat.«

»Was das Unmoralische seines eignen Lebens betrift, so darf uns, dünkt mich, dieses, auch alles für erwiesen angenommen, im Lesen seiner Schriften nicht stören. So war der Strom der Zeit; er ließ sich darin forttragen, wie ein kühner und erfahrner Schiffer; wollte nicht den Helden der Tugend machen, und glücklich nach den Umständen leben. Größer bleibt es gewiß, als ein Sokrates unter den Tyrannen hervorzuragen.«

»Durch dieses Leben bey solchen Einsichten sind im Gegentheil eben Sallusts Schriften so lehrreich, ist alles mit Staatsweisheit wie mit Nerve, Fleisch und Blut und Kraft und Stärke durchzogen, so recht zu seinem Zweck; selbst erzeugt, aus der Natur geschöpft, göttlich, und keine Kompilazion.«

Dieses Urtheil freute den Fürsten wieder in der Seele; er sah, was [179] aus dem Jüngling werden konnte, und setzte sich vor, ihn auf alle Weise zu befördern. Um ihn durch zu frühzeitiges, und vielleicht zu stark ausgedrücktes Lob, wie vorher, nicht eitel zu machen, sagte er darauf nur: »Vortreflich, lieber Hohenthal! man könnte Sie wohl mit Ehren schon zum Professor der Römischen Geschichte machen.«

Hohenthal versetzte darauf lachend, indem sich nun einige Herren vom Hofe hinzugesellten: »Ich möchte dann vielleicht Ewr. Durchlaucht antworten, wie ohne fernere Vergleichung Karl der Sechste seinem Hofkapellmeister Fux: wir haben es halter so besser!« Er erzählte das Geschichtchen, wo der Kaiser öffentlich zu einer Oper von Fux den Flügel spielte.

Wolfseck suchte unterdessen mit allerley schwerfälligen Possen sich Hildegarden gefällig zu machen. Sie war die Zeit über immer, wie vorher, gegen ihn so höflich gewesen, daß er daraus den Schluß machte, sie müsse seinen Antrag nur für so obenhin, und nicht für ernstlich und ordentlich aufgenommen haben, oder durch Schuld der Fürstin vielleicht noch gar nichts Rechtes davon wissen. Als er zudringlicher wurde, ihr auf die letzt die Hand faßte und mit Bedeutung küßte: sah sie sich genöthigt, ihn mit einem eiskalten Blick und wie befremdet zu betrachten. Dieß that Wirkung; aber er legte es doch nicht so sehr zu seinem Nachtheil aus, sondern wohl nur für erst erregte Aufmerksamkeit.

Wie Verliebten so leicht nichts entgeht: so bemerkte auch Lockmann, daß Wolfseck seinen langen Rücken beugte, und tiefgebückt mit vorliegenden Augen Hildegards zarte schöne Rechte an seinen breiten Mund drückte. Ihr Blick und Gesicht dabey war von ihm abgewandt, und er konnte also nicht sehen, wie sie es aufnahm. Wolfseck hatte ihn selbst, vorher und jetzt, einigemal besonders [180] betrachtet, als ob er etwas gegen ihn im Schilde führe. Reich war er, das wußte Lockmann; eben so, was sein Vater vermochte; kurz, daß dieß vielleicht die größte Partie im Lande war. Bey diesem Gedanken lief es ihm heiß im Leibe auf und ab. »Sie ist für dich verloren!« Diese Idee rollte ihm durch alle Nerven und Adern und im Kopfe herum, daß ihm anfing die Stirn zu schwitzen.

»Befürchten Sie jedoch nicht, daß ich so bald einem Andern zu Theil werde.« – – »Aber wenn du mußt, Kind! Bey euch fragt man nicht lange; es ist genug, wenn eure äußern Verhältnisse zu einander passen.«

Er gab auf alles Acht, wie er sie zur Tafel begleitete. Hier bemerkte er zu großem Trost, daß sie ihr schönes Gesicht von dem Unhold wegwandte, und bitter aussah: für ihn der göttlichste Reiz, den er je an ihr erblickt hatte.

Er konnte nicht ruhig werden, bis er sie darüber selbst sprach. Etwas mußte vorgehen, oder vorgegangen seyn; so viel schien ihm klar.

Den andern Tag lauerte er die Zeit ab, wo er sie allein zu finden glaubte, nahm eine schöne Oper voll Liebe mit, und traf sie glücklich wieder auf ihren Zimmern.

Er sagte gleich das Stärkste, um geschwind hinter die Wahrheit zu kommen. Sie sah es in seinen scharfen Gesichtszügen, daß er etwas auf dem Herzen hatte. »Ich werde bald Serenaten, Epithalamia und Tänze zu Ihrer Hochzeitfeyer mit Herrn von Wolfseck setzen müssen!«

»Ich glaube, Sie träumen,« versetzte sie mit einer angenehmen Art von Zorn. »Oder wo haben Sie etwas gehört und gesehen, das Ihnen Anlaß geben könnte, mir dieß zu sagen?«

[181] Der größte Theil seiner Angst war von diesen Worten zu Boden geschlagen, wie Sommerstaub vom ersten frischen Gewitterguß.

Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte, und mußte also mit seiner ganzen Wahrheit hervorrücken.

»Gestern küßte Wolfseck Ihnen so zärtlich die Hand; und – darf ich so eitel seyn es zu sagen? – sah Ihren unwürdigen Musikmeister, gewiß ohne dessen Verschulden, wie Ihre feinste Aufmerksamkeit ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen wird, schon einigemal mit besondrer Ueberlegung an.«

Sie lachte über die Beichte; doch regten sich einige unwillige Züge des Nachdenkens an ihrer sonst ewig heitern Stirn. Sie befürchtete die Leidenschaft des Holden zu reizen, wenn sie ihm nur etwas entdeckte; und antwortete: »Herr von Wolfseck ist ein Hofpedant; da er nichts von Musik versteht, so hat er mir seinen Beyfall nur auf diese ungeschickte Art ausdrücken können. Lassen Sie Sich so etwas nicht kümmern.«

»Aber Sie wendeten doch hernach, als er Sie weg führte, Ihr himmlisches Gesicht zu meinem süßen Trost bitter von ihm ab!«

»Weil ich das Laffenwesen, besonders von einer solchen Figur, nicht leiden kann.«

O goldne Zeit der Jugend und Schönheit, Frauen und Jungfrauen, wo ihr einen Wald von Schatten wünscht, um mit den heißen Strahlen eurer Sommersonnen selbst den edelsten Blüthen und Früchten eurer Neigung dadurch nur liebzukosen und sie köstlich zur Reife zu bringen, nicht im Freyen sie zu versengen und zu verbrennen!

Welch eine Lust, wenn das Herz von der Gewalt der Natur allein getrieben, unerkünstelt, euch die Fülle seines Gefühls opfert!

[182] Dieß heiterte Lockmannen wieder auf, und stillte seine Besorgnisse.

Weil er zögerte, so eilte sie selbst, um von dieser Materie abzukommen, an das Klavier, that einige Griffe; fing dann in Gedanken an darauf zu phantasiren, und wand sich zu seinem Erstaunen glücklich durch die schwersten Gänge, in welche sie hinein gerieth.

»Auch das noch!« rief er.

»O,« antwortete sie lächelnd, »ich weiß selbst nicht, wie ich es gemacht habe, wenn es Ihnen gefällt. Ich habe das Klavier immer nur zur Begleitung gebraucht, höchstens Tänze, einige gar leichte oder sehr angenehme Sachen gespielt, und mich auf das kunstreiche Fingerspiel der Bache, Mozart undClementi nie eingelassen. Ich schätze das Instrument, außer der Harmonie, für sich allein nicht genug; und habe mir nur Mühe gegeben, die Regeln der Harmonie wohl zu fassen, und mich in dieser Rücksicht oft darauf geübt.«

Lockmann hatte sie zwar sich einigemal nett, rein und richtig begleiten hören, glaubte sie aber nicht so weit. Er rühmte sie sehr deßwegen. Sie erwiederte:

»Noch niemand hat mich so gut begleitet, als Sie; ich wünschte, daß Sie mir über Ihre Art einigen Unterricht ertheilten.«

Inzwischen kam die Mutter die Treppe herauf gegangen; sie hatte Hildegarden spielen hören, vermuthete den Meister bey ihr, und wollte sie doch nicht immer mit ihm allein lassen. Ihre Tochter saß am Klaviere, und beyde waren im Gespräche. Sie bat, sich nicht darin stören zu lassen, setzte sich mit ihrer Näharbeit, und hörte zu.

Lockmann erwiederte Hildegarden: »Der Spieler muß bey der Begleitung dem Orchester den Takt, der Stimme den Ton angeben, und sie darin erhalten. Die Instrumente dazu sind der Flügel, oder das Fortepiano, die Guitarre, und in der Kirche zuweilen die Orgel.«

[183] »Wir Deutschen schweifen hierin oft aus. Es ist nichts unerträglicher, als das unaufhörliche Einhacken mit den Accorden; alle Begleitung der andern Instrumente wird dadurch verhunzt, und mit der Stimme geht man so pedantisch um, wie ein Schulmeister mit seinen Knaben.«

»Die Italiäner begleiten, wenn ein besondrer Director da ist, ohne Ziffern, und ohne Partitur, bloß nach dem Gehöre. Doch ist es gewiß am besten nach der Partitur; wie kann einer sonst der Stimme beystehen, wenn er das Ganze nicht schon durch öftere Proben kennt? Sie geben, hauptsächlich in den Recitativen, die Harmonie nur leicht mit einem Schlag an, und zeigen bloß deren Veränderung. Und dieß ist auch der Zweck, weil die Stimme es nicht immer kann, ohne dem schönen Vortrag zu schaden. Wo die Stimme schon selbst die Harmonie angiebt, bedarf es nicht einmal des Klaviers. Der Begleiter soll die Stimme nur führen, wie ein junger Mann eine beherzte Dame, ihr den Pfad ausspähen bey mißlichen Uebergängen, und sie nicht behandeln wie Krüppel und Lendenlahme.«

»Die Orgel schickt sich mit ihrem anhaltenden Gepfeife gar nicht zur Begleitung, und überschreyt alle Grazie der Stimme; es ist als ob der Riese Goliath mit einem Kinde spielen wollte.«

»Nichts ist ferner unerträglicher, als wenn die Violoncelle sich dabey hervorthun wollen, und den Zuhörern das Gehör zerhacken.«

»Lauten, Guitarren, Harfen und Flügel oder Fortepianos sind die, natürlichsten Instrumente zur Begleitung.«

Alsdann fuhr Lockmann ernsthaft fort: »Ich habe Ihnen hier eine der berühmtesten Opern vonMetastasio, die Olimpiade, mitgebracht, woran, wenigstens bey einzelnen Scenen, die größten [184] Meister ihre Kunst versucht haben. Diese Musik ist von Jomelli; er führte sie zu Stuttgard im Jahre 1761 auf 5

»Das Gedicht ist zu künstlich angelegt, als daß es im Ganzen täuschen könnte; man muß gar zu viel dabey merken, so verflochten ist es. Ueberdieß sind die Personen Italiäner in Griechischer Tracht. Im dritten Akt besonders, wo in der ersten Scene Megakles und Aristea auf beyden Seiten des Theaters sterben wollen, einander nicht sehen, und vom Amint und der Argene aufgehalten werden, hernach ausreißen und einander in die Arme laufen, und Aristea, die den Megakles schon todt glaubte, ihm sagt:


Ingrato! e tanto

m' odi dunque, e mi fuggi,

che, per esserti unita

s'io m' affretto a morir, tu torni in vita 6?


wird es ein wahres Puppenspiel.«

»Doch sind einige ergreifende Situazionen darin, höchst schöne Arien, und das vortreflichste Duett der ganzen Italiänischen lyrischen Poesie.«

»Jomelli erscheint hier in der Fülle seiner Kraft. Wir wollen nur, das Vortreflichste durchgehen.«


[185] Erster Akt.


Scene 3.


Quel destrier, ch' all' albergo è vicino

Più veloce s'affretta nel corso. 7


»Diese Arie gehört unter die vortreflichsten der pittoresken Musik; der Galopp des Pferdes herrscht durchaus in der Begleitung der zweyten Violine; und es ist in der Melodie und der gesammten Harmonie eine Pracht und ein Jubel, die bezaubern.«

»Lolli konnte sich dabey hervorthun. Man muß sie als eine reizende Verzierung betrachten.«

»In dem Schäferchor


O carē selve! o cara

Felicē libērta!


der den einfachen gehörigen Charakter der Fröhlichkeit hat, ist merkwürdig, daß auch Jomelli den Ausdruck zu verstärken glaubte, wenn er einige kurze Sylben lang declamirte, wie die ältern Komponisten, besonders Pergolesi, bey der so bitter getadelten Stelle: Cujūs anīmam gēmentem. Man muß ein grausamer Pedant seyn, wenn man wegen einer solchen Naivetät einem Meister, der so viel edle und gewiß geschmackvolle Menschen entzückte, Genie und Kunst absprechen will. Es trägt allerdings zum Ausdrucke bey, wenn es selten, nur bey Leidenschaft, und nicht zu anhaltend lange gebraucht wird, in welchen Fehler Pergolesi verfallen seyn mag.«

Scene 8. »Ganz vortreflich für eine Contrealtstimme. Das Recitativ mit Begleitung ist voll Grazie und Fülle von Klang, und meisterhaft declamirt. Es macht noch mehr Lust, wenn man weiß, daß Jomelli mit der Buonani in einem Liebesverständnisse lebte. Besonders ist [186] die einfache Begleitung der zweyten Violine neu und voll Wirkung. Die plötzliche Abwechslung von Ton bey Imparate inesperte donzelle – Ognuno vi chiama suo ben von G dur in A moll, F dur, Es dur, C moll, G moll; und Guadartevi da lor – son tutti inganni 8, beschließt voll Grazie.«

Scene 9. »Dieser Monolog des Megakles: Che intesi eterni dei, quale improviso fulmine mi colpi 9! gehört zum Kern der ganzen Oper, und macht gleichsam das Herz derselben aus. Jomelli zeigt einen großen Kunstverstand, und ein feines richtiges Gefühl für Poesie, daß er bey allen seinen Opern immer so das Wesentliche heraushebt. Diese Stelle ist klassisch bearbeitet; der Sieg der Freundschaft in der Seele über die Liebe. Das höchste Opfer wird ihr in einer heftig und zärtlich Geliebten gebracht. Jomelli schwingt hier recht die tragische Keule. In der Declamazion und Begleitung liegt eine erstaunliche Kraft von Darstellung: alle innern Gefühle des höchst leidenschaftlichen Menschen werden hörbar hervor in die Luft gezaubert; und da ist nichts von Schlendrian, nichts von dem weichlichen Neuern der Piccini und Paesiello: alles aus der höhern menschlichen Natur, wovon der Meister selbst war.«

»Das Ueberraschende, das Erstaunen, vortreflich gleich anfangs durch die Begleitung; und die Blitze der Gedanken: è, che non sono rigide a questo segno le leggi d'amistà! perdoni il prence 10 [187] – die Ueberlegung des eignen Interesse vortreflich wieder durch die Begleitung. E questa vita di Licida non è? u.s.f. Diese edlen Fragen eben so meisterhaft durch die Begleitung; non fu suo dono? non respiro per lui? Diese Gefühle werden erstaunlich durch die Begleitung verstärkt; bloße Declamazion kann sie unmöglich so ausdrücken: so etwas konnte die Griechische Musik nicht leisten.«

»Voi soli ascolto oblighi d'amistà; vortreflich mit dem Uebergang in das reine C dur. Palpito, e sudo solo in pensarlo; – nur nicht in Gegenwart der Aristea – schließt recht lyrisch leidenschaftlich.«

Scene 10. »Diese letzte gehört unter die allerschönsten Scenen des Metastasio. Die Situazion ist einzig, und wirklich Griechisch reizend und schön. Der Charakter der Aristea ist höchst edel zärtlich. Das Duett: Ne' giorni tuoi felici, krönt das Ganze, welches mit dem feinsten Kunstgefühl bearbeitet ist.«

»Jomelli hat das Duett als ein großer Meister bearbeitet; der Gesang, die Melodie ist entzückend, und in der Harmonie viel Schönheit. Unruh und Begierde bey der Aristea, das Wahre zu erfahren; Zurückhaltung der Leidenschaft und des Wahren beym Megakles: machen dessen Charakter; und doch spricht süße heftige Liebe. Ich glaube, daß Jomelli den Charakter besser getroffen hat, als z.B. Paesiello, dessen Musik dazu unter den neuern man für die schönste hält. Megakles mußte seinen Vorsatz ausführen, und konnte bey doppeltem Kampf und Sieg also nicht den weichlichen F mollton in der Seele haben, aus dem dieser ihn singen läßt. Jomelli's und Pergolesi's A dur, welches in das erhabne E dur übergeht, ist viel treffender.«


Zweyter Akt.


Scene 7. »Die Begleitung der Arie des Clistene:So, ch' è fanciullo [188] amore mit den synkopirten Accorden von den Instrumenten, ist merkwürdig, und zeigt, daß Jomelli, und nicht Majo, der Erfinder davon war.«

»Licida machte eine armselige Figur in der Poesie. Welche Albernheiten: Crede Megacle sposo, e se ne affanna? und in der achten Scene: L'amor mio, caro amico, non soffre indugio. Man begreift am Ende gar nicht, warum er den König auf der Straße anfällt.«

Scene 9. »Sie hat Aehnlichkeit mit der, wo Armida verlassen wird.«

»Aristea:


Senti, ah no – dove vai?

Ah t'oppresse il dolor, cara mia speme –«


»Das ganze Recitativ ist voll von ächtem Pathos, und gehört unter das Vortreflichste. Bey dem im ersten Akt war der Entschluß; und hier die That. Das Ganze bildet sich stückweise auf diese Art in der Phantasie des Zuhörers. Die neuern Pariser Opernschreiber haben mehr Verschmelzung ausgefunden.«

»Bey Ah che farem di nuovo a quest' orrido passo, macht der enharmonische Gang gute Wirkung. Der Ausgang ist voll Leidenschaft und vortreflich.«

»Die Arie darauf: Se cerca, se dice, ist ein Meisterstück von Ausdruck und musikalischer Schönheit; sie gehört unter das Vortreflichste der Italiänischen lyrischen Bühne.«

Scene 11. »Aristea:


Tu me da me dividi,

Barbaro, tu m'uccidi,


ist ganz vortreflich nach dem leidenschaftlichen Texte gearbeitet, so daß man die Musik gar nicht merkt.«

[189] »Der zweyte Akt schließt sich mit einem begleiteten leidenschaftlichen Recitativ, und der prächtigen Bravourarie des Licida; doch von so wenig Kern, als der Charakter selbst hat.«


Dritter Akt.


Scene 1. »Die Arie der Aristea ist eine Perle, solch ein schöner Gesang, und so schöne Begleitung mit den synkopirten Accorden, und alles neu; mit dem allgemeinen Text treflich für ein Konzert: Cara son tua cosi, che per virtu d'amor risento anch'io i moti del tuo cor.«

Scene 3. »Die Arie des Megakles ist meistens Kunst zur Verzierung mit dem obligaten Horn und der obligaten Hoboe: Lo seguitai felice. Jomelli hat nachher diese Art viel vortreflicher ausgearbeitet.«

»Die Arie der Argene: Fiamma ignota nell' alma mi scende, ist ein Meisterstück von Schönheit und Leichtigkeit; eine rechte Arie für eine Prinzessin, die wenig Stimme hat und glänzen will. Die Melodie ist immer in der Mitte, und geht nur ein paarmal bis in das zweygestrichne Gis. Der Text, und der Ton E dur ist feyerlich, und die Begleitung, selbst Melodie, vom höchsten Reiz.«

»Es ist in dieser Oper alles ausgearbeitet; auch die Arie des Aminta darauf: Son qual per mare ignoto naufrago passaggiero, hat die Begleitung von einem empörten Meere.«

»Marsch und Chor sind, obgleich nicht außerordentlich, doch gut und passend.«

Scene 7. »Signor tu piangi; ein vortrefliches Recitativ mit Begleitung. Jomelli hat es hernach zu Neapel mit viel mehr Ausdruck wieder gebraucht. Die Arie ist schön mit der Begleitung.«

[190] »Noch ist das Terzett schön mit dem Chor: I tuoi strali terror de' mortali; so wie der Schluß.«

Hildegard wollte den andern Morgen die ganze Oper für sich durchstudiren; und beyde sangen jetzt nur die zwey großen Scenen mit dem Duett: ne' giorni tuoi felici; und der Arie: Se cerca, se dice, nachdem Hildegard ihren Bruder und Feyerabenden dazu gerufen hatte.

Alsdann wurden dieselben Scenen von Pergolesi, und alles, was noch von ihm da war, auf Verlangen der Mutter herbeygehohlt, und die erstern damit verglichen.

Man kam darin überein, daß Pergolesi Ne' giorni tuoi felici für seine Zeiten ganz vortreflich ausgedrückt hätte; Jomelli ihn aber an Würde und ächtem Ausdruck der zwey ersten Verse überträfe, so wie in den folgenden

Ah! che parlando o dio! tu mi trafiggi il cor,

Ah! che tacendo o dio! tu mi trafiggi il cor,

Pergolesi göttlich wäre, und Jomelli ihm nachstehen müsse.

Man wiederhohlte die Melodie besonders, und die Melodie mit Begleitung noch einmal von beyden recht mit Lauterkeit und Besonnenheit; und es entstand folgendes Urtheil:

»Wenn man unpartheyisch das Ganze betrachtet; so gleicht die Komposizion von Pergolesi einem schönen Gemählde von Raphael, und bleibt in ihrer Einfachheit wahrer und keuscher, als die vonJomelli, in welcher schon Uebertreibung, und nicht genug Wahrheit, inzwischen weit mehr Fülle von Musik ist.«

Lockmann fuhr fort: »Eben so ist das Se cerca von Pergolesi ganz Raphaelisch, so recht die Natur in ihrer nackten Unschuld. [191] Ich glaube nicht, daß die Musik seiner Zeit etwas Schöneres dieser Art aufzuzeigen hat.«

»Wahr ist es jedoch, Jomelli's Schönheiten sind beym letztern von edlerer und höherer Natur, die Formen weit kräftiger, gebildeter, und – athletischer, möcht' ich sagen. Pergolesi's Formen sind mehr schäfermäßig, der Ausdruck desgleichen; es fehlt die höhere durchgearbeitete Kunst und Menschheit.«

»Die übrigen Arien, die ich noch von Pergolesi aus dieser Oper gesehen habe, kommen aber den zwey Stücken bey weitem nicht gleich; sie sind wohl klar, aber meistens leer.«

»Pergolesi überhaupt ist kein Meister, der mit Jomelli'n zu vergleichen wäre. Sein Genie, so viel aus dem zu sehen ist, was wir von ihm haben, war von geringem Umfang, und nicht von großer Kraft und Stärke. Das Leiden guter schwacher Menschen drückt er hauptsächlich, aber auch ganz vortreflich aus; und so Hofnung von Rettung. Von dem Tragischen eines Traetta, Jomelli, Gluck steht er sehr weit ab.«

»Sein Stabat mater ist das Wichtigste, was wir von ihm haben, und dieß wird auch noch lange bleiben. Es ist ein Meisterstück in seiner Art, und originell: gleich das erste Duett ein schönes Kunstwerk; die Melodie in zwey Stimmen verschmolzen, so daß keine sie ganz hat; die Darstellung täuschend.«

»Das Pertransivit gladius im zweyten Absatze vortreflich und schneidend. O quam tristis, voll Ausdruck. In quae moerebat, eine gewisse bescheidne Art von Enthusiasmus. Dolentem cum filio höchst vortreflich; so in tanto supplicio, das Ganze voll Religion und Salbung. Pro peccatis – in tormentis – et flagellis voll Darstellung. Eben so vidit suum dulcem natum; Eja mater, fons [192] amoris gleichfalls: ein heiliger Eifer der Frömmigkeit athmet aus allem.«

»Fac ut ardeat cor meum, eine sehr angenehm verwickelte kleine Fuge, gleichsam Stempel von Kirchenmusik, welche gut zu Eifer paßt.«

»Sancta mater istud agas ist zwar auch gut, wird aber bey dem Largo etwas langweilig. Fac ut portem, eben so. Inflammatus et accensus will es wieder mit frommer Grazie im Allegretto gut machen.«

»Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur paradisi gloria, gehört unter die vortreflichsten Sachen der Musik vom ersten Range; man kann es zu den Magdalenen und Johannes von Raphael, Correggio und Guido stellen. Das Amen macht damit einen schönen fugenartigen Beschluß.«

»Man mag aus Neid und jugendlichem Uebermuth sagen, was man will: das Stabat mater gehört unter die klassischen Werke der Kirchenmusik, und ist ganz gemacht für ungeheuchelte Christen. Es liegt wunderbar viel christliches Gefühl darin.«

Noch war die Kantate Orfeo von Pergolesi vorhanden. Lockmann sang das erste Recitativ:nel chiuso centro, und begleitete sich dazu. Dann sagte er: »Welcher voll und rein fühlende Nerve von Musik! es kann an Schönheit und Ausdruck von Declamazion und Begleitung durch alle Zeiten dauern.«

Pergolesi war der Liebling der Mutter. Alles, was Lockmann zu seinem Lobe sagte, that ihr wohl; und bey jedem Wort zu seinem Nachtheil zog sie die Augenbraunen ein. Als Lockmann ihn im Tragischen so weit unter Traetta, Jomelli und Gluck setzte, erschrak Hildegard, und trat ihn mit allem Fleiße recht hart auf seine [193] rechte kleine Fußzehe, daß er beynahe laut geschrieen hätte. Doch als Hildegard dann mit verzückter Frömmigkeit wie eine junge heilige Theresia Quando corpus morietur himmlisch sang, und die Begleitung ihre Stimme wie mit Fittichen empor hob: war alles wieder gut gemacht; die Thränen flossen der Mutter vor Rührung aus den Augen. »Gutes Land, Italien,« sagte sie; »aus dir ist doch viel schönes menschliches Gefühl in die andern Erdstriche ausgegangen!«

Der Nachmittag war sehr schwül gewesen, die Sonne schon unter; man wollte die Abendmahlzeit zwischen den kühlen Linden halten, und Lockmann wurde dazu eingeladen.

Alle gingen in den Garten, und in den Gängen auf und ab, während die Bedienten zubereiteten.

Man sprach viel über Italien; und die Mutter bemerkte, welch ein unvergleichliches Land es sey für fromme Seelen, und welche reizende einsiedlerische Gegenden in den Gebirgen des Apennin für diejenigen wären, die sich von dem stürmischen Leben entfernen und den Rest ihrer Tage mit Betrachtung des Ueberirdischen zubringen wollten.

»Den Rest der Tage, o ja!« erwiederte ihr Sohn; »nur sollte man die neuern jungen Cornelien, die Scipionen, nicht so von der menschlichen Gesellschaft absondern, und die jungen geistvollen Theresien nicht zur Schwärmerey verleiten: diese sind für das thätige Leben bestimmt. That allein macht wirklich glücklich; das geschäftige Leben allein ist das wahre. Zur heißen Zeit, bey schwüler Luft, und nach Musik vonPergolesi, mögen einen jedoch zuweilen in aller Unschuld solche Gedanken anwandeln.«

Man setzte sich darüber zu Tische, und die heilige Theresia ward [194] einige Zeit das Gespräch. Hildegard schnitt eine köstliche eben reif gewordne Zuckermelone in Achtel, und theilte sie aus. Feyerabend verstand Spanisch, und besaß selbst eine schöne Ausgabe von den Werken der Heiligen. Er sagte: »Ihr Styl ist verführerisch; lauter Lieblichkeit, und die reinste Kastilianische Sprache.«


Vivo sin vivir en mi,

y tan alta vida espero,

que muero porque non muero.


Ich lebe ohne in mir zu leben;

und hoffe ein so hohes Leben,

daß ich sterbe, um nicht zu sterben.


»Ein ganzes Lied nach dieser Strophe voll Verzückung, und voll Bitterkeit gegen das Irdische, dessen Inhalt manche unerfahrne Seele hinreißen kann.«

»Theresia las in ihrer Kindheit mit ihrem Bruder die Lebensbeschreibungen der Heiligen und Märtyrer; beyde wünschten eben so zu sterben, und wollten den Tod bey den Sarazenen suchen. Als sie dieß nicht bewerkstelligen konnten, spielten sie die Eremiten, und machten sich Einsiedeleyen in ihren Gärten. Nach dem Tod ihrer Mutter las Theresia in ihrer ersten Jugend ohne Maaß und Ziel Geschichten irrender Ritter. Dann that man sie zur Erziehung in ein Nonnenkloster. Und so erzählt sie mit reizender Naivetät fort, wie sie endlich Stifterin eines neuen Ordens ward.«

Lockmann schilderte dazu ihre Gestalt in Marmor von Bernini, die ihm hierüber lebhaft wieder in Erinnerung kam, in der Kirche der Maria Vittoria zu Rom, und hielt es für wahrscheinlich, daß der Künstler den Ausdruck nach ihrem Liede, und vielleicht die Hauptzüge nach einem jugendlichen Porträt von ihr, gebildet habe.

[195] »Der Kopf bleibt ein Meisterstück von Ausdruck,« fuhr er fort; »es ist eine erhabne ernste Verzückung, unter welcher die Natur leidet und in Ohnmacht sinkt. Die Augen blicken noch, beynahe zugeschlossen, und blitzen, wenn ich das Wort brauchen darf, Wollust; der offne überlaßne Mund fühlt eine höhere Kraft, und liegt überwunden in bangen süßen Gefühlen. Die ganze Gestalt scheint die schwärmerische Spanierin.«

»Sie wird auf Wolken liegend emporgehoben, und Hände und Füße sinken, ganz von der Erde und Wirklichkeit weg, willig ein. Feuerstrahlen regnen von oben herab auf sie.«

»Im Ganzen herrscht gewiß viel Empfindung; auch ist Schönheit in den Formen, die freylich von den Griechischen auch in der Bearbeitung abstehen, und man merkt das Jahrhundert des Marino. Die Wolken in Marmor thun nicht die gehofte Wirkung, so wie das verzettelte Nonnengewand. Albern ist der Engel vor ihr mit dem Pfeil in der Rechten nach ihrem Herzen, und mit der zärtlichen Miene.«

»Das Ganze zeigt einen allgemeinen Taumel der Sinne, und verlangt, um gehörig genossen zu werden, schon erhöhte Welsche Einbildungskraft.«

Nach einigem Stillschweigen, fing Feyerabend wieder an: »Ein ächter Einsiedler müßte sich selbst genug seyn, seine Glückseligkeit in den großen Massen der Natur finden, fern von den kleinlichen Leidenschaften der Gesellschaft; und mit tiefer Empfindung der Reihe der organischen Formen immer in erhabnen Betrachtungen schweben.«

Als er so sprach, flisterten die Blätter; ein Wind regte sich, und plötzlich rauschten Wipfel und Zweige. Es erhob sich ein Sturm; [196] der Staub flog, die Lichter wurden ausgelöscht, Blitze flammten, und von fern rollte der Donner. Man machte sich ins Freye; ein starkes Gewitter kam herangezogen. Dichte Nacht wälzte sich über die Gegend.

Die Mutter eilte mit dem Sohne voran, fast vom Winde getragen, auf ihre Zimmer, Feyerabend hinter drein; Lockmann nicht so schnell mitHildegarden, von deren rechter Brust er die zarte nackte warme süße straffe Form mit raschem Griffe der linken Hand zum erstenmal, entzückt durch sein ganzes Wesen, fühlte. Sie riß sie ihm hastig weg; indeß flatterte ihr Kleid um ihre und seine Beine, daß sie sich, wie in einem Walzer, durch Umdrehen loswinden mußten. Dabey raubt' er ihr noch einen vollen Kuß zum Abschied, und kam unter Blitz, Donner, Sturm und dem ersten Regenschauer mit fliegenden Haaren glücklich nach Hause.

»Sie liebt dich, o sie liebt dich! wenigstens das, was an ihr fühlt und empfindet, so streng und kalt auch das, was in ihr denkt, nur Freundschaft gebieten mag. Welch ein Tritt!« so sagte er freudig, indem er sich zu Bette legte, und streichelte seine Fußzehe, die ihm noch weh that. »O, so glücklich, du kleine, fuhr er fort, bist du in deinem ganzen Leben nicht gewesen! Welch eine wollüstige Form! (Er maß noch mit schwebender Hand das Gefühl ihrer Brust.) Eine goldne unten zugespitzte Schale für Hochheims alleredelsten Nektar will ich mir so ründen lassen. O es geht; es muß gehen! Nur darf mir die erste gute Gelegenheit nicht entschlüpfen.« So sank er nach und nach in süße Träume hin, und schlief ein.

Nach fleißiger Probe wurde die Olympiade mit erhöhtem Beyfall aufgeführt. Madam Ewald, für welche die Rolle der Argene ganz geschrieben war, that sich sehr hervor. Aber vorzüglich glänzte den [197] AbendLockmann; er machte den Megakles mit einer Wahrheit bis zur Täuschung, und verzierte seinen Gesang zuweilen mit so schönen neuen Manieren, besonders im Duett, daß Hildegard vor Lust zu hören einmal vergaß mit zu singen, und die Stelle lächelnd pausirte. Als sie aber wieder kam, wiederhohlte Hildegard selbst seine Art von Manier noch schöner, und es war ein Schwung, ein Flug zum Entzücken.

Nach dem Konzerte wurde über die zwey berühmten Scenen, wie gewöhnlich, viel gesprochen. Beyde machten nun dem Fürsten das Vergnügen, und sangen sie nach Pergolesi's Musik; aber auf einmal wie fünfzig Jahr in der Zeit zurückgesetzt: so die einfache Begleitung, so von aller neuern Zier entfernt der Vortrag, und so ihr Spiel dabey.

Jomelli blieb überwunden; der Enthusiasmus des Fürsten entschied; Lockmann getraute sich nicht, ein Wort für ihn zu reden.

Herr von Wolfseck wurde auf diesen nun in der That eifersüchtig; er glaubte, bey dem Duett ein Verständniß bemerkt zu haben, das nicht bloß musikalisch sey, und schnitt ihm ein paarmal bey den zärtlichsten Stellen, unüberlegt, ganz mechanisch, essigsaure Gesichter. Schon dacht' er auf Mittel, wie der verzweifelt hübsche und verführerische Mann zu entfernen wäre; doch durft' er nicht mit der Thür ins Haus fallen.

Lockmann bemerkte dieß wieder sehr genau; und eben so Hildegard, der er sich von neuem aufdrängte. Da weder Kälte, noch Stillschweigen helfen wollte, so suchte sie sich durch die Frau von Lupfen zu retten, bat diese leise, daß sie ihn ihr abnehmen möchte, und flüchtete sich alsdann zum Fürsten. Der Fürstin wegen, die es doch mit ihr gut gemeint, und sie auf diese Weise an ihrem Hofe [198] hatte fest halten wollen, hielt sie es nicht für rathsam, ihn mit Worten lächerlich zu machen; doch sollte dieß in der Folge nicht ausbleiben.

Den andern Tag traf Lockmann sie zur gewöhnlichen Zeit wieder allein. Er wollte gleich einen Kuß nehmen; aber sie empfing ihn mit muthwilliger Kälte. »Freund, ich darf Sie nicht verwöhnen,« sagte sie scherzend; »das Küssen bleibt nur für etwas Außerordentliches.« Und als er liebkosend Gewalt brauchen wollte, hielt auch sie ihn mit Gewalt ab; denn sie war keine von den Schwachen. »Guter, Vortreflicher,« sagte sie dann ernsthaft weiter; »soll ich wiederhohlen, was ich Ihnen schon gesagt habe? Nein, Sie sind zu verständig.«

Darauf sprach sie gleich von ihren Woollets, und den Landschaften von Claude, auf die er verstört den Blick richtete. »Claudius,« fuhr sie fort, »entzückt immer die Seele mit himmlisch süßen Gefühlen. Welche Heiterkeit haben seine Lüfte, welche Empfindung seine Thäler, Wasser und Berge, Bäume und Fernen!«

»Woollets Ruinen von Rom nach ihm übertreffen alles. Wenn man die meisterhafte Dreistigkeit der Zeichnung von Audran, die Eleganz von Edeling, die Kraft von Balechou...«

Lockmann sah, daß sie ihn zum besten hatte, und wollte nichts weiter davon hören. Durch die kleinen Traulichkeiten maaßte er sich schon halb und halb ein Recht an, und unterbrach sie kurz damit: »Ich bin so schöner Bemerkungen jetzt nicht würdig.«

»Nun, so wollen wir Musik machen, so gut ich kann!« versetzte sie ihm empfindlich.

Das Hohe dieser Antwort faßte ihn wie eine Adlerkralle. »Herr von Wolfseck,« wollt' er fortfahren –

[199] »Herr von Wolfseck?« erwiederte sie; »was geht mich der Herr von Wolfseck an, und ein Dutzend Wolfsecke? Ich habe Ihnen meine Meinung darüber schon gesagt.« Und so mußt' er ihr zum Klaviere folgen.

Er hatte wieder eine Oper von Jomelli mitgebracht, die Didone abbandonata, welche dieser Komponist 1763 zu Stuttgard aufführte. Er setzte sich und ließ seinen Zorn an dem armen Dichter aus.

»Der Text, fing er an, ist eine von den mittelmäßigsten Opern des Metastasio; die Personen darin sind fast alle wahnwitzig. Dido selbst erregt nur wenig Interesse; besonders wenn man an die imVirgil denkt. Es ist unbegreiflich, daß Metastasio das Schöne und Große in ihrem Charakter bey dem Römer nicht benutzt hat. Sie ist mit ihrer Liebe zur Theaterprinzessin herabgewürdigt. Die einzige schöne Scene ist die, worin sie sich mit dem Narren Jarbas, in Beyseyn des Aeneas, um diesen eifersüchtig zu machen, verlobt. Wenn Aeneas sich nicht zu verliebt noch anstellte: so wär' er der beste Charakter; ein Chevalier d'industrie, der sich aus dem Staube macht. Die Selene ist eine gar zu alberne Fratze. Der Anfang des zweyten Akts, wo sie mit dem Araspe schon wie mit einer Kammerjungfer spricht, ist erbärmlich, und wie sie dem Aeneas ihre Liebe erklärt, und auf die letzt der Dido selbst.«

»Araspe und Osmida sind nun vollends poetische Thiere, die unter solchen Umständen in der Natur gar nicht seyn können.«

»Doch schon zu viel davon. Schöne Arien finden sich, wie in allen Opern von Metastasio, und Pracht des Schauspiels.«

Hildegard biß sich einigemal in die Lippen, um nicht zu lachen; und er sah unverwandt auf die Partitur.


[200] Erster Akt.


Scene 5. »Der Marsch des Jarbas ist voll Pracht, und einer der schönsten, die ich kenne.« Er spielte ihn voll Feuer.

»Son Regina ist eine herrliche Bravourarie der Dido. Die Begleitung der zweyten Violine soll das Erzürnte, Gereizte im Herzen dabey anzeigen. Die Melodie hat ächten königlichen Charakter.« Hildegard sang sie sotto voce.

»Quando saprai, chi sono, si fiero non sarai, ist ganz vortreflich declamirt; eine ganz eigne Art von Heroischem im Accent. Edler Zorn und Spott; Muster einer Heldenarie. Das Gleichniß im zweyten Theil ist freylich eine poetische Floskel. Jomelli steigt in dieser Arie weit über den Dichter; und der Charakter des Aeneas gewinnt dadurch erstaunlich. Hier sind ächte Züge von Darstellung.«

»Son qual fiume des Jarbas ist ein prächtiges pittoreskes Instrumentenspiel, und paßt gut für den Barbaren. Jomelli ist in dieser Art großer Meister.«

»Das lange Recitativ mit Begleitung, und das Duett beym Schlusse des ersten Akts gehören unter Jomellis Vortreflichstes; besonders sind im Recitative die stärksten Züge von Genie. Di Giove il cenno, l'ombra del genitor, la patria, il ciel, la promessa, l'onor, la fama, alle sponde d'Italia oggi mi chiama 11, ist ein wahres Meisterstück musikalischer Fortschreitung und Beredtsamkeit.«

»Und ein noch viel größeres: vil rifiuto dell'onde io l'accolgo dal lido 12 –«

[201] »Diese Scene ist wieder gerade der Kern vom Ganzen, auch das Beste in der Poesie, dem Virgil nachgeahmt, das Heiße der ersten Trennung und das Heftige. Göttlicher Verstand herrscht durchaus; die Charaktere sind in der Musik vortreflich gehalten. Der Inhalt ist ungefähr derselbe, wie bey der Armida; doch alles anders. Welch ein Reichthum! Dido ist nur nicht so jugendlich feurig, reizend und buhlerisch; doch hatMetastasio sie von der Römischen Würde sehr italiänisirt, und Jomelli bringt erst die wahre Darstellung hinein.«

»Das Duett, welches im Metastasio selbst sich nicht befindet, fällt treflich sogleich ein; es ist voll Leidenschaft und schöner Melodie, und auch als Kunst betrachtet ein Meisterstück. Non ha raggione, ingrato, un core abbandonato da chi giurogli fè; alles höchst sinnlich declamirt. Zu jener Zeit war Erfindung darin, die hernach gemein geworden ist.«


Zweyter Akt.


Scene 2. »Die Arie des Araspe, wieder nicht imMetastasio befindlich, D'atri nubi è il ciel ravvolto, macht einen großen feyerlichen Anfang, und hat viel Schönes.«

Scene 4. »Come! ancor non partisti? Eine schöne Scene in der Poesie, in gutem Ton geschrieben. Auch treflich in der Musik; und die Arie voll bittender Zärtlichkeit. Der Sturm hat sich etwas gelegt; gute Gradazionen.«

Scene 11. »Già vedi Enea, che fra nemici, die feinste weibliche Scene der Dido hat auch Jomelli gut dargestellt; er läßt nichts aus, wo er die Schönheiten seines Dichters verstärken kann. Das lange Recitativ wird immer begleitet, und schließt sich mit einem ganz vortreflichen Terzett; welches das Ganze sehr theatralisch macht. [202] Diese Scene gehört gewiß unter die besten des Metastasio. Das Terzett aber ist nicht von ihm; und Jomelli, auch Dichter, machte es wahrscheinlich selbst hinzu.«

»Aeneas fängt an, da er es nicht länger aushalten kann: Infedel, ti lascio, addio, godi pur del nuovo amor. Die Gelegenheit zu einem Terzett und hohem Kampf verschiedner Leidenschaften ist erwünscht, und recht lyrisch; so etwas ist ganz eigenthümlicher Stoff für die Musik. Die komische Oper hat sich zu glücklich solche Scenen allein in ihren Finalen angemaaßt. Dido hoft wieder bey dem Schmerz der Eifersucht im Aeneas; und Jarbas wird rasend über den ausgelaßnen Spott. Jomelli's Musik dazu ist ein Meisterstück.«


»Im dritten Akt


scheint Jomelli müde geworden zu seyn; außer dem prächtigen Schluß ist nichts Außerordentliches darin. Doch immer Jomellische Musik; und die begleiteten Recitative sind vortreflich declamirt.«

»Das Duett im ersten Akt, das Terzett im zweyten, und der pittoreske Schluß des dritten erheben das Ganze ungemein, und machen es zu einem so interessanten Schauspiel, als man beym bloßen Lesen der Metastasischen Oper nie denken sollte. Vom Schlusse des zweyten Akts hat Jomelli viel Vortheil gezogen; Aeneas erscheint dadurch etwas besser, ohne daß Dido bey dem Zuschauer verliert. Jarbas macht freylich den Schluß fast zu einem komischen Finale.«

»Eine ganz unerträglich alberne Person bleibt jedoch Selene; Osmida und Araspe höchst unnatürlich und unbedeutend. Jarbas ist gar zu sehr Karrikatur; Aeneas noch am besten gehalten, doch zu sehr Grandison. Er hätte am ersten eines Vertrauten bedurft, um seine ungereimte Abreise wahrscheinlich zu machen. Die Dido hat [203] Metastasio durch Modernisirung, besonders am Ende des zweyten Akts, dramatischer gemacht, als sie im Virgil ist; doch hätte er dabey alles Edle und Schöne des Römischen Dichters beybehalten können. Aeneas mußte weniger verliebt dargestellt werden; auf der Jagd trug sich der Fall zu, wo ein Mann von Gefühl nicht anders handeln konnte. Deßwegen verpflichtete er sich nicht Zeit Lebens, und opferte ihr alle seine reizenden Aussichten auf. Gerade dieß nothwendige Leiden giebt hernach die wahrhaft tragische Person. Aeneas sollte nur ganz andre Hofnung und Zuversicht haben, in Italien das ungeheure Römische Reich anzupflanzen, als den bloßen Traum. Virgil hat doch noch die Erscheinung der Venus.«

»Der Herzog von Wirtemberg muß diese Oper wohl für eine der besten von Jomelli halten, da er sie jüngst bey Anwesenheit des Großfürsten von Rußland hat aufführen lassen. Die zweyten Theile der Arien blieben indeß alle weg. Wahr ist es, daß sie die ältern Italiänischen Opern monotonisch machen.«

Die Deutsche Redlichkeit und der biedre Kunsteifer Lockmanns rührten Hildegarden. Er sagte freylich nichts in Rücksicht der Dido, was sie nicht für sich schon tiefer überlegt hatte. Nachdem sie die Hauptscenen noch einmal durchgegangen waren: blickte sie ihn heiter, und wieder hold und gütig an, rühmte seine litterarischen Kenntnisse, und wünschte von seiner Heimath und Erziehung etwas zu erfahren.

Er erwiederte nach einiger Ueberlegung: »Virtuosen in verschiednen Künsten – ich will meine Wenigkeit damit nicht so hoch hinauf setzen! – sind dieß hauptsächlich dadurch geworden, daß man sie in ihrer Jugend davon abhalten wollte; so natürlich ist dem Menschen Freyheit, und Liebe zu eigner That, als wovon man allein Verdienst [204] hat, und so sehr reizt ihn alles Gegenstreben. So wird die Erziehung, die man für die beste hält, oft die schlechteste, und die schlechte gut; das Kind thut gerade das, was die letztre verbietet, wenn es reine volle Empfindung und Stärke zu denken hat, thut, was wahrhaftig Vergnügen bringt.«

»Musik, mein gnädiges Fräulein, und alles, was damit in Verbindung steht, war von Kindheit an meine Hauptleidenschaft; mich der Rechtsgelehrsamkeit zu befleißigen, und alles dessen, was damit in Verbindung steht, als des Kanzleystyls, der Geringschätzung und Verachtung jeder schönen Kunst und Wissenschaft, weil sie davon abziehe, den gehörigen Geschmack verderbe – das eifrige und dringende Verlangen meines Vaters. Auf Schulen übt' ich mich im Klavierspielen und Singen bey einem meiner Kameraden, der gerade beydes studiren sollte, und vernachlässigte; dazu verwendete ich heimlich jede freye Stunde.«

»Auf Universitäten überließ ich mich aber meinem Hange, und verschlief oft die Pandekten. Glückliche Bekanntschaften mit talentvollen Liebhabern aus Wien, Dresden und Berlin, und mit einigen großen Meistern bestärkten und befestigten ihn gänzlich.«

»Wie ich dem Fürsten bekannt wurde, wissen Sie schon; und hiermit hab' ich die Ehre, mich Ihnen gehorsamst zu empfehlen.«

Er nahm dabey den Hut, machte ihr seinen Reverenz, und wollte davon eilen.

»Lockmann, Lockmann!« rief sie ihm nach; »wohin so geschwind? Ich habe Ihnen noch etwas einzuhändigen.«

Er erschrak, und stand bey diesen Worten, als ob er vom Blitze getroffen wäre. »Etwas einzuhändigen?« stammelte er nach.

»Ja, ja!« versetzte sie lachend, lief fort, und hohlte und brachte: [205] Didon, Tragédie lyrique en trois Actes; Piccini's Meisterstück, das sie eben den Morgen aus Paris von einer jungen Englischen Dame, ihrer besten Freundin in London, geschickt bekommen hatte.

Er mußte nun selbst lächeln, nachdem er die Zeit wie ein armer Sünder dagestanden. »Nehmen Sie die Oper mit; kommen Sie morgen wieder, und sagen Sie mir Ihr Urtheil.« Sie reichte ihm, als er die Oper schon unter dem Arme hatte, mit dem allerhellsten Freundschaftsblick, der in die Seele geht, die schöne Rechte; und er konnte sich nicht enthalten, sie zu fassen, zu küssen, und mit zärtlichem Druck zurück zu stoßen.

»Guter, holder, lieber Junge!« sagte sie vor sich selbst, als er weg war; »wer könnte der Schönheit und dem immer neuen Leben, womit er Aug' und Ohr, Herz und Geist erquickt, widerstehen, und sich von ihm nicht wenigstens zuweilen in die liebkosenden Arme fassen lassen, und die Feuerblüthe seiner Lippen berühren! Nur die gehörigen Schranken! und Gott im Himmel kann es einem Mädchen nicht übel nehmen; damit ist noch nichts versprochen und nichts verloren.«

Er hielt indeß ganz andre Monologen, als nach dem Gewitter, und fing an, die großen Schwierigkeiten mit einem solchen Mädchen, das so viel Gewalt über sich hätte, zu ermessen. »Aber was ist mir die ganze Welt ohne Hildegarden! Glaube, Liebe und Hofnung überwindet alles. Wir sind für einander geschaffen, geboren, und erzogen. Wo wär' ich lieber, als vor der lebendigen Gottheit ihrer schönen Augen; lüsterner, als vor ihrem süßen Munde, der so angenehm und sinnreich spricht, daß Stunden zu Augenblicken werden!« Dieß und vieles Andre der Art war doch das Lied am Ende.

Zu der bestimmten Zeit kam er, nun wieder ganz Gehorsam, so wie [206] sie wollte; und traf sie am Klavier bey den schönen Scenen der Dido von Jomelli. Er ergriff ihre Hand, küßte sie, drückte sie an sein Herz, und wagte nichts weiter. »Nun, lieber Lockmann, wie gefällt Ihnen die Französische Dido?« Mit dieser Frage machte sie ihm Platz, und ließ ihn sich setzen.

Er antwortete: »Das Gedicht ist im Ganzen ohne Vergleich besser, als das von Metastasio, jedoch nach diesem gemacht. Das mehrste Alberne ist weggeblieben, Selene nicht dumm verliebt, Osmida einfältig treulos, Araspe einfältig tugendhaft; doch behielt der Franzose, wahrscheinlich Marmontel, den Jarbas bey, welcher unsinnig genug der Dido noch in ihrer eignen Residenz droht.«

»Die Musik ist äußerst gefällig; wird aber dadurch beynahe charakterlos, und sehr einförmig. Die schönsten Scenen sind die der Dido, für welche sich Piccinische Musik auch am besten schickt.«

»Aeneas und Dido sind beyde in der Poesie bis zur hohen Französischen Vollkommenheit getrieben: Dido ein wenig zu weit; denn sie verzeiht dem Grausamen noch auf dem Scheiterhaufen. Ich weiß nicht, so eine Wittwenliebe will mir auf dem lyrischen Theater nicht recht behagen; Armida ist dagegen doch etwas ganz Anderes. Aeneas scheint mir für einen antiken Helden allzuglatt. Bey dem allen ist es ein sehr gutes Französisches Schauspiel.«

»Der dritte Akt ist in der Musik bey weitem der beste.«

»Die erste Scene mit der Arie Hélas! pour nous il s'expose, ist ein wahres Meisterstück besorgter Liebe; vortreflich der Ton gewählt, und Melodie und Begleitung empfunden. Sie gehört unter das Beste vonPiccini

»Das lange Gespräch darauf, wo Aeneas auf seinen Abschied beharrt, ist von: Non, c'est un indigne détour! gleichfalls durchaus [207] vortreflich. Schön sind dabey die Arien; besonders: Ah, prends pitié de ma faiblesse! beynah in Glucks Styl.«

»Das Leidenschaftlichste im Ganzen ist die Stelle der Dido: Va pour ta course vagabonde; der Affekt steigt fast wie bey Jomelli. Vortreflich alles declamirt, wahre Suada auch in der Musik. Der Fluch:Puissent renaitre de ma cendre des vengeurs altérés du sang de tes neveux, vom Des in D, und durch die Sextquint in Es; darauf in E, und so in F moll, und dann in C moll, ist wirklich erhaben.«

»Der Ruck in Oktaven mit der ganzen veränderten Harmonie in der Melodie durch halbe Töne ist von erstaunlicher Wirkung; und so die der umgekehrten kleinen Septime bey Qu'ĭls pōrtĕnt lĕ fēr ĕt lĕs feūx aŭ rĭvāge oŭ tŭ vās dēscēndrĕ! gewaltiger Rhythmus; c'est là le dernier de mes voeux.«

»Ich halte diese Stelle für eine der schönsten der gesammten Musik; und kenne von Piccini nichts, das ihr gleich käme.«

»Marmontel hat weit mehr und bessere Gründe zur Abreise, als Metastasio. Den besten, besonders für die Musik, hat er jedoch nur angedeutet, und nicht dargestellt; nämlich daß die Trojaner fortwollen nach Italien. Die Erscheinung des Vaters soll den Knoten zerhauen.«

»Gewiß gehört diese Oper unter die besten Französischen. Als Werk des Genies betrachtet, steht die von Jomelli doch über ihr; und mag Piccini'n eben bey der erhabnen Stelle zum Muster gedient haben.«

»Piccini gleicht in der Musik nicht selten seinem Landsmann Luca Giordano, Luca fa presto, in der Mahlerey; bey dieser Stelle hat er sich selbst übertroffen.«

[208] »Auch Traetta hat eine Dido geschrieben; aber sie enthält wenig Vortrefliches, außer dem Schlusse, welcher recht groß und pathetisch und recht im klassischen tragischen Styl ist. Jammer und Schade, daß dieser Meister immer ums Brot arbeiten, und so viel mittelmäßiges Zeug mit unterlaufen lassen mußte!«

Hildegard machte sich gleich an die schönen Scenen der Französischen Oper. Sie hatte zu London bey ausgelernten Pariser Damen voll Geschmack schon die eigne Art von Vortrag wohl gefaßt, und vermied nur mit edlerem und gebildeterm Gefühl deren übertriebnes Pathos, das bis zum Geschrey geht, und das Weinerliche des Accents.

Lockmann lernte von ihr; sie schickten sich bald auch hier gut zusammen, und gelangten zum Vortreflichen bey der Natur und Wahrheit des Inhalts.

Alsdann wurden Mutter, Bruder und Feyerabend gerufen, der neue Schatz wieder mitgetheilt; mit Lust studirt und gehört; und beschlossen, das Beste im nächsten Konzert aufzuführen.

Lockmann nahm die Oper mit nach Hause, um die Scenen geschwind ausschreiben zu lassen.

Den nächsten Montag war in der Waldung im Gebirge, noch eine Stunde weit hinter dem Kloster, großes Treibjagen, welches der Herr von Lupfen meisterlich veranstaltet hatte. Der Fürst und die Fürstin fuhren früh an den bestimmten Ort; wohin andre Wagen vom Hof und aus dem Ort sie begleiteten. Auch Hildegarden lockte der schöne Morgen, mit ihrem Bruder und der Frau von Lupfen einen Spazierritt dahin zu machen.

Zu ihnen gesellte sich der Graf von Törring, Oberster im Dienste des Fürsten, ein geschickter Offizier, der die Jagd liebte. Mit ihm [209] hatte Hohenthal im vorigen April seinen ersten Auerhahn geschossen, welches ihm solche Freude machte, daß seine Schwester noch lange nachher das Balzen hören mußte, von ihm vortreflich nachgeahmt bis zum Hauptschlag, und das Schleifen, wo der sonst so schlaue schöne Vogel weder sieht noch hört, und man ihm allein beykommen kann; bis sie aus Ungeduld ihn nachäffte, und er es endlich unterließ.

Graf von Törring, ein Mann schon in die Vierzig, war vor Kurzem nach dem Tode seines Bruders reicher Stammherr geworden, und sein Vater lebte hoch betagt auf seinen Gütern. Von Hildegards außerordentlichen persönlichen Eigenschaften, Talenten und Reizen entzückt und hingerissen, fing nach dem Herrn von Wolfseck nun er an, sich um ihre Hand zu bewerben.

Mit ihm aber zugleich noch ein Dritter, ein junger Herr von Wallersheim, dessen Vater Oberstallmeister des Fürsten war, und mit seiner Familie sich den Sommer über immer im Ort aufhielt. Der letztre war erst in die zwanzig, wohl gewachsen, schön und angenehm im Umgange; bey weitem aber nicht so reich. Er hatte viel Geschwister, und sein Vater war noch in den besten Jahren.

Beyde gingen viel feiner zu Werke, als Herr von Wolfseck; sie bestrebten sich fürs erste, durch allerley Zeitvertreib und Gefälligkeiten Hildegards Neigung zu erhalten, und suchten sich dabey ihren Bruder zum Freunde zu machen. Wallersheim hatte viel Welt; er war einige Zeit zu Paris, auch im südlichen Frankreich gewesen, und durch die Schweiz zurückgekehrt. Wolfseck studirte zu Wirzburg, hielt sich nachher in Wezlar auf, kam weiter nirgends hin, und ging dann wieder nach Hause.

Schon waren Spazierritte und Spazierfahrten eingeleitet worden; [210] dabey wurden an schönen Plätzen prächtige Frühstücke gegeben, Musik dazu bestellt,Hildegard zu einem Tänzchen mit andern jungen Damen aus Lust ergriffen, Spaziergänge dabey gesellschaftlich ins Kühle gemacht, darauf verzögert, eingehalten, süße Blicke, süße Worte, sanfter Druck der Hand, gewagte Umarmung angebracht. Glatt und schlau wich sie aber allem aus, was sie nur einigermaßen hätte fesseln können. Nur beym l'Hombre konnte man sie zuweilen halten; man brauchte aber nicht mit Fleiß an sie zu verlieren: denn sie hatte in Glück, schneller Ueberlegung und Spielerkenntniß wenig ihres Gleichen. Herr von Wolfseck wollte mitmachen, und sich dabey auch zeigen; er mußte aber bald zum Spott der Andern einige hübsche Summen auszahlen, von welchen Hildegard immer das mehrste erhielt, ohne daß er einen Schritt weiter kam. Bey dem unschuldigen Zeitvertreib mit ihrem musikalischen Gesellschafter widerstand sie um so leichter allen Verführungen.

Wallersheim wußte, daß sie kamen, und erwartete sie unterwegs. Das Wetter war heiter, die Gegenden schön und mahlerisch, das Gespräch angenehm und lebhaft; sie langten daher erst an, als so eben die Jagd anfing, und schon mehrere Damen und Herren aus der Nachbarschaft, die zum Theil dazu geladen waren, sich eingefunden hatten.

Lockmann war mit dem Herrn von Lupfen bey Anbruch des Tages ausgezogen.

Aus dem ersten Rudel schoß der Fürst einen Hirsch von sechzehn Enden sogleich gerad' aufs Blat. Dieß freute ihn höchlich und Alle, besonders die Jäger; und so begann die Jagd glücklich. Es ward dabey erzählt, wie klug eben dieser Hirsch sich versteckt gehabt, und den Treibern habe ausweichen wollen.

[211] Graf Törring that sich dann hervor, und traf einige der stolzesten mit Kernschüssen. Eben so Hohenthal und Lockmann. Nur liebten sie diese Jagd nicht; ihnen war es ohne Vergleich lieber, beym Morgen- oder Abendroth im dunkelsten Wald dem Wild aufzulauern, mit den vortreflich abgerichteten klugen Leit- und Schweißhunden des Herrn von Lupfen, welcher aus Pflicht und Höflichkeit nur einige Meisterschüsse that.

Auch Frau von Lupfen feuerte mehrmals ab, und traf einigemal glücklich. Hildegard hatte zwar mit den Gewehren ihres Vaters und Bruders zuweilen in England nach dem Ziel geschossen, aber nie nach etwas Lebendigem. Der Fürst und Graf von Törring suchten sie zu bereden, es jetzt zu thun. Der Fürst selbst zwang ihr eine leichte Pürschbüchse in die Hände. Beym dritten Rudel legte sie endlich an, zielte, und schoß einem Spießer, der in der Angst hoch über die andern wegsetzte, und eben schwebend in der Luft wie fest hing, über den Vorderläuften ins Herz, daß er augenblicklich stürzte.

Es erhob sich ein Jubel; die Jagdmusik ertönte, obgleich dazu noch kein Befehl gegeben war. Hildegard stand lächelnd da; die wahre Diana auf Spartas Höhen bey ihrem ersten Probeschuß. Der Oberjägermeister, ein galanter Mann, kniete vor ihr nieder, und küßte ihr huldigend voll Ehrfurcht die Hand. Klug und fein ließ sie sich aber zu keinem andern Schusse bereden, weil sie ihren Ruhm mit nach Hause bringen wollte.

Nur an die hundert Hirsche und Thiere wurden den Vormittag erlegt; der Fürst ließ des Landmanns wegen das Wild nie zahlreich werden.

Nach vollendeter Jagd wurde freye Tafel unter prächtigen Eichengewölben [212] gehalten, und bey herrlicher Musik wacker gezecht. Man sprach viel über die Natur des Edelwilds. Herr von Lupfen erzählte Seltenheiten, die er in seinen Revieren beobachtet hatte; Wallersheim manches von den Jagden des Königs in Frankreich, auch beschrieb er einige von dessen Parforcejagden, welche der Fürst verabscheute.

Nach der Tafel schlug man die erfreulichsten Spaziergänge ein. Die Aussichten in die grünen Thäler, von klaren Bächen erfrischt, und in die weiten Fernen waren den wonnetrunknen Augen romantisch. Man bewunderte die höchsten und schönsten Eichen und Buchen; und auf dem Gipfel des Gebirgs Edeltannen und Fichten.

Erst gegen Abend zog man in verschiednen glücklichen Gruppen wieder nach Hause.

Lockmann gesellte sich zum Trupp um Hildegarden. Ihm fing das Herz an zu wallen, als man nah an dem Kloster vorbey kam; ein höheres Roth glühte auf seinen Wangen. Nicht Liebe war es, was er fühlte, aber tiefes Mitleiden für die blühende Elsasserin. Ein Sonnenstrahl von Hildegarden durchspähete dabey sein Wesen. Wallersheim und Törring kamen sich einander oft in den Weg.

Hohenthal hatte zum Scherz sich selbst gezeichnet, wie er den Auerhahn schoß; und brachte den andern Morgen den Pendant zum Frühstück: Hildegarden mit dem Spießer, wie er von der Höhe in die Geweihe der andern Hirsche stürzte; wofür sie ihm einen recht zärtlichen Kuß gab.

Lockmann hielt diesen Tag doppelte Probe der Scenen aus der Dido von Piccini, wozu sich bey der zweyten, Nachmittags, Hildegard und ihr Bruder einfanden.

[213] Den folgenden Tag gaben sie im Konzert das allerneuste Pariser Schauspiel zu allgemeiner Freude und Bewunderung.

Die Mutter des Herrn von Wolfseck und ihre zwey Töchter waren dabey zugegen, die er abgehohlt hatte, und die denselben Tag angekommen waren, um den Sommer über da zu bleiben. Die jüngste, ungefähr achtzehn Jahr alt, hatte schlanken Wuchs und eine angenehme Gesichtsbildung.

Es waren noch mehrere Herren, Damen und Fräulein im Konzert, und einige zum erstenmal, die von ihren Rittersitzen in der Gegend sich aufgemacht hatten, um das berühmte Fräulein von Hohenthal, und die neue Pariser Musik zu hören, über welche man bey der Jagd gesprochen hatte. Bey den Familien Blankenheim und Seeburg, die mehr in der Nähe wohnten, war deßwegen die folgenden Tage Schmaus und Ball.

Nach der schönen Musik von Piccini führteLockmann zum Scherz einige der besten Sachen aus der Elisa von dem alten Fux, Kapellmeister Kaiser Karls des Sechsten, auf: eben die Geschichte der Dido, nur bis zur Grotte auf der Jagd, wo Venus, Amor, Hymen, und Iris sie mit dem Trojanischen Helden zusammenpaaren. Elisa hält dann eine Rede an die Kaiserin zu ihrem Geburtstage, womit sich die Oper endigt.

Alles lachte; und der Fürst selbst gestand, man müsse Pedant seyn, wenn man nicht erkennen wolle, daß die theatralische Musik hier fast noch in ihrer Kindheit sey. Das Jagdchor allein gefiel; die Hörner darin thaten gute Wirkung; es hatte Aehnlichkeit selbst mit dem Piccinischen.


[214] Ohne daß Lockmann wußte, woher, war an ihn schon eine Flaschenkiste von dem allerbesten Champagner und Burgunder aus einem Frachtwagen abgeliefert worden. Man hatte ihm dafür weiter nichts als den Schein wegen des Empfangs abgefordert, und nur den nächsten Uebersender gemeldet, welcher auf Befragen wieder einen andern berichtete. Den folgenden Morgen erhielt er wieder eine Kiste. Hildegard wollte nicht eingestehen, daß sie von ihr kamen, und hatte ihn mit allerley Geschichten darüber zum Besten.

Als die Feste in der Nachbarschaft vorüber waren, traf er Hildegarden Nachmittags wieder auf dem Musiksaal allein, und bey der besten Laune. Sie fing an, allerley Spielereyen mit ihrer Stimme zu machen, Läufe hinauf und herunter, die halsbrechendsten Sprünge, Triller verschiedner Art; und dann zwang sie ihn, in Terzen und Sexten, langsam und geschwind, leis' und stark, die Kurzweil mit zu treiben, mit ihr zu wetteifern, und allein bald vor bald nach zu singen; wo er zuerst recht erkannte, welch ein unendlich reicher Schatz musikalischen Wesens sie wäre. Er warf sich auf alle Weise überwunden ihr zu Füßen, und sagte: »Ihr Bajazzo bin ich, – und weiter nichts.«

»Nein;« sagte sie lachend, und hob ihn auf: »mein Herr und Meister, sobald Sie reden, und am Klaviere sitzen.« Dabey sanken sie einander in die Arme, und mit einem schnellen, aber höher feurigen Kuß, als je, riß sie sich von ihm.

Nun setzte er sich an seinen Posten; und sie sprachen überhaupt von den Manieren. Er sagte: »Auf jedem Instrumente kann man besondre Zierden anbringen; die wirksamsten aber sind diejenigen, womit die Menschenstimme den Gesang schmückt. Sie dienen, um [215] den Hauptton sicher zu treffen, die Melodie zu verschmelzen, die Schönheit und Fertigkeit in ihrem Glanze zu zeigen, und befördern oft gewaltig die Darstellung.«

»Die Manieren veraltern, wie die Moden; man will immer neue. Jeder große Sänger, jede große Sängerin sucht sich dadurch von andern zu unterscheiden; und eben so die Virtuosen auf Instrumenten. Sie sollen augenblickliche Empfindung ausdrücken, gleichsam Impromptüs seyn; und geben Sängern und Virtuosen etwas reizend Individuelles. Bloß erlernt und erkünstelt taugen sie nie viel; sie kommen selten auf den rechten Fleck, und passen nicht zum Charakter. Die schlechtesten unter allen sind, wenn die Menschenstimme Manieren und Kadenzen und Läufe der Instrumente nachmacht. Jedoch kann eine gewaltige schöne Stimme viel wagen, wie ein schönes junges Frauenzimmer bey Moden. Je alberner diese zuweilen sind, desto mehr erhöhen sie durch den Kontrast die nackte Schönheit. Bloß erlernte fremde Manier ohne Natur ist jedoch das Widerlichste unter allem. Ein reiner schöner Ton in allen Graden von Stärke und Schwäche erquickt Ohr und Herz mehr, als wenn er zu zwölf und zwanzig andern verziert wird.«

»Einen solchen hat vorzüglich die Menschenstimme; er fehlt allen Klavierinstrumenten. Die Geigen haben ihn nach ihr am besten; die blasenden können ihn nicht so fest halten. Wo die Empfindung, das Gefühl tragisch und tief, der Charakter des Gesangs einfach ist, passen sie selten. Bey Bravourscenen ist ihre eigentliche Stelle.«

»Was die Kadenzen betrift: so lassen die Franzosen sie nicht zu, und binden sich zu sklavisch an ihre Komponisten. Für das zu Häufige bin ich selbst nicht; die Italiäner übertreiben es. Bloß bey den höchsten Leidenschaften, oder als Spielwerk der Phantasie, können sie [216] gut angebracht werden. Sie sind nur für große Sänger und Virtuosen. – Genug für jetzt darüber.«

»Ich habe Ihnen hier noch drey Opern von Jomelli herbringen lassen, von denen wir das Beste durchgehen wollen, und Sie selbst durchgehen mögen. Dieser Meister verträgt das Ausschweifende, Willkürliche der Sänger und Sängerinnen am allerwenigsten, weil er am allerwenigsten die gewöhnlichen Phrasen schreibt. Seine Werke sind die beste Uebung für die Folge. Wie einer, der ein starker Fechter werden will, vorher die allerschwersten Rappiere braucht, wogegen hernach eine Schilfklinge ihm eine Feder in der Hand ist: so sind Jomelli's klassische Scenen das ersprießlichste Studium für Sänger. Wir nehmen zuerst den

Vologeso.«


»Das Gedicht ist von Apostolo Zeno; der Stoff einer der glücklichsten.«

»Vologeso, König der Parther, und Berenize, Königin von Armenien, griffen die Römer mit Krieg an; wurden unter Anführung des Lucius Verus geschlagen, und Berenize, Braut des Vologeso, kam in des Siegers Gefangenschaft, welcher sich in ihren jungen Reiz verliebte, obgleich schon feyerlich verlobt mit der Lucilla, Tochter des Marcus Aurelius.«

»Vologeso ward für erschlagen ausgegeben, und machte sich verstellt als Bedienter zu Ephes an den Hof des Lucius Verus.«

»Das Wesentliche des Ganzen ist: die allerhärtesten Proben der Treue der Berenize; und die allerheftigste Leidenschaft der Liebe des Vologeso, die keine Gefahr scheut. Das Gedicht gewinnt viel durch die Geschichte.«

»Die Musik von Jomelli ist durchaus meisterhaft gearbeitet; [217] aber eigentliches Genie, und Darstellung voll Gefühl herrscht vorzüglich nur in zwey Scenen, die auch den Kern vom Ganzen machen.«

»Berenize ist die Hauptperson. Im zweyten Akt trägt ihr Lucius Verus die Wahl vor: sich ihm zu ergeben; oder den Tod ihres geliebten Vologeso, der schon erkannt und eingekerkert worden war. Wenn sie sich ihm ergiebt, so soll er Reich und Leben wieder haben.«

»Das Leidenschaftliche fängt an zu schwellen im Recitativ darauf, bey den Worten: Povero Vologeso! Ah, ch'io ti perdo! e ti perdo per sempre! u.s.f. Il mio cor, ah Tiranno, non l'otterai 13

»Die Arie darauf gehört unter das Vortreflichste von Jomelli. Tu chiedi il mio core, il core ti darò. (Da se) Ma infida! che parlo? Crudel, non sperarlo no, no! Ma ferma, ma intendi, ma l'ira sospendi; si, il cor ti darò.«

»Che abisso d'affanno! per tutto è periglio, non ò più consiglio, ragion più non ò 14

»Aus dem C dur, mit Hoboen, die treflich gebraucht werden, und mit Hörnern.«

»Der Zweifel und die Unentschlüssigkeit voll Pein und Leiden in der reinen zärtlich und heftig liebenden Seele ist vortreflich ausgedrückt; [218] der Styl ächt klassisch, und in hoher Vollkommenheit. Es ist alles so weiblich, und doch kein schwacher Zug darin. Eine unaussprechliche Süßigkeit und Schönheit voll Geist und Empfindung.«

»Die zweyte klassische Scene ist im dritten Akt gegen das Ende, wo Berenize ihren Geliebten für ermordet hält.«

»Der Ausdruck ist höchst pathetisch und feyerlich; die Hörner sind meisterhaft dazu gewählt und gebraucht. Das Recitativ fängt an: Qual lugubre apparato di spavento e di lutto! qual di tenebre e d'ombre regia dolente e fiera! Hörner, Hoboen und Fagotten. Ahime! Sogno, o son desta? Odo, o parmi di udir la voce, il pianto del moribondo sposo, die Begleitung vortreflich; e quella oscura caligine, che là s'inalza; sie erblickt endlich den Schatten selbst. Das Tempo ist sehr sinnlich, bis endlich zum Presto. Ah barbaro tiranno, il mio sposo uccidesti! 15«

»Darauf kommt die göttliche Arie aus dem Es dur mit obligaten Hörnern: Ombra, che pallida fai qui soggiorno, Larva che squallida mi giri intorno, perché mi chiami? che vuoi da me 16? Mit Hörnern, Hoboen und Fagotten.«

»Es ist eine entzückende Schönheit von Musik darin; die blasenden [219] Instrumente und die Gewalt der Geige werden vortreflich gebraucht.«

»Alsdann wird das Becken mit verdeckter Krone und Scepter gebracht, worin sie den Kopf ihres Geliebten glaubt. Vortrefliche Stelle mit der Begleitung:Ah! che in pensarlo io manco, sudo, agghiaccio 17. Sieben verkleinerte Septimen, die Melodie durch halbe Töne, hinter einander.«

»Als sie im Begriff ist, die Decke wegzunehmen:Su quel caro volto esangue vuo finir l'egro respiro 18, mit bloßen Flöten und dem Violoncell ist auch sehr schön.«

»Dann findet sie erstaunt die Krone. Alles endigt sich glücklich. Lucilla und Berenize erhalten ihre Geliebten; und alle reisen ab.«


Al mare invitano placide l'onde,

dal cielo spirano l'aure seconde,

e tutto giubila nel nostro cor!


»Das Ganze schließt sich mit einer prächtigen Chaconne, die gleich in den Chor einfällt.«

»Es giebt wenig Opern, wo der Stoff so viel höchst lyrische Situazionen darbietet; sie sind hier weder in der Poesie, noch in der Musik erschöpft. Jomelli hat nur die zwey gewaltigsten herausgehohlt, und als großer Meister dargestellt.«

»Der schwarzausgeschlagne Trauersaal, wohin Krone und Scepter verdeckt gebracht werden; und wo Lucius Verus auf dem Throne sitzt: – entweder Tod, oder Reich und Scepter mit ihm – giebt [220] eine herrliche Verzierung, und macht überhaupt das Ganze äußerst romantisch und reizend für die Einbildungskraft.«

»Auch das Anerbieten der unerwartet angekommenen Lucilla ist erhaben: Lucius Verus soll wählen, sie oder Berenizen; und glücklich seyn. Wenigstens die Pille schön vergoldet; kurz, das Ganze eine der erfreulichsten Opergeschichten.«

»Der Anfang gleich ist überraschend, wie Vologeso dem Lucius Verus und der Berenize als Bedienter den Wein aufträgt, sie ihn erkennt; und er den vergifteten, dem Lucius Verus bestimmten Wein, wovon sie diesem aber zutrinken soll, von ihren Lippen wegstößt, und sich alsdann selbst zu erkennen giebt.«

»Obgleich das Andre den angeführten Scenen nicht gleich kommt, so ist doch viel Schönes darunter; als im ersten Akt die Arie des Lucio Vero: Luci belle più ferene, più tranquille a me splendete, voll schmeichlerischer Melodie für einen Tenor. Die erste Arie der Berenize mit begleitetem Recitativ: Se vive il mio bene, le pene non sento, voll weiblicher Freude. Das Quartett am Ende sehr schön; und hiernach gar keine Frage, daß die komische Oper ihre Finalen von der ernsthaften genommen, oder ihr nachgeäfft hat.«

»Im zweyten Akt ist die Arie des Lucio Vero: Sei tra ceppi, e insulti sehr dramatisch; die Arie des Vologeso: Cara, deh serba mi costante il core, voll Zärtlichkeit in Melodie und Begleitung.«

»Sie haben mir damit wieder große Freude gemacht, beschloß Hildegard; ich werde die zwey Scenen recht einstudiren, und denke, Berenize soll sich auch nach der Pariser Dido noch mit Vergnügen hören lassen.«

So schickte sie ihn fort; ein keuscher Kuß war sein süßer Lohn.

Er sah zwar nicht, wie es ausgehen, und was es werden sollte; [221] doch schätzt' er sich höchst glücklich, daß er es so weit gebracht hatte. Bey ihrem ersten Kusse war ein Flügelschlag leise wehend von Begierde, deren Regung ihr Verstand nicht einzuhalten vermochte. Mit frohem Blick in die Zukunft darüber stand er, wie Columb bey der ersten sichern Spur seiner neuen Welt. Ihm blieb bis jetzt der Vortheil vor jedem; er zog mit den Sirenen von Neapel auf, indeß die jungen Herren am Hofe sich begnügen mußten, mit Etiquette um sie herum zu flattern, und einen züchtigen, ehrbaren Morgenbesuch bey der Mama ab zulegen. Noch sah er keine Gefahr; aber sie stellte sich nur zu bald ein.

In dieser Zeit quoll zu seiner Oper die schönste Musik, heroisch und lieblich, aus seinem Wesen. Schon wünscht' er Hildegarden als jungen Achill mit seinen Melodien entzücken zu hören, und den Kampf zwischen Ruhm und Liebe in ihrem hohen Herzen. Aber er wollte hierin mit nichts voreilig seyn, und alles recht zeitig werden lassen.

Hildegard und Musik beschäftigten ihn auch so, daß er für Niemand und für nichts anders Muße hatte.

Den folgenden Abend war er schon wieder bey ihr. Er hätte immer bey ihr seyn mögen. Er traf sie bey ihrem Bruder, und hörte vor der Thür ein Gelächter. Als er in das Zimmer trat, sah er sie über Jomelli's Fetonte sich lustig machen. »Welch ein Einfall,« sagte Hohenthal, »den Sturz Phaetons, Himmel und Erde und die Elemente in Brand, auf dem Theater vorstellen zu wollen!«

Lockmann versetzte gleich darauf: »Es ist gewiß das albernste Bretterspiel, durchaus ohne Verstand und Empfindung. Vielleicht hat der Herzog selbst dem unsinnigen Dichter aus ältern Operntiteln 19 [222] das Thema angegeben, und der große Tonkünstler mußte sein Genie dabey mißbrauchen. Es ist aber auch in der Musik meistens nur sein Styl sicht bar. Wo der Text einigermaaßen gut wird, ist er jedoch vortreflich; welches nur bey wenigen Fällen Statt findet. Fast alles ist bloß für Phantasie und Ohr gearbeitet.«

»Die zwey Könige Epaffo von Aegypten, und Orcano von Aethiopien,« fuhr Hohenthal fort, »sind die albernsten Fratzen, die ich auf dem Theater kenne; und diese machen die ganze Verwickelung aus. Sie zwingen den Phaeton zu beweisen, daß er ein Sohn des Phöbus sey.«

»Der Ausgang ist wirklich das possierlichste Zeug. Himmel und Erde brennt; Jupiter zerschmettert den Wagen Phaetons mit einem Donnerkeil; Libia, dessen Geliebte, stirbt in Ohnmacht; und Climene, die Mutter, schwatzt noch lange mit den hundstollen Königen, und stürzt sich darauf ins Meer. Kein Schauspieler erstickt oder verbrennt, welches ordentlich zum Lachen seyn muß, bey dem ungeheuern Aufruhr aller Elemente; und das Stück endigt sich mit Dunst und Rauch und dem Davonlaufen Aller.«

»Sehr wahr,« sagte Lockmann lachend; »aber der Schluß in der Musik ist doch pittoresk und prächtig.«

»Der Herzog hat mit seinen großen Künstlern das Unmögliche möglich machen, und ein glänzendes Feenspiel zum Erstaunen der guten Schwaben für Augen und Ohren geben wollen.«

»Der Anfang gleich ist eine Zauberey nach der andern; die Symphonie schön und neu. Das Andante macht die Anrufung der Climene an die Thetis mit einem Chor tanzender Priester. Im Presto stürzt alles zusammen, und Thetis erscheint in aller Pracht auf einem Thron. Die Arien sind für äußerst geübte hohe Sopranstimmen. Der Chor der Tritonen ist ein Meisterstück für ihren [223] Charakter. Das Duett der Thetis und Climene hat schöne Stellen; dann kommt freylich auch in der Musik Leeres und Langweiliges. Der Abzug des Phaeton zur Sonnenburg ist das Beste; und sein Duett mit der Fortuna, deren vom Vater erbetenen Beystand er aus Stolz nicht annehmen will, das Wesentliche vom Ganzen.«

»Es ist nützlich, auch solche Ausschweifungen kennen zu lernen, und sich davor zu hüten; selten ist ein so herrlicher Verstand wie der Ihrige dabey gegenwärtig.«

»Die andre Oper Cajo Fabrizio ist viel besser. Auch das Gedicht hat schöne leidenschaftliche Scenen und Arien für Musik; doch ist die ganze Verwickelung platt und unwahrscheinlich. Nämlich Decius, der Geliebte und Bräutigam der Giunia, Tochter des Fabrizius, soll, eben nach einem Sieg und Triumph, Rom an den Feind verrathen. Die Geschichte ist die mit dem Pyrrhus, den einer von seinen Leuten vergiften wollte, welchen Fabrizius ächt groß Römisch auslieferte; wovon aber hier fast gar kein Gebrauch gemacht wird, außer daß gegen Ende deßwegen die Gefangnen frey gegeben werden.«

»Ein Tarentiner, Sergalio, hat sich in die Giunia verliebt; er will den Decius als Verräther hinrichten lassen, und endlich den Pyrrhus selbst vergiften.«

»Die interessante Person ist Giunia, Gefangne des Pyrrhus, zärtlich verliebt in den Decius. Sie hat zwey Arien, die unter die reizenden von Jomelli gehören; und die letzte im dritten Akt, wo sie für ihn bey ihrem Vater bittet, ist eins seiner größten Meisterstücke.«

»Er übernahm erst nur die Komposizion der Arien für die große Sängerin Dorothea Wendeling, welche die Rolle der Giunia machte; und schrieb hernach alles, die mittelmäßigen Arien im ersten Akt ausgenommen, welche Giuseppe Colla, der Mann der [224] Bastardina, setzte. Die Oper gehört unter seine guten Werke; er wollte bey den Mannheimer Künstlern Ehre einlegen.«

»Der Marsch zu Anfange ist prächtig.«

Sie gingen dabey auf den Musiksaal, spielten ihn, und probirten sogleich das Folgende.


Akt II. Sc. 4.

»Die Arie der Giunia: Tutti gl'affetti miei spiegagli tu per me. Digli – ma che? Non so. Che fida io parto. Oh dei!« u.s.w.

»Sie hat durchaus den Charakter einer schönen keuschen jungfräulichen Seele,« fuhr Lockmann ferner fort; »Melodie und Begleitung ist voll Heiterkeit und Reiz. Sie gehört unter die schönsten weiblichen Sachen von Jomelli.«

»Das Duett zwischen der Giunia und dem Decio ist treflich nach dem Text gearbeitet. Lasciami in pace, o perfido; leidenschaftliche Musik voll Wirkung.«

»Das Terzett am Ende ist ein Meisterstück; Il pianto ti muova, ti plachi il dolor; es kann unter die klassischen gezählt werden, so wohl was Ausdruck, als was Kunst betrift.«


»Im dritten Akt

ist die Arie des Decio: Ceppi, fasci, minaccie di morte, no, non hanno terrore per me, ein Meisterstück von Heldenmuth und Zärtlichkeit, welches beydes einen reizenden Kontrast macht. Ihm ist nur für seine Geliebte bange.«

»Das Vortreflichste aber der ganzen Oper ist die Arie der Giunia:


Parto; ma attendimi,

Farò ritorno:

Un ombra squallida

Avrai d'intorno« u.s.w.


[225] »Die zweyte Violine macht durchaus eine äußerst passende originelle Begleitung; und die Flöte wetteifert im schönsten Ausdruck mit der Singstimme. Es ist ein wahrer Kapwein von musikalischem Genuß, und trägt recht den Stempel des Genies.«

Beyder Gefühl bekräftigte Lockmanns Urtheil. Hildegard nahm die letzte Arie, die ganz für ihre Stimme, zum Triumph über alle Instrumente, gesetzt war, unter ihre liebsten auf.

Einen der nächsten Tage war Lockmann sehr früh ausgegangen, um der frischen Morgenluft zu genießen, und sich eine starke Bewegung zu machen. Auf der Rückkehr traf er den alten guten Reinhold unter einer hohen freystehenden Eiche, deren weit verbreitete zweigevolle Aeste kühl umschatteten, ins weiche Gras gelagert; wo nicht weit davon ein klarer Bach, mit Pappeln und Erlen eingefaßt, in ein kleines anmuthiges Thal rann.

Lockmann gesellte sich gleich zu ihm, und streckte sich auch hin, zwischen Kräuter, die eben in voller Blüthe standen, mit dem rechten Arm auf die bemooste Wurzel des königlichen Baums gestützt. Sie sprachen freundschaftlich mit einander von diesem und jenem, und geriethen bald auf ein Hauptthema, den Ausdruck in der Musik, und endlich in einen muthwilligen Zwist darüber, wo jeder sein Recht durchsetzen wollte; als Hildegard und ihr Bruder mit dem Herrn von Wallersheim und der Frauvon Lupfen herbey geritten kamen, und sie angenehm überraschten und störten.

Hildegard, die voraus war, hatte die letzten lebhaften Worte ihres Streits noch vernommen; da aber die Andern herbeyeilten, so ward sie zu bald erblickt. Man hielt eine Weile bey ihnen an, ergötzte sich an dem anmuthigen Platze, und bevor man wieder fortritt, lud Hildegard, mit ihnen besonders, sie auf den Mittag beyde zu Tisch ein.

[226] O, wie die Lust in Lockmanns Herzen wallte, als er der stolzen hohen Schönheit nachsah, und zurückempfand, wie er sie, Mund an Mund und Brust an Brust, in seinen Armen hatte!

Sie kamen, ließen es sich nach der Bewegung wohl schmecken, und man unterhielt sich erfreulich.

Gegen Ende der Mahlzeit, als der edelste Hochheimer beyder Lebensgeister befeuerte, wiederhohlte sie, nach einer kleinen Stille, Reinholds letzte Worte.

»O, das ist boshaft, rief Lockmann; Sie haben uns diesen Morgen belauscht.«

»Ich wünschte,« erwiederte sie lächelnd, »daß es zu meinem größten Vergnügen und zu meinem Unterricht länger hätte geschehen können.«

»Ich möchte meinem vortreflichen jungen Freunde, fing Reinhold an, gern leichte Arbeit machen; aber er dünkt sich mit seiner Sirenenkunst Herkules am Scheidewege, und wählt das Schwerste. Sie, himmlische Muse selbst, sollen Richterin seyn, wer Recht hat.«

»Das muß ich mir zu Ihrem Vortheil verbitten,« versetzte Hildegard; »ich würde vielleicht für meinen Lehrmeister partheyisch seyn.«

Lockmann sagte darüber: »Am Ende dürften wir sehr wohl einig werden, und die zufälligen Dissonanzen sich in eine reine Harmonie auflösen.«

Hildegard machte den Antrag: »Eine erquickende Ostluft spielt über den Garten durch die Fenster, und wir können höchst angenehm noch einige Zeit bey Tische bleiben. Herr Reinhold, treflicher Meister aus Italien, theilen Sie also zuerst uns Ihre interessante Meinung mit.«

Reinhold ließ sich nicht lange bitten, und sagte: »Ob ich gleich [227] befürchten muß, daß mir von neuem übel mitgespielt werde; so kann ich doch dem edlen Begehren von so schönen Lippen nicht widerstehen.«

»Man lasse zwey glücklich organisirte Freundinnen, die gute Kehlen und Lungen haben, aber weder von Musik noch von Declamazion etwas wissen, jede nach langer Abwesenheit, bey stiller Luft, an dem entgegen gesetzten Ufer eines gehörig breiten angeschwollnen Flusses, worüber sie nicht können, einander einsam zu Gesichte kommen, und sich erstaunlich wichtige Neuigkeiten erzählen; höre nun, in einem Busche verborgen, bey welchen Sylben und Wörtern, bey welchen Perioden der Ton stark wird, sich erhöht und vertieft: und man wird großen Aufschluß über die Grundsätze der Melodie in der Musik, und des Accents in der Declamation finden; wenn sie nicht zu bald vor Begierde ins Wasser fallen.«

»Das Wort, worin das Thema des Gesprächs liegt, wird hoch und stark gesprochen werden; die Nebensachen, die sich fast von selbst verstehen, minder hoch und stark, und die Leidenschaft sich in mannigfaltigen Beugungen der Stimme zeigen. In kurzen Sätzen kann man schon des Nachts bey Schildwachen vernehmen, die in Ernst rufen: Wer da? abgelöst! wie stark der Accent auf Wer, und der Sylbe ab liegt.«

»Der singbare Ton hat seinen Ursprung daher, daß man sich weit und breit verständlich machen könne; die Melodie, daß jedes Wort leicht faßlich sey; wiederhohlte Melodie bey Strophen, daß die Worte immer faßlicher werden. Die Wiederholung derselben Worte bey Arien in Opern und Recitativen mit Begleitung hat eben die Ursache zum Grunde. Telemann in Hamburg hat also nichts Abgeschmacktes mit den Worten gesagt: man könne einen Thorzettel singen; wenn man ihn für einen in der Ferne ablesen soll.«

[228] »Wie die Quinte und Terz auf einer langen Saite von selbst entstehen, wenn die Bewegung derselben sich schwächt: so hat es gleiche Bewandtniß bey der menschlichen Stimme. Nur heftige Leidenschaft giebt Dissonanzen; bey gefälligen Gegenständen sucht die Stimme, oder trift sie von selbst, für das Ohr das Angenehme. Nur geht auf der langen Saite der schwächere Ton in die Höhe, und bey der Menschenstimme in die Tiefe.«

»Durch die Instrumente haben die schon sprechenden Menschen den Ton von der Sprache abzusondern gelernt, und eine eigne Kunst aus bloßen Tönen gebildet. Wo einmal schon Sprache ist, lassen sich die Töne der Stimme allein für sich selten hören. Es kommt hauptsächlich darauf an, was gesagt wird, nicht wie der Ton ist. Ich gebe dafür tausend Thaler; gilt dasselbe in allen Tönen. Ja, ich will ihn heurathen; gilt eben so in allen Arten von Tönen. Wenn etwas nur in klarem vernehmlichen Ton gesagt wird, so ist es genug. Dieser und jener sagt es mit einer besondern Grazie? Schön! aber es ist nicht wesentlich.«

»Daraus kann man erklären, wie verschieden Melodie und auch Harmonie zu denselben Worten seyn können. Derselbe Meister ist nicht im Stande zu demselben Text dieselbe Musik wieder zu machen, wenn er die erste nach acht oder vierzehn Tagen halb oder ganz vergessen hat. Selbst Pergolesi's Melodien lassen sich nicht als wahr demonstriren. Schon bloß neue angenehme Musik geht Ohr und Menschen über angebliche Wahrheit; so wenig Gewisses herrscht da.«

»Die Musik macht den Text nur gefälliger, und dadurch tiefer eindringend. Wir bilden uns ein, die Musik thue das Meiste; es sind die Worte und Sachen. Wer fühlt etwas Bestimmtes bey Instrumentalmusik [229] allein, wenn man nicht vorher schon die Bedeutung weiß; als beym Ruf der Trompete in Lagern und Schlachten, bey Tanzstücken?«

»Musik wirkt hauptsächlich durch Rührung und Erschütterung des Nervensystems, damit es die Gegenstände und Leidenschaften, die durch Worte und Action gegeben werden, leichter auffasse; und bestimmt zu den Bewegungen das allerkürzeste Zeitmaaß, besser als Sekundenuhren, Flügelmänner und Vortänzer.«

»Daraus kann man sehen, wie weit die Musik von der Ursache ihrer Entstehung abgewichen ist. Jetzt muß man die Worte gedruckt herumgeben, damit man wisse, was Sänger und Sängerinnen hervorgurgeln.«

»Und die bloße Instrumentalmusik in Konzerten ist nun weiter gar nichts als Zeitvertreib und Spielerey: eine Seiltänzerey von Tönen. Man sagt nicht, was sie bedeuten soll; und wenn man es sagt, so kann selten ein Andrer, als der Komponist, finden, worin es stecke. Auch hört man häufig die Klage, daß man bey einem wohlgespielten Konzert ungefähr dieselbe Empfindung, wie bey allen andern Konzerten habe; und daß man aus Furcht vor langer Weile keins mehr hören mag; zumal wenn Fürsten und Liebhaber viel Geld dafür ausgeben sollen.«

Man lächelte über die sonderbare Meinung, ward aber doch von dem Wahren, was darin lag, betroffen.

Hohenthal redete zuerst, und sagte: »Ich sehe, daß Sie in der Theorie der Musik das sind, was man im Fechten einen vortreflichen Naturalisten nennt. Halten Sie Sich tapfer!«

Lockmann antwortete: »Die neuere Italiänische Musik hat gar wenig Dissonanzen; auch bey den heftigsten Leidenschaften ist sie [230] geschmeidig, und der wilde Schrey der Natur ist sittsam geworden. Alles geht ins Schöne; man höre nur zum Beyspiel die ernsthaften Komposizionen von Paesiello. Es fehlt ihr aber dadurch an Stärke, und mancherley Kontrast, so wohl bey Freude als Leid. Gänge in der verkleinerten Septime, die Gluck so häufig braucht, sind bey ihr schon sehr selten.«

»Die neuern Italiänischen Komponisten arbeiten hauptsächlich darauf, daß sich ihre Kastraten und Sängerinnen mit ihren Stimmen hervorthun können; und daß alles, wie im gemeinen Leben bey vornehmen Gesellschaften, in einem guten Tone gesagt wird. Die ältern, Porpora, Leo, Pergolesi, und nochTraetta und Jomelli, sind in einer ganz andern Welt zu Hause. Uebrigens muß man gestehen, daß die neuern sich mehr in ihren eleganten Metastasio einstudirt haben.«

»Aber so ist der Gang bey allen Künsten; aus dem Wahren, Individuellen kommt man zu allgemeinen schönen Formen.«

»Dieses vorläufig.«

»Mein theurer Freund, ich gebe dafür tausend Thaler! mag dasselbe in jedem Ton bey einem Juden oder Finanzminister gelten. Eben so:ja, ich will ihn heurathen, bey einem Freyer auf Rechnung. Aber gewiß nicht, weder bey Ihnen, gutherziger Mann, noch bey diesen vollkommnen Personen.«

»Bravo!« rief Reinhold.

Lockmann. »Wir haben hier zwey große Philosophen, die uns zuhören, und die beyden Damen können in dieser Materie auf jeder hohen Schule dafür gelten; wir müssen also gründlich zu Werke gehen.«

»Was ist Musik überhaupt?«

[231] »Wenn ich nicht irre, so ist sie die Kunst, durch gemessene Töne das Leben im Menschen, und alles, was sich in der Natur durch Ton und Bewegung äußert, darzustellen; ohne Metapher zu reden, dem, Sinn des Ohrs hörbar zu machen.«

»Da dieß der Stimme des Menschen oft zu schwer wird, nicht selten zu niedrig, ja unmöglich ist: so hat er Instrumente dazu erfunden, welche die göttliche Stimme einer Hildegard, der Sultanin aller Feen im Luftreich, gehorsamst und mit Lust bedienen.«

»Vortreflich, mein theurer junger Freund!« riefReinhold weiter.

Lockmann. »Und um die Darstellung, so viel als möglich, zu bestimmen, die Wörter der Sprachen.«

»Eine starke Aussprache ist noch keine Musik, wenn die Töne dabey in keiner gemessenen Leiter stehen; und so kann man dem leisesten zärtlichen Gesang einer Gabrieli oder Todi diesen Namen nicht absprechen.«

»Jomelli stellt durch die Geige den Galopp eines schnellen Pferdes dar, weil dieses für die Stimme zu unedel wäre; mit Hörnern, Klarinetten und andern Instrumenten einen angeschwollnen Waldstrom, der alles niederreißt, was ihm in seinem Lauf begegnet; Majo, Jomelli und Gluck durch die gewaltige Geige den Wetterstrahl, der die Wolken durchzackt und trümmernd herniederfährt; und warum sollte man die allergrößte Janitscharentrommel nicht brauchen dürfen, wenn man den Donner der Kanonen darstellen wollte? den schrecklichen Hall der Posaunen für Sturmwinde, und die mit zartem Finger gerührten Saiten der Harfe für das gelinde Säuseln holder Frühlingslüfte?«

»Ohne pedantisch zu werden, kann man bey Melodien für sich von großem Umfang die Harmonie nicht bestimmt genug für den Ausdruck [232] angeben; von diesem Bedürfnisse getrieben, hat man zuerst die Begleitung der Instrumente erfunden. Mit dieser ist ein Ton der Melodie hinlänglich, den ganzen Ausdruck zum Beyspiel des schmelzenden Accords der kleinen Septime auf dem vollkommnen Dreyklang hervorzubringen, und die Stimme kann überdieß noch wählen, welchen sie will von vieren, für jeden besondern Reiz. Sie steht dadurch wie eine Semiramis und Tomiris, wie Alexander und Cäsar, gleichsam an der Spitze von geübten Heeren; und es wäre höchst ungerecht, wenn man eine Melodie für sich allein aus einer Iphigenia in Tauris von Gluck nehmen, das Mädchen barbarisch frech von ihrer furchtbaren Pallasrüstung in der Partitur entkleiden, und anatomisch zeigen wollte, daß es ein schwaches Geschöpf wie andre auch sey, und nicht einmal so stark, wie manche Westphälische Magd.«

»Die Töne an und für sich genommen, und nach dem bloßen Verhältniß, sind freylich so allgemein, wie das Element der Luft, woraus sie bestehen, und wie die Zahlen; aber die Verschiedenheit der Kehlen und Instrumente, wodurch sie hervorgebracht werden, bestimmt schon sehr ihren Gehalt: und sie unterscheiden sich wie hundert Goldstücke und hundert Rechenpfennige. Jedoch kann man auch in ihrem allgemeinsten Ausdruck bey der Verbindung nicht die Zahlen verwechseln. Die Dreyklänge, das alltägliche Leben, haben schon entschieden ihren bestimmten. Da diese zu häufig gebraucht werden, so will ich mich bey ihnen nicht aufhalten; ob man gleich auch hierin harte Fehler begeht. Bey den seltnern Accorden, die auch nur seltne Leidenschaften bezeichnen, läßt sich aber leicht darthun, wie richtig das Gefühl großer Meister, eines Leo, Pergolesi, Traetta, Jomelli, Majo, Händel, Hasse, Graun, Gluck, [233] Benda sie auf ein Haar überein trift und anwendet; und zuverlässig haben diese Originalgeister einander nicht ausgeschrieben.«

»Dieß verlang' ich zu sehen und zu hören, erwiederte Reinhold; und wir werden bald einig seyn.«

»Daran soll es nicht fehlen!« fuhr Lockmann ferner fort.

»Was die Sprache der Musik, und die Musik der Sprache leistet, ist so schwer als gefährlich zu beantworten und zu entscheiden. Ein Rodomont von Dichter, und ein Mandrikart von Tonkünstler könnten sich in ihren gut gehärteten Rüstungen wenigstens heillose blaue Flecken stechen und hauen.«

»Die Sprache ist das Kleid der Musik, würde der letztre behaupten, und nicht die Musik das Kleid der Sprache. Wenn sie sich nach der Sprache richtet: so thut sie es, wie der menschliche Körper nach den Kleidern. Nicht die Italiänische Sprache hat die Welsche Musik geschaffen, sondern das Welsche Herz und Feuer, die Neapolitanische Schönheit des Himmels, der Erde und des Meeres; und freylich ist die Welsche Sprache leichter Schleyer, Griechisches Gewand der Empfindungen oder Töne.«

»Der Dichter stellt mit Worten, willkürlichen Zeichen die Gefühle dar, in so weit ihm Darstellung dadurch möglich ist; und der Tonkünstler mit Tönen. Diese sind die allgemeinen natürlichen Aeußerungen und Merkmale des Lebens, und der Veränderungen des Lebens, und in der Menschenstimme so das Leben und dessen Veränderungen selbst, als einPraxiteles, wenn ich mich so ausdrücken darf, den Stamm der Schönheiten einer Phryne mit seinen bloßen Formen nur je darzustellen vermag. Der Dichter bestimmt Personen, Ort und Umstände, Leidenschaften, Minuten, Stunden, Tags- und Jahrszeiten, Reden und Handlungen: der Tonkünstler bringt das [234] Gediegne der Gefühle lebendig mit seinen Tönen hinzu, und zwingt die Zuhörer und Zuschauer, die Herzen und Seelen haben, wenn er vortreflich ist, zu fühlen, was der Dichter fühlte, oder vielmehr, was der hohe Mensch überhaupt bey gleichen Situazionen fühlen muß, zuweilen unendlich erhabner und wahrer, als der mittelmäßige Dichter selbst fühlte.«

»Welcher Mensch von Geist und Geschmack will nicht lieber die Musik des Traetta zur Sophonisbe gemacht haben, als die mittelmäßige Poesie des Verazi dazu, und ein Dutzend solcher Operntexte? Welcher Mensch von Geist und Geschmack nicht lieber die Musik des Jomelli zur Dido, als den Text? Wirklich armselige Gewänder um die lebendigen Formen der Schönheit.«

»Wer eine Melodie ohne Worte singt, braucht dazu die Buchstaben, welche am leichtesten auszusprechen sind: da, da, da; oder la, la, la; oder a, a, a; und andre.«

»Diesem nach würde die Sprache am singbarsten seyn, welche am mehrsten solche Sylben und Wörter hätte, wobey der Ton am reinsten und vollsten aus der Kehle in die Luft käme. Melodie und Harmonie herrschten darin am mehrsten in ihrer eignen Stärke und Schönheit. Bezeichnete eine solche Sprache noch außerdem vortreflich die Natur der Dinge und Empfindungen: so wäre sie gewiß für die Musik die vollkommenste. Dieß mag jedoch schwer zu vereinigen seyn.«

»Bittre, schmerzhafte Gefühle, gewaltige, furchtbare und verheerende Dinge und Begebenheiten, rauhe Gegenstände werden durch glatte leichte Worte gewiß nicht natürlich dargestellt. Das Allgemeine vergnügt nur den ewigen Verstand; das Individuelle allein reizt das zeitliche Leben. Das Interesse erzeugt die Leidenschaften; und [235] mit diesen hat es die Musik vorzüglich zu thun. Für den Ausdruck würde alsodie Sprache die vollkommenste seyn, welche Gefühle und Gegenstände schon durch bloße Worte sinnlich darstellte.«

»Die Italiänische Sprache hat beydes; doch das letztre vielleicht in manchem schon zu abgeschliffen. Der Deutsche ist nicht reich genug an singbaren Sylben; hat aber eine Menge unverdorbner vortreflicher Wörter für den Ausdruck.«

»Man hat im Accent der Sprache die Quelle der Musik, und in jeder besondern die Quelle der Nazionalmusik gesucht und zu finden geglaubt. Aber die höhern und tiefern Töne, das Melodische der Declamazion liegt nicht in der Sprache an und für sich, sondern im Charakter des Menschen, der sie spricht, und in den Sitten der Stadt und Nazion.«

»Bey Uebersetzung des Originaltextes der Musik in eine andre Sprache muß natürlich allezeit viel verloren gehn; viel nämlich von der Sprachmusik zu Melodie und Harmonie.«

»Nur fürs erste eine kleine Bemerkung,« unterbrach ihn Reinhold.

»Wenn man Melodie und Harmonie der Worte beraubt; so ist es eben, als wenn ich den Geist abziehe von Blumen, Blüthen und Kräutern: es bleibt das Allgemeine; das Individuelle geht verloren. Das Wort ist die Form des Tons; und menschliche Musik ist auch vom Wort unzertrennlich. Poesie und Musik waren ursprünglich Eins. Nur durch Erfindung mehrerer und vollkommner Instrumente sind sie getrennt worden. Was wir jetzt besonders Musik nennen, ist weiter nichts, als Schönheit von der Musik der Sprache. Wo die Sprache schon an und für sich viel Musik hat, ist die Komposition leicht; man merkt auch das Willkürliche da weit weniger.«

[236] Um beyde nicht ausschweifen zu lassen, warfHildegard folgende Frage auf: »Ist der Gesang beym Menschen entweder Natur, oder bloß Kunst, oder beydes zugleich?«

Lockmann antwortete:

»Durch ein Gleichniß wäre die Sache leicht entschieden. Der Gesang ist gegen gewöhnliche Rede, was Tanz gegen gewöhnlichen Schritt und Gang, oder Sylbenmaaß gegen Prose ist. Wie Sprung und abgemeßner Schritt schon im gemeinen Leben, wie Verse zuweilen schon im gewöhnlichen Gespräch vorkommen: so schon auch Gesang.«

»Nach diesem wäre der Gesang bloß erhöhte idealische Aussprache. Der Mensch treibt es bey allen seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen bis zur Vollkommenheit. Die Musik wäre also Kunst, die Töne der gewöhnlichen Aussprache, und, in weitläuftigem Verstande, die Töne der ganzen Natur, zur höchsten Vollkommenheit zu bringen.«

»Bey allen drey Künsten zeigen die Virtuosen wie die reichen Leute ihren Luxus: ein Vestris in Schritten und Sprüngen; ein Sophokles in Worten und Sylbenmaaßen; ein Marchesi in starken reinen Tönen, und schnellen Läufen von erstaunlichem Umfang. Alle Drey steigen weit über das bloße Bedürfniß, den Ausdruck, hinaus, und wir bewundern die Kraft und Vollkommenheit dieser Menschen. Das, was sie darstellen, ist zuweilen bloß Nebenwerk, und dient nur, daß sie ihre Kunst dabey zeigen können.«

»Inzwischen ist der Stoff bey der Musik von weit höherer Art und tiefrer Natur, als bey den andern Künsten. Wenn ein Mensch singt; so ist es, als ob er auf einmal seine Kleider abwürfe, und sich im Stande der Natur zeigte: so etwas Inniges, Himmlisches liegt in dem Kontrast von abgemeßnen Tönen. Die gewöhnliche [237] Aussprache scheint eher ein armseliges Ueberbleibsel, ein Ruin, ein Aschenhäufchen von der Melodie, als deren Wurzel oder Quelle zu seyn. Vortrefliche Musik ist vollkommen reine Natur; die gewöhnliche Aussprache Convenienz. Vortrefliche Melodien sind wiederhergestellte Töne der Natur; und die Kunst verstärkt und verziert dieselben durch die Begleitung von Instrumenten. Die Griechen scheinen unter den bekannten Völkern, schon nach der spätern Erfindung ihrer Accente zu schließen, am mehrsten Melodie in ihrer gewöhnlichen Aussprache gehabt zu haben.«

»Die Hauptquelle der Musik liegt also im Herzen, und wenigstens bey uns nicht in der Aussprache. Ein Komponist kann diese nicht nachahmen, wie ein Mahler sein Modell; er ist, wenn er das Gewöhnliche nicht nachleyert, mehr Schöpfer, als irgend ein andrer Künstler.«

»Die Aussprache im gemeinen Leben,« unterbrach ihn Reinhold hier wieder, »richtet sich nach dem Ton von Vernunft und Verstand; die Aussprache in der Musik richtet sich nach dem Ton der Leidenschaften. Musik im strengsten Verstand ist die Sprache der Leidenschaften; und wenn auch kalte Vernunft hinzu kommt: so wird sie zum Ton der Leidenschaft gespannt und erhöht.«

»Warum erhöht man den Ton der Aussprache überhaupt; oder läßt ihn sinken? Warum bleibt er gleich?«

»Wenn ich einen Schluß der kalten Vernunft vortrage: so brauch' ich den Ton, der meiner Kehle und der ganzen Stimmung meiner Existenz der natürlichste ist; und ich erhöhe ihn bloß, um mit meinem Athem einen frischen Ansatz zu nehmen, oder auch nur, meine Sprachorgane ohne weitere Bedeutung anzustrengen, um das Einschläfernde des Einklangs zu vermeiden; ich lasse ihn sinken, weil [238] mein Athemzug, oder auch die Periode, die ich sage, zu Ende geht. Der Ton meiner Aussprache ist hier bloß Mittel, meinen Gedanken oder meine Empfindung zu offenbaren. So bald aber Leidenschaft mein Wesen spannt, bekommt der Ton auch mehr Gehalt.«

»Sehr wohl, mein alter Freund, erwiederte Lockmann. Jeder Ton ist das Resultat unsrer momentanen Existenz. Bleibt unsre Existenz im gewöhnlichen Zustande: so bleibt auch der Ton derselbe.«

»Diesen Ton der Stimme muß der Komponist von jedem Sänger und jeder Sängerin wohl fassen; dieser ist ihr eigentliches C, alle andern Töne stehen damit in Kontrast. Was hinauf oder herunter steigt, ist Leidenschaft, so bald es über Quarten und Quinten geht; erhöhter oder erniedrigter Zustand.« –

»Soll ich zu guter letzt noch den Rodomont machen? Den Mandrikard haben Sie schon ziemlich gespielt!« Mit diesen Worten blickte der Alte Lockmannen feurig an, und wendete sich dann lächelnd zu Hildegarden. »Mein Stärkstes, was ich diesen Morgen sagte, muß wenigstens das verständige Fräulein ganz hören.«

»Vocalmusik ist verstärkte und verzierte Aussprache; Instrumentalmusik Nachahmung derselben.«

»Musik überhaupt ohne Worte ist eine Sprache in lauter Vocalen, und steht an Nachahmung oder Darstellung der Natur weit unter jeder Sprache; sie hat gar keine Konsonanten, und kann alle die Eigenschaften, welche diese ausdrücken, nicht bezeichnen. Musik ohne Worte ist ein Mittelding zwischen Stummseyn und Reden. Ihre wirkliche Existenz ohne Worte gehört in den rohesten Zustand der Menschheit. Doch ist zu zweifeln, daß Musik ohne Worte selbst bey den ersten Menschen da war. So gar die Thiere, Papageyen, Raben, Ochsen, Schafe und Hunde, brauchen schon Konsonanten.«

[239] »Heutiges Tages ist ihr wesentlichster Dienst, daß sie die Gefühle im Menschen, und die Gegenstände, wozu uns die Worte fehlen, ausdrückt. Ein Volk, das arm an Sprache ist, muß sie häufig brauchen; bey einem an Sprache reichen Volk ist sie bloßer Luxus. Die Freude an ihr entsteht daher, daß wir gern bewegt, gerührt und erschüttert werden, es sey, wovon es will; wenn es nur nicht weh thut, oder doch nur angenehm weh thut.«

»Der Verstand hat über dieß sein Spiel dabey im Dunkeln mit den Proporzionen der Bewegungen der Luft; und es giebt wenig Dinge, wo Empfindung und Verstand so beysammen sind, daß man die eine von dem andern nicht unterscheiden kann.«

»Bloße Instrumentalmusik ist oft nichts mehr, als ein leerer Ohrenkitzel, wie Taback für Nasen und Zungen; wir vergnügen uns daran aus Gewohnheit, um immer etwas zu empfinden, unsre Existenz anzuwenden.«

»Und dieß waren die letzten Worte, die Sie diesen Morgen hörten. Lockmann hat gesagt, was zu sagen war; ich bekenne in manchem nun meinen Muthwillen und Irrthum, freue mich aber, wenn Sie Gelegenheit gaben, strengere Untersuchungen anzustellen. Die himmlische Musik hat keinen größern und innigern Verehrer als mich; und wo ich nur ein Paar Hörner und Klarinetten höre, muß ich alter Knabe ihnen nachlaufen.«

Hildegard fing nun an zu reden, und sagte: »Das größte aller gesellschaftlichen Vergnügen ist, wenigstens für mich, bey solchen Untersuchungen gegenwärtig zu seyn. Nur muß da Freyheit herrschen, das Alleräußerste und Verwegenste für seine Meinung zu sagen; und kein Vernünftiger, der für die hohen Freuden der Geselligkeit gebildet ist, wird das übel nehmen. Da sprühen und [240] fliegen zuweilen die Funken des Genies herum, wie vom Amboß der Küklopen, wenn sie mit gewaltigen Hammerschlägen den Donnerkeil des Zevs schmieden, oder Vulkan Rüstung, Schwert und Lanze eines Halbgotts. In der Gluth des Kampfs erhalten die noch rohen Materien nach und nach und endlich die schönsten Formen. Die neuen Ideen erzeugen sich dabey wie von selbst, wie der Blitz am Himmel sich entzündet und glänzend das Wetter durchflammt.«

»Wenn ich es wagen darf, auch noch ein Wörtchen hinzuzufügen: so scheinen Sie mir, Herr Reinhold, in Italien zu sehr von den schönen Stimmen verführt zu seyn und die Instrumentalmusik nicht nach Verdienst und Würden zu schätzen. Es läßt sich viel und Wahres zu ihrem großen Lobe sagen.«

»Sie verstärkt und bestimmt den Ausdruck der singenden Personen; drückt ihre stummen Gefühle aus, so wie die Gefühle der Nebenpersonen, und der ganzen Gesellschaft, und alles Leben der Natur, das sich durch merkliche Bewegung äußert.«

»Und selbst das Stillschweigen und den Tod,« setzte Lockmann hinzu, »durch die Gefühle der Menschen dabey.«

»Sie hat also einen viel weiteren Umfang, als die Menschenstimme; sie ist das Meer und die Luft, worin diese schwimmt und ihre Fittiche schlägt.«

»Für sich allein, fuhr Hildegard ferner fort, ist sie ein ergötzendes Spiel für die Phantasie, und schmeichelt dem Ohre durch Neuheit von Melodie und Harmonie und Fertigkeit des Vortrags, und rührt, erschüttert wohl noch das Herz mit unbestimmten Gefühlen und Ahndungen von Leidenschaften. Wenn Sie eben Symphonien und Quartetten von Haydn oder unsern andern großen Deutschen [241] Meistern gehört hätten, so würden Sie gewiß nicht, auch nur zum Scherz, so gering von ihr gesprochen haben.«

»Mich bezaubert,« erwiederte Reinhold, »die höchste aller Tugenden, die Gerechtigkeit, von einer so jungen Dame, mit so göttlicher Stimme, die mich besonders zur Ungerechtigkeit verleitete. O Haydn, Phönix der Instrumentalmusik, Stolz von Deutschland!«

»Das haben Sie gut gemacht,« rief Hohenthal; »es lebe Haydn! Haydn, mein Mann!«

»Die Melodie muß in der Musik die Harmonie verbergen, wie Blätter, Blüthen und Früchte die Aeste und das Holz der Zweige an den Bäumen. Musik, wo das nicht ist, gleicht dem Winter; da ist kein Leben.«

»Bey der Instrumentalmusik muß Phantasie herrschen, glänzende, und kühn abwechselnde. Das Sentimentale wird gar bald schal; denn es sagt doch nichts bestimmt, stellt platterdings nichts dar, und hat keine Localfarbe.«

»Nirgendwo kann man Genie und bloß nach Regeln Gemachtes besser unterscheiden, als bey der Musik. Man höre Haydn, und hundert Andre!«

»Dafür wollen wir Ihnen auch zugeben, – nicht wahr, treflicher Meister Lockmann? – daß die Musik eine verstärkte Aussprache sey, und ihre Regeln aus dem anhaltenden gemeßnen Ton fließen.«

»Die erste Musik war vielleicht die Rede eines Anführers, eines Tyrtaios, an eine Menge, der, um verständlich zu seyn, in Terzen, Quarten und Quinten sprach; oder der Ausbruch der Gefühle eines Glücklichen, oder Unglücklichen in der Einsamkeit, in starken Tönen, um sich Luft zu machen.«

»Bey den großen Theatern der Alten in freyer Luft,« bemerkte [242] Feyerabend, »war die Musik, oder verstärkte Aussprache in gemeßnen Tönen, nothwendig, um verstanden zu werden; und der Vers eine Folge davon. Bey uns ist sie mehr Vergnügen an schönen Tönen und deren Verhältnissen zu einander.«

»Der Text giebt dem Herzen und der Einbildungskraft das Bestimmte. Ein großer Gedanke, eine tiefe schöne Empfindung müssen aber schon in Worten gut gesagt seyn, wenn sie die gehörige Wirkung thun sollen. Schöne Töne machen sie nur noch eindringender, und bewegen die Seele stärker.«

Lockmann beschloß das Gespräch, indem er sagte: »Die Musik herrscht vorzüglich, wo sie ausdrückt, was die Sprache nicht vermag, oder wo die Sprache zu augenblicklich ist.«

»Die Sprache geht meistens der That vor, oder folgt ihr nach; bey der That selbst bedürfen wir ihrer wenig. Wenn ich einen Freund aus der Noth reiße, oder, wie Megakles, mich für ihn aufopfre, so brauch' ich ihm nicht erst zu sagen: ich liebe dich. Hier ist die Musik an ihrer eigentlichen Stelle, wie Pergolesi und Jomelli gezeigt haben.«

»Der Jubelton bey gewissen Momenten übertrift alle andre Sprache. So läßt sich das innere Gefühl bey andern Thaten, das Wallen des Herzens, die hohe Fluth in Adern und Lebensgeistern durch nichts besser ausdrücken. Worte sind Erfindungen der ruhigen Besonnenheit. Der heilige Augustinus hält bloße Töne des Entzückens ohne Worte für die beste Sprache gegen Gott.«

»Bey Leidenschaften also ist die Musik an ihrer rechten Stelle; besonders bey heftigen, wo man nicht mehr an Worte denkt, sondern von den Sachen selbst durchdrungen wird. Wir stoßen einen Theil von dem Leben aus, das in uns ist. Und dieß geschieht am leichtesten [243] durch Vocale. Die Konsonanten ahmen die Oberfläche der Dinge nach, oder wie sie sich durch Geräusch äußern, oder Gefühl und andre Sinne etwas Besonderes dabey und daran gewahr werden. Für alles, was aus unserm Innern unmittelbar selbst kommt, ist der Vocal der wesentliche Laut. Der Wilde sieht etwas Schönes von weitem, und ruft: A! Er nähert sich, erkennt es deutlich, und ruft: E! Er berührt es, wird von ihm berührt, und beyde rufen: I! Eins will sich des andern bemächtigen, und das, welches Verlust befürchtet, ruft: O! Es unterliegt, leidet Schmerz, und ruft: U!«

»Die fünf Vocale mit ihren Doppellautern sind die Tonleiter des Alphabets und der gewöhnlichen Aussprache.«

Man stand auf. Die Mutter selbst schenkte noch einmal die Gläser voll von einem sprudelnden, schäumenden Champagner, und sagte: »Wie können Menschen angenehmer ihre Zeit zubringen, als bey solchen Gesprächen!«

Auf Bitten Reinholds sang Hildegard im Musiksaal nur noch die Arie der Giunia: Parto; ma attendimi, farò ritorno! und entzückte damit den Alten unaussprechlich.

Es war den Abend Gesellschaft bey der Frau von Lupfen, und man mußte sich trennen.

»Heilige Luft,« rief Reinhold noch außer sich, »Gottheit der Musik, wie oft haben mich deine Zaubertöne schon entzückt! inniger, als die lieblichen Farben des Phöbus. Dir will ich einen Tempel bauen auf den lebendigsten Höhen des Rheinstroms; und die Vögel des Himmels, die Thiere der Erde, und die Hechte, Karpfen und Salmen in den klaren Fluthen sollen auf Lockmanns Kapelle lauschen!«

Im folgenden Konzert wurden die schönen Scenen aus dem Vologeso [244] aufgeführt. Lockmann hatte die lyrischen Situazionen der Geschichte kurz und leicht faßlich aufgesetzt, und Aller Herzen zauberte die göttliche Musik hin wie zur Wirklichkeit, und so wahr schien Hildegard Berenize. Auch Lock mann sang sein Cara, deh serbami costante il core mit dem höchsten Ausdruck, als ob er selbst der geliebte Vologeso wäre. Törring und Wallersheim beneideten sein für Weiber so verführerisches, bey der Liebe so unterhaltendes Talent; und wünschten sich ein gleiches. Wolfseck sah ihn bey seinen zärtlichsten Accenten wieder ein paarmal wild an. Doch lenkte bald Hildegard bey der tragischen Scene ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.


»Himmlisches Wesen, Hildegard!« Mit diesen Worten faßte Lockmann zärtlich ihre Rechte, als er sie den andern Nachmittag allein im Musiksaal fand. Sie antwortete ihm lächelnd, fast eben so zärtlich: »Lieber Lockmann!« Beyde schlugen sich einander die Arme um Brust und Nacken, schmolzen in einander mit einem seelenvollen Kuß und den süßesten Blicken; und bogen dann in unaussprechlichem Gefühl einander wie die Schwäne die Köpfe Wangen an sanfte Wangen und um die schlanken Hälse. Aber dabey blieb es; sie entschlüpfte wie ein Aal, so bald er etwas weiter wagen wollte. Nur diesesmal gestattete die wohlthätige Natur einen Moment länger seine fliegenden Raubgriffe auf die rundlichen zarten Zwillingsformen, der gierigen Hand lauter Entzücken. Schüchtern that sie, als ob sie etwas kommen hörte; und beyde saßen unbeschreiblich schön blühend und glühend am Klaviere. Gut, daß Niemand kam! Alles war still; Strahlen schoß sein Auge; das weiße Sommergewand verhüllte nur leicht die herrlichen Säulen des stolzen Körperbaus. Von [245] Leidenschaft überwältigt, wollt' er mit beyden Händen wie ein kühner Adler darauf stürzen; aber plötzlich in reizenden Zorn verwandelt sprang Hildegard auf, und stieß ihn bitter von sich. Beschämt ergriff er die Oper, die er mitgebracht hatte, unter so gewaltigem Herzklopfen, daß man die Pulsschläge an Hemd und Weste zählen konnte.

Himmel und alle Heiligen! wenn jetzt deine Mutter oder dein Bruder käme! dachte sie voll jungfräulicher Angst, und wollt' es nie wieder so weit kommen lassen. Sie war im Begriff, sich zu entfernen, ihn zurück zu lassen, und auf ihr Zimmer zu eilen; aber er versprach bittend und flehend, sich zu bändigen und gehorsam zu seyn. »Nichts wieder von der Art!« sagte sie mit dem allerstrengsten Ernste.


Die Oper war

Montezuma von Francesco Majo.


Der Blick auf die Musik seines Lieblings brachte ihn nach und nach wieder zu sich.

»Er ist ein wahrer lebendiger Quell,« fing er mit gebrochnen Worten an, »von natürlicher Melodie und Harmonie; und durchaus das glücklichste Original. Kein andrer Tonkünstler erweckt eine solche Heiterkeit in meiner Seele.«

Sie konnte sich nicht enthalten, wider Willen über die Gewalt, die er sich anthat, zu lächeln. »Grausame!« rief er leise, als er es bemerkte. »Nur zu gelind und gütig!« antwortete sie, noch erzürnt, doch etwas versöhnt. »Nur weiter! weiter, Ungenügsamer!«

»Ich habe eigentliche Liebe zu ihm,« fuhr Lockmann fort.

»Die Geschichte ist die Gefangennehmung des Montezuma durch Cortes; und die Poesie hat glückliche Stellen für Musik. Das [246] Heroische herrscht durch das Ganze; und in dieser Art sind darin von dem jungen Tonkünstler klassische Sachen, die, so viel ich weiß, ihres gleichen noch nicht haben.«

»Wahrer Jammer und Verlust, daß die größten Neapolitanischen Tonkünstler so frühzeitig starben,Pergolesi, Vinci, Leo, Majo

»Die erste Arie des Montezuma mit begleitetem Recitativ giebt den prächtigsten Ton an in der zweyten Scene. Dove son? che m'avenne? Die Arie Numi Tiranni, non tanto rigor! calmate gli affanni d'un povero cor 20. Alles ist durchaus neu und eigen.«

»Guacozinga, Geliebte und bald Vermählte des Montezuma, tritt in der vierten Scene reizend auf: al sembiante sconvolto, turbato oltre il costume; und dann mit der Arie voll neuer Grazie: Ah, che in un mar d'affanni ho già penato assai.«

»Die zwey Märsche im ersten Akt und zu Anfang des zweyten sind ganz Pracht und neu in Melodie und Harmonie.«

»Das Vortreflichste im ersten Akt, und mit im Ganzen, ist die zwölfte Scene des Montezuma: Pur troppo è ver, ma che far posso! mit der Arie: A morir se mi condanna la tiranna ingrata sorte, ah! si cada almen da forte, senza un ombra di viltà.«

»Parli poi con suo stupore de' miei casi il mondo intero, e le stelle abbian rossore, della loro crudeltà 21

Lockmann sang sie nur mit halber Stimme; aber Hildegard [247] ward davon entzückt, und sagte: sie habe im Heroischen an Neuheit, Glanz und Ausdruck, Melodie und Harmonie nichts von so hoher Schönheit gehört; und der junge Majo überblende alles.

»Im zweyten Akt, fuhr Lockmann weiter fort, haben Cortes und Teutile Vortrefliches; aber das Duett am Ende zwischen Montezuma und der Guacozinga ist das Erfreulichste: es hat die allergefälligste Gewandtheit in Melodie und Begleitung. Ah se mi sei fedele, cangia pensier ben mio.«

»Im dritten Akt hat Guacozinga die Meisterscene, voll noch größrer Schönheiten in der Musik, als die Scene des Montezuma im ersten Akt. Sie ist allein während des Gefechts: Eccomi sola alfine, eccomi abbandonata al mio dolore. Schon im Recitativ sind herrliche pittoreske Sachen, als bey Odo il nitrir de' fervidi destrieri – – – 22. Die drey einzeln angeschlagnen halben Taktnoten in Oktaven von drey Takten thun schauerliche Wirkung; bey der plötzlichen Stille glaubt man alles zu hören.«

»Die Arie darauf ist ganz göttlich: Ombre dolenti e pallide, che v'aggirate intorno. Es ist hier manches Neue, womit hernach die Kunst der Musik, selbst beyGlucken, sich bereichert hat, und welches bey den ersten Nachahmern noch für neu durchging; als die ganz bezaubernde Begleitung auf Ombre dolenti, ombre pallide, deh, per pietà, deh, lasciatemi, so gezogen fortlaufend der zweyten Violine zu der entzückenden Melodie, und der nachgeschlagnen Harmonie der ersten Violine. Hier ist die erste frische Quelle: und wie gleich so vollkommen!«

»Das No, più trovar non sa, aus dem Es moll die kleine Terz in die große hinübergezogen, ist hernach, nur grell, nachgeahmt worden; [248] hier glänzt die Empfindung in ihrer ersten natürlichen Unschuld, Wahrheit und Schönheit.«

»Es fehlt dieser Oper zwar der Pomp der so oft erzwungnen Französischen Chöre; aber wie jugendlich schön und blühend ist alles!«

Hildegard rief gleich ihren Bruder dazu. Beyde weideten sich recht, und konnten nicht aufhören, das Göttliche zu wiederhohlen. Sie sprachen alsdann mit einander von Melodie überhaupt, von Harmonie und Begleitung.

Lockmann sagte unter andern: »Melodie ist eine Folge von einzelnen Tönen, die in abwechselnden Sätzen und Perioden, damit die Kehle wieder Luft schöpfen kann, eine Empfindung oder Leidenschaft darstellt. Die Darstellung macht ein Ganzes aus, wie die Empfindung oder das Gefühl, welches natürlich in verschiedne Theile zerfällt. Je mehr diese zu einander, und für den Ausdruck passen, desto größer die Schönheit. Bey Liedern sind sie klein, bey hohen Empfindungen in Operscenen groß; wo ein starker Athem dazu gehört.«

»Der Vorzug der guten Italiänischen Musik besteht in dem edlen leichten Gang der Melodie, dem Ebenmaaß ihrer Perioden, der Klarheit, Reinheit passender mannigfaltiger Harmonie, und überhaupt der schönen Proporzion des Ganzen. Kurz, die Musik wird so viel als möglich selbst Natur.«

»Bey jeder Melodie ist Darstellung von Person, oder eines besondern Wesens, dessen Leben in Bewegung mit der Zeit fortrückt.«

»Wenn bey Arien das Orchester die Melodie vorspielt: so drückt es die Vorgefühle des Sängers zum Gesang aus; doch immer pedantisch! Die Vorgefühle sollen noch nicht die Melodie selbst seyn sondern ihr Werden.«

[249] »Die Melodie zeigt vorzüglich den Charakter. Der Chinese schreitet darin anders fort, als der Neapolitaner; in demselben Klima fühlt darin der freye Mensch anders, als der Sklav.«

»Sklaverey und Kriecherey, Bescheidenheit, Freyheit, Frechheit haben alle ihren verschiednen Gang, und ihre eigne Melodie. Die Vierteltöne und halben Töne, ganze Gänge darin, scheinen sich mit, Bescheidenheit, Freyheit und Adel nicht zu vertragen. Die sklavischen Chinesen haben sie noch; die freyen Griechen erhielten sie mit ihrer Musik von den weichlichen Kleinasiaten, Unterthanen der Perser. Was einmal zur Gewohnheit geworden ist, läßt sich so leicht nicht vertilgen; nur nach und nach kann die stärkste Vernunft unnatürliche Gebräuche abschaffen.«

»Die Musik aus dem Anfang unsers Jahrhunderts hat noch kleinliche Melodie. Bey Porpora, Durante, Leo, Pergolesi ist sie sehr merklich; bey Händel herrscht sie in vielen Arien. Gerade wie in der Mahlerey der Styl des Peter von Perugia, Johann Bellino, Mantegna, bevor die hohen Geister Michel Angelo, Raphael, Tizian und Correggio erschienen.«

»Freylich giebt es Leidenschaften, wo sie so gar im edeln Styl schöne Natur ausdrückt; als in Kirchenmusiken Niederwerfung vor Gott, in der Oper die süßen Zärtlichkeiten, Schmeicheleyen der Liebe, Besorgnisse der Eifersucht: so allgemein ist der Ausdruck der Töne. Doch dauert dieß nur Augenblicke, und herrscht nicht durch das Ganze. Wo es die Natur erfordert, brauchen noch jetzt große Sänger sogar Vierteltöne, wie Virtuosen auf Instrumenten, ob wir sie gleich aus unserm musikalischen System in Folge verbannt haben.«

»Die Neapolitanische Musik liebt von den mittlern Zeiten Jomelli's [250] an einen edlen freyen Gang, und bey heftigen Leidenschaften einen kühnen Flug. Armida wagt in ihrer Wuth Sprünge, wie eine gejagte Gemse.«

»Man kann dieß wohl das klassische Zeitalter der Musik nennen; die Schönheit der Melodie drückt das höchste Ideal edlen freyen, Lebens aus. Majo's göttliches Genie strahlt recht darin hervor, und rückte die Kunst jugendlich gewaltig der Vollkommenheit näher.«

»Gluck fällt schon wieder etwas zurück, und nicht selten, den Französischen Ohren zu gefallen, in das Kleinliche; doch herrscht in seinen besten Werken der klassische Styl.«

»Der kleinliche Fortschritt der Melodie bey Unglück ist gegen allen Adel, selbst bey Weibern; und drückt nur niedrige Natur aus.«

»In den Melodien unsrer Musik unterscheidet man jedoch gewiß noch nicht genug das Weib vom Manne. Was beym Manne kleinlich ist, kann beym Weibe Sittsamkeit, Bescheidenheit, edle Natur seyn. In Opern könnte man den Gang beyder durch den Kontrast gut unterscheiden.«

»Auch die Musik, wie alle Künste, stellt sinnliche Denkmäler auf von dem Charakter ihres Zeitalters.«

»Jomelli, Sarti, und Andre haben wahrscheinlich ihr Heroisches, wodurch sie sich auszeichnen, Deutschland und dem Norden zu verdanken.«

»Eine Melodie besteht entweder für sich allein, das ist, sie hat so viel Klang und Harmonie in sich, daß sie keiner andern bedarf, ja daß jede andere unschicklich ist; oder sie läßt sich in Gesellschaft, von einer Stimme oder mehreren, hören.«

»So sollten Melodien zu Volksliedern seyn, die nur für Eine Person [251] gedichtet sind. Auch finden sich alte dieser Art bey uns, bey den Schottländern, bey den Franzosen, Spaniern, und allen Nazionen; Romanzen, wo nur Eine Person erzählt, Liebeslieder, Hirtenlieder, Jägerlieder. Und so finden sich noch einfache Melodien für Nazionaltänze voll Rhythmus. Sie sind Schätze, Modelle zur Charakteristik für den Tonkünstler.«

»Weit künstlicher sind Nachahmungen solcher Melodien für besondre Instrumente allein, ohne alle Begleitung, wo das Ohr keinen Mangel von Harmonie merkt, und keine andre ohne Unschicklichkeit, sich dazu hören lassen darf.«

»Sangen mehrere Personen Volkslieder in solchen harmonischen Melodien: so könnt' es nur im Einklang und in Oktaven geschehen, wie die Kontrapunktisten von den Griechen behaupten.«

»Alsdann erfand man Instrumente, die Melodien der Stimme zu erleichtern, und die Zwischenzeit der Verse und Strophen auszufüllen. Dieß ist der Ursprung der Begleitung. Die ältesten mögen nur die wenigen vollkommensten Konsonanzen gehabt haben: die Oktave, Quinte, Quarte und s.f.; und nach und nach mag man bis zu den Accorden der heutigen Guitarre gekommen seyn. Noch entzückt diese erste jugendliche Natur der Musik selbst Neapolitaner, Römer, und Venezianer, und alte ausgelernte Kontrapunktisten. Diese Art Harmonie diente den MelodienAnakreons so leicht, so schön und reizend, wie sein Bathyll

»Nach der für sich bestehenden harmonischen Melodie kommt das Duett, Wechselgesang zwischen zwey Stimmen. Wenn man nicht einen Despoten mit einem Sklaven darstellen will: so muß die Melodie zwischen beyde Stimmen vertheilt seyn, und eine Harmonie ausmachen.«

[252] »Dann eben so das Terzett, und der vierstimmige Satz; wo die tiefen Stimmen nach der Theorie des Klangs sich doch mehr zur bloßen Grundharmonie neigen. Bey fünf-, sechs-, und mehrstimmigen Sachen werden die wohllautendsten Töne – Oktaven, Quinten, Quarten, Terzen, Sexten – verdoppelt und verdreyfacht.«

»Das Duett und Terzett, auch die mehrstimmigen melodischen Sachen in Chören und Finalen, sollen in Opern ihren Charakter behalten, obgleich bey aller Pracht der Instrumente.«

»Bis zu den spätern Zeiten des Jomelli bediente die Harmonie der Instrumente die Sänger und Sängerinnen ziemlich sklavisch; die Geige wagte es selten, die Melodie der Stimme mit einer eignen andern untergeordneten zu begleiten; Majo ließ sie noch mehr als Grazie neben der Venus erscheinen.«

»Wo besondre Melodie ist, sollte freylich auch Darstellung eigner Person, wenigstens eignen Gefühls, seyn. Ein Doppelgefühl kann gar wohl in einer Person zugleich sich regen, bey Zweifel beydes herrschend, und in Entscheidung der Leidenschaft eins dem andern untergeordnet; zum Beyspiel der Trieb, der Zug der Natur, und das Gefühl des Schicklichen, der bürgerlichen Convenienz. Ein Instrument könnte also das eine oder das andre hören lassen, da die singende Person mit Einer Melodie beydes nicht zugleich kann. Jomelli schildert, wie Homer in seinen Gleichnissen, durch Instrumente das Leben der Natur um sie her, den Galopp des Pferdes, das empörte Meer, Ströme und Sturmwinde.«

»Ueberhaupt aber hat man noch nicht einmal die Frage aufgeworfen, was unsre ungeheuern Orchester bey einer dramatischen Begebenheit eigentlich vorstellen und bedeuten. Etwa die harmonischen Wände der Scene? oder die Nebengefühle der singenden Personen? [253] oder die Gefühle der mithandelnden? oder die Gefühle des zuhörenden Publikums? oder alles zusammen?«

»Das wahrscheinlichste wäre fast: den Chor der Griechen. Auch scheinen Tonkünstler aus Instinkt darauf zuweilen hingearbeitet zu haben. Eine Akademie sollte einmal den Unglücklichen, die bis jetzt in den Tag hinein schreiben, und gegen die Alten so stolz darauf sind, mit einer recht hohen Preisfrage Licht darüber zu verschaffen suchen.«

»Inzwischen will ich Ihnen die beste Antwort darauf ins Ohr sagen: das Orchester stellt, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, vor – das Orchester!«

Lockmann setzte die Tage darauf die schönsten Sachen seiner Oper, besonders entzückend die Scene, wo Achill als Pyrrha an der Tafel auf der Guitarre spielt, und dazu singt: Se un core annodi; keinMillico hätte die Kleinigkeit reizender machen können. Und eben so den Spott des Ulysses: Achille in gonna avolto, unter hinreißender Beredtsamkeit. In der Hauptscene, wo Achill mit den Waffen in der Hand wieder Achill wird: Ove son? che ascoltai? konnte Lockmann sich mit den größten Meistern messen, so neu und kühn und voll Feuer waren Melodie und Begleitung, und zugleich so wahr und schön; alles aber für ein großes Theater und ein zahlreiches Orchester geschrieben. Er hatte in seinem Kopfe weite Aussichten.

Diese Woche sah er Hildegarden nur einmal, als er ihr die Probe zu den Scenen des Montezuma meldete, in Gesellschaft des Herrn von Wallersheim, bey ihrem Bruder, kurz vor einer großen Theegesellschaft bey der Mutter; und dann mit ihrem Bruder in der Probe selbst, wo seine Leute sich über die neue Art von Musik [254] des Majo höchlich freuten, den sie bis jetzt nur aus dem Salve Regina. kannten.

Als man den Abend darauf schon die Geigen für das Konzert stimmte, und nun alles versammelt war: kam ein fremder Wagen schnell in das Schloß gefahren. Und wer stieg aus? Prinz Karl, der seinen Vater, den Fürsten, unerwartet überraschte, von einem jungen Offizier begleitet. Es entstand ein allgemeiner Jubel, als Vater und Sohn sich einander zärtlich umarmten, und die Fürstin herbeyeilte, den einzigen an ihr Mutterherz zu drücken. Sie hatten sich fast zwey Jahre nicht gesehen; er war während der Zeit in Paris, und hernach in Geschäften in der Lombardey gewesen. Seine Gemahlin blieb in der Mitte ihrer zweyten Schwangerschaft in Wien zurück, um den Erschütterungen der Reise sich nicht auszusetzen.

Er war ein schlanker schöner Herr, noch nicht in die dreyßig; das Auge voll Feuer, und sein ganzes Aussehen kriegerisch. Er glich auffallend seinem Vater.

Nach einem Viertelstündchen Fragen und Antworten in einem Seitenzimmer, trat die fürstliche Familie wieder in den Saal, und das Konzert ward angefangen.

Der Prinz erwartete, zerstreut und ohne Aufmerksamkeit, gegen Wien höchstens eine kleine artige Provinzialmusik. Er spielte selbst das Klavier von seiner ersten Jugend her, ohne besondre Fertigkeit; hatte aber ein gebildetes und erfahrnes Ohr für die Schönheiten der Kunst.

Eine für die Folge passende Symphonie vonHaydn, die ihm schon bekannt war und äußerst richtig im Tempo und Charakter vorgetragen wurde, machte ihn jedoch geneigt, ferner zuzuhören. Wie [255] erstaunte er aber, als Lockmann, weit mehr alsRaaf, was Geist und heroischen Charakter betraf, die göttliche Arie des Montezuma sang: A morir se mi condanna la tiranna ingrata sorte! Solche! neue reizende Schönheit in Melodie und Harmonie hatte er noch nicht empfunden. Bey der erhabnen Stelle: Ah, si cada almen da forte! stand er hingerissen vom Sitz auf, und trat leise weit in den Saal hinein, bis nahe vor die edle Liebesgestalt des Sängers.

Nach Endigung der Arie konnt' er diesem und dem Fürsten seine Bewunderung nicht genug ausdrücken. Auch er kannte Majo nicht, setzte im Gesang ihn weit über Glucken, und bat, auf die schmeichelhafteste Weise, um die Wiederholung der außerordentlichen Scene.

Lockmann sang sie mit den angenehmsten Veränderungen, die alle zu dem Heroischen des Ausdrucks paßten; und erhielt neue Lobsprüche. Der Prinz sagte: »Schönheit geht bey den Künsten über alles.«

Alsdann mußte Hildegard zum Duett auftreten. Der Fürst gab sie für eine fremde Sängerin aus, und hatte, während der Prinz mit Lockmannen sprach, sie beredet, es geschehen zu lassen. Sie kannte den Prinzen kaum, und er sie gar nicht. Er sah sie anfangs unter den andern Damen wie versteckt; doch leuchtete das schöne Gesicht, bey einer schnellen Wendung, ihm wie bey reiner Nacht ein funkelnder großer Stern in die Seele.

Sie trug ein grünes Kleid, das lange Haar nachlässig gelockt; edel schritt sie heran, jungfräulich sittsam in Blick und Geberde, und die stolzen Formen des Wunderbaus ihres Körpers erschienen in solcher Erhabenheit, wie er noch nie etwas Weibliches gesehen hatte. Majo war fast aus seinem Ohre verschwunden, und sein Auge ward der einzige, aber tief herrschende, Sinn seines Wesens.

[256] Man ließ ihm nicht Zeit, viel Fragen anzustellen. Als er die ersten Melodien ihrer Stimme vernommen hatte, rief er: »Gott, welch ein Ton!« und bald darauf: »Welcher Vortrag!« und weiter: »Welch ein süßer Ausdruck! Das brennt recht von Feuer und Stärke.« Kurz, Majo und Lockmann verschwanden, und er hörte nur Hildegarden allein.

Als sie fertig waren, sagte er geschwind leise dem Fürsten: »Die Mara könnte sie seyn nach der Stimme, durch ganz Europa bewundert; aber nicht an Gestalt und Jugend, und geschmeidigem Ausdruck. Wer ist sie? wie heißt sie? damit ich nicht aus Unwissenheit fehle.«

Der Fürst sagte: »Sie heißt Hildegard, und ist eine Deutsche.«

Alsdann näherte der Prinz sich ihr mit diesen Worten: »Ich habe große berühmte Sänger und Sängerinnen gehört, aber noch keine Stimme, die so ganz schöne reine vollkommne Menschenstimme wäre. Nichts von Instrument, weder Flöte, noch Hoboe ist darin; durchaus Nachtigall ihrer Art.«

Sie verneigte sich, und äußerte in wenig Worten ihre Freude über den Beyfall eines so hohen Kenners; wobey sie vor seinem Blick erröthete.

Fürst und Fürstin zogen ihn die Zwischenzeit von ihr ab.

Aber was er gehört hatte, war Kleinigkeit gegen die letzte Scene: Eccomi sola a fine, eccomi abbandonata al mio dolore; mit der Arie: Ombre dolenti e pallide, che v'aggirate intorno.

So ein feiner Hofmann er war, so gerieth er doch außer sich über den göttlichen Gesang und die himmlische Musik. Hildegard brachte zu ihrem eignen Vergnügen gegen das Ende einen ihr ganz eigenen Lauf an, den Lockmann selbst noch nicht gehört hatte, und [257] den weder Flöten noch Geigen nachmachen können; die Töne rollten dabey immer etwas wieder zurück, aber zugleich doch mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit hinauf; und dann herunter schwebte sie in der Mitte des weiten Umfangs ihrer Stimme auf Einem Tone, wahrhaftig wie ein Falk mit ausgebreiteten Fittichen in der Luft, so daß man nicht wußte, ob sie ganz in die Tiefe, oder wieder vorwärts wollte; doch gegen Erwarten ging es wieder in die Höhe, und es folgte der Schluß mit einem entzückend netten vollen reinen Triller.

Alle Hände, die nur da waren, klatschten vor Freude. Der alte Reinhold kam dabey von seiner Vor liebe für die Kastratenstimmen gänzlich zurück.

Der Prinz sagte zu dem Offizier, seinem Begleiter, unter dem Jubel und Lärmen, bey Seite: »Eine stolze Kreatur!« Er faßte gleich den festen Entschluß, das Wunder nach Wien zu bringen; und fragte Hildegarden, ob sie sich irgendwo verpflichtet hätte?

Hildegard blickte dem Fürsten zu, daß die Rolle anfinge ihr beschwerlich zu werden. Sie wollte sich, in gewissen Rücksichten, nicht länger verkennen lassen; und der ganze Scherz ward entdeckt.

Das Gespräch war nun auf einmal traulicher, wie zwischen Gleichem und Gleichem; der Prinz sagte die allerangenehmsten Sachen mit Witz, Geschmack und Gefühl, konnte aber seiner Unzufriedenheit über die Entdeckung nicht so völlig, wie bey andern Gelegenheiten, Meister werden.

Mit der äußersten Achtung führte er Hildegarden selbst zur Tafel; und nahm den Sitz zwischen ihr und seiner Mutter, der Fürstin.

Wie es bey plötzlicher Ueberraschung und Freude zu geschehen pflegt, wurde vieles bunt durch einander gesprochen, über Wien, Paris, [258] London, berühmte Personen. Auch Hildegard sagte bey Gelegenheit ihre Meinung, zwar frey, aber bescheiden; und der Prinz merkte, daß er eine Person von geübtem Verstande vor sich hatte.

Der Fürst stand bey Zeiten auf, um die Herren von der Reise ausruhen zu lassen; und man ging bald aus einander.

Lockmann hatte den andern Morgen seine Leute zur Probe für eine Kirchenmusik auf den nächsten Sonntag bestellt, und dazu das Dixit von Majo gewählt, weil der Prinz diesen Meister nicht kannte.

Text und Sinn der Worte wußten sie alle; er erklärte ihnen nur kurz die musikalische Behandlung derselben, und sagte:

»Ein himmlischer Genius voll Leben, Geist und Grazie, unter ernsten Kirchenvätern mit Silberbärten. Das neue gewandte Spiel bey dem Canto fermo und dem alten Kirchenstyl hier und da ist ungemein reizend, wie ein Edelstein mit zierlicher prächtiger Einfassung. Es ist eben der Grad getroffen, der auch der Strenge eine süße Heiterkeit abgewinnt; alles Bunte vermieden, und Reinheit, Klarheit durch und durch herrschend. Dieses Dixit hat unter den neuern Kirchensachen einen ganz eignen originellen Charakter, und behauptet einen vorzüglichen Rang.«

»Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis, donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum 23. Dieses macht ein prächtiges ausgeführtes Ganze mit der herrlichen Begleitung.«

»Nun kommen Solos.«

»Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum. Klar, schön, und voll Einfalt.«

[259] »Tecum principium in die virtutis tuae in splendoribus sanctorum: ex utero ante luciferum genui te. Dieses gehört mit der reizenden Begleitung unter die schönsten Baßarien für Kirchengesang.«

»Dominus a dextris tuis confregit in die irae suae reges: ist fast durchaus zweystimmig, so einfach begleitet, um den Ausdruck recht klar zu machen. Es erinnert mich lebhaft an die Gewalt einer himmlischen Stimme in Venedig, die durchaus Solo, vom bloßen Orgelbaß in der tiefern Oktave der Melodie begleitet, einen Psalm bey, Nacht in der Kirche sang. Was für einen Lärm würde ein Tonkünstler ohne Erfahrung, ohne Kenntniß dessen was wirkt, auf confregit gemacht haben!«

»Judicabit in nationibus, (Solo, und darauf immer Chorus) implebit ruinas. Mit vortreflicher Begleitung, prächtig und reizend.«

»Conquassabit capita in terra multorum, bloß Chorus von Stimmen, in Absätzen von Instrumenten verstärkt, fugirt, von großer Wirkung im alten Kirchenstyl. Dieß macht gewissermaaßen den Kern. Hörner und Hoboen fallen herrlich ein, und die Harmonie ist klar und leicht bey der Verflechtung der Stimmen.«

»Nun wieder Solo. De torrente in vis bibet, propterea exaltabit caput. Eine Leichtigkeit, Musik hinzuzaubern, die schon an und für sich selbst entzückt bey so schöner Melodie und Begleitung.«

»Das Solo darauf: Gloria patri, gloria filio et spiritui sancto, ist hier und da zu leichtfertig behandelt. Zwey Accorde, A moll und G dur, folgen ganz ohne Verbindung zu grell auf einander. Dieses ist aber auch das einzige Mittelmäßige im Ganzen.«

»Das Sicut erat in principio et nunc et semper, erhebt sich darauf desto prächtiger in himmlischen Solos und Chören, und schließt und [260] rundet majestätisch das Ganze mit Wiederholung der Begleitung im Anfang.«

»Das Amen ist recht feyerlich mit Windungen der Stimmen auf Orgelpunkten ausgearbeitet. Das Schönste vom Ganzen wird wiederhohlt, das Amen fugirt; ein Chor des Paradieses.«

Das Schwere ward einigemal probirt, bis es nach Wunsch gelang; und dann gab Lockmann jedem seine Stimme mit nach Hause.

Des Abends ging er zu Hildegarden, um sich mit ihr wegen des, nächsten Konzerts zu besprechen. Sie kamen mit einander überein, ihm mehr Abwechselung als gewöhnlich zu geben. Frau von Lupfen sollte sich auf dem Klavier, und Frank auf der Hoboe hören lassen.

Er hatte den Alessandro nelle Indie von Majo bey sich; sie wählten daraus nur das göttliche Duett zwischen Poro und der Cleofide: Se mai turbo il tuo riposo, pace mai non abbia il cor 24. Hildegard sagte selbst, daß die Melodie wahrer Engelsgesang sey, besonders durch die halben Töne bey der letzten Stelle.

In der Scene Poro dunque mori, und der Arie dazu: Se il ciel mi divide dal caro mio sposo 25, zog Hildegard Piccini's Komposition, die unter ihrer Musik war, für ihre Stimme vor. Lockmann sagte: »Weder Piccini, noch Majo, nochTraetta haben Cleofiden so als verliebte Schwärmerin dargestellt, wie sie nach dem Texte seyn sollte; besonders bey den lyrischen Worten: Non vivo, non moro.«

Alsdann machte er ihr die gefühltesten Lobsprüche wegen ihres [261] gestrigen Gesangs, die ihr sehr wohl thaten; und wollte wieder anfangen, wo er es hatte lassen müssen. Sie hielt ihn in den gehörigen Schranken, und fragte: »Wie gefällt Ihnen der Prinz?«

»Das ist die Frage nicht,« antwortete er; »die Frage ist: wie gefällt er Ihnen?«

»Außerordentlich!« versetzte sie ihm boshaft; sagte ihm aber nicht, daß der Prinz schon den Morgen, während seiner Probe, bey ihr und ihrer Familie gewesen war. Bis zum traulichen Gespräch über ihn konnt' er es nicht bringen; und mußte so abziehen. Inzwischen war er des Prinzen wegen unbekümmert; die andern jungen Herren, die um sie her flatterten, machten ihm mehr Sorge.

Den folgenden Morgen war Frühstück in einem anmuthigen Thal voll schöner, unter einander verstreuter Bäume: Buchen, Eichen, Linden, Kastanien, Tannen. Die jungen Herren und Damen ritten dahin; der Prinz, Hildegard und ihr Bruder, der Fürst selbst, die Fürstin, und Andre folgten in Wagen nach. Man ergötzte sich mit allerley Scherz und Spiel, wozu schon längst an diesem Lustort Vorbereitungen gemacht waren.

Der Prinz lernte bey dieser Gelegenheit Hildegarden näher kennen, und fand sie immer reizender; auch den hellen Kopf ihres Bruders voll verdauter Kenntnisse, und dessen edlen freyen Charakter. Der Fürst hatte ihm nicht zu viel von dem jungenHohenthal gesagt.

Abends, und die kühlere Nacht hindurch, war prächtiger Ball.

Schon spät, als der Fürst und die Fürstin weg waren, hatte sich Lockmann unter die Musik gestellt, um dem Fest zuzusehen.

Wie ward er gleich bey einem Französischen Tanz entzückt von der seltnen Fertigkeit und Grazie seinerHildegard! Ihre schönen [262] Füße schwebten und gaukelten hoch empor, und berührten kaum den Boden, wie von Stahlfedern in die Höhe geschnellt. Alle Wendungen machte sie mit einer Fülle von Lust, jugendlicher Kraft und Ueppigkeit, daß man nichts Reizenders auf der Welt sehen konnte. Der Prinz undWallersheim, Meister in der Kunst, konnten nicht mit ihr in Vergleichung kommen: sie übertraf bey weitem Alle; das Höchste schien bey ihr nur leichter Scherz, und sie glänzte, gleich der ersten Person im besten Theaterballet unter gewöhnlichen Tänzern, die sich lustig machen. O, wie ihr schönes Gesicht glühte, die Locken herumwallten, die großen Brillanten in ihren Ohrgehängen und dem reichen Hauptschmuck Strahlen warfen, das Kleid flog, die netten Beine sich zeigten, und Arm und Hand, mit den schönsten Perlen geziert, lustlebendig sich regten und bewegten!

Einige Zeit nach dem Tanze begab sich Hildegard mit ihrem Tänzer, dem Prinzen, in ein Seitenzimmer, sich zu erfrischen und abzukühlen. Nicht weit davon winkte dieser mit erhobnen Augenliedern dem Offizier, der ihn begleitete, daß er zurückbleiben sollte. Lockmann konnte weiter nicht nachsehen.

Sie waren, gegen Hildegards Erwarten, den Moment allein. Der Held, von unwiderstehlicher Begier entflammt, umfaßte sie an einem Sopha rasch mit dem einen Arm; um weniges war Mund an Mund, den sie gewandt noch wegbog, die linke Hand mit einem frechen geschickten Bräutigamsgriff nah am Ziel, und sie im Fallen die Länge lang auf die Breite des Sopha: als sie sich hastig zusammen raffte, alle ihre Stärke aufbot, und der kecke Ritter, durch den abgenöthigten allerstärksten Schlag ihres rechten Beins und einen Stoß ihres Elbogens auf die Brust, vom Boden glitt, plötzlich rücklings auf den Hintern prallte, den Kopf mit den Händen in [263] der Höhe kaum vor dem Aufschlagen bewahren konnte, und wie ein niedergeworfner Knabe da saß.

Er versuchte vergebens sie beym Kleide zu erhaschen; von edlem jungfräulichen Zorn entbrannt, flog sie weg in den Saal.

Sie erschien noch an der Thür in der schnellsten Bewegung, drehte den Rücken des Offiziers weg, und mengte sich dann wieder schnell unter die andern Personen. Lockmann glaubte, daß sie etwas Nothwendiges entweder vergessen oder zu bestellen habe; bemerkte jedoch, auch in der Ferne, Unwillen und Zorn in den fest geschloßnen Lippen.

Der Offizier machte sich gleichfalls unter die Andern. Einige Minuten hernach trat der Prinz langsam hervor, mit den Worten auf den Lippen: »Die ist noch ganz scheu und wild; eine starke Hexe!« und sah verstört im Gesichte aus, bey einem erzwungnen Lächeln.

Er erblickte sie vorn an der Reihe zu einem Englischen Tanz mit dem Grafen von Törring, dem sie es versprochen hatte. Vor dem, Abendessen, das nur in Gefrornem, kalten Pasteten, Fasanen, Früchten, andern Erfrischungen, allerley Backwerk und den besten Weinen auf Tischen zerstreut in einem Nebensaale zum Zugreifen bestand, tanzte sie schon eine Menuet mit dem Herrn von Wolfseck, dessen lange Figur und wüste Gestalt sich komisch genug dabey ausnahm; und alsdann einen Englischen Tanz mit dem Herrn von Wallersheim.

Den Letztern mochte sie wohl leiden. Er war ein muntrer Gesellschafter, erzählte gut, und wagte wenig; Törring hingegen war trocken, ernsthaft, heftig, aber doch sittsam. Jener nicht reich, aber wohlgebildet und liebenswürdig; dieser, wie schon gesagt, ein Herr [264] von vielen Gütern, nicht so schlank und nicht so sanft, sondern derb und masericht, wahrscheinlich ein eifersüchtiger Ehegatte.

Hildegard erforschte dieses alles wenig, da sie in mehreren Jahren noch nicht ans Heurathen denken wollte; sie begegnete ihren drey Freyern so höflich wie möglich, und war gutmüthig genug, den beyden letztern, so bald sie ihre ernsthafte Absichten zu erkennen gaben, bey Gelegenheit mit der sichern Erklärung ihrer Gesinnungen, zuvorzukommen. Aber alle Drey kannten sie nicht genug, um das Wahre darin zu fühlen; sie hielten die Aeußerung für gewöhnliche Sprödigkeit, zumal bey solchen Vollkommenheiten und Reizen. Hildegard war nur deshalb gefällig gegen sie, weil sie den Verdacht von ihrem jungen schönen Musikmeister, dem Einzigen nach ihrem Herzen, entfernen wollte; und dieser führte sich auch so klug auf, daß er nicht den geringsten Anlaß dazu gab.

Der Prinz hatte schon von seiner Mutter den Antrag des Herrn von Wolfseck, nebst der abschlägigen Antwort darauf, vernommen; und verwegen vor Leidenschaft den Angriff gethan, alsdann die Heurath mit dem rechten Mann für sich durchzusetzen.

Mit Anordnung des neuen Tanzes und mit Gesprächen beschäftigt, wurden die Andern nichts gewahr. Graf Törring, der am ersten etwas hätte bemerken können, hatte den Saal auf die kurze Zeit verlassen, und fand, als er wieder herein kam, Hildegarden unter den andern Frauenzimmern.

Während sie und Törring die Reihe durchtanzten, hatte der Prinz sich wieder herbey gemacht, und rief ihnen oft seinen Beyfall zu. Sie tanzte zerstreut und nachlässig, und konnte ihren Blick voll Verachtung nicht immer von ihm wegwenden.

Nach dem Englischen Tanze fing man einen Walzer an, worauf [265] sie sich aber nicht einließ. Sie hohlte ihren Bruder, und beyde gingen zur Mutter. Bald entfernten sie sich unvermerkt, und fuhren nach Hause.

Der Prinz war noch ganz erhitzt von dem obgleich nur augenblicklichen Griff in die zarte Haut der vollen festen kräftigen Schenkel, schon größere Wollust für ihn, als er bey nachgiebigern Schönen je empfunden hatte. Er sann auf neue Plane, und warf sich schlaflos in seinem Bette herum bis gegen Morgen. Hildegard hingegen setzte sich vor, mit der äußersten Wachsamkeit gegen die Nachstellungen des Gefährlichen und Mächtigen auf ihrer Hut zu seyn, und war erbittert, daß ihm auch nur so viel hatte gelingen können.

Damit ihr Zorn Zeit hätte, zu verrauchen, fuhr der Prinz den nächsten Sonntag sehr früh nach der Residenz, sich dem Volke zu zeigen. Der Minister hatte dort schon alles veranstaltet, ihn würdig zu empfangen. Dessen Sohn, Herr von Wolfseck, begleitete den Prinzen. Unterwegs sprach er von den seltnen Eigenschaften Hildegards, doch kalt in Rücksicht seiner selbst, und machte den Verliebten noch verliebter. In ganz Wien, sagte er, das doch wegen reizender Frauenzimmer in Ruf stehe, sey keins, welches nicht von ihr übertroffen werde. Wolfseck glaubte, mit der Prinzessin eine Ausnahme machen zu müssen.

Der Prinz wurde mit Jubel empfangen, und die Menge strömte überall um ihn.

Nachdem die Vornehmsten, welche gegenwärtig waren, sich ihm empfohlen und er manches Neue besichtigt hatte: kehrte er, in Gesellschaft des Ministers, und von mehreren Herren und Damen in andern Wagen begleitet, wieder zurück, und traf gerad' um die Zeit des Konzerts ein, welches bald darauf anfing.

[266] Hildegard hätte sich gern davon los gesagt, wenn es schicklich gewesen wäre. Sie sang also, nachdem sich Frank auf der Hoboe mit vielem Beyfall hatte hören lassen, das himmlische Duett, Se mai turbo il tuo riposo, mit dem jungen Kapellmeister unübertreflich. Nun war die Reihe an dem Minister, ihr seine Lobsprüche zu machen; dieß that er auch mit Gefühl, und küßte ihr dabey ehrerbietig die Hand.

Er unterhielt sich angenehm mit ihr in der Zwischenzeit; und der Prinz erzählte dabey lebhaft und witzig musikalische Anekdoten von Wien, Paris und Turin, und suchte sich unvermerkt wieder einzuschmeicheln.

Alsdann bezauberte sie in der Scene von Piccini; und Frau von Lupfen machte den Beschluß mit einem neuen meisterhaften Konzert von Mozart, und ward wegen ihrer Gewalt über das Fortepiano, ihrer glänzenden Manieren und ihres reinen Vortrags allgemein bewundert.

Der Prinz betrug sich gegen Hildegarden mit der allerstrengsten Sittsamkeit und Würde; sprach viel mit andern Damen, überließ sie an der Tafel ganz der Familie von Wolfseck, Vater und Sohn, Mutter und Töchtern; und wendete sich nur zuweilen bey Gelegenheit an sie, ihr etwas Schmeichelhaftes, das nicht die entfernteste Absicht verrathen konnte, zu sagen.

O, wie freute sie sich, als sie auf ihrem Zimmer wieder allein war! Sie öfnete die Fenster, und schöpfte frische Luft. »Ist es billig, daß du von den Menschen so geplagt wirst, da du allen, wie sie sagen, so viel Vergnügen machst?« So seufzte sie bekümmert; und Lyra, Schwan und Adler leuchteten bey der stillen Sommernacht vom heitern Himmel rührend in die schöne Seele. »Aber weder die [267] Herren vonWolfseck, noch der Prinz sollen dich dir selbst rauben!«

»Freylich sind wir Blumen,« fuhr sie nach einer Pause fort, »die von jedem rauhen Hauch der öffentlichen Meinung leiden, und die jeder Gefühllose brechen will, um sich damit zu schmücken. Ewige Vorsehung, du hast mich zu etwas Edlerem bestimmt! und es giebt tausend Andere, die gut genug und vortreflich zu dem einzigen Zwecke sind, das Geschlecht der Wolfsecke für Stifter und Hofstellen fortzupflanzen.«

Lockmann hatte Hildegarden die ganze Woche nicht allein gesehen und gesprochen, weil sie immer in Gesellschaft, oder bey der Frau von Lupfen, gewesen war. Er freute sich innig, als er sie den Tag nach dem Konzerte um die gewöhnliche Zeit wieder im Musiksaal antraf. »Ich sehe Sie noch mit dem Prinzen tanzen,« waren seine ersten Worte; »ein neues Talent, und in welcher Vortreflichkeit! O, wie leuchtete dabey Ihre göttliche Schönheit mit neuen Reizen in Wendungen und Stellungen, in Schritt, und Sprung und Flug hervor! Sie können auf dieser Welt keinen Feind haben; alles muß Sie anbeten.« Dabey hielt er ihre schönen zarten Hände in den seinigen. Mit holdem Blick und Lächeln hörte sie seinem süßen Reden zu, ließ sich dann von ihm umarmen, sank selbst an seine Brust, umschlang seinen Nacken, sah ihm still in die Seele, und hauchte dann ein paar geistige Küsse auf seine schönen Augen. Als seine Leidenschaft darüber auffuhr, bändigte sie dieselbe sogleich mit der Zauberformel: »Bleiben nur Sie mein Freund, und schlagen Sie Sich nicht zu meinen Feinden.«

Es war in der That ein hohes Gefühl für sie, einen so raschen feurigen Jüngling im Arm, und dessen Vernunft und Leidenschaft, [268] beyde so reizend, in gleicher Wagschale zu halten! Entzückende Seelenmusik von Gefühlen und Ideen, wo die herbsten irdischen Dissonanzen in den heitern Aether der Dreyklänge des Verstandes sich auflösen. Es war ihr nicht anders, als ob sie die süßesten und ausdruckvollesten Harmonien aus einer unvergleichlichen Laute lockte, wie sie dieß alles so in seinem Gesicht und an seinem Herzen empfand. Ein Freudenschauer überlief sie dabey, so daß sie ihn noch einmal an sich schloß; dann aber zog sie sich aus seinen Banden und Schlingen.

Sie war im Begriff, ihm Verschiednes anzuvertrauen; doch wurde sie von einer gewissen Furcht zurückgehalten, die, wie man sehen wird, nicht unbegründet war.

Er hatte den Demofoonte von Majo bey sich.

Sie verbat sich aber gleich, im nächsten Konzert zu singen. Er habe, sagte sie, noch trefliche Virtuosen, die sich auch hören lassen möchten; inzwischen wolle sie doch das Schönste mit ihm durchgehen.

»Nach Ihrem Belieben!« erwiederte er; »ich kann etwas neueres Komisches nehmen, das Sie morgen auswählen sollen, und das jetzt für die Hoffeste auch besser paßt.«

Sie setzten sich an das Klavier, und er fuhr ferner fort:

»Der Text des Demofoonte ist ein künstliches Gewebe, und beruht auf Erkennung, die, wenn man sie einmal weiß, wenig mehr täuscht. Dazu sind Cherint und Creusa ohne Natur hineingeflickt. Doch giebt es darin schöne lyrische Stellen. Das Wesentliche besteht in ehelicher Liebe, die getrennt werden soll und bis zur höchsten Leidenschaft anschwillt.«

»Die Musik ist eins von Majo's Anfangswerken; doch überall [269] quillt das Genie in Melodie hervor. Demofoonte war seine erste Oper zu Rom, und machte ihn sogleich berühmt. Man bewunderte, wegen des Ausdrucks voll jugendlichen Feuers in den schönsten Melodien: Sono in mar, non veggo sponde; und per lei fra l'armi, dove guerriero; besonders aber den Monolog des Timante im dritten Akt: Misero me.«

Sie sang sogleich die vorletzte Scene im ersten Akt der Dircea: Padre perdona, oh pene! und fand sie ganz nach den Worten leidenschaftlich und reizend; ward aber entzückt von dem Klassischen des Timante: La dolce compagna vedersi rapire 26; so wohl von der Melodie in der höchsten, edlen Süßigkeit, als von der zärtlichen Begleitung.

Lockmann erzählte dabey, daß Sarti 1783 zu Rom diese Arie mit wenig Veränderung ganz in seine Komposition aufgenommen, dafür als Autor die größten Lobsprüche eingeerntet, den Raub – so bloß für den Moment wären die Italiäner, und so sehr vergäßen sie das Alte – niemand bemerkt habe, und überall in Italien La dolce compagna, als das neuste Meisterstück von Sarti, den ganzen Frühling und Sommer nach dem Karneval gesungen worden sey.

Hildegard verwunderte sich darüber; er machte es ihr aber ganz begreiflich, und fügte hinzu: Majo hätte seinen Demofoonte, nur etwas über zwanzig Jahre früher, in demselben Theater zu Rom aufgeführt. Des Jahrs gäbe man in Italien ungefähr dreyßig bis vierzig neue Opern, freylich kaum Ein Meisterstück darunter; und diese würden wie die andern vergessen.

Er sang dann das rührende Misero pargoletto, il tuo destin non sai 27 [270] des Timante, wo die zärtlichste Vaterliebe auf die einfachste Art voll Empfindung ausgedrückt ist. »Schöne Seelenklänge!« rief Hildegard dabey aus.

Und dann sang sie die Arie der Dircea: Ah, tu volgi altròve i rai 28, mit der originellen Begleitung, wo die Violine immer ihre besondre untergeordnete Melodie in den angenehmsten Läufen hat.

»Jomelli,« fuhr Lockmann fort, »hat kurz vor seinem Tode zu Neapel dieselbe Oper in Musik gesetzt. Es ist ein netter, aber meistens zu gelehrter und künstlicher Styl, und wenig Natur darin. Doch hat er die Hauptscene, wie gewöhnlich, am meisterhaftesten bearbeitet.« (Sie war der Oper von Majo beygelegt.)

»Dircea son io, vado a morire, non ho delitto 29, u.s.f. mit erhabner Begleitung. Ihre ganze Anrede ist klassisch; neu, schön und tragisch; auch die Tonart treflich gewählt: F moll und As dur. Die Arie darauf:Se tutti i mali miei io ti potessi dir, dividerti farei per tenerezza il cor 30, gehört unter das Höchste der Musik, und ist allein eine Oper werth: so voll weiblicher Grazie und tragisch zugleich, in Melodie und Begleitung.«

»Majo hat sein Hauptwerk in La dolce compagna gelegt, welches Jomelli – ich weiß nicht warum – ganz weggelassen hat. Jener ist gewiß weit gefälliger, und übertrift diesen ferner im Misero pargoletto, und allem Uebrigen. Aber Jomelli behauptet mit dieser einzigen Scene den Rang in dieser Oper über ihn; dazu gehört ein Geist von mehr Erhabenheit.«

[271] Hildegard stimmte ungern in diesen Ausspruch; so lieb war ihr Majo schon geworden.

Den folgenden Morgen wählten sie mit ihrem Bruder unter mehrern komischen Opern Il Convito 31 von Cimarosa, als die neueste und angenehmste.

»Es zwingt auch dem Ernsthaften ein Lächeln ab,« sagte Lockmann dabey, »wie sich das Element der Musik zu allem bequemt. Es sind Saturnalien, wo sich die Göttliche herunter läßt bis zum gemeinen Volke.«

»Cimarosa hat ganz den leichten lachenden Genius, der sich dem Grotesken anschmiegt. Es ist eine wahre Erhohlung: viel denken darf man dabey nicht; man überläßt sich nur, wie in der heißen Zeit einem kühlen Lüftchen, das einen fächelt: ein Zeitvertreib für Müde und Erschöpfte, die nichts aus sich hervorbringen wollen oder können.«

»Die Finalen in der heutigen Opera buffa sind das beste, wo alle die verschiednen Charakter zusammenkommen, und in Melodie, Harmonie, Ton, Takt und Begleitung durch mancherley ein buntes Ganze machen.«

»Das Finale im ersten Akt ist auch das beste darin. Die Arien sind gar zu leicht und leer, wie sie auch seyn sollen; Laune und Grazie kommt hier und da zum Vorschein.«

»Sono in mar, non vedo sponde, mi confonde il mio periglio; Parodie, die sich recht für Saturnalien schickt, aber für den eigentlichen gefühlvollen Menschen immer widrig bleibt. Es ist mit viel Geschmack und Geschicklichkeit ausgeführt; und man erkennt deutlich die größere, nach Piccini ausgebildete Fertigkeit.«

[272] »Leichtigkeit, und geläufige Volkssprache, die bey Uebersetzungen in der Musik ziemlich matt wird, bleibt die Haupteigenschaft eines komischen Tonkünstlers. Cimarosa hat sie in hohem Grade.«

»Im zweyten Akt ist die komisch-ernsthafte Scene, wo die Wittwe Alfonsina sich närrisch stellt, und thut, als ob sie in Elisium wäre, um wieder zu ihrem verstorbenen Mann zu kommen, vortreflich; das Recitativ schön; noch schöner die Arie: Cara voce del mio bene, già ti sento e ti reviso 32, mit der Hoboe und Violine Solo, die mit der Stimme konzertiren. Gewiß eine der schönsten des komischen Theaters, voll Grazie und Laune; der Stoff recht schicklich zu Persiflage und reizender Musik. Cimarosa hat sie auch mit meisterhafter Fertigkeit ausgeführt.«

»Das zweyte Finale ist vortreflicher als das erste; ein Meisterstück in seiner Art, voll Abwechslung und zugleich Einheit in der Begleitung, und voll Buffonerien: Umidetta e tenebrosa sorge già la notte oscura 33

»Eine reiche, junge und schöne Wittwe, die ihre Freyer zum Besten hat, giebt den Stoff zum Ganzen, und wählt sich einen jungen hübschen Menschen. Zwey machen den verstorbnen Mann nach als Geist, ohne etwas von einander zu wissen, und fürchten sich auch vor einander. Das ganze Stück voll Laune und Lustigkeit gehört unter die besten Opere buffe.«

Zur Entschuldigung und zum Lobe Cimarosa's merkte Lockmann noch an, daß er seine mehrsten Sachen, nach der in Italien eingeführten übeln Gewohnheit, äußerst geschwind habe schreiben müssen, manche Oper binnen vierzehn Tagen, drey Wochen; und [273] daß er einer von den wenigen Meistern sey, die allen möglichen Vortheil aus den Stimmen ihrer Sänger und Sängerinnen zu ziehen wüßten.

Den Abend war Spielgesellschaft bey Hofe, wovonHildegard schicklich nicht wegbleiben konnte. Es wurde so eingerichtet, daß sie, der Prinz und der Minister zu einer l'Hombrepartie kamen; und das Loos wollte, daß sie dem erstern gegenüber saß.

Dieß war ihr höchst unangenehm, ließ sich aber nun nicht ändern. Sie setzte sich vor, ihm, und beyden, mit bloßem kalten Verstande zu begegnen, und sich so viel als möglich nur mit ihrem Spiel zu beschäftigen; besonders da der Prinz es ziemlich hoch vorschlug.

Sie spielten kaum eine halbe Stunde, so war er schon oft Labet geworden, und Hildegard hatte Glück. Der Fürst kam, eben als sie Karte gab, und bat um einen Augenblick Unterredung mit dem Minister, die aber fast eine Viertelstunde währte. Hildegard und der Prinz blieben nun allein an ihrem Tisch, von den Andern so entfernt, daß man wohl sprechen konnte, ohne verstanden zu werden. Sie wendete sich, um noch Jemanden zur Gesellschaft zu haben, und wollte selbst aufstehen; aber er hielt sie zurück mit höchst bescheidnen Blicken, und fing gleich an mit diesen Worten:

»Vergebung! fußfällig, wenn Sie allein wären,Hildegard, nicht anders zu nennen, Einzige! Wer hätte in dem Augenblick so vieler Schönheit, so unendlichen Reizen widerstehen können? Ich nicht.«

»Einen Würdigen, einen der an Vollkommenheit Ihnen gleich wäre, werden Sie auf Erden schwerlich antreffen; Sie müssen also immer eine ungleiche Heurath machen. Ledig werden Sie doch nicht bleiben wollen? Pfui! dazu sind Sie nicht bestimmt. Ich wüßte keinen bessern Mann für Sie, als Wolfseck. Er hat alles, um eine kluge [274] Frau zur glücklichen Despotin über ihn zu machen, wenn sie nur will; und der Herzensgute wartet auch noch.«

»Ach, daß ich schon vermählt bin! daß wir Europäer so eingeschränkt seyn müssen! Ich würde alles thun, mich Ihnen gefällig zu machen, zu einer Verbindung auf mein Leben.«

Sie sah ihn mit einem hellen zurückstoßenden Blick an, und gab ihm dann kalt zur Antwort: »Man kann nicht mit mehr Verstand sprechen, als Sie, Prinz. Wohl dem Lande, dessen Fürst Sie werden, wenn Sie zuvor noch Herr über Ihre vielleicht nur zuweilen vorüberfliegenden Leidenschaften geworden sind! Was die kluge glückliche Despotin des Herrnvon Wolfseck betrift: so überlass' ich die Rolle einer Andern, da es mir, nach meiner Art zu empfinden und zu denken, nicht möglich ist, weder so klug noch so glücklich zu werden.«

»Daß auch an dem geschliffensten Verstande,« erwiederte er, »sich Rostflecken der Erziehung ansetzen, bey denen die beste Lebensphilosophie Noth hat, sie wieder wegzubringen!«

»Wir wollen nicht mit Worten spielen,« erwiederte sie darauf, und fuhr fort: »Prinz, Sie haben eine tugendhafte Gemahlin, der Sie Treue schuldig sind. Ueberlassen Sie mich meinem Schicksal. Besondrer Geist, Zeit und Umstände haben uns in gewissen Jahren schon so fest gebildet, daß auch die beste Lebensphilosophie nichts daran zu ändern vermag. Was Ihnen Rostflecken zu nennen beliebt, nannten die würdigsten Männer durch alle Zeitalter: edle Menschheit; wenigstens bey unserm Geschlecht.«

»Männer! unwürdige Ehemänner!« fing er an zu antworten, als sie schon aufgestanden war, zu ihrer Mutter zu gehen, indeß Minister und Fürst herbey eilten und um Vergebung baten.

[275] Das Spiel dauerte bis zur Tafel. Hildegard behielt immer gleiche Gegenwart des Geistes, verlor zuweilen mit Fleiß, und konnte doch nicht umhin, eine starke Summe zu gewinnen, wenn sie nicht das Spiel zur Posse machen wollte. Dann sprach sie mit ihren Freyern vorüberschlüpfend, und sagte jedem etwas Scherzhaftes. Bey der Tafel war sie ernsthaft und fröhlich, wie es das Gespräch mit sich brachte. Inzwischen schien bis jetzt Wallersheim einigermaaßen begünstigt.

Den Sonntag, Morgens, führte Lockmann dasDixit von Majo auf, welches verdienten Beyfall erhielt. Damms herrliche Baßstimme, und das Solo für die tiefen Töne, in meisterhafter Melodie, ward besonders bewundert.

Im Konzert ergötzten die Finalen von Cimarosa höchlich, und Madam Ewald glänzte in der schönen Arie der Wittwe Alfonsina. Aber Alle verlangten noch Hildegards Zauberkehle zu hören; wozu sie sich jedoch nicht erbitten ließ.

Der Prinz bemühete sich, mit Hildegarden allein, wenigstens nur in ein Gespräch, zu kommen; es glückte ihm aber nicht, weil sie alle Gelegenheiten dazu klug und fein vermied.

Solchen Widerstand hatte er, bey seiner wirklich schönen Gestalt und seinem verführerischen Wesen, noch nicht gefunden. Sein Vorsatz war, auf kurze Zeit nach Spaa zu reisen, mit einem unwichtigen Auftrag für Brüssel. Aus Hofnung, vielleicht noch seine Absicht zu erreichen, gab er jenen auf, und schickte seinen Begleiter ab, diesen auszurichten.

Der Minister, ein erfahrner Weltmann, schätzteHildegarden hoch, wie sie es verdiente, und wünschte sich zwar herzlich eine solche Schwiegertochter, erkannte aber ziemlich unpartheyisch das Unharmonische [276] zwischen ihr und seinem Sohn, bezeigte gar keinen Eifer für die Verbindung, und reiste wieder ab zu seinen Geschäften.

Lockmann fuhr fort, seinen Tag nicht zu versäumen, und kam zu der gewöhnlichen Zeit mit zwey neuen Opern. Er traf gerade den Herrn von Wallersheim bey Hildegarden, mit Mutter und Bruder, im Musiksaal. »Sie kommen eben recht, Herr Kapellmeister,« redete Hildegard ihn, zwar freundlich aber mit einem gewissen gebieterischen Wesen, an; »Herr von Wallersheim hat die Musik von Sterzer zu Noverre'ns Ballet Les Horaces et les Curiaces aus Wien erhalten, und ist so gütig gewesen, sie mir zu bringen. Sie werden Sich mit uns darüber freuen.«

»Gewiß, erwiederte er; ich selbst besitze von dem klassischen Meister für dieses Fach nur Adèle de Ponthieu.« Er nahm die Partitur, setzte sich damit aus Klavier, las sie nebst der Beschreibung geschwind durch, und spielte dabey einige Stellen. Indessen unterhielten sich die Andern in den Zimmern vor dem Saal gegen die Straße zu.

Als Lockmann fertig war, spielte er sie mit einigen Griffen wieder herbey, und fing an über das Ballet zu reden.

»Ein Ballet, sagte er, ist die Darstellung einer Begebenheit durch Mienen und Geberden, Tanz, und Gruppirungen für das Auge: gleichsam eine Mahlerey in lebendiger Folge. Man muß also Begebenheiten dazu aussuchen, an denen das Wesentliche und Interessanteste gerade den Sinn des Auges trift.«

»Die Musik drückt die Gefühle dabey aus, und giebt das Maaß zu den Bewegungen. Je mehr der Körper dabey handelt, und je weniger die Sprache dabey nöthig ist: desto besser die Begebenheit. Große Massen; Ferne, wo man glauben kann, daß man die Worte nicht mehr vernehme; Krieg und Streit in Wirklichkeit; Liebesscenen, [277] wo Hand und Arm, Fuß und Auge hauptsächlich im Spiel sind: Landschaften; Sturm und Wetter; alle Jahrszeiten in ihrem Lebendigen; Meer, und Ströme und Wälder; Ernten, Jagd, Weinlese, Fischfang, Vögelfang, Hochzeiten; Wirthshäuser, Lager, Festungen, Seehäfen; kurz, Alles, was dem Auge Genuß giebt, wobey unter den Menschen Instrumentenspiel gebraucht wird, bey Festen und Schlachten, ist dazu vortreflich.«

»Diese Bemerkungen als richtig vorausgesetzt: so gehört wohl die Begebenheit zu diesem Ballet unter Nummer Eins in der ganzen Geschichte, für theatralischen Tanz. Sie liegt ganz gediegen da, und Noverre brauchte wenig künstliche Form hinzu zu bringen.«

»Drey junge Männer von beyden Seiten; eine reizende Jungfrau der Preis auf jeder; zwey Völker, die, weit über diesen Preis, ihre Herrschaft für beständig aufs Spiel setzen; zwey Armeen; zwey Könige; die pittoreske Römische Gegend; und, zum recht Dramatischen, die eine Jungfrau Schwester des Siegers, und Geliebte des einen Erlegten: nie war eine Begebenheit von größerm Interesse.«

»Sterzers Musik ist ihm eigen. Er hat wenig Glänzendes in der Melodie, aber ergreifenden Rhythmus, welcher hier das Wesentliche ist, und passende Harmonie.«

»Sonderbar ist es, daß er das herrliche Instrument für den Krieg, die wilde Klarinette, nicht gebraucht hat. Gewiß ein wahrer Mangel. Er braucht meistens Trompeten, Hörner, Flöten, Hoboen, Fagotten und Pauken, nebst den Geigen.«


»Der erste Akt

ist bloß Vorbereitung. Anfangs tritt Kamilla auf, Schwester der Horazier, voll zärtlicher Liebe für den ältern der Kuriazier, dem sie [278] eine Schärpe gestickt hat für den Kampf, und der selbst erscheint. Ihre Lage ist verzweifelt.«

»Die Trompeten erschallen; er entfernt sich.«

»Die Horazier nehmen darauf von ihr Abschied. Der alte Horazius kommt noch dazu; auch Proculus, und Fulvia, seine Tochter, welche der Preis des Siegers, des ältern Horaziers, seyn soll.«

»Kamilla fällt zu Ende vom Kampf der Leidenschaften in Ohnmacht.«


»Der zweyte Akt

ist das Wesentliche und Vortreflichste vom Ganzen. Das Ballet zeigt sich dabey in seiner höchsten Pracht: Feld, Armeen, Könige, Opfer auf Altären, feyerlicher Schwur, alles auf den Grenzen von Alba und Rom.«

»Kriegerische, heroische Musik. Die Armeen strecken die Waffen, und fallen auf die Knie. Darauf geben die Trompeten das Zeichen zum Angriff.«

»Die Luft erschallt von den Streichen.«

»Der Kampf ist zweifelhaft, und der Sieg lenkt sich bald auf die eine, bald auf die andre Seite.«

»Dieß ist alles nach der Geschichte vortreflich ausgeführt; die Musik dazu voll Genie, äußerst einfach, meistens im Einklang, von heftigem Rhythmus. Die Geigen machen den Schritt mit dem Baß in Oktaven; die Hoboen zeigen die Streiche an, und, wenn der Kampf recht lebhaft wird, die Trompeten mit den Hörnern. Die Trompeten schmettern zuerst mit den Hörnern in Oktaven in C moll; dann in C dur.«

»Wie der Horazier die zwey letzten erlegt, ist voll Darstellung in der Musik. Beym Schmettern der Trompeten, und dem Donnerhall [279] der Pauken ist das Siegsgeschrey bald auf der einen, bald auf der andern Seite.«


»Dritter Akt.«

»Der Marsch auf das Kapitol zum Triumph, und Tanz der Ritter dazwischen, vortreflich; die Chaconne mit abwechselnden Scenen ein Meisterstück; so wie die Ermordung der Kamilla eben dazwischen. Ein großes herrliches Ganze in der Musik.«


»Vierter Akt.«

»Das Gefängniß und Fulvia.«

»Ein wenig geziert ist es von Noverre'n, daß Fulvia dem Horaz den Dolch reicht, sie zu erstechen; und daß sie, als er nicht will, in Ohnmacht fällt. Doch schön ist es, wie sie daraus wieder erwacht, und in seinen Geberden den Inhalt der Sentenz liest.«


»Fünfter Akt.«

»Schmaus, Hochzeit und Ball; recht für ein Ballet, voll reizender Sachen.«

Lockmann und Hohenthal hatten auf dem Klavier und mit der Geige alles gespielt, was sich davon auf diesen beyden Instrumenten vortragen ließ.Wallersheim pries die Fertigkeit beyder, besonders aber Lockmanns, in jeder Rücksicht.

Sie gingen den zweyten Akt noch einmal durch; und die heroische Erhabenheit ergriff sie gewaltig.

Man ließ alsdann die Musik, und die Mutter fing das Gespräch an.

»Die Ballete gefallen so leicht, sagte sie gerührt, weil sie jeden in die Feste seines Lebens versetzen; und dann, weil sie, gleich der Mahlerey, eine allgemeine Sprache sind. Ja, sie übertreffen die Mahlerey noch, weil sie die Natur selbst scheinen.«

[280] Wallersheim fuhr fort: »In der Tanzkunst behaupten die Franzosen den ersten Rang. Sie haben es darin bis zu einer Vollkommenheit gebracht, von der man in andern Ländern kaum eine Idee hat. Ich glaube, daß man in Paris die vorzüglichsten Stücke vonCorneille, Racine und Moliere durch bloße Pantomime aufführen könnte.«

Feyerabend hatte sich, als er Hohenthals Geige hörte, auch herbey gemacht, und mit großem Vergnügen das ganze Ballet angehört. Er versetzte: »Man sollte Pantomime und Tanz wohl unterscheiden; es sind zwey verschiedne Künste.«

Lockmann stand ihm bey, und fügte hinzu: »Gewiß sind die Chaconnen und Passecaillen in den tragischen Handlungen oft erzwungen.«

Hildegard trat bescheiden dazwischen, und sagte: »Die Ballete sind wahrscheinlich aus den Maskenbällen entstanden. Der eigentliche Tanz blieb bey diesen immer die Hauptsache; nur schlich sich eine vermummte Gesellschaft von acht, zwölf, sechzehn und mehr Personen ein, und stellte eine Begebenheit aus der Mythologie, Geschichte, oder der neuern Fabel dar. Und so ist in den Balleten der Tanz noch immer mehr oder weniger die Hauptsache.«

Feyerabend ließ sich nicht unterbrechen, und sprach ferner fort, so wie er angefangen hatte.

»Pantomime begreift allen Ausdruck des Innern, und Mahlerey oder Bezeichnung der äußern Gegen stände durch Miene und Geberde des Gesichts, überhaupt durch Bewegung des Körpers und seiner Glieder. Sie ist eine Kunst für das ganze menschliche Leben, und steht zunächst an der Sprache. Ob sie gleich bey den verschiednen Nazionen des Erdbodens manches Willkürliche hat, so [281] behält sie doch immer mehr Natürliches, als die Sprache, und ist deren getreueste Auslegerin, ohne welche man oft nicht wüßte, was und in welchem Grade von Stärke jene etwas sagt. Sie bestimmt Rede und Gesang; und giebt beyden das sichtbare Leben.«

»Der eigentliche Tanz ist der Ausbruch üppiger Stärke, Gesundheit und Freude, die sich nicht mehr verbergen kann, in gemeßnen Schritten, Sprüngen der Füße und Beine, Bewegungen der Hände und des übrigen Körpers, nach den Melodien von Instrumenten, oder Stimmen, oder nach dem bloßen Takt einer Handtrommel.«

Wallersheim erwiederte: »Mich dünkt, Sie schränken den Tanz zu sehr nach den bey uns eingeführten gesellschaftlichen Tänzen ein. Warum soll man mit dem Tanze nicht auch etwas nachahmen können? Ein Holzhacker, zum Beyspiel, der nach dem Takt einen Baum umhaut, ist schon ein Tänzer; das ist nicht bloß Pantomime.«

Es erfolgte eine kurze Stille. Lockmann nahm darauf das Wort, und sagte: »Tanz ist Nachahmung einer Handlung, die man mit dem Körper verrichtet, in gemeßner Bewegung, oder in Bewegung, nach dem Takt der Musik; kurz, Mimik nach Musik.«

»Der Marsch ist der einfachste unter allen Tänzen.«

»Menuet ist gleichsam ein zärtlicher Spaziergang zweyer Personen um einander, in gemeßnen Schritten; kurzer Inbegrif einer Liebesgeschichte.«

»Der Deutsche Tanz ist ein freudiges Wälzen auf und ab.«

»In den Contretänzen wird beydes von einer Gesellschaft vermischt, und mit Jubelsprüngen vermehrt.«

»Bey andern Nazionaltänzen geschieht dieß gleichfalls, komisch oder ernsthaft, kriegerisch oder demüthig, bittend und schmeichelnd, nach dem Charakter des Volks.«

[282] »In den Balleten will man zuweilen Handlungen nachahmen, wo das wenigste durch den Körper, und das meiste mit dem Verstande, durch Beyhülfe der Sprache, verrichtet wird; aber alles, was nicht in musikalische Bewegung gebracht werden kann, taugt wenig für den Tanz.«

»Schritte und Sprünge, mein lieber Feyerabend, machen jedoch den Tanz nicht allein aus. Wir finden bey den Griechen Beschreibungen von Tänzen, in welchen wollüstige Jonierinnen mit einander wetteiferten, wo Fuß und Hand gar nicht wesentlich ins Spiel kamen.«

Er sagte das letzte mit einer Wendung zu Feyerabenden, daß die Andern es kaum verstanden, und die Mutter, die am entferntesten war, es gar nicht hörte.

»Nur muß alles nach dem Takt und nach Noten gehen; dieß ist das Wesentliche.«

»Der Tonkünstler muß die Arten der Bewegung, und die Leidenschaften sehr wohl kennen, Gefühl genug in seinem Herzen, und Schwung der Phantasie haben, um dazu vortrefliche Musik voll Rhythmus und Melodie hervorzubringen.«

»Unsre Meister hudeln sie oft hin, als das Leichteste; und bilden sich albern genug ein, es sey schon hinlänglich, wenn nur das Metrum beobachtet werde. Allerdings giebt es auch Horaze, Sapphoen und Pindare für die Tanzmusik; aber sie sind so selten, wie jene für die lyrische Poesie.«

Die Mutter antwortete: »Was Sie da sagen, gefällt mir ungemein; gewiß sollte der Tonkünstler in Balleten seine Tänzer und Tänzerinnen studiren, wie die Sänger und Sängerinnen in der Oper. Noverre, den ich in Stuttgard oft gesprochen habe, war auch ganz[283] der Meinung, daß Tänzer und Tänzerinnen die Musik, und nicht ihre erlernten Schritte und Sprünge, tanzen sollten.«

»Ich war gerade zugegen, als Vestris eine Chaconne tanzte, welche Jomelli für ihn geschrieben hatte. Sie wird noch lange unübertroffen bleiben, so erhaben ist sie in ihrem Rhythmus, und so reizend in ihrer Melodie; mir gleichsam noch ein lebendiges Bild von dem unvergleichlichen Tänzer.«

»Noverre war Genie für seine Kunst, und ist auch der Mann, der sie auf ihren Gipfel gebracht hat. Er hielt die edle Pantomime für die Seele des Ballets; nicht die Capriolen, acht und zehnfache Entrechats, und künstliche Schritte. Seinen Tänzern und Tänzerinnen empfahl er nichts so sehr, als sich ihren eignen Empfindungen zu überlassen, damit sie den wahren Ausdruck träfen; auch verbot er ihnen streng alles Nachäffen. Kein Balletmeister hat je von dem Charakter, den Talenten, den Schönheiten seiner Personen so viel Vortheil zu ziehen, und sie so ins rechte Licht zu stellen gewußt.«

»Er war zugleich vortreflicher Dichter und Mahler. In seinen guten Balleten herrscht Einheit der Handlung, schön durch das Ganze vertheilt, an die sich das Interesse hängt. Dadurch entstand, wie von selbst, eine Reihe von Gemählden in lebendiger Folge, in reizenden Gruppirungen. Er hatte deshalb die Meisterstücke der bildenden Künste wohl studirt, trieb die Magie der nächtlichen Beleuchtung sehr weit, und schuf sich, zur Vollkommenheit der Täuschung, ein Ideal von Theaterperspektiv.«

»Ueberall war er zugegen; bey dem Zeichner der Kleidungen: keine Tänzerin durfte sich nach ihrer bloßen Laune kleiden; bey dem Theatermahler: die Hintergründe mußten zu seinen Drapperien passen, die Figuren darauf in gehöriger Proporzion hervorgehn;[284] bey dem Maschinisten: um die Scenen leicht und schnell zu verändern; (er rühmte sehr die erstaunliche Einfachheit und Fertigkeit der Engländer in der Maschinerie); besonders bey dem Tonkünstler: er selbst schrieb Dellern zuweilen Melodien und Instrumente vor. Der Tonkünstler war sein Hauptmann; mit diesem arbeitete er ganz gemeinschaftlich.«

»Es ist eine Lust,« sagte Lockmann sehr vergnügt und heiter, »sich mit Personen von so viel Geschmack und Kenntnissen über solche Gegenstände zu unterreden.«

»Die Hauptregel bleibt immer, daß ein Künstler nichts wagen soll, was er mit seiner Kunst entweder gar nicht, oder gegen andre Künste nur langweilig und schwerfällig, leisten kann.«

»Pantomime allein ist eigentlich für Personen, die sich der Worte nicht bedienen dürfen, aus Furcht von Feinden gehört oder verstanden zu werden; oder die sich der Sprache nicht bedienen können, weil die einen Peruanisch und die andern Kastilianisch reden: oder überhaupt, weil sich das, was sie empfinden, fühlen, denken und bedürfen, mit Worten entweder gar nicht, oder doch nur schwach, sagen läßt.«

»Zwischen solchen wird ein Ballet, ja schon eine Scene, immer höchst reizend seyn, und alles andre dagegen matt und schwach werden, wenn die Schauspieler es in der Mimik bis zur Vollkommenheit und Grazie gebracht haben.«

»Pylades und Bathyll, die freygelaßnen Griechen, trieben sie auch in jenen Zeiten, wo es oft gefährlich war, sich mit Worten auszudrücken, bis zu ihrem weitesten Umfang. Sie gebrauchten wahrscheinlich manche willkürliche Mienen, Geberden, Bewegungen des Körpers, die in Syrakus unter denDionysen, und in Rom während der bürgerlichen Kriege, ihren leicht verständlichen Sinn [285] erhalten hatten. Ihre Vorstellungen waren unter dem Augustus ein angenehmer Schatten freyer Gesinnungen. Da die Komödien aufhörten, so ward dieser Zeitvertreib doppelt willkommen.«

»Die Römer wurden in dem ersten, zweyten und dritten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung so davon entzückt und bezaubert, daß jedes andre Schauspiel seinen Reiz für sie verlor. Und noch jetzt scheinen in dem südlichen pantomimischen Italien einige willkürliche Zeichen davon übrig zu seyn.«

»Aus Florenz kam in den neuern Zeiten das Ballet mit den Mediceischen Prinzessinnen nach Frankreich. Quinault verwebte es hernach als einen wesentlichen Theil in das Wunderbare seiner Opern. Rameau's beredte und leidenschaftliche Musik rückte es, nach Noverre'ns eignem Geständniß, seiner Vollkommenheit näher; und der letztre scheint es, mit den außerordentlichen Künstlern und KünstlerinnenDupré, den Vestris, Dumoulin, Lany, den Demoisellen Lany und Sallé zur höchsten Vollendung gebracht zu haben.«

»Aber man kann zweifeln, ob es sich mit den Worten der Poesie in den Opern je zu einem reinen gediegnen Gusse werde bringen lassen, einzelne Scenen ausgenommen.«

»In unsern neuern Balleten herrschen die einmal angenommenen bestimmt ausgebildeten Formen von Chaconnen, Passecaillen, und so weiter; und die Pantomime dient diesen nur zur Abwechselung und Veränderung.«

Wallersheim erwiederte: »Diese Verzierungen oder Ausschmückungen mögen wohl nothwendig seyn, da Sie die Pantomime für sich allein so sehr einschränken. Das Kunstgefühl der Zuschauer, die sich mit Fleiß täuschen lassen wollen, sollte übrigens gern ergänzen, was noch fehlte.«

[286] »Der Tänzer will nun einmal Geschicklichkeit haben, sein Inneres durch bloße Mienen, Geberden und Bewegungen des Körpers auszudrücken. Wenn er es treflich kann, so entzückt er, und reißt zur Bewunderung hin.«

Hohenthal fügte noch hinzu: »Gewiß machen die Tänzer manches, was wenig oder gar nichts sagt, und doch zur höchsten Kunst gerechnet wird; ihre Sprünge und schnellen Bewegungen der Füße und Beine. Dazu paßt denn das bloß Künstliche der Musik von Virtuosen auf Instrumenten vortreflich: Schwärmer, die bloß die höchste Gewandtheit ihrer Kräfte zeigen, ohne einen andern Zweck zu haben. Man lächelt darüber, und bewundert, was der Mensch thut, um sich von andern zu unterscheiden und zu gefallen; und was für eine Menge von Kräften wir zu unserm Spielwerk übrig haben, ohne sie zu unsern Bedürfnissen zu brauchen.«

Feyerabend beschrieb nun einige Tänze der Griechen nach dem Lucian, und der Sammlung des Meursius. Dann zeigte er, wie treflich bey ihnen auch die Tanzkunst in Staat, Religion, Erziehung und häusliche Glückseligkeit verwebt war, und wie sie den Körper zu allen Arten von Bewegung bildete; wie ärmlich wir dagegen mit unsern ewigen Menuetten, Walzern und Contretänzen erscheinen; daß der Tanz bey uns nur eine öffentliche Lustbarkeit ist, und nie die geheime Freude, die höchste Süßigkeit des Lebens, in einem vertrauten jugendlichen Zirkel wird; u.s.f.

Hohenthal suchte nun, auf Verlangen der Mutter, die Chaconne von Jomelli hervor; und man führte sie zu guter letzt auf. Wallersheim hätte gern den Versuch gemacht, seine Füße, Beine und Arme nach ihr in Bewegung zu setzen; aber er scheute sich vor der großen Kennerin, die in ihrer Jugend, so wie jetzt ihre Tochter, [287] eine der besten Tänzerinnen gewesen war. Und so gingen sie, als die Dämmerung einsank, höchlich erfreut aus einander.

Den folgenden Nachmittag traf Lockmann Hildegarden allein auf ihrem Zimmer, und wagte jetzt bey Kuß und Umarmung, was er schon sonst vergebens versucht hatte, schneller und behender und ungestüm: dasselbe was der Prinz sich erfrechte. Er war glücklich, jedoch nur wie der Blitz verfliegt. Sie zürnte heftig, schlug ihm aber kein Bein unter, und stieß ihn nicht mit dem Elbogen auf die Brust, sondern drängte ihm nur den verwegenen gierigen Griff mit beyden Händen weg, und fuhr oder zog sich zurück, so sehr sie konnte. – »O Himmel! Engel, Angebetete, einziges Kleinod auf Erden, Unvergleichliche, Unaussprechliche!« So rief er, und fiel, ganz außer sich und wie von Sinnen, vor ihr nieder.

»Lockmann, kommen Sie zu Sich!« Mit diesen Worten faßte sie ihn an den Schultern, ihn von sich zu stoßen, indeß er, mit dem Gesicht in ihrem Schooß, ihre Beine fest umschlungen hielt. »Es kommt Jemand, Unsinniger! mein Bruder!« Diese Worte rissen ihn plötzlich in die Höhe; er fuhr mit dem Kopfe zum Fenster hinaus, um die Gluth in seinem Gesicht zu verbergen. Sie zog ihn schnell zurück, damit ihn niemand sähe; denn die Ankunft des Bruders war nur Erfindung.

»Noch einmal so etwas, Lockmann, und wir sind auf immer geschieden!« sagte sie ihm auf das allerstrengste; aus ihren Blicken aber sprach eine gewisse, nicht ganz so strenge Gluth, welche sie nicht völlig zu unterdrücken vermochte.

»Fort! fort!« sagte sie, nahm ihn beym Arm, nachdem sie einigemal, jedes für sich, die Kreuz und die Quer auf und ab gegangen [288] waren, und führte ihn an das Klavier zu seinen Opern, die sie den Morgen für sich schon durchgesehen hatte.

Ihre Blicke auf einander am Klavier? O, wenn es dafür eine Mahlerey gäbe!

»Nun, angefangen!« sagte sie voll Zorn. Er stammelte:

»Ifigenia in Tauride di Majo. Ifigenia in Tauride di Jomelli.«


»Text von Verazi.«


Sie ließ ihn auf keine Weise von den auf dem Pulte liegenden Werken weg sehn, indeß die Mutter wie ein furchtbarer Dämon in den Saal trat.

Beyde erschraken, und ihre Wangen glühten von einem tiefern Roth. Die Mutter hatte auf dem Gange zu ihrem Zimmer Lockmannen an Hildegards Fenster bemerkt, und war unruhig geworden über ihre Sorglosigkeit.

Sie schwieg, und ging mit einem sehr auffallend mißtrauischen Blick langsam nach dem Sopha.Lockmann stand auf, und verneigte sich etwas ungeschickt; nahm aber inzwischen doch sein ganzes Bewußtseyn zusammen, und fuhr nun mit Gegenwart des Geistes fort, als ob ihre Ankunft ihn unterbrochen hätte:

»Jomelli, der sie zu Neapel im Jahre 1771 nach Majo schrieb, hat Verschiednes weggelassen und verändert, besonders in der Rolle des Orestes.«

Hildegard hörte wenig von dem, was er vorbrachte, und sagte sittsam und zärtlich zu ihrer Mutter: »Wir haben eben angefangen, die Iphigenien vonMajo und Jomelli durchzugehn.«

Die Mutter schwieg noch immer, nahm einen Stuhl, und setzte sich näher.

[289] Lockmann dachte: gesehen hat sie doch nichts! Er faßte Muth, blätterte in der Partitur, und fing von neuem an.

»Es ist unbegreiflich, wie man nach dem Meisterstücke des Euripides so etwas Mittelmäßiges machen konnte! Der Kaffern-König Merodates, und die Tomiris müssen erbärmlich den Knoten auflösen und die Griechen wegbringen. Einige schöne Arien und die Situazionen ausgenommen, herrscht in dieser Oper gar nichts von dem Gefühl, das im Euripides so aus der innersten Natur gehohlt ist und überall entzückt. Schade, daß zwey der größten Tonkünstler ihr Genie daran verschwendet haben!«

»Das Wahre der Fabel besteht in Folgendem: Orestes muß, dem Verhängnisse der Götter zufolge, nach manchen Trübsalen noch die Todesangst wegen des Muttermordes ausstehen; seine jüngste herrliche Schwester und sein himmlischer Freund retten ihn endlich, und machen ihn wieder glücklich. Das Ganze wird durch Religion reizend verschleyert und verziert.«

»Der Opernmacher Verazi hat gar keine Ahndung davon gehabt. Kindisch verändert er die Fabel und läßt den Orestes wider Willen seine Mutter Klytämnestra ermorden, weil sie unversehens dazwischen läuft, als er den Aigisth ersticht.«

»Aber die Musik selbst? – Es ist ein wahrer Ohren-und Seelenschmaus, den alten großen Jomelli am Ende seiner Laufbahn den Zauber des himmlischen Genius Majo bekämpfen zu sehen! Wahrscheinlich wählte er Verazi's im Grunde armselige Oper deßwegen, weil er sich mit diesem bewunderten Jüngling messen wollte. Neapel hat gewissermaaßen zum Vortheil des letztern entschieden, und der Alte, wie man sagt, sich darüber zu Tode gegrämt. Heftige Eifersucht war ja immer bey großen Talenten. – Zeit und Umstände [290] können auf das Urtheil Einfluß gehabt haben; die Nachwelt soll unpartheyisch richten.«

»Ich selbst kann nicht umhin, so sehr ich auch Jomelli'n bewundre, Majo'n, was diese Oper betrift, meine Stimme zu geben; ob ich gleich bekennen muß, daß Jomelli das Wesentliche des Stücks richtiger gefaßt, und ohne Vergleich vortreflicher dargestellt hat. Das Wesentliche ist ohne Zweifel das Leiden und die Raserey des Orestes über den Muttermord. Jomelli hat eben hier den Text verändert und Neues hinzu gefügt. Seine Musik hat den eigentlichen Charakter, den der edle Orest haben soll; sie ist voll des tiefsten Gefühls und der höchsten Schönheit. Man kann nichts Göttlicheres hören, als die vierte Scene des ersten Akts: Per pietà, deh nascondimi almeno di quel seno l'acerba ferita! deh per pietà! non mi dir, che ti tolse la vita, quel ingrato chi l'ebbe da te 34

»Dieß hat Majo gar nicht; und im Folgenden:Grazie ai Numi! parti; auch in der Arie: Tardi rimorsi atroci, besonders bey Odo il suon delle querule voci, wird er himmelweit übertroffen. Majo hat hier den Charakter des Orestes verfehlt; Pomp giebt er, und prächtige Musik, aber wenig treffendes Gefühl.«

»Und so ganz im edlen Charakter voll tiefen Gefühls nimmt Orestes bey Jomelli in der Arie der achten Scene des zweyten Akts vom Pylades Abschied: Prendi l'estremo addio, non mi lasciar cosi! Ah quante volte, oh Dio, misero in questo dì morir degg'io 35

[291] »Majo hat diese Arie wieder nicht; sie ist unendlich mehr werth, als bey ihm die Trennung in der zehnten Scene des ersten Akts im begleiteten Recitativ nebst dem Duett; welches Jomelli mit gutem Verstande weggelassen hat. Die Poesie ist Empfindeley, und wird, auch noch so schön declamirt und gesungen, im Largo der Musik unerträglicher.«

»Dieß ist aber auch das Beste im Jomelli.Majo vergütet und überwiegt es mit andern unnachahmlichen Schönheiten.«

»So wie Majo den Charakter des Orestes verfehlt hat, so Jomelli den Charakter der Iphigenia, dem es bey ihm noch überdieß an Einheit mangelt, und der für jede Scene besonders gemacht ist.«

»Die Scene, worin Jomelli hauptsächlich mit dem Jüngling wetteifert, ist die neunte oder letzte des ersten Akts, wo der Dichter den Schmerz der Iphigenia, – nachdem ihr Orestes, noch unbekannt, gesagt hat, daß er der Mörder der Klytämnestra sey – und zugleich ihre Begierde, den Mord zu rächen, so übertrieben schildert.«

»Diese Scene gehört unter das Vortreflichste, was Majo im Ausdruck tragischer und schmerzlicher Gefühle geliefert hat; sie zeigt, wie viel Italien und die Musik an diesem jungen Manne für die Zukunft verloren. Der Charakter der Iphigenia ist so rein, so voll Gefühl und Unschuld in Melodie und Harmonie, und dabey so voll neuer und hoher Schönheit, daß sie entzücken wird, so lange Musik dauert. Man merkt dabey sogar das Uebertriebne des Dichters nicht mehr, und denkt nur an die Situazion.«

»Das Recitativ Chi resister potrìa, ist auch beyJomelli vortreflich; aber ohne Vergleich größer, natürlicher und schöner bey Majo. Der Text selbst verdient hier Lob. Im Majo ist diese Scene die achte des zweyten Aufzugs.«

[292] »Doch ist bey Jomelli schon etwas Kleinliches, Empfindendes in der Begleitung zu der Stelle: Sospendi, o madre, i rimproveri tuoi, le tue querele. Wie schön bittet sie dagegen bey Majo! Jomelli liebt zuweilen die Mahlerey einzelner Stellen und Worte; diese zerstört aber meistens den Ausdruck des Ganzen, und fällt ins Kleinliche. Das dolente, sbigottita, pallida, lacera, insanguinata haben beyde vortreflich ausgedrückt; doch Majo natürlicher, schöner, und mit mehr Mannigfaltigkeit.«

»Zu Anfange der Arie: Ombra cara, che intorno t'aggiri, frena il pianto, sospendi i lamenti 36, hatMajo's Iphigenia den wahren Ausdruck einer bis zur Schwärmerey tief gerührten und ergriffnen Seele; die Töne der Melodie sind eigentlicher Accent Griechischer Grazie.«

»Jomelli's vier lange Takte auf O – – – – mbra, und zwey auf ca – – ra, die ersten durchaus in demselben Tone, sind übertrieben, bloß theatralisch, und außer der Natur: sie dienen nur dazu, daß eine schöne starke Kehle und Brust sich hervorthun kann; und so ist die Mahlerey auf dem intorno hier gewiß kleinlich, und fast eben so kleinlich der Ausdruck aufsospiri und flebili accenti. In der Mitte läßt Jomelli das Wort Ombra, gar acht Takte lang auf zwey Tönen halten. Del tuo scempio hat er nicht sehr glücklich im drey Achteltakt gesetzt. Majo geht viel vortreflicher in der Einheit der Empfindung, wie in einem Strome, fort; und was Schönheit und Neuheit der Musik betrift, so findet gar keine Vergleichung statt: Jomelli ist gegen ihn mager und armselig.«

»Majo bleibt diesem Charakter der Iphigenia immer treu. Welche schöne Scene, wo Iphigenia sich mit dem Thoas vermählen und [293] hernach umbringen will, wenn Orestes dadurch fortgekommen ist! Accresca pietoso al viver tuo quei giorni il cielo, ch' a me scema il rigor d'averso fato! und welche bezaubernde Arie: Se il labbro si lagna, mi basta se dice, per me l'infelice la vita perdé! Jomelli hat dafür zu Ende des zweyten Akts eine lange Scene mit einem Duett angebracht, worin die augenblickliche Empfindung sehr langweilig bis zum Unsinn aus einander gedehnt ist.«

»In der fünften Scene des zweyten Akts hat Jomelli der Iphigenia eine Arie in den Mund gelegt, die im Charakter der Mamsel Arnould zu Paris wäre: so witzig und sinnreich ist Melodie und Begleitung; ein Meisterstück. Aber wie kann dieselbe Person kurz vorher O – mbra acht Takte lang halten? Die Arie ist: Ah non voler ch'io sueti, quel che mi piace ascondere.«

»Uebertroffen wird Jomelli von Majo, wie etwas Unbedeutendes von einem großen Meisterstücke heroischen Jubels, in der Arie, die Orestes singt, nachdem er alle Gefahr überstanden hat: Tornò la mia speranza nel seno a germogliar, vinto ha la mia constanza, io corro a trionfar 37! Mit einem so natürlich schönen Produkt und Gewächs läßt sich etwas bloß von der Kunst Zusammengereihtes gar nicht vergleichen.«

»Eben so vortreflich ist noch die letzte Scene des Ganzen, wo die Begleitung die Seele furchtbar lieblich umflicht, ganz eigen in Majo's Styl.«

»Jomelli hat noch einige kunstreiche schöne Nebenarten; Majo auch manches andere Schöne, als gleich die erste Arie der Iphigenia: De tuoi mali esultarei; wo Jomelli ihm schon nicht gleich kommt,[294] und bey esultarei in kleinliche Mahlerey verfällt, so wie die Läufe auf crudeltà nichts bedeuten. Majo macht, durch Veränderung des Takts, und sehr glücklich durch Einmischung des Recitativs, das Ganze mannigfaltig.«

»Nach der strengsten Kritik kann man Jomelli'n, was das Ganze betrift, nur bey Einer Hauptscene mehr Verstand zuschreiben. Uebrigens ist Majo's Komposizion weit reicher an natürlichen Schönheiten; und es gehört eben so viel Genie dazu, die Leiden der Iphigenia in Musik darzustellen, als die Qualen des Orest. Wenn die Rede von der Poesie wäre: so möcht' es streitiger seyn, wem der Preis gebühre.«

Hildegard wählte sich für das Konzert gleichMajo's Scene: Chi resister potrìa, die sie mit den Hörnern und mit voller Musik hören wollte.

Lockmann, als Orestes, wählte sich die Scene von Jomelli: Per pietà, deh nascondimi almeno di quel seno l'acerba ferita! und die Jubelarie: Tornò la mia speranza, von Majo.

Hildegard wollte ihren Bruder rufen; Lockmann ging aber geschwind noch die besten Scenen aus einer Ifigenia in Tauride von Traetta durch, welche er, außer denen von Jomelli und Majo, mitgebracht hatte. Er sagte dabey: »Die Poesie der ganzen Oper ist ebenfalls mittelmäßig, obgleich von Coltellini; die interessanten Situazionen imEuripides sind ausgelassen: weder Freundschaft, noch Erkennung, noch Gefahr rührend geschildert. Pylades erzählt, als es zum Tode gehen soll, ganz kalt, wer sie sind; und Iphigenia ersticht den Tyrannen, der sie dennoch morden will.«

»Zwey Scenen, beyde im zweyten Akt, sind unstreitig das Beste vom Ganzen. Die erste stellt Iphigeniens Situazion auch in der Poesie [295] vortreflich dar; sie fängt an: Ah, qual s'apre al mio cor tragica scena di spavento e d'orror; und wird von Hörnern, Flöten und Fagotten meisterhaft begleitet. Die Arie:


Che mai risolvere! che far poss'io!

mi struggo in lacrime, morir desio,

nè basta a uccidermi il mio dolor 38;


ist erhaben und klassisch; vortrefliche Musik durchaus, und zugleich edler Ausdruck. Traetta ist der Vater dieser Art Bravourarien, in denen eine schöne Stimme sich mit aller Pracht hervorthun kann, und die der Schmuck des Ganzen sind.«

»Die Quart ist bey der Frage auf: risolvere? in ihrem allereigentlichsten Ausdruck, Ungewißheit, gebraucht, und ergreift Ohr und Herz in der höchsten ursprünglichen Schönheit. Wie schwebt die Stimme hernach auf che far, che far poss'io hinunter!«

»Das wirklich Pathetische der Oper besteht in der vierten Scene dieses Akts, wo die Furien den schlafenden Orestes bestreichen.«

»Ihr Gesang und Chor ist schöne Musik, vortrefliche Melodie, von Hörnern und Hoboen begleitet. Es scheint, als ob Traetta mit Lessing geglaubt hätte, die Furien wären von den Griechen schön vorgestellt worden; seine Musik gleicht wirklich dem reizend furchtbaren Medusenkopf im Pallast Rondanini zu Rom.«

»Crude Larve! wird vom Orestes im Schlafe vortreflich ausgedrückt. Eben so das Vendetta der Furien. Der Fall aus dem Es und B dur des letzten Chors in D dur bey Nere figlie del Erebo, thut gewaltige Wirkung, und drückt recht die Stärke der Gerechtigkeit aus.«

[296] »Gewiß ist Strafe von Adel und Schönheit furchtbarer, als von Wuth.«

Hildegard hohlte nun ihren Bruder. Die Mutter hatte sich, da Lockmann die Hauptstellen so treffend bezaubernd vortrug, und so viel Gegenwart des Geistes zeigte, ziemlich wieder beruhigt.

Sie wiederholten das Schöne. Auch Hohenthal weidete sich an den neuen Schätzen, und begleitete seine Schwester bey der herrlichen Scene von Majo wie ein Meister. Man sprach noch, als es schon anfing dunkel zu werden, über den Charakter der drey großen Künstler der neuern Zeit in Italien. Lockmann beschloß: »Wenn Traetta es trift, so ist er der wahrste, und gleicht dem Tizian in seinem Kolorit. Schade nur, daß dieß selten geschieht, und er eine solche Menge Chocolatenarien gemacht hat!«

Der Prinz wußte nicht mehr, wie er angreifen sollte; Hildegard ließ sich nie anders sehen und von ihm sprechen, als in Gesellschaft. Er und der Graf von Törring waren eifersüchtig auf den Herrn von Wallersheim, mit dem sie doch nur scherzte, sich auf nichts Ernsthaftes einließ, und den sie nur aufstellte, um den Verdacht wegen Lockmanns zu entfernen. Wolfseck, der wenig mehr in Betrachtung kam, war wohl auch eifersüchtig auf denHerrn von Wallersheim; aber sein eigentlicher Grimm ging, wie anfangs, noch immer aufLockmannen, doch nur aus Instinkt, und ohne daß er etwas wußte. Wallersheim fing an zu wittern, und merkte an dem leeren Gehalt etwas von der Rolle, die er gern oder ungern spielte; wußte aber auch nichts, als was jedermann sah und hörte, welches nicht den entferntesten anständigen Grund geben konnte. Die gewöhnliche Eitelkeit auch nur zum Schein einigermaaßen begünstigter Liebhaber machte, daß er kaum eine Sylbe [297] davon bey sich selbst berührte. Seine Leidenschaft war außerdem bey weitem nicht so stark als die Leidenschaft des Prinzen und des Grafen. Der Prinz, der Feinste unter allen, verbarg die seinige mit außerordentlicher Klugheit. Nicht so der Graf, welcher den Herrn von Wallersheim wegen seiner Gaukeleyen um die Damen, die gewöhnlich nur Zeitvertreib zur Triebfeder hatten, schon bitter anzapfte, und ihn aus unwillkürlicher Besorgniß scheel ansah.

Die vortreflichen Scenen von Majo und Jomelli wurden im Konzert mit neuer Bewunderung gehört. Wallersheim stellte sich recht in seiner angenehmen Gestalt vor die unvergleichliche Iphigenia hin, und fing jeden Laut von ihr mit Entzücken auf. Graf von Törring und Wolfseck hörten von verschiedenen Seiten zu; aber die Eifersucht im Herzen, und zu wenig Kenntniß, besonders bey dem letztern, gestatteten ihnen keinen rechten Genuß. Der Prinz blieb als Kenner in gehöriger Ferne; er hatte sich mit der Frau von Hohenthal und dem Fürsten den besten Punkt erwählt, und sprach hernach auch am besten unter Allen über Musik und Vortrag.

Er meinte, auch der stärkste Ausdruck lasse sich mit der höchsten Schönheit der Melodie und Harmonie vereinigen, wie hier die zwey Neapolitaner zeigten; und die Musik wirke so weit mehr, als wenn man sie zum Schrey der Natur, oder zur bloß erhöhten Declamazion der Worte, herunter setzen wolle. Die Worte, wiederhohlt und mit neuen Wendungen und Gefühlen in Melodie und Harmonie, nach der vonVinci an bis zur Vollkommenheit ausgebildeten Form, drängen um so viel stärker ein. Gluck sey zu streng auf einmal zurückgegangen. Seine lyrischen Schauspiele machten eine eigne Gattung zwischen Tragödie und Oper; diese Gattung könne [298] nur von wahrem Genie sowohl des Dichters als des Tonkünstlers bearbeitet werden, und das Mittelmäßige sey darin unerträglich. Die Kunst müsse sich auch nach den Bedürfnissen der Menschen richten. Man gehe nicht immer in die Schauspielhäuser, um Tumult und Aufruhr im Innern zu werden; das Ohr, dieser göttliche Sinn, verlange auch etwas zu seinem besondern Vergnügen. Gluck selbst habe in seiner Iphigenia in Tauris auch schon sehr viel nachgegeben.

»Keine himmlischere Wonne verlangt mein Herz und Ohr, gnädiges Fräulein, als Sie die Rolle dieser Iphigenia zum Entzücken und Erstaunen, selbst der Pariser, in jener Menschenwelt, unter der vollen, von dem Meister selbst geübten Gewalt der Begleitung, spielen zu sehen.«

Diese Apostrophe faßte sie recht, und durchfuhr ihr Innres. Wenn er etwas hätte ausrichten können, so wär' es auf diese Weise gewesen; doch sagte er dieß nicht aus Absicht.

Sie blickte ihn darauf minder streng als vorher an, und antwortete gefällig: »Prinz, Sie denken zu hoch von meinen geringen Fähigkeiten. Inzwischen freut es mich, den seltnen Kenner in Ihnen reden zu hören, und Nutzen aus Ihrem Unterricht zu schöpfen.«

Der Prinz baute gleich sehr viel auf diese günstigen Aeußerungen; sie waren kühle Tropfen der Erquickung. Doch betrug er sich gegen sie dabey mit der strengsten Sittsamkeit.

Lockmann aber fing an besorgt zu werden bey dem leidenschaftlichen Wesen, wovon er sie umringt sah. Ihm war, ob er gleich keine Frage darüber wagte, noch nicht aus dem Sinn, wie sie auf dem Ball mit dem Prinzen in das Seitenzimmer ging, und plötzlich, erbittert, allein daraus zurückkehrte; und mit welchem Gesicht der [299] Prinz hernach erschien. Auch Wallersheim erregte Besorgniß. Lockmann war freylich bis jetzt der Glückliche; aber ihm fehlte noch sehr viel, es ganz zu seyn. Vor der Zukunft hing seinen Blicken noch ein undurchdringlicher Flor. Die letzten Worte, die Hildegard dem Prinzen auf seine Apostrophe sagte, und ihre, wiewohl nur augenblickliche, Freundlichkeit dabey, thaten ihm weh wie Stiche.

Vom Herrn von Wolfseck befürchtete er zwar in Rücksicht ihrer wenig mehr; aber, noch an die Italienischen Sitten gewöhnt, war er besorgt, daß der Rohe ihm auflauern lassen möchte. Deßwegen trug er, wenn er des Abends oder des Nachts zu Reinhol den oder andern Bekannten ging, seinen Degen immer bey sich.

Er setzte sich vor, alles zu wagen und das Aeußerste zu thun, damit sie ihm nicht entrissen würde. Den Tag darauf nahm er die besten Scenen der vortreflichsten Oper mit sich, die er in Italien hatte aufführen hören; traf aber bey Hildegarden auf dem Musiksaal schon die Mutter, welche sich auch vorgesetzt hatte, die beyden gefährlichen jungen Leute weniger aus den Augen zu lassen.

Hildegard war eben beschäftigt, alles zusammen zu suchen, was sie von Gluck besaß, und batLockmannen, dessen wichtigste Werke mit ihr durchzugehn.

Sie fingen gleich an mit


Orfeo ed Euridice.


»Dieß, sagte Lockmann, ist der erste Versuch des großen Deutschen Künstlers, die neue Revoluzion in der Musik zu bewirken. Er wagte ihn zu Wien im Jahre 1764, in einem Alter von acht und vierzig Jahren, nach mancherley auf den Theatern von Italien, London und Deutschland gemachten Erfahrungen von dem, was eigentlich [300] dauernde Wirkung hervorbringt.Calsabigi, ein guter Italiänischer Dichter, ward leicht von seinen Gründen eingenommen, und ließ sich bereden, ihm hierin behülflich zu seyn. Dieser entwarf unter seinem Rath und Beystand das Gedicht, und beyde arbeiteten dann mit einander gemeinschaftlich.«

»Die Italiänische Oper war bey dem ausschweifenden Luxus einzelner Sänger und Sängerinnen im Ganzen meistens doch nur ein armseliges Wesen, und glich so ziemlich dem neuern Römischen Staate, worin nur wenige päpstliche Familien reich sind; paßte so auch gut für Rom und das übrige Italien. Es läßt sich nicht läugnen, daß drey Akte lang weiter nichts als trocknes Recitativ und Arien nach einander, mögen einige auch noch so schön seyn, Zuhörern von Kopf und Herzen, welche in den Logen nicht die meiste Zeit spielen, Gefrornes essen und Chocolate trinken, endlich langweilig werden müssen. Auch ward man schon vorher gezwungen, durch öftere und stärkere Begleitung bey Recitativen, und durch Ballete in den Zwischenakten, dem Schauspiel Abwechselung zu geben.«

»Noch weit republikanischer wollt' es Gluck machen: die Farinelli, die Caffarelli, die Gabrieli, die Todi sollten nicht mehr Pracht und Reichthum zeigen, als ihr Text verdiente; das Volk der Sänger nicht allein auch etwas bedeuten, sondern die große Masse der Harmonie in Chören behaupten; und die übrige Natur der Instrumente mit allen Schätzen des Luftreichs immer der menschlichen Stimme, dieser Despotin der musikalischen Schöpfung, gehörig zu Gebote stehen.«

»Die Fabel des Orfeo ist zwar ein reicher, aber kein tragischer und theatralischer Stoff. Das Ganze läßt sich dem Sinn des Auges [301] nicht wohl darstellen: es ist mehr episch, oder für die Phantasie, und die Katastrophe beruht auf der Zerstreuung eines Poeten und Verliebten. Vielleicht wäre es treflich für eine rührende komische Operette, wie ein Geistlicher im Schwabenlande den Apfelbiß unsrer ersten Eltern behandelt hat. Aber es scheint, daß Orpheus, wie bey den Griechen, auch bey den neuern Nazionen in der Kunst voran gehen solle: Polizian fing mit ihm das neuere Schauspiel an; und Rinuccini hundert Jahr nachher die Oper.«

»Das Wesentliche der Fabel ist Liebe, Gewalt der Musik, selbst über die Götter des Tartarus, und doch Schwachheit der menschlichen Natur am Ende.«

»Calsabigi hat den Stoff einzeln gut behandelt, und nur in der Anlage, wenn man will, gefehlt. Da er tragisch seyn sollte, so durfte das Ganze nicht, gegen die Fabel selbst, glücklich ausgehn, und Orpheus die Euridice doch noch bekommen. Der Dichter richtete sich aber nach der neuern verzärtelten Natur, besonders der Italiäner, die nichts Tragisches mehr vertragen kann. Das Ganze ründet sich deßwegen auch nicht, zerfällt in vier Akte, und wird gleichsam viereckig.«

»Der erste Akt ist Leichenfeyer; und Erscheinung Amors, als Beystand. Der zweyte, Kampf und Sieg über die Unterwelt. Der dritte, Erliegung der Menschheit, und Verlust. Der vierte, Geschenk und Gnade.«

»Gluck ist in seiner neuern Musik wirklich Originalgenie; er arbeitet beständig auf den Ausdruck, und sein Zweck dabey ist tiefe Wirkung des Ganzen. Als Mann von Verstand, Gefühl und großer Kunstkenntniß erreicht er diesen Zweck auch in seinen besten Werken.«

»Allein dieß ist noch nicht genug. Vollkommne Kunst besteht in [302] Darstellung nicht der Natur überhaupt, oder dieser und jener Art von Natur, sondern der gebildeten Natur in ihrer Stärke und Fülle, der hohen, schönen, der edelsten und schönsten Natur. Kein Drama, kein Gemählde, keine Bildsäule, wenn sie nicht bloßes Porträt seyn soll, kann in die erste Klasse gesetzt werden, falls sie nicht auch vortreflicher Ausdruck, vortrefliche Darstellung der ersten Klasse von Menschen ist.«

»Nach dieser Regel, die zu allen Zeiten wahr bleibt, kommt Gluck, was hohe Schönheit betrift, den großen Neapolitanischen Meistern, Leo, Jomelli, Traetta, Majo selten gleich, wenn man ihr Vortrefliches mit dem seinigen in Vergleichung stellt. Dabey aber behauptet er doch, was tiefen Eindruck des Ganzen betrift, mit den höchsten Rang unter den ersten dramatischen Tonkünstlern.«

»Seine gute Musik (denn auch unter seinen neuern Werken nach dem Orfeo sind mittelmäßige und ganz unerträglich leere Sachen, als zum Beyspiel seine Belagerung von Cythere) ist kernig, und erstürmt oft mit der größten Tonfülle der Chöre und Instrumente die Herzen der Zuhörer. Seine besten einzelnen Arien sind ächt Deutsch in Melodie und Harmonie: so etwas Herzliches, Gutes und Gefühlvolles, ein so rechtschaffner Adel, eine so reizende Würde von Keuschheit und Männlichkeit, spricht in ihren Accenten.«


»Erster Akt

»Der Chor ist voll Gefühl, in dem einfachsten Ausdruck der Trauer; der doppelte Ausruf und Seufzer des Orpheus: Euridice! dazwischen, natürlich und höchst rührend. Die Klarinetten und Posaunen passen vortreflich für die Leichenfeyer, und verstärken beym Gesange durch ein Paar Nachhalle den Ausdruck unvergleichlich. [303] Die verkleinerte Septime und die kleine Septime auf dem verminderten Dreyklang in ihren Umkehrungen machen den Reiz der Harmonie aus.«

»Orpheus Verlangen allein zu seyn, der Tanz um das Grabmal, die verstärkte Wiederhohlung des Chors, ein wenig lebhafter abgewechselt, und dessen Abzug, machen einen sehr einnehmenden Anfang, und sind das Beste dieses Akts.«

»Die erste Arie des Orpheus scheint zu leicht an Gehalt, hat aber eben dadurch etwas Gutes und Herzliches, welches die Schalmey im Einklang, und die Flöte in der Oktave mit dem Gesang, der Unschuld der ersten Zeiten näher bringt. Daß doppelte Orchester, bey der zweyten Wiederhohlung mit Englischen Hörnern und Fagotten verstärkt, und die begleiteten Recitative dazwischen, machen die Scene sinnlich und täuschend.«

»Das Recitativ darauf Numi d'Acheronte, wo der Vorsatz ausgedrückt wird, in den Orkus hinab zu steigen, gewinnt durch die Begleitung viel an Pathos.«

»Amor, welcher dem Orpheus zum Trost erscheint, und den Willen des Zevs dabey bekannt macht, hätte im Recitativ: t'assiste Amore gleich froher sprechen und das Thränengewölk der verkleinerten Septimen mit himmlischem Licht erhellen können.«

»Doch ist die folgende Arie heitrer, im Charakter eines gutherzigen Knaben, und Gluckische Melodie, die der Meister öfter gebraucht hat.«

»Der erste Akt schließt sich mit dem feuervollen Recitativ des Orpheus, worin er sich selbst reizt, das Abentheuer zu bestehen.«


»Zweyter Akt:

Triumph der Musik.«

[304] »Die Annäherung des Sängers zu den Pforten des Tartarus, voll Leidenschaft und zugleich schüchtern, kurz und sinnlich dargestellt; sein Vorspiel auf der Harfe besteht in wenig einfachen Griffen, und der Chor der Furien fällt dann sogleich ein.«

»Dieser ist, wie Musik der Griechen, in lauter Oktaven, zuweilen dreyfachen, und vortreflich declamirt. Es wird recht fühlbar, daß die Oktave die vollkommenste Konsonanz ist. Das kurze Instrumentenspiel zum Tanze dazwischen thut als Abwechselung gute Wirkung, und die Geigen, am Ende des Chors, drücken in der Begleitung das Bellen des Cerberus naiv aus.«

»Das Cantabile: deh, placatevi con me! von der Harfe begleitet, ist gewiß höchst rührend; und das harte No der Furien macht einen furchtbaren Kontrast damit. Das deh – placatevi! bey der Wiederhohlung im zweyten Abschnitt, mit dem halben Ton in der Melodie, der in der Harmonie zur übermäßigen Sekunde wird, und einen Anstrich von der beklommenen verkleinerten Terz bekommt, ist ein Meisterzug; die Furien antworten eben darin noch greller das bewunderteNo. Die verkleinerte Septime hat ihren Ausdruck hier in der höchsten Stärke. Eine süße tonvolle Stimme kann in dieser Scene bezaubern.«

»Der gemilderte Chor darauf: Misero giovine, in der einfachsten Harmonie, mit bloßen Oktaven vermischt, setzt die Handlung vortreflich fort; so das Cantabile, wieder mit der Harfe: Mille pene, ombre moleste, immer tiefer eindringend; und der Chor eben so, mehr besänftigt, in Ah quale incognito affetto. Das men tiranne ah voi sareste, bestürmt noch mehr mit lebhafterer Begleitung und süßer, in halbe Töne verschmolzner Melodie. Lauter Dialog zwischen Orpheus und dem Chor in kurzen Absätzen, bis der letztre nach [305] einem Orgelpunkt voll Ausdruck mit dem: al vincitor, verschwindet.«

»Diese Musik hat wirklich das, was sich nur von der vortreflichsten sagen läßt; man vernimmt nämlich bloß den Sinn der Worte, und wird getäuscht, in die Scene hingezaubert, ohne daß man die Musik, die es bewirkt, selbst merkt: so nackend und rein ist die Darstellung.«

»Nun dringt der Sänger frey in Elisium. Das lange Recitativ, worin er seine Empfindung von sich athmet, macht durch die heitre und zugleich rührende Begleitung einen entzückenden Kontrast mit dem Vorigen. Die Harmonie, obgleich in aller Fülle von Hoboen, Flöten, Hörnern, Fagotten, ist doch sehr einfach, und die Declamazion darunter vortreflich. Die Worte sind schön, zum Theil aus dem Virgil: Che puro ciel! che chiaro sol! che nuova serena luce è questa mai! Die Instrumente konzertiren höchst reizend mit einander, und die Begleitung der ersten Violine hält wie ein liebliches Murmeln alles zusammen. Der Chor der Seligen ist in Glucks herzlicher Art.«


»Dritter Akt

»An der Klippe der Katastrophe scheitert aber die Dichtung, und natürlich muß das Kolorit und Helldunkel, wie Gluck seine Musik nennt, der Zeichnung folgen.«

»Euridice ist gar ein armseliges poetisches Geschöpf: nicht die schöne, junge, von einer Schlange in Blumen getödtete Griechin voll Adel und Unschuld des heroischen Zeitalters, sondern eine närrische Italiänerin; und der Zurückblick des antiken Dichters – in der unglücklichen Zerstreuung, da sein Herz voll ist von Leidenschaft der Liebe, und seine Phantasie von allen den Wunderdingen, die er gesehn und [306] gehört hat, und die ihn noch umgeben – bis zur widerlichsten erzwungnen Handlung verzerrt. Wie albern, daß Euridice ihre Reize schildert, und sich verachtet glaubt! Bloße Instrumentalmusik und Pantomime, welche stumme Gefühle ausdrücken, wären hier wohl an ihrer rechten Stelle gewesen.«

»Aber die Arie, die Orpheus, wie ein Amphion auf dem Delphin, in dem Schiffbruch der Oper singt: –Che farò senza Euridice! dove andrò senza il mio ben! che farò, dove andrò senza il mio ben!

Euridice, oh Dio, rispondi! io son pur il tuo fedel!

Ah, non m'avanza, più soccorso, più speranza, nè dal mondo, nè dal ciel! – ist göttlich, und gehört unter Glucks Vortreflichstes. Sie ist durchaus reine nackte Darstellung der allerheftigsten Leidenschaft; die Melodie hat nichts von irgend einer Nazion, sondern ist allgemeine schöne menschliche Natur. Auch hat Gluck die reinste harte Tonart zum Ausdruck der Stärke meisterhaft gewählt.«


»Imvierten Akt

will Orpheus sich umbringen; Amor aber erscheint ihm wieder, und giebt ihm endlich doch seine Euridice zum Lohn für so treue und starke Liebe. Tanz und Chor machen den Beschluß.«

»Es bleibt immer eine Oper, worin viel Gold- und Silberadern sind; aber rechte Einheit von Originalität herrscht in ihr noch nicht. Sie ist eine Zusammensetzung von eigenen und fremden Formen. Inzwischen gab sie dem schläfrigen Schlendrian einen ermunternden Stoß.«

Lockmann setzte hinzu: »Um Ihnen die Art Gluckischer Musik im höchsten Adel der Natur, und zur höchsten Schönheit gebildet, zu [307] zeigen, will ich morgen die Antigone bringen, die Traetta 1772, acht Jahre nachher, für die Gabrieli in Petersburg schrieb; und worin der größte Italiänische Tonkünstler im Tragischen, besonders was den ersten Chor des Orfeo betrift, offenbar mit dem Deutschen rang.«

»O, wenn wir die Antigone doch schon jetzt hier hätten!« antwortete ihm Hildegard voll Begierde. »Die Scene Ombra cara amorosa darin, soll der Triumph der Gabrieli gewesen seyn. Ich habe sie nie erhalten können. Sie werden mir eine unaussprechliche Freude damit machen.«

»Der Tag dauert noch lange,« erwiederte Lockmann; »wir können die ganze Oper durchgehen.« Er eilte fort, und kam bald wieder. Indessen konnteHildegard sich nicht enthalten, im Enthusiasmus, und in aller Unschuld, der Mutter zu sagen: »Kein anderer Mensch, außer unserm Hause, hat mir je so viel Vergnügen gewahrt!« Diese Worte gingen der Mutter tief zu Gemüthe. Hildegard hohlte inzwischen den Sophokles, und las den Inhalt der Geschichte, um das Ganze gegenwärtig zu haben.


Antigone.


»Der Text« – fing Lockmann an, wandelte mitHildegarden im Saale auf und ab, und die Mutter ward mehr als je von einem besondern Gefühl überrascht, als sie die schönen jugendlichen Gestalten, und die außerordentlichen Reize des unvergleichlichen Paares aufmerksam betrachtete – »Der Text, das Gedicht, ist von Coltellini, nach dem Lieblingsstücke der Athenienser von Sophokles; das Ganze aber, so wie Euripides die Fabel behandelte. Antigone begräbt den erlegten Bruder Polynikes gegen das Verbot ihres Oheims Kreon, welcher die Todesstrafe darauf gesetzt hatte. Dieser [308] verzeiht ihr endlich in der Grube, worin sie verhungern sollte, und sie vermählt sich mit Hämon, seinem Sohne.«

»Sophokles ist ohne Vergleich lebendiger, als der Italiäner. Jener stellt die Antigone in dem von ihrem Vater geerbten Charakter dar: erhaben über alles Unglück, unbeugsam bey einer edlen That, und doch dabey weiblich, erzürnt und erbittert gegen ihre schwache Schwester und den Oheim; durchaus voll Gefühl und Verstand.«

»Sophokles läßt weislich die gerechte Sache des Polynikes unberührt, damit Kreons Verbot nicht allzu unwahrscheinlich und tyrannisch werde. Vielleicht hätte das Ganze gewonnen, wenn Eteokles als ein liebenswürdiger Regent wäre geschildert worden; jetzt muß man nur rathen, daß er es ist, weil ihm die Thebaner so beystehen. Polynikes fehlte gewiß, daß er sein Vaterland verwüstete, um wieder zur Regierung zu gelangen. Beym Sophokles ist es doch ein Kampf sehr wahrscheinlicher Leidenschaften; der Italiäner aber macht den Kreon gar zu unerträglich.«

»Antigone ist inzwischen höchst interessant, und durch Traetta's Zauber eine wahre tragische Person: leidend, voll Gefühl und Adel; das letztre nur nicht so schön, wie bey dem Griechen. Auch behandelt dieser das Begräbniß viel feiner, und nicht so ohne Wahrscheinlichkeit, wie der Italiäner.«

»Doch ist Traetta dabey wahrhaft erhaben, und greift bis ins Innerste. Dichter und Komponist haben vorzüglich für die Antigone gearbeitet, und sie den Reizen der Gabrieli zum Opfer gebracht.

Im

ersten Akt

ist nichts Außerordentliches. Die Chöre darin sind schön; die Recitative gut declamirt; und die erste Arie der Antigone voll einfachen [309] Ausdrucks: D'una misera famiglia, tutta sai l'istoria amara 39.

Der Anfang des

zweyten Akts

gehört aber unter das Allervortreflichste der Italiänischen Musik; es ist so recht der eigentliche wahre edle tragische Ton aus der Seele gehohlt, was der Mensch von hoher Kultur empfinden muß, wenn er die erhabensten Stellen im Sophokles und Euripides liest. Auch die Worte sind schön:


Ascolta il nostro pianto,

i gemiti, i sospiri,

ombra, che qui t'aggiri

al mesto rogo accanto!

E passa poi felice

d'eterna pace in sen 40


»Ganz erhaben ist der Seufzer der Antigone zwischen dem Chor ausgedrückt:


Ah, misero Polinice!«


»Nach dem Chor: O voi dell' Erebo pietosi Numi, kommt aber erst der rechte Kern, Antigone in dem Recitativ:

Ombra cara amorosa, ah perchè mai tu corri al tuo riposo, ed io qui resto!

Tu tranquilla godrai nelle sedi beate, ove non giunge ne sdegno ne dolor, ne sdegno de dolor! ricopre ogni cura mortale eterno obblio.

[310] Ne più ramenterai fra gli amplessi paterni il pianto mio, ne questo di dolor soggiorno infesto.

Ombra cara amorosa, ah, perchè mai tu corri al tuo riposo, ed io qui resto! 41 Und in der Cavatine sogleich darauf: Io resto sempre a piangere, dove mi guida ogn'or, d'uno in un altro orror, la cruda sorte. E a terminar le lagrime pietoso al mio dolor, ahi, che non giunge ancor per me la morte 42

»Diese Musik ist, nebst der Poesie, so Accent und Ausdruck der Natur, daß sie bey allen Völkern und in allen Zeitaltern ergreifen und rühren muß. Sie ist auch weiter nichts, als die gefühlvollste und zugleich edelste Declamazion; und die Arie geht in demselben Tone, nur im schnellern Pulsschlag des Sechsachteltakts, so fort, daß man den Unterschied gar nicht merkt. Ich kenne nichts Vollkommneres im ganzen Reiche der Musik; der schönste Ausdruck schwesterlicher Zärtlichkeit und tiefer Trauer.«

»Der Chor fällt alsdann wieder prächtig ein: O folle orgoglio umano! und Antigone beschließt himmlisch: O reliquie funeste! [311] Dieses alles zusammen macht das vollkommenste Ganze, und die erhabenste Leichenfeyer. Es kann neben Jomelli's Requiem aeternam stehen; nur daß alles dramatisch ist, und, was Genie betrift, einen höhern Rang behauptet.«

»Noch sind in diesem Akte gute Chöre. Antigone hat auf die letzt, ein schönes Recitativ mit Begleitung, und eine glänzende Bravourarie, die der Kehle derGabrieli Ehre macht.«


»Der dritte Akt

fängt mit einem vortreflichen Chor an: Piangi o Tebe! Antigone fällt ein: O Tebe, o Cittadini, o voi vicine sacre ombrose foreste, e voi di Dirce pure sorgenti, addio! wozwischen der Chor immer erhaben tragisch fortgeht.«

»Ismene, ihre Schwester, will nun mit ihr sterben, und ihr Gesang dient zur Abwechslung. Darauf hat Antigone wieder ein begleitetes Recitativ: O germana, o Tebani; und eine Arie: Non piangete i casi miei. Alles voll Gefühl.«

»Kreon, Adrast, Hämon haben gute Sachen, besonders der letzte; aber nichts davon kommt der Antigone gleich.«

»Die Scene, wo sie in der Grube verhungern soll,Misera, ove m' inoltro, ist wieder vortreflich; und so das Duett zwischen ihr und Hämon.«

»Kreon kommt dazu, bereuet, was er gethan hat, und alles schließt mit der Vermählung. Der Ausgang wird in der Musik, wie in der Poesie, grell. Man ist nicht mehr aufgelegt, die festlichen Sachen zu genießen. Die Chöre und Tänze sind übrigens schön, besonders die Chaconne.«

»In der Poesie ist Hämons Erzählung, wie er zu Antigonen in die Grube kommt, unwahrscheinlich. Man begreift nicht, wie er hinein [312] kam, eben so wenig warum beyde nicht wieder heraus können, und sich selbst das Leben nehmen wollen.«

»Die Musik zu dieser Oper ist ohne ZweifelTraetta's Meisterstück.«

Hildegard sang nun die göttliche Scene einmal und zweymal mit so wahrem Gefühl und so rührenden Seelentönen, daß sie selbst den Sophokles und Athen entzückt haben würde. Der Mutter und auch ihr traten dabey Thränen in die Augen; sie dachten zugleich an das, was sie verloren. Nach einer langen Stille, worin beyde ihre Gesichter wegwendeten, gingLockmann unbemerkt fort, und überließ sie ihren Empfindungen.

Den Tag darauf hielt er Probe, und ließ seine Leute den Chor dazu einstudiren; auch andere Sachen für die Kirche und das Konzert.

Den folgenden, Nachmittags, ging er schon wieder zu Hildegarden, mit dem Wunsche, sie allein zu finden; ein unwiderstehlicher Zug trieb ihn zu ihr. Ihm war es jetzt, als ob er sie nicht gesehen hätte, wenn er sie nicht allein sah; sie schien dann nichtseine Hildegard, sondern die Hildegard der Mutter, des Bruders, der Gesellschaft.

Zu seinem Mißvergnügen traf er sie wieder nicht allein, sondern im Garten mit der Frau von Lupfen, welche bald nach Schwaben auf ihre Güter abzureisen gedachte, wohin Geschäfte sie riefen.

»Es freut mich sehr, daß Sie kommen,« sagteHildegard freundlich zu ihm; »wir haben noch drey Opern von Gluck durchzugehen, und können, wenn Sie beyde wollen heute mit der Alceste ein paar Stunden angenehm zubringen.«

»Schon längst, Herr Lockmann,« fuhr Frau von Lupfen fort, »bin ich begierig gewesen, Ihre Gedanken über Glucks neue Art von Musik zu hören.«

[313] »Ich werde Damen von so viel Kenntniß, Verstand und Geschmack wenig Neues zu sagen wissen;« erwiederte er darauf. Und Frau von Lupfen fragte ferner: »Worin besteht denn eigentlich Glucks Revoluzion, von der man so viel spricht?«

Er antwortete: »Die Frage ist, ob in der Oper, oder überhaupt, ob bey Singemusik, die Poesie oder die Musik herrschen soll. Gluck hat bey weitem der Poesie den Vorrang gegeben, nach ihr als ein gehorsamer Diener gearbeitet, und dadurch die große Menge der Tonkünstler und Liebhaber beleidigt. Er selbst widerlegt sich aber am besten: denn eben in seinen guten Opern herrscht die Musik mehr, als in andern; nur flattert sie nicht herum, und treibt kein Spielwerk, sondern drückt die Gefühle mit mächtiger Entscheidung aus. Und so herrscht im Gegentheil die Poesie bey manchem Italiäner; denn wenn man die Worte nicht wüßte, so fühlte man oft gar nichts.«

»Doch wir müssen die Sache genauer untersuchen.«

»Glucks neuere Opern unterscheiden sich von andern dadurch, daß das Ganze mehr Einheit und Zusammenhang hat, daß es nicht durch die eingeführten Formen, besonders der Arien, und die unzweckmäßige Kunst der Sänger und Virtuosen unterbrochen oder in seinem Gange aufgehalten wird, und daß alles Wesentliche in gehöriger Haltung hervorstrahlt.«

»Darin hat er völlig Recht; und es war Zeit, daß die übeln Gewohnheiten und Mißbräuche abgeschaft wurden. Doch haben große Meister vor ihm nach eben diesen Grundsätzen gearbeitet.«

»Darin aber hat er Unrecht, daß die Poesie nur Zeichnung seyn soll, und die Musik nur Kolorit und Licht und Schatten. Jede von den beyden Künsten hat ihre Zeichnung, ihr Kolorit und Helldunkel. [314] Dieses springt, dünkt mich, so in die Augen, und wird so allgemein für wahr angenommen, daß es keines Beweises bedarf.«

»Die Musik macht in der Oper ein Ganzes für sich aus: die Worte vereinigen sich damit, nicht als etwas Fremdes und Verschiednes, sondern als etwas Gleichartiges in Melodie und Harmonie; und sie bestehen in eben solchen abgemeßnen, nur durch Konsonanten bestimmter geformten Tönen, wie die Vocale der bloßen Musik. Die Personen der Sänger, und die Worte, stellen das Individuelle und Bestimmte dar; was die bloßen Vocale der Musik nicht vermögen.«

»Glucks Hauptverbesserung besteht in der Form der Arien. Die seit Leo's und Vinci's Zeiten eingeführte Italiänische Hauptform war bey weitem nicht mannigfaltig genug, und paßte in vielen Fällen gar nicht. Auch dieß ist schon so oft gerügt worden, daß ich mit Wiederhohlung davon Ihnen nicht beschwerlich fallen will.«

»Inzwischen hat man noch immer keine bestimmte Idee, was Arie überhaupt eigentlich ist.«

»Das Wort Aria ist Italiänisch, und hat vielerley Bedeutungen. In der Oper bedeutet es nichts anders, als das Werden eines besondern Ganzen im Strome der Handlung. Arie ist, in Musik und Poesie, die sich sammelnde Empfindung, das sich sammelnde Gefühl einer Situazion, welches sich nicht selten in einem Bilde, in einer Sentenz äußert, wobey der Tonkünstler alsdann nicht sowohl das Pittoreske des Bildes, den Inhalt der Sentenz, sondern, wo möglich, das Gefühl, woraus beyde entstehen, darzustellen hat. Arien sind gleichsam reizende Thuner- und Genfer-Seen nach den wüthenden Stürzen des Rhodan und der Aar, deren beym Einströmen trübe Fluthen das vorangehende, von Instrumenten begleitete [315] Recitativ ausmachen; und ihre Formen können unendlich verschieden seyn.«

»Aria, nach dem Wortverstande, ist die Dauer des Ausdrucks einer Empfindung. Quell' aria dolce del bel viso, der süße Ausdruck des schönen Gesichts; der himmlische Schein gleichsam, den ein schönes Gesicht von sich strahlt.«

»Die Hauptform der Italiänischen Arien ist aus einer solchen Sammlung der Empfindungen entstanden. Die Worte werden verschiedentlich wiederhohlt, damit das Ganze derselben tiefer eindringe und von allen Seiten gezeigt werde.«

»Bey solchen Sammlungen scheint auch die Handlung still zu stehen; der Strom derselben wird unmerklich; die Kehlen großer Sänger und Sängerinnen können darin, vollkommen der Natur gemäß, ihre ganze Gewalt, ihren ganzen Reichthum, zeigen. Ein zu rascher Fortgang beraubt die Musik ihrer größten Schönheiten, die Oper ihres vorzüglichsten Reizes vor der Tragödie, die solche Stellen nur durch Pantomime und Stillschweigen, bey weitem nicht so lebendig, Herz und Sinn ergreifend durch glänzende Läufe, entzückendes Schweben auf süßen Tönen in allen Graden von Stärke und Schwäche, und durch den Zauber der Manieren, auszudrücken vermag.«

»Anstatt, daß die Handlung darunter leiden sollte, gewinnt sie vielmehr an Kraft, und schreitet dann mit genährtem und geläutertem Feuer kühner fort.«

»Von seinem System verführt, wollte Titan-Gluck alle die schönen Seen, auf denen die Farinellis und Faustinen so lange zu unaussprechlicher Freude herumschwammen, herumschifften, abgraben und höchstens nur in breite Kanäle verwandeln. Und das [316] wäre in der That grausam und unvernünftig gewesen. Jedoch hat er sich bald eines Bessern besonnen, und das Seichte, Magre einiger von seinen Arien wohl gefühlt.«

»Was Gluck den Arien entzog, sollte durch die Fülle der Chöre, den Rhythmus der Tänze, die Mannigfaltigkeit und Stärke des Instrumentenspiels überhaupt, reichlich wieder ersetzt werden.«

»Chor ist eine Menge, die zusammensingt; Bäche und Flüsse, die zusammenströmen und sich in Einen Lauf vereinigen.«

»Das Bedürfniß, die Leidenschaft, muß groß und heftig seyn, wenn eine Menge auf einmal sprechen und singen soll. Die Worte müssen dann einen sehr bestimmten Ausdruck haben. Zum Beyspiel die Israeliten in der Wüste: Wasser! wir verschmachten! Harmonie in Oktaven, in Fugen, ist dann gewiß die beste. Solche Chöre sind weiter nichts, als ein Schreyen der Noth, des allgemeinen Verlangens und Willens, und machen, recht angebracht, erstaunliche Wirkung. Feuer! Feuer! Hülfe! Wir ertrinken; rettet! Zu den Waffen! die Feinde! Das No! der Furien im Orfeo.«

»Dieß ist der eigentliche theatralische Chor.«

»Der Griechische stellte eine Person vor; der Anführer sprach im Namen der Menge. Die Dichter Athens mußten sich vom festlichen Ursprung des Schauspiels her lange damit plagen; und er zerstörte – was auch ihr eifrigster Bewundrer nicht leugnen wird, wenn er nur an die Medea des Euripides denkt – die Täuschung in ihren besten Werken.«

»Unsre mehrsten Chöre sind künstlich, wohin die in der Kirchenmusik gehören. Man nimmt an, ein Volk, eine Gemeinde singe schon gemachte Psalmen; ein Tonkünstler habe die beste Melodie und Harmonie dazu in Noten gesetzt.«

[317] »Solche Chöre sind nicht für das Theater; sie hindern die Täuschung.«

»Inzwischen wenn sie einmal schon im Gebrauch sind, wie bey den Franzosen, so fällt ihr Unnatürliches und Gekünsteltes weniger auf. Man will eben bey jedem großen Ganzen, wie eine Oper ist, von einzelnen Stimmen an, bis zu Duetten und Terzetten, die höchste Gewalt und Stärke aller Kehlen und Instrumente beysammen haben.«

»Wo der Stoff es mit sich bringt, ist es schön und gut und prachtvoll. Wo es aber herbey gezwungen wird, macht es für jeden Vernünftigen ein tolles Geplärr; und die Wirkung fällt, durch den häufigen Mißbrauch von Stümpern, auch bey guten und natürlichen Chören weg. Das Volk, dessen taubes Gehör hauptsächlich nur dadurch gereizt werden kann, wird einem ein Gräuel.«

»Chöre, Tänze und Posaunen können eben so übel angebracht werden, als Ritornelle und Läufe.«

»Um die Einheit des Ganzen desto mehr hervorzubringen, und das Abstechende zu entfernen oder zu verschmelzen, hat Gluck das Recitativ meistens mit Instrumenten begleitet.«

»Für die Französische Sprache mag dieß sehr dienlich seyn; die Italiänische bedarf der Kleiderpracht weit weniger. Das Geschleppe, gleichsam von vielen Bedienten, wird endlich doch lästig. Die Italiäner regen sich in ihrer bloßen Declamazion weit freyer und leichter. Für eine Königin Alceste, für den Hof eines Agamemnon, einer Klytämnestra, ist das Gepränge schicklich; man darf es nur nicht zur Regel und allgemein machen wollen.«

»Um wieder dahin zurück zu kommen, wo wir ausgingen – ein Deutscher Kunstrichter hat, im Zorn über Glucks Reformazion, die [318] Poesie gewaltig herunter zu setzen geglaubt, indem er Rousseau's Worte in dessen musikalischem Wörterbuche: Les Airs de nos Opera sont, pour ainsi dire, la toile, ou le fond sur lequel se peignent les tableaux de la Musique, folgendermaaßen dolmetschte:«

»Die Worte der Arien unsrer Opern sind gleichsam die Leinwand oder der Grund, worauf die Gemählde der Musik gebracht werden.«

»Armer Metastasio! du bist, nach dem Ausspruch eines großen Philosophen, nichts weiter als ein Drillichmacher für die Mahlereyen der Tonkünstler!«

»Das Wort Air wird im Französischen nur von der Melodie oder überhaupt der Musik zu einem Liede gebraucht, wie kurz vorher Rousseau selbst sagt, und höchstens, wie er hinzufügt, von der Musik und den Worten zusammen; niemals von den Worten allein.«

»Rousseau wollte bloß sagen: vorzüglich in den Arien stellt der Komponist Charakter und Gefühl dar.«

»Für musikalische Poesie wäre daraus abzunehmen: daß die Worte der Arien das Schönste enthalten müssen, weil Arien die Hauptsache in der Musik sind.«

Hildegard erwiederte darauf: »Ich kann solche platte Ungerechtigkeiten nicht leiden. Wer stellt eigentlich die Armiden, die Sophonisben, die Antigonen, die Oreste, die Iphigenien dar: der Tonkünstler oder der Dichter? Ohne den letztern wüßten wir ja nichts von allen jenen Personen. Sie selbst haben schon gesagt: in dem Schauspiel der Oper treten verschiedne Künste in einen freundschaftlichen Bund, um in ihrer gemeinschaftlichen Darstellung so viel wie möglich [319] der Natur gleich zu kommen. Bald thut diese, bald jene, mehr Wirkung; aber alle greifen so in einander ein, daß von Oberrang gar nicht die Rede seyn sollte, wenn jede leistet, was sie vermag. Am besten wär' es freylich, wenn Dichter und Tonkünstler, wie bey den Griechen, in Einer Person vereinigt wären: so in Eins müssen sie in einer guten Oper zusammen stimmen. Ich will Ihre Erklärungen darüber nicht wiederhohlen.«

»Welche Wunder würde nicht Gluck gethan haben, wenn er wie ein Sophokles erzogen worden wäre! Es freut mich, daß der große Mann so edel und bescheiden für die Dichter dachte. Welcher wird noch für die unwissenden Tonkünstler etwas arbeiten wollen, wenn sie ein se cerca, se dice, oder ein ne' giorni tuoi felici, so unerträglich eitel herunter setzen?«

Frau von Lupfen fuhr fort: »Jede Kunst hat ihre besondern Mittel zu wirken; und wo im Mittel schon die weit größre Kraft liegt, sollte der Künstler bescheiden seyn, und nicht sich die größre Wirkung zuschreiben. So behauptet ein St. George im Zweykampf mit dem Degen bey jedem Vernünftigen einen höhern Rang, als ein Konstabler, der seine Kanone ladet, richtet, abbrennt, und eine Mauer über den Haufen wirft, wovon jener nicht einen Stein losstechen würde, wenn er so thöricht seyn könnte, es zu wollen.«

Lockmann erwiederte: »Vortreflich, meine Damen! Ihr schöner Eifer entzückt mich. Die WörterZeichnung, Kolorit, und Helldunkel, womit so viel gespielt wird, dienen nur, wie alle Gleichnisse, die Sache sinnlicher zu machen. Kolorit soll nur ›lebendig‹ anzeigen; und Licht und Schatten ›das Leben in der Natur rund herum.‹ Dichter und Komponist vermögen dieß nur anzudeuten; eine Hildegard, ein Marchesi, mit einem Le Brün, [320] einem Viotti u.s.f. stellen es in hohen lyrischen Situazionen eigentlich allein dar, und Dichter und Komponist liefern dazu nur die Materialien.«

»Auch die Schauspielkunst, und die Singkunst,« sagte Hildegard, schon an der Treppe im Hause zum Musiksaal, »sollen nicht den ersten Rang erhalten, sondern diejenigen, welche die höchste gebildete Stärke, die erhabenste Menschheit haben, und sie zum Nutzen und Vergnügen der Gesellschaft anwenden.«

Sie hohlte dann sogleich die Alceste von Gluck herbey. Lockmann setzte sich ans Klavier, und fing an darüber zu reden.

»Die Fabel der Alceste ist ganz in die Griechische Religion verwebt, und für unsre Zeiten bleibt davon nur das Allgemeine übrig, daß eine Frau für ihren Mann sterben will, und für so viel Liebe begnadigt wird.«

»Euripides, Schüler und Freund des Sokrates, hat bey dieser Gelegenheit ein Stück Moral aus dem wirklichen Leben aufgestellt. In seinem Drama herrscht eine außerordentliche Stärke von Verstand. Nur kann man eben nicht sagen, daß er in der Scene des Admet mit dem Vater den Grazien huldigte; vielmehr scheint Timon selbst sie hineingebannt zu haben. Aber er wollte die menschliche Natur in ihrer Blöße zeigen.«

»Das Ganze ist bey dem Griechen ein Spiel des Apollo, der den Parzen das Leben des jungen Königs für ein andres abdrängt, weil dieser ihn nach seiner Verbannung aus dem Himmel, als Hirten, so edel aufgenommen hatte. Alceste konnte nicht wohl anders handeln, ohne nach dem Tode des Gemahls ein schmähliches Leben zu führen. Der Meister im Tragischen läßt sie von Schritt zu Schritt alle Bitterkeit fühlen, daß sie, von Pflicht genöthigt, in der Blüthe der [321] Jugend und Schönheit aus dem höchsten Wohlleben von ihren zarten Kindern scheiden muß. Die harte Rolle beyder Gatten wird für den Zuschauer gleich anfangs durch die Ankündigung der Rettung gemildert; und Herkules erscheint am Ende, als Bezwinger selbst des Todes.«

»Calsabigi hat für unsre Zeiten und die Oper nur wenig von dem Griechischen Drama beybehalten; doch ist dieß Wenige vielleicht schon zu viel. Bey den Griechen bewirkte der Glaube an das Wunder die Täuschung, welche bey uns im Ganzen nicht mehr statt findet; nur einzelne schöne für die Musik sehr ergiebige Scenen können daraus hervorspringen.«

»Die Symphonie kündigt eine große Begebenheit erhaben und eigen an. Sie trägt den Stempel des Gluckischen Genies, und ist warm und heiß von Leidenschaft.«

»Der Anfang der Handlung ist ein überraschendes Schauspiel mit der Trompete, dem Herold und dem Chor.«

»Der Herold hat gleich in einem Recitative von zwanzig Takten sechs volle Takte verkleinerte Septimen, die schon in der Symphonie oft vorkommen.«

»Der erste Chor ist vortreflich. Die verkleinerten Septimen werden in ihrer höchsten Bitterkeit angebracht, so wie in den Recitativen dazwischen.«

»Der Chor der zweyten Scene: Misero Admeto, povera Alceste! ist noch stärker. Die verkleinerte Septime wird viel häufiger, und macht das Kolorit und den Schatten trauriger und schwärzer.«

»Das Recitativ der Alceste ist vortreflich declamirt, und voll Ausdruck. Die Arie darauf: Io non chiedo, mit dem kleinen Duett der Kinder darin, ist ein Meisterstück: mehr Recitativ in [322] Arienform mit abwechselndem Takt und Tempo, als Arie selbst; und etwas Neues ihrer Art. Man fühlt dabey die Kunst für das Ganze.«

»Die Recitative der Alceste sind bis hieher ohne alle Begleitung, aber vortreflich declamirt. Derselbe Chor schließt herrlich verstärkt und verziert.«

»Der Marsch der Priester des Apollo ist ein großes Meisterstück voll Charakter zu heiligen Schleppgewändern, durchaus neu.«

»Der Ruf des Hohenpriesters: Dilegua il nero turbine, che freme al trono intorno, mit Fagotten, Hörnern und Posaunen im bloßen C dur-Accord, ist erhaben in Melodie und Harmonie; das Blasen drückt wirklich Sturmwind aus.«

»Der Chor mit eben den Worten, und weiter fort, steigt immer höher, und die Begleitung ist voll rascher Begeisterung. In der That ein großes Meisterstück, und alles neu. Die Italiänischen Chöre verschwinden gegen diesen.«

»Des Oberpriesters Gebet für den König dazwischen: A te nume del giorno, a te del cielo ornamento e splendor, in As dur angefangen, und in Es dur geendigt, ist ganz göttlich.«

»Wieder eben derselbe Chor.«

»Der Priester kündigt die Ankunft der Königin an.«

»Derselbe Marsch.«

»Nun Alcestens Gebet: Nume eterno, immortal; in E dur angefangen, voll hohen Reizes.«

»Wieder derselbe Chor.«

»Nun der Oberpriester: I tuoi prieghi, o Regina, i doni tuoi propizio oltre l'usatto Apollo accoglie. Dieß Recitativ, nebst dem Orakel, gehört unter das Erhabenste in dem ganzen Vorrathe der [323] Musik, und ich kenne wenig, was ihm gleich käme. Man glaubt in der That zu Delphi zu seyn: so stark und gewaltig ist die Darstellung.«

»Mit dem Chor darauf: Che annunzio funesto! macht es ein feyerliches Ganzes; der Chor muß aber gehörig gesungen werden, wenn er die verlangte Wirkung hervorbringen soll.«

»Das Recitativ der Alceste darauf ist meisterhaft declamirt und begleitet, und die Arie: Ombre, larve, compagne di morte, schön und herzlich.«

»Alsdann nach ein paar Recitativen Beschluß des ersten Akts: ein Chor des Volkes.«

»Dieser ist in der That ganz gediegen, durchaus vortreflich, neu und klassisch; alles voll Kraft und Stärke. Es ist ein erstaunlicher Schritt vom Orfeo zurAlceste.«


»Der zweyte Akt

eröffnet sich, nach einem kurzen Vorspiel von Geigen, mit einem unbegleiteten Recitativ zwischen der Ismene und Alceste. Darauf folgt eine kurze passende Arie der Ismene; und dann kommt die herrliche Scene, wo Alceste im Walde, allein, sich dem Tode widmet. Das Recitativ ist pittoresk mit der Hoboe, dem Fagott und Schalmeyen, ganz neu in der Begleitung, und meisterhaft declamirt: Tu tiranno dell' ombre, tu signor dell' abisso, sehr feyerlich; und in der nächtlichen Stille das: che chiedi Alceste? schauerlich. Durchaus herrscht der Accord der verkleinerten Septime.«

»Die Arie darauf ist ein Meisterstück von Declamazion; nur die Begleitung, obgleich der Rhythmus an und für sich vortreflich, doch zu einfach bey der langen Dauer der immerwährenden Wiederhohlung: sie wird auf die letzt zu trocken, und thut den Ohren weh, [324] obschon die blasenden Instrumente dazwischen einfallen. Ueberdieß hat der Dichter Alcesten hier zu schwach aufgestellt; und der Tonkünstler macht sie durch seinen Ausdruck noch verzagter. Mit Einem Wort: diese Arie ist ein fataler Zug im Charakter der Alceste, der sonst bewundernswürdigen Schwärmerin.«

»Der Chor der unterirdischen Gottheiten: E vuoi morire o misera! welche in Einem Tone fort singen, um den sich Geigen und Posaunen winden, und den die Hörner in Oktaven gewaltig verstärken, ist ein großer Zug von Glucks Genie. Die Melodie besteht aus Einem Tone, und macht den Baß ganz neu, furchtbar und schrecklich.«

»Alceste fährt in einem vortreflichen begleiteten Recitative fort, und erhebt sich. Die verkleinerte Septime wird wieder häufig. Der Chor der Dämonen unterbricht sie in dem Tone, und der Harmonie um ihn her, wie zuvor. Das Recitativ ferner eben so vortreflich. Es ist eine hinreißende Einheit und Gewalt der Darstellung.«

»Die Baßarie: Dunque vieni, des unterirdischen Gottes, mit ihrer Scythischen Stärke, von Hoboen, Hörnern, Fagotten und Posaunen begleitet, macht einen herrlichen Kontrast mit der schönen Weiblichkeit.«

»Das Recitativ der Alceste darauf ist schön; und die Arie: Non vi turbate, no pietosi Dei, gehört unterGlucks Allervortreflichstes: so entzückende herzvolle Melodie, und rhythmusvolle Begleitung ist darin; die Melodie recht originell, und ein Kleinod Deutscher Musik; Gluck dabey im Mittag seiner Laufbahn.«

»Der König wird auf der Stelle gesund; man stimmt einen frohen Jubel darüber an, und tanzt. Evander singt eine Arie. Darauf wird wieder getanzt, und Admet erscheint. Er erstaunt über das [325] Wunder; und als er erfährt, daß Jemand sich für ihn aufgeopfert hat, fragt er nach Alcesten.«

»Diese kommt; und die Sache wird bekannt. Sie haben schöne Recitative, worin wieder durchaus die verkleinerte Septime herrscht. Vor der Entdeckung noch ein vortrefliches kleines Duett, ganz neu und rührend dialogirt: Ah, perchè con quelle lagrime m'avveleni il mio contento?«

»Das Recitativ, worin die Entdeckung geschieht, ist voll von Leidenschaft; die verkleinerte Septime und die vielen Sextquinten erheben den Ausdruck mächtig. Admets Arie: No, crudel, non posso vivere, aus dem A moll, fällt gleich mit der Stimme ein, und gehört zu den größten Meisterstücken dieser Oper. Die Musik ist so vortreflich, daß man sie gar nicht merkt; die Melodie durchaus im stilo stretto, oder Note auf Sylbe, gar kein Instrumentenspiel, bis auf zwey Takte zum Athemhohlen; die herbste und bitterste Pein ewiger Trennung göttlich ausgedrückt; der Rhythmus natürlich hinreißend; das non posso vivere zuletzt auf dem höchsten Ton, dem eingestrichnen A, der Leiter für den Tenor, ganz Natur; die verkleinerte Septime, welche in die kleine Sext übergeht, mit dem halben Ton in der Melodie: tu lo sai, non mi salvi, ma m'uccidi se da me dividi la più viva, la più tenera cara parte del mio cor, ein Muster vom tragischen Ausdruck derselben, und dieser Accord hier gleichsam im höchsten Lichte. E un si barbaro abbandono, auf der verkleinerten Sexte mit der reinen Quinte, die Melodie in dem Sturze der großen Septime selbst, ist ein Zug der höchsten Kunst. Virtu credi e chiamiamor, wieder die verkleinerte Septime mit dem Uebergang in die kleine Sext, und das amor auf der übermäßigen Sext wiederhohlt, verstärkt den Ausdruck durch alle Grade.«

[326] »D'una vita cosi misera peggior forte, durch die halben Töne in Harmonie und Melodie mit verändertem Takt und schnellerer Bewegung, zur höchsten Stärke der Leidenschaft in C dur, ist ganz vortreflich; so wie die abgekürzte Wiederhohlung des Anfangs, und das verdoppelte schmerzliche Crudel. Die Melodie ist durchaus eigen, und in ihren Fortschreitungen höchst leidenschaftlich: weder Italiänisch, noch Deutsch, sondern Ausdruck allgemeiner edler Menschheit.«

»Das kurze Recitativ der Alceste, die den Tod herankommen fühlt, (in der sechsten Scene) ist vortreflich; und der Chor: Oh come rapida, im stilo stretto wie Griechisch. Eben so das folgende Recitativ und der folgende Chor.«

»Der Gesang der Alceste in F dur, mit der prächtigen Begleitung von Schalmeyen und Posaunen: Vesta, tu che fosti, giebt ihrem Charakter Heroismus. Dazwischen wieder der Chor, O come rapida, schön zur Abwechslung.«

»Das Oh casto, o caro nuzial mio letto, ist göttlich heiter und keusch, von Posaunen, Schalmeyen und Englischen Hörnern begleitet. Der Chor: Cosi bella, cosi giovane, vortreflich wiederhohlt.«

»Der Abschied von den Kindern hat viel Schönheiten; aber der Gang des Ganzen scheint dadurch aufgehalten zu werden. Wenn eine junge schöne Schauspielerin diese Scene bis zur Täuschung bringen kann, so ist sie doch vortreflich. Der Uebergang von der verkleinerten Septime in die Sextquarte, bey e lasciarli nel pianto cosi, ist glänzend und reizend. Oh come rapida, schließt den zweyten Akt sehr gut.«


[327] Dritter Akt.

»Die erste Scene ist durchaus schön; Admets Situazion in Recitativ, und Arie vortreflich dargestellt.«

»Aber gewiß wird die Handlung endlich langweilig. Wenn Admet ohne seine Frau nicht leben kann, so hilft ihm eben ihr Tod nichts, und das Ganze wird eine Ziererey. Er muß gern leben, und das Leben und den Genuß der Welt lieber haben, als sie selbst; sie hingegen soll ein reizendes Beyspiel von ausschweifender Leidenschaft der Liebe seyn, die man bey ihrem Geschlecht sehr süß und angenehm findet. So wird alles ordentlich, und gewinnt natürliche Haltung.«

»Scene 2. 3. bittet sie ihn, ihr zu schwören, daß er nicht wieder heurathen wolle; im Euripides stehen die Gründe, warum. Die Musik erhält sich durchaus im tragischen Charakter. Dann kommen die Todesgötter, fordern und nehmen sie mit sich unter feyerlichen und schauerlichen Chören.«

»Admet will sich das Leben rauben. Apollo erscheint in Sonnenstrahlen, und bringt Alcesten in lichten Wolken; die Götter wollten so große Liebe nicht zerstört wissen.«

»Diese Oper ist voll einzelner schöner, reizender, erhabner Formen, die sich nach und nach zu einem mannigfaltigen majestätischen Ganzen erheben. Der Gedanke, sich über die alten Vorurtheile wegzusetzen, ist kühn mit viel Genie und Kunst ausgeführt; und sie macht in der Geschichte der Musik Epoche.«

»Was sie von allen vorigen unterscheidet, sind die breiten Massen zu einem großen Ganzen, und das Gediegene.«

»Gluck erreicht dieß hauptsächlich durch die Chöre, welche durch Wiederholung die Recitative und Arien binden; durch den immerwährenden stilo stretto, wo man nur auf Poesie und Inhalt geheftet[328] wird; durch die blasenden Instrumente, von welchen er einige ganz neu einführt; (überhaupt hat noch kein Tonkünstler die Gewalt verschiednen Tons schon im Einklang so wie Gluck gefühlt und angewendet;) durch die häufige Begleitung der Recitative, die jedoch, immer so, auch bey andern Opern, langweilig werden möchte; und endlich besonders durch den Accord der verkleinerten Septime, die in allen Umkehrungen, in allerley Tonarten in allen Instrumenten das Ganze gleichsam in ein tragisches Dunkel bringt, und ihm feste Haltung giebt. Zuweilen sind Sextquinten und die rührendsten Dissonanzen reizend damit verschmolzen.«

»Das Volk wird hingerissen, ohne zu wissen, wie; selbst der Kenner giebt endlich nicht mehr auf die Kunst der Harmonie Acht, und läßt sich ebenfalls täuschen.«

Hildegard und Lockmann hatten dabey einige der schönsten Arien gesungen; und Frau von Lupfen bezeugte gerührt beyden ihr inniges Wohlgefallen.

»Ich weiß nicht,« fuhr Hildegard fort, »wie ich mich darüber ausdrücken soll, daß ein in der musikalischen Welt so hervorragender Mann, außer einigen Kleinigkeiten, nichts für sein Vaterland, dessen Stolz er ist, nichts für die Deutsche Sprache schreibt; und wer eigentlich die Schuld hat, ob er selbst, oder die Fürsten, die Dichter, das Publikum.«

Lockmann erwiederte: »Die Produkte der Kunst müssen in Deutschland wie das Unkraut wachsen; da ist keine Pflege und Wartung, und sie gehen selten ins wirkliche Leben über. Das, was man bey uns gute Gesellschaft nennt, der Hof und der Adel, und die Gelehrten selbst, welche alle, gleich der Frühlingssonne, sie erziehen und zur Reise bringen sollten, bekümmern sich wenig um sie, betrachten [329] sie als unnütz, als bloßen Zeitvertreib, und haben sie niemals zur eigentlichen Beschäftigung gemacht, um ächten guten Geschmack an ihnen zu gewinnen. Kurz, wir sind Barbaren für alle Arten von Schönheit. Es scheint, als ob für die Künste, die sich mit ihr beschäftigen, da eine Grenzscheide gezogen wäre, wo die Sprachen aufhören, die von der Lateinischen abstammen; Sitten und Regierung sind ihnen da zuwider. Alles Vortrefliche derselben wächst in Deutschland wild für sich auf; und die Fremden nehmen heraus, was das Beste ist, oder was sie für gut befinden.«

»Die Dichter haben es am schlimmsten, weil sie zu Hause bleiben müssen, und ihre Sprache nirgend anderswo gilt.«

»Die Mahler müssen bloß Köpfe und Kleider mahlen; das Andre wird nicht nach Verdienst geschätzt und belohnt, und man kauft lieber alte und fremde Werke. Schlösser, Palläste und katholische Kirchen sind schon versehen; und die Protestanten wollen lieber weiße Wände.«

»Die Bildhauer haben alle halbe Jahrhunderte ein Denkmal zu verfertigen, und wissen nicht, ob sie Römische Gewänder, oder Uniformen und steife Zöpfe machen sollen. Phidias, Praxiteles und Lysipp müßten in Deutschland verhungern.«

»In der Musik werden nur Sänger und Geiger, nicht gebildet, sondern bezahlt, wenn sie da sind. Die Komponisten kritisirt man nur. Unsre größten wurden von Engländern, Italiänern und Franzosen versorgt 43

»In der Baukunst behelfen wir uns mit Zimmerleuten und Steinmetzen; [330] oder kleben unsre Häuser selbst zusammen, wie die Schwalben.«

»Die Kunst – der Stolz der ersten Menschen, der Griechen, der Römer in ihrer höchsten Macht und Stärke, des schönen sechzehnten Jahrhunderts in Italien, der Franzosen und Engländer in ihren glücklichsten Zeitpunkten – ist bey uns nichts anders als Schmarotzerpflanze; Enthusiasten, oder Pedanten und Professoren, Leute ohne Welt und Klugheit, mögen sich mit ihr beschäftigen.«

Frau von Lupfen erwiederte darauf, tief ergriffen: »Wir sind arm, und haben alle Hände voll zu thun mit unsern Bedürfnissen.«

Und Hildegard setzte hinzu: »Unsre Millionen Soldaten in Friedenszeiten, und manche kostbare Person in den dicken Staatskalendern ...! Jedoch drückten Sie Sich in der Aufwallung Ihres gerechten Eifers viel zu hart und grell aus; es giebt und gab, dem Himmel sey Dank! Ausnahmen von Städten und Fürsten.«

Lockmann erwiederte: »Die Kunst hat zwar an verschiedenen Höfen einige glückliche Perioden gehabt; aber es waren gleichsam nur Treibhäuser für ausländische Gewächse.«

Hildegard antwortete: »Geduld und frohe Hoffnung, Edler! Wir gewinnen nach und nach immer mehr an Bildung; das Gletschereis über den Herzen der Reichen fängt an für lebendige Kunst zu schmelzen. Vielleicht schon binnen wenig Jahren, wenn eine Nationaloper erscheint, das ist, eine Deutsche Oper mit Volksmelodien, die allgemein gefallen, gleichen Frankfurt und Hamburg, Dresden, München, Berlin und Wien an Enthusiasmus Neapel, Paris und London.«

Nach einer kurzen Stille stand Frau von Lupfen auf, und sagte lächelnd: »Die Musik ist ja überdieß eine allgemeine Sprache; und [331] Vaterlandsliebe laßt sich mit Italiänischen Opern, so wie mit Italiänischen Gemählden, noch wohl vereinigen, wenn die Feste nur nicht ausschweifend sind, und auch das Volk sein Vergnügen hat. Eine Nazion ist in diesem groß, eine andre in jenem. Wir sind es in der Kriegskunst, in der Philosophie, wenn ich es nach dem Urtheil der Kenner sagen darf, in der Gelehrsamkeit; und einzelne Männer ragen noch jetzt in den mehrsten Wissenschaften und Künsten hervor über die vorzüglichsten unter allen Völkern. Personen von unserm Geschlecht – Sie werden das nicht als weibliche Eitelkeit auslegen – strahlen bewundert auf den ersten Thronen von Europa.«

»Feyerabend erklärte uns neulich die drey Sprüche, welche die Amphiktyonen mit goldnen Buchstaben über die Thüren des Tempels zu Delphi eingraben ließen; war darunter nicht auch dieser:Nichts zu viel; nichts zu weit getrieben? – Aber wir sind in eine üble Stimmung gerathen, und es ist Zeit uns zu trennen.«

Lockmann nahm seinen Hut, und begleitete sie unter fernerm Gespräch über dieses Thema nach Hause. Inzwischen machte er eine Ausnahme mit seinem Fürsten. »Aber,« sagte er, »es ist doch kein rechter Zweck da: Hildegard allein, die gar nicht dazu gehört, und deren Talente einer ganz andern Sphäre würdig wären, ist mehr, als alles Uebrige bey der Musik; und überhaupt giebt es nichts Großes, das einen Komponisten anfeuern und begeistern könnte.«

Frau von Lupfen gab ihm zwar, was das letztre betraf, Recht; doch, meinte sie, könnte der Fürst bey seinen Einkünften keinen andern Zweck haben, als seine Unterthanen zu ihrem eignen Vergnügen für diese Kunst bilden zu lassen, und sie, seinen Hof, und sich selbst durch vortrefliche Aufführung der Meisterstücke in Kirchen, und [332] der klassischen Scenen aus Opern in Konzertsälen, nebst der besten Instrumentalmusik, zu rühren und zu ergötzen.

Auf dem Rückwege stieß dem unruhigen Lockmann der alte Reinhold auf, welchen er mit sich nach Hause nahm. Beyde ließen es sich dann wohl schmecken, und tranken wacker Burgunder bey angenehmen Erinnerungen an Italien.

»Der Stoß ins Posthorn,« fuhr endlich der Alte fort, »an dem ersten Deutschen Dorfe, Hochholz vorbey:es ritten drey Reiter zum Thor hin aus, Adieu! ist mir doch erquickend durch Mark und Bein gedrungen, als ich aus Italien zurückkehrte.«

»Bruder trink! Willst du Brot, Schwager? sagte ein Postknecht zum andern. Und wie gesprächig die gutherzige Kellnerin dazwischen war, in ihrem grünen Hute, voll blühender Gesundheit, mit Beutel und Schlüsseln an einer Kette, die das Mieder herunter hing!«

»Die Weiber thaten hier schon fast alles bey der Wirthschaft; in Italien fast nichts. Wie man in Rom die Männer auf den Straßen und in den Küchen sieht: so in Tyrol die Weiber und Mädchen. Frisch und munter sind sie alle.«

»Fußböden von Holz und große Kachelöfen sieht man nach langer Zeit zum erstenmal wieder.«

»Das letzte Welsche Dorf S. Martino war ganz armselig, und die Post hatte nur vier Pferde; einen andren Reisenden hätten Ochsen ziehen müssen, und wenn er ein Prinz gewesen wäre. Die erste Deutsche Stazion, Salorn, obgleich vor Kurzem ein starker Brand da gewüthet hatte, sah doch lebendig und muthig aus, und die Pferde rannten wie Englische.«

»Ueberall sprach man mit unter noch Italiänisch; doch ist, so bald [333] man nur von S. Micheli um den Berg herum kommt, alles völlig Deutsch, Sitten und Luft.«

»Freilich muß ich gestehen, daß mir die Zunge müde war, wie nach einem schweren Marsche, als ich eine halbe Stunde wieder Deutsch gesprochen hatte.«

»Die Grenzen von Italien und Deutschland hat so recht die Natur gemacht, und beyde Völker sind in die Klüfte eingedrungen, so gut sie gekonnt haben. Die Etsch zeigte den Weg durch das Gebirge, so wie die Reuß und der Ticino über den Gotthardt, und die Aar vom Grimsel nach Bern.«

»So bald man in Deutschland herüber tritt, fühlt man eine neue nahrhaftere, frischere und rauhere Gegend, die alle Sinne angreift. Wie noch so ganz anders zu Roveredo! Dieß geht durch alles bis auf die Bäume. Und so macht das Ganze bis an den Belt eine eigene Natur aus, die wenig mit Frankreich, und noch weniger mit Italien gemein hat, wo alles trocken, zart und fest und fein ist. Hier hingegen alles saftig, frisch und steif; aber auch stark und mächtig, und doch dabey gutherzig und freundlich. Eins hängt an dem andern. Gänzlicher Unterschied von Italien, wo jedes nur für sich zu seyn scheint!«

»Die größre Freyheit in den Künsten,« erwiederteLockmann, »ist unser Bestes; eben weil sich die Mächtigen wenig darum bekümmern.«

Sie sprachen dann viel und mancherley durch einander, auch von ihren Glücksumständen. Der Burgunder und die lebhaften Reden hatten die Lebensgeister beyder etwas stark in Wallung gebracht; Hilde gard mit allen ihren Reizen schwebte vor des entzückten Lockmanns Blick in die Zukunft. Doch in der Leidenschaft noch [334] mehr, als bey nüchterner Ueberlegung, auf seiner Hut, nannt' er ihren Namen mit keiner Sylbe, obgleich Reinhold ihr Lob einigemal hoch angestimmt hatte. Dieß erkannte er nur für gerecht, und setzte noch einiges Wenige hinzu, lenkte aber gleich wieder davon ab. Ein Muster von einem verschwiegnen Liebhaber!

Kurz vor Mitternacht, ehe sie sich trennten, kamen sie noch auf das Thema Lebensphilosophie; und es flogen dabey folgende wilde unbestimmte Phrasen aus seinem Munde.

»Das Glück des Lebens besteht in der Abwechselung; selbst die größte Mühseligkeit wird dadurch zum Vergnügen.«

»Immerwährende Freude von einerley Art wird bald zur Pein. Der Urquell unsers Lebens will immer neue Formen; er behilft sich mit den albernsten Fabeln und Mährchen, wenn die Wirklichkeit um ihn stille steht.«

»Die Veränderungen, welche Poesie, wie alles Geschriebne, Gedruckte und Erzählte, gewährt, sind die schwächsten, ersetzen aber durch das Häufige und Zahlreiche, was ihnen an Stärke abgeht.«

»Dann kommt der Strahl des Lichts, Bildhauerey, Mahlerey, Baukunst für das Auge.«

»Stärker wirkt die Luft durch Musik auf das Ohr.«

»Körperlicher die Blumen und Blüthen des Frühlings und andre wohlriechende Düfte auf unsern schwächsten Sinn, den Geruch.«

»Stärker Getränk und Speisen auf unsre Zunge und unsren Gaumen, wozu noch das Wohlbehagen der Gesundheit kommt.«

»Die allerstärksten Empfindungen aber hat das Gefühl, der Sinn der Liebe.«

»Harmonie und Abwechselung unter allen diesen Veränderungen, [335] so viel unsere Komposizion verträgt, deßwegen entstand die Schöpfung, das ist die Seligkeit auf dem Erdboden.«

»That allein, die schöne Folgen hat, macht glücklich.«

»Die eigentliche wahre Liebe ist der Drang, mit einer Person vom andern Geschlecht ein Kind zu zeugen. Sie dauert ihrer Natur nach so lange, bis das Kind geboren ist, und als es den Eltern Freude macht.«

»Wenn man unsre Heldengedichte, von den Griechischen an, unsre Schauspiele und Romane liest: so findet man diese Leidenschaft fast nie in ihrer Fülle. Alles ist darin gewissermaaßen nur Vorspiel dazu, ein leeres Wortgeklingel, welchem Leser und Zuhörer ihr eignes Gefühl beylegen, das oft nicht darin ist.«

»Bey der Liebe des Paris zur Helena, des Aeneas zur Dido, des Rinaldo zur Armida, und in den meisten Schauspielen, kommt von Kindern selbst, und was sich darauf bezöge, wenig vor. Diese Leidenschaft, so viel tausendmal sie auch schon dargestellt worden ist, hat also in ihrer Tiefe noch volle und mannigfaltige Neuheit für den Künstler. Homer hat jedoch beym Abschied des Hektor von der Andromache, in den wenigen Worten an den kleinen Astyanax, ein Stück davon, ewig göttlich und schön, herausgehoben.«

»Alles Andre, was noch den Namen Liebe führt, ist Freundschaft, Geselligkeit, Wollust; welche letzte selbst bey dem höchsten Reiz einer Ninon von achtzehn Jahren, einer Lais und Phryne, einesAlkibiades, ein unbedeutendes Spiel ist gegen den göttlichen Ernst und Ungestüm dieser Leidenschaft.«

»Wenn ein Dichter ein Mädchen der Liebe schildern will, so kommt es also warlich wenig darauf an, ob es einen kleinen Fuß und s.w. hat, sondern ob der Bau ihres Körpers vortreflich ist, gesunde und [336] starke Kinder zu empfangen und zu gebären; ob ihre Lenden gut dazu gewölbt sind; ihre Brüste kräftig und derb, die Kinder zu stillen; ob ihre Augen und Lippen gutherzig aussehen, und versprechen, daß sie alles Ungemach der ersten Erziehung zärtlich auf sich nehmen werde; ob sie stark genug ist, die Geburtsschmerzen auszuhalten.«

»Nach diesen Regeln, die doch wohl die einzigen wahren sind, prüfe man nun einmal die Schreibereyen unsrer Dichter; und man wird sich wundern, wie wenig Ahndung sie von diesen Regeln hatten, die ihnen doch so nahe vor Augen liegen.«

Reinhold lächelte; sagte aber, im Begrif fortzugehen, noch gutherzig: »Das ist ein reizender Stoff zur Untersuchung für Deine Jahre, lieber Freund. Was mich betrift, so freu' ich mich, daß ich des Tyrannen Amors so ziemlich los bin. Ich wünschte, daß ich eben so früh scharf darüber nachgedacht hätte; in Italien bin ich von ihm in manches gefährliche Labyrinth getrieben und gepeitscht worden. Bey keiner Leidenschaft ist Verstand und Klugheit mehr nöthig, und doch so selten; sie entscheidet, nach unsern Sitten und Gebräuchen, oft über das Glück oder Unglück unsers ganzen Lebens.«

Lockmann begleitete den Alten nach Hause, um sich in der freyen Luft abzukühlen. Dessen letzte Worte machten zwar Eindruck auf ihn, hafteten aber nicht lange, da sie von Sinn und Phantasie bald verdrängt wurden.

Den nächsten Sonntag, der sehr warm und schön gewesen war, ging Lockmanns Zimmer gegen über, ungefähr eine Stunde vor Mitternacht, der beynahe noch volle Mond auf. Er nahm sein gutes Fernrohr, welches er sich gleich nach seiner Ankunft vom Fürsten zu weiterm Gebrauch ausgebeten hatte, ihn dadurch zu betrachten. Ein innrer Zug richtete es dann nach dem Paradiese, und er erblickte [337] auf einmal plötzlich in der lichten Dämmerung von neuem das himmlische Schauspiel, das er so oft vergebens wieder zu sehen getrachtet hatte. Hildegard legte ihr Gewand ab, (wodurch er sie leicht von ihrem Bruder unterscheiden konnte, den er mehrmals, nur immer des Nachmittags und gegen Abend, dasselbe Spiel hatte treiben sehen); dann stürzte sie sich in ihr Quellenbad, daß die Wellen in goldnem Feuer herumsprudelten. O, wie sein Herz schlug, und alles in ihm nach ihr hin strebte! Er sah zwar, so sehr er auch seinen Blick anstrengte und die Gläser vorn und am Ende rein wischte, nur den glänzenden Schein ihrer göttlichen Gestalt; aber seine Einbildungskraft schwelgte an den sich verlierenden Formen, wie an entzückender süßer Wirklichkeit. Sie blieb nicht lange, schwamm und gaukelte nur einigemal herum, trat heraus, und stand da wie Venus in Marmor von Praxiteles, trocknete sich ab, und verschwand.

»Kein Hinderniß soll dich mehr abhalten! sie ist die Einzige für dich in der ganzen Natur!« Das war wieder sein fester Vorsatz, und er schlummerte vor Planen und Entwürfen die übrige Nacht nur wenig.

Den Nachmittag darauf fand er abermals die Mutter auf dem Musiksaal mit weiblicher Arbeit beschäftigt; und Hildegard selbst stickte Blumen in ein Halstuch. Diese konnte sich nicht enthalten, mit dem Gesicht von der Mutter abgewendet, ihm muthwillig entgegen zu lächeln, weil sie wohl sah, daß er sie gern allein gefunden hätte.

»Verzeihen Sie, sagte Lockmann, daß ich jetzt öfter komme; ich suche Ihrem göttlichen Gesange noch einige Reize abzulauern zur Ausbildung eines Werkes, das ich Ihnen bald zu Füßen legen werde.«

[338] »Mein angenehmstes Vergnügen, antwortete sie gefällig, sind immer die Stunden Ihres vortreflichen Unterrichts; und mein eifrigstes Studium wird Ihre neue Musik seyn.«

Sie setzten sich an das Klavier, und fingen an, dieIphigénie en Aulide durchzugehen. Lockmann sagte dabey:

»Die Französische Musik und die Italiänische kämpften in Paris mit einander; und es war zweifelhaft, welche den Sieg davon tragen würde. Gluck hatte mit seinem Orfeo und seiner Alceste für Italien und Deutschland schon den Versuch gemacht, die Musik, seiner Meinung nach, zu ihrer wahren Bestimmung zurückzubringen, und in beyden Ländern bittre und hämische Widersacher an neidischen Kunstverwandten gefunden; mit richtigem Blick sah er in Frankreich gerade jetzt den besten Zeitpunkt für seine neue Art.«

»Bailli de Roulet, der sich eben in Wien aufhielt, richtete Racine'ns berühmte Tragödie, Iphigenia in Aulis, für die lyrische Bühne ein; undGlucks Genie, ganz Herz und Ohr für die Pariser Menschenwelt, fühlte alsdann wachend und in Träumen die Musik dazu aus.«

»Der Stoff gewährt das ergreifendste Schauspiel.«

»Die Armee der Griechen ist bereit nach Troja hinüber zu schiffen, um die Schmach des Vaterlandes zu rächen, wird aber von ungünstigen Winden unerhört lange zurückgehalten. Kalchas, der Oberpriester, muß das Orakel befragen; und es antwortet schrecklich: Diana sey erzürnt, und könne nur durch das Blut einer reinen Jungfrau, der Tochter des Königs der Könige, der Iphigenia, versöhnt werden.«

»Heldenruhm, Königsehre und Vaterliebe kämpfen in Agamemnons Herzen, als Klytämnestra mit der jungen und göttlich schönen Tochter [339] in das Lager kommt, um sie mit dem größten aller Helden, Achilles, zu vermählen. Das Heer, grausam ungeduldig, und barbarisch fromm, verlangt das Opfer. Held und Mutter und selbst der Heerführer streiten dagegen; die Unschuld ergiebt sich heroisch in ihr Schicksal, um an der Spitze der Griechischen Glorie zu stehen: sie nimmt rührend Abschied von dem Geliebten, der über alles wüthet und sie retten will; von der zärtlichen trostlosen Mutter. Schon kniet sie vor dem Altare, von dem geschliffenen Dolch den Todesstoß ins Herz zu empfangen: als die Göttin dem Priester das Zeichen giebt, daß sie versöhnt sey, erwachende Weste plötzlich die Luft in Bewegung setzen, durch die Wipfel rauschen, und Achilles seine Braut vom Tode wegführt.«

»Das Drama gehört unter die schönen des Euripides, und er hat die vier Charakter als großer Meister aufgestellt, besonders aber den Charakter der Iphigenia. Die Franzosen haben der Erhabenheit des letztern großen Abbruch gethan. Ueberhaupt durchwässern sie ihre Werke mit moderner Liebe, und stehen an Natur und Darstellung weit unter dem Griechen.«

»Man muß Glucks Musik aufführen hören, wenn man nicht selbst etwas von seiner Phantasie und seinem dichterischen Gefühl hat, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; es kommt hier immer darauf an, daß der Nagel auf den Kopf getroffen wird, wenn es auch an und für sich hart lautet, und nicht auf hübsche Phrasen und Artigkeit darum her.«

»So hält jedermann von Sinn, Gefühl und Verstand, der die Ouvertüre vor dem Schauspiel gehört hat, sie für die Königin aller Ouvertüren; und sie ist in der That ein gewaltiger Polyphem, der sich bäumt und schüttelt, und voll Zorn zum Kampfe rüstet. Der reizende neue [340] Eingang, der die Gefühle Agamemnons ankündigt, alsdann die Einheit des Ausdrucks vom wilden Charakter des tobenden Volks, und die rührenden zärtlichen und tragischen Accente dazwischen, erheben sie über jede andre; alles in ihr bedeutet. Der Satz, wo sich die Instrumente in den Einklang stürzen und darin und in Oktaven furchtbar aufsteigen, stellt gerade das sich empörende Volk vortreflich dar, das sich wie ein wildes Roß bäumt und nicht mehr leiten und bändigen läßt. Die Griechen würden diese Ouvertüre in ihrer Art vielleicht noch über jenes berühmte Gemählde setzen, welches das Volk von Athen vorstellte.«

»Komisch fühlte die Wahrheit dieses Ausdrucks so gar ein Kunstrichter, der, bloß die Noten vor Augen, nicht die geringste Ahndung von dem Gegenstand in der Natur dazu hatte, als er das Urtheil niederschrieb, welches ich unter andern zu Ihrem Zeitvertreib mitbringe: ›Die abgestoßnen acht Achttheile gegen die folgende sforzando gehaltne Dreyviertheilnote, plumpen so ungeschickt auf einander, daß man glauben muß, der Herr Ritter habe uns ein Beyspiel eines musikalischen Satzes geben wollen, durch den man jedermann stutzig machen könne. Auch haben wir die Probe damit gemacht, und befunden, daß er seine vollkommne Wirkung thut und richtig jedermann zum Erstaunen bringt. Diese Wirkung äußert sich gewöhnlich zuerst durch die mit einem verwunderungsvollen Ton ausgesprochne Frage: Was? ist das möglich?‹«

»Man braucht nur hinzuzufügen: können Griechen so barbarisch seyn, und eine reizende junge Königstochter abschlachten wollen? sich empören gegen ihren Heerführer, den Vater, und gegen ihren größten Helden, den Verlobten derselben, weil ihnen zur Abfahrt der Wind ausbleibt?«

[341] »Diese Symphonie kündigt mit erstaunlicher tragischer Majestät erst in der Wehmuth der bittersten Dissonanzen, und dann in der größten Fülle und Stärke von breiten Tonmassen, durch Geigen und Bässe, Hoboen, Flöten, Hörner, Trompeten und Pauken, das Ganze an. Sie ist viel ausgebildeter und leidenschaftlicher, als die vor der Alceste. Der Anfang ist traurig in C moll, neunzehn Takte lang. Darauf kommt C dur in wilder Stärke und der größten Masse, dreyßig Takte nach einander; dann G dur, G moll, A moll mit den kläglichen Accenten der Hoboe dazwischen, bis durch die Tiefen der Harmonie von neuem mächtig C dur herrscht; und so fort G dur, C moll wie anfangs, und endlich noch einmal C dur, und durch G dur 44 der Uebergang zu den Worten Agamemnons: Diane impitoyable, gerade wie der Anfang der Ouverture; welches die große Masse vortreflich zusammenhält und rundet. Das Arioso geht dann gleich in das Recitativ.«

»In der ersten Scene tritt Agamemnon allein auf, und bereut, daß er seine Tochter, unter dem Vorwand, noch vor der Abfahrt der Flotte ihre Vermählung zu feyern, hat kommen lassen, um der Diana geopfert zu werden. Er will nun einen Getreuen absenden, welcher der Mutter und ihr noch vor der Ankunft den Befehl überbringen soll, wieder zurückzukehren, weil Achill in eine Andre verliebt sey; und bittet den Apollo, sein Vorhaben zu begünstigen.«

»Die Musik hat durchaus wahren Ausdruck, und edlen tragischen Ton.«

»Die zweyte Scene aber ist das Meisterstück des ersten Akts. Ein [342] Chor der Griechen kommt mit dem Oberpriester Kalchas, und zwingt diesen, das Orakel zu offenbaren, welches er bis jetzt nur dem Agamemnon und seinem Bruder bekannt gemacht hatte.«

»C'est trop faire de résistance; il faut des Dieux irrités nous révéler les volontés, o Calchas, rompez le silence.«

»Melodie, Harmonie und Rhythmus drücken in der höchsten Vortreflichkeit den Ungestüm junger rascher Helden aus: es ist eine reizende Behendigkeit darin; die Worte werden meisterhaft wiederhohlt und in die Stimmen vertheilt.«

»Kalchas muß das Orakel entdecken; doch verschweigt er noch den Namen des Opfers.«

»D'une sainte terreur tous mes sens sont saisis,« u.s.w.

»Die Musik geht ins hohe Tragische über, und hat an den gehörigen Stellen Schwung des Erhabnen. Die Begleitung der Geigen und Hörner verstärkt den Ausdruck gewaltig. Der Schluß, wo Agamemnon in die Worte des Kalchas einfällt: O divinité redoutable, adoucis tes rigueurs! ist erschütternd.«

»Der Chor darauf: Nommez nous la victime, et prompts à l'immoler sur les autels des dieux tout son sang va couler, wird feuriger.«

»O Diane sois nous propice, conduis nous au bord Phrigien, que notre fureur s'assouvisse dans le sang du dernier Troyen; beschließt voll Inbrunst und Eifer. Die verkleinerte Septime macht den Accent der Leidenschaft.«

»Kalchas verspricht ihnen, daß noch heute das Opfer geschlachtet werden soll.«

»In der dritten Scene ist die Arie des Agamemnon:Peuvent-ils ordonner, qu'un père présente à l'autel u.s.w., ein heftiger [343] Ausguß des Vaterherzens, ganz gediegen und rein in Melodie und Harmonie. Die Worte: et si tendre – à cet, ordre inhumain – sind meisterhaft ausgedrückt; und j'entends retentir dans mon sein le cri plaintif de la nature, ist wahre leidenschaftliche Beredtsamkeit: die Hoboe und der Fagott machen mit ihren abwechselnd einfallenden Accenten und Tönen den Ausdruck sehr sinnlich und rührend.«

»In der vierten Scene läuft das Volk schon, und jubelt, aus der Natur im Fluge dargestellt, über die Ankunft der Mutter und Tochter, zu Agamemnons Entsetzen. Kalchas bringt dabey eine gute Moral an.«

»Der Chor darauf: Que d'attraits! que de majesté! que de grace! que de beauté! macht mit dem vorigen einen entzückenden Kontrast, und das rührendste und reizendste Schauspiel. Klytämnestra und Iphigenia erscheinen, und das Ballet beginnt unter dem Gesange. Die Mutter fühlt sich dabey höchst glücklich, läßt ihre Tochter allein unter den Freudenbezeugungen, und eilt zum Gemahl.«

»Die Musik zu den Balleten ist für die Komponisten der Französischen Opern sehr beschwerlich; sie macht eine eigne Gattung aus, zerstreut die Aufmerksamkeit auf das Ganze, und muß die Formen streng beobachten. Glucks hoher tragischer Genius hat sich ziemlich glücklich durchgeholfen, und es finden sich schöne Melodien voll Rhythmus – unter seinen Tänzen, als z.B. die meisterhaft ausgearbeitete Passecaille im Ballet des zweyten Akts. Er nahm manches dazu aus seinen ältern Werken. Sie sind heitrer Himmel zwischen den Wetterwolken.«

»Bey einem Ruhepunkt des Ballets vernimmt man zuerst die Stimme der Iphigenia in Accenten voll Grazie zu der natürlichen Empfindung: [344] Les voeux, dont ce peuple m'honore, peuvent-ils flatter mes souhaits! Achille à mes yeux inquiets ne s'offre point encore.«

»Die Mutter kommt am Ende desselben wieder, und bringt die verhaßte Nachricht, daß Achill in eine Andre verliebt sey, ermuntert Iphigenien zur Standhaftigkeit, und sucht sie in einer Arie voll Heftigkeit zum Zorn anzufeuern.«

»Klytämnestra läßt die Tochter allein, und diese hat darüber eine Scene voll schöner Weiblichkeit.«

»Achilles trift sie darauf von ungefähr an, und verwundert sich über ihre Ankunft. Sie empfängt ihn kalt und bitter. Er erstaunt. Die Nachricht der Mutter klärt sich bald als falsch auf. Iphigenia entschuldigt sich voll Zärtlichkeit über seine leidenschaftlichen Vorwürfe; und der seelenvolle Accent ihres schönen Charakters herrscht in ihren Melodien. Sie versöhnen sich dann in einem Duett, wo ihre Liebe in hellern Flammen auflodert; welches den ersten Akt schließt.«


Zweyter Akt.

»Iphigenia drückt in einer schönen Arie ihre Furcht aus, daß Achill wegen der erdichteten Nachricht sich mit ihrem Vater entzweyen möchte. Die Mutter kommt dann, und verkündigt, daß die Vermählung sogleich gefeyert werden soll. Achill erscheint mit dem Patroklos; und alles ist voll Freude und Jubel darüber in Chören und Tänzen.«

»Bey diesem allen ist nichts Außerordentliches in der Poesie, und folglich auch nicht in der Musik. Es dient zur Ausfüllung des Ganzen. So wie der Mensch nur Ein Herz hat, und Eine Seele, Ein Paar Augen und Einen Mund, u.s.w.: so hat Gluck auch seine[345] Hauptkraft nur in das Wesentliche gelegt, und es in der höchsten Vortreflichkeit darzustellen gesucht.«

»Die Katastrophe beginnt in der vierten Scene, wo Arkas, Agamemnons Getreuer, Iphigenien, dem Achill und der Mutter entdeckt, daß die Tochter des Heerführers Dianen geopfert werden soll, und daß die Vermählung nur ein Vorwand war und ist.«

»Erstaunen und Entsetzen darüber. Die Truppen des Achilles wollen eher sterben, als es geschehen lassen. Die Mutter fleht den Helden um Rettung an. Dieser geräth in Wuth. Iphigenia sucht beyde zu besänftigen. Dieß giebt ein Terzett voll Leidenschaft, welche sie gegen das Ende, wo Worte nichts mehr sagen und helfen, durch bloßen angehaltnen Ton am stärksten von sich strömen.«

»Achill verläßt beyde mit seinen Worten im Terzett: dévoue à ma rage un inhumain sans foi, o ciel! und sagt in der Scene darauf: Suis moi, Patrocle. Dieser erwiedert: Et que voulez vous faire? voulez vous, n'écoutant qu'un aveugle transport, aussi cruel que les dieux et son père, voulez vous donner la mort? Diese Frage bestürzt ihn; er ruft aus: Qui? moi? und fährt nach kurzer Ueberlegung fort mit den Worten der Arie: Cours, et dis lui, qu'elle n'a rien à craindre, qu'outragé, furieux, mais vaincu par l'amour, quelque soit mon courroux, je saurai me contraindre, et respecter celui qui lui donna le jour; in entzückender Melodie und Harmonie, welche den Charakter des jungen Helden in seiner ganzen Liebenswürdigkeit darstellt. Sie gehört, nebst der Arie, worin Iphigenia von ihm Abschied nimmt, unter das Schönste der Oper. Schade, daß sie so kurze Dauer hat, und nur ein vorüber fliegender Reiz ist. Aber sie sollte ihrer Natur nach nichts Anders seyn.«

[346] »Achilles stößt auf den Agamemnon; sie gerathen beyde gleich heftig an einander, und werden noch heftiger in einem Duett, alles nach der Natur ausgedrückt. Agamemnon will sich nicht drohen und nichts vorschreiben lassen; und Achilles sagt ihm beym Weggehn, daß er ihm erst das Herz durchbohren müsse, bevor er rasend seine Geliebte opfern wolle.«

»Die siebente Scene darauf ist das wichtigste Stück des zweyten Akts; Vater und Heerführer wird darin am rührendsten dargestellt. Im Zorn über den Achill will er die Tochter aufopfern, und ruft Soldaten; besinnt sich aber bald anders: o Dieux, que vais-je faire! c'est ta fille, cruel, que tu leur vas livrer! u.s.w. Doch regen sich, bey der stürmischen Abwechselung von Gefühlen, Stolz und Zorn wieder: faut-il sacrifier l'interêt de la Grèce, faut-il d'Achille endurer le mépris? Der Kampf wird stärker; aber endlich siegt die Natur. Er stellt sich die grausame Handlung recht lebhaft vor, fühlt schon die Gewissensbisse darüber in ihrer ganzen Schrecklichkeit, und schickt seinen Getreuen ab, Mutter und Tochter sogleich aus dem Lager heimlich fortzubringen. Recitativ und Arie machen ein vollendetes Meisterstück.«


»O toi l'objet le plus aimable

que tant de vertus font chérir,

pardonne à ton père coupable

en faveur de son repentir! –


ist Kern und Herz der Oper; und der Rhythmus äußerst sinnlich nach der Situazion.«


Dritter Akt.

»Die Griechen halten den Arkas an mit der Iphigenia:


[347]

Non, non, nous ne souffrirons pas,

qu'on enlève aux Dieux leur victime;

ils ont ordonné son trépas,

notre fureur est légitime.


Nun folgen die schönen Scenen der jungen Heldin.«

»Sie bittet den Getreuen des Vaters, nicht länger vergebens sie zu vertheidigen.«

»Achilles kommt dazu, und will sie durch das Geschrey und die Wuth des Volks führen. Sie weigert sich, und sagt: ihr Schicksal sey entschieden; die zärtlichste Liebe habe zwar ihr Leben ihm gewidmet gehabt, und es sey ihr deßwegen theuer. Aber, Il faut de mon destin subir la loi suprème, ist dann die erste Arie voll heroischen tragischen Seelenklanges, gleichsam Einleitung zu der nach einem kurzen Recitative darauf folgenden, worin sie mit höchst rührender wehmüthiger Zärtlichkeit von ihm Abschied nimmt.«

»Es ist Musik aus den lebendigsten Quellen der Natur geschöpft in ihrer reinsten Göttlichkeit, ewig schön und entzückend; die Töne sind aus dem Innersten der Situazion hervorgezaubert, und die Worte glänzen darin wie Perlen; Adel des Charakters und Gefühl der bittern Trennung wunderbar mit einander vereinigt.«

»Von der lyrischen Erhabenheit der Iphigenia des Griechen wird nur Folgendes in den Recitativen beybehalten: Partez, la gloire vous appelle; elle offre à vos regards la carrière immortelle, où vous devez courir: ma mort seule peut vous l'ouvrir.«

»Avez vous cru, qu' Iphigénie pût oublier sa gloire et son devoir? ils lui sont plus chers, que la vie.«

»Gluck hat dieß ganz trocken und flüchtig behandelt, weil es nicht wohl zur höhern Kultur der Französischen Iphigenia paßte, bey der, [348] so wie bey der Mutter und dem jungen Helden, man zu deutlich merkt, daß sie nicht an die Gottheit der Diana glauben.«

»Das unschuldige, so tief eindringende: N' oubliez pas, qu' Iphigénie, digne d'un moins funeste sort, pour seul chérissoit la vie, in der Arie, treibt den Achill zur Wuth. Er verläßt sie mit den Worten: Calcas d'un trait mortel percé sera ma première victime; l'autel preparé pour le crime par ma main sera renversé. Et si dans ce désordre extrème votre père offert à mes coups frappé tombe et périt lui même, de sa mort n'accusez que vous.«

»Die Melodie dazu hat Flug und Feuer des Blitzes; und die Harmonie von Trompeten und Pauken, Hörnern, Flöten, Hoboen und Geigen die fürchterlichste Grausamkeit und Stärke der Schlacht zu Mord und Verderben.«

»Diese Arie entzückte und riß alle Offiziere undChevaliers hin, und entschied Glucks Sieg.«

»Das Schauspiel wird dann immer ergreifender. Man bringt Iphigenien, unter den Chören von Abtheilungen der Armee, zum Altar am Meere; und als sie geopfert werden soll, erscheint Achill mit seiner Schaar. Diana und ihr Priester besinnen sich eines Bessern, und alles geht glücklich aus. Nach einem erfreulichen mit Chören abgewechselten Ballet, krönt das Ganze ein wilder Kriegsgesang in der heroischen Stärke von lauter Oktaven; und Hörner und Trompeten schmettern in Rache schnaubenden Anapästen den Beschluß.«

»Gehemmte Gewalt, und dadurch leidende Unschuld, mit zärtlichen Klagen und wilden Ausbrüchen heroischen Feuers sind das Wesentliche dieser Oper. Das Treffendste, was Musik für solchen Ausdruck[349] vermag, hat Gluck in verschiednen Meisterstücken geleistet. Das minder Wesentliche und Gewöhnliche ist zuweilen sehr trocken und nachlässig; aber man muß wenig Opern kennen, wenn man ihm allein dieß so hoch anrechnen will. Ueberhaupt brechen die Italiänischen Formen hier und da wieder hervor.«

Hildegard hatte das Ganze noch nie so sinnlich vor sich gehabt, und gab Lockmannen ihr Wohlgefallen mit Blicken zu erkennen. Der Mutter selbst war es die angenehmste Unterhaltung; sie hörte aufmerksam zu, und ward tief gerührt von beyder Gesange. Nur meinte sie, daß die Rolle der Klytämnestra so wohl vom Dichter als vom Tonkünstler vernachlässigt sey; und jene hielten ihr Urtheil für gegründet.

Lockmann fuhr alsdann fort und sagte:

»Worin sich Gluck noch von Andern unterscheidet, ist die innere Form seines Takts, die einen ganz eignen Reiz hat.«

»Diese zarte, aber höchst wichtige Materie hat man bey uns noch gar wenig untersucht. Sie ist auch so verwickelt, daß ich befürchte, langweilig, pedantisch zu werden, und Ihnen beschwerlich zu fallen, wenn ich nur das Wesentlichste auseinander setze.«

Hildegard faßte ihn bey der Hand mit sanftem Druck, der ihm süß durch alle Nerven fuhr, und bat inständigst, ihr dieß Vergnügen nicht zu versagen.

»Sie werden die Geduld verlieren,« erwiederte er, und hohlte Bleystift und Papier aus seiner Brieftasche. »Um die Sache Ihrem Gedächtnisse zu erleichtern, will ich Ihnen die fremden Wörter dabey aufschreiben.«

»Poesie, auf den ersten Anblick, ist die Kunst, mit Worten in abgemeßnen Sylben ein Ganzes für die Einbildungskraft darzustellen. [350] Und so ist Musik die Kunst, mit abgemeßnen Tönen, durch Kehlen und Instrumente dasselbe zu bewirken.«

»Maaß haben also beyde gemeinschaftlich: durch die Verschiedenheit desselben entstehen bey jener verschiedne Sylben, Füße und Versarten; bey dieser Töne, die an Höhe, Tiefe und Dauer verschieden sind.«

»Takt ist ein bestimmtes fortgehendes Maaß der Bewegung, die vom feyerlichen Schritt hoher Priester und Könige, bis zur Eile des Blitzes, alle Grade haben kann.«

»Rhythmus ist Verhältniß derselben nach der Natur der Gegenstände, Empfindungen und Gefühle durch die Theile des Ganzen; und gleichsam Flügelschlag und Schweben. Obschon der Mensch keine körperliche Flügel hat, so scheint doch seine Seele sie zu haben, um von einer Idee, einer Empfindung, einem Gedanken auf andre zu kommen: ein schönes sinnliches Bild, das Platon eingeführt hat. Nach seiner Lust frey fortfliegen; angreifen, jagen und fangen; fliehen und sich retten: dieß alles hat seinen besondern Rhythmus in Tönen, in Prosa und in Versen. Musik, und schon Poesie für sich, verlangt kürzere Absätze, als Prose, weil man darin in stärkern Tönen spricht, und öfter Athem schöpfen muß.«

»Zwey, drey, oder vier gleiche Theile machen wieder den Takt aus; alle Arten desselben sind aus zwey, drey, oder vier zusammengesetzt.«

»Die Musik unterscheidet sich von der gewöhnlichen Aussprache durch bestimmt abgemessene Töne; und darin liegt bereits die Nothwendigkeit des Takts.«

»Mit dessen Theilen verhält es sich, wie mit den Sylben der Füße bey Versen. In der Poesie der Griechen müssen wir dessen Mannigfaltigkeit [351] und Vollkommenheit aufspüren, da alle andern Sprachen, besonders die neuern, selbst die Italiänische, von der Vollkommenheit der ihrigen so weit abstehen.«

»Ihr schnellster und kürzester Fuß besteht aus zwey kurzen Sylben.«


∪ ∪ Pyrrichios.


»Ein Waffentanz hatte den Namen davon. Dieser Takt fehlt uns; er müßte der Zweysechzehnteltakt seyn. In Balleten findet man jedoch zuweilen dessen Charakter, in den fortlaufenden vier Achteln des Zweyvierteltakts.«

»Nach diesem kommt der Fuß von drey kurzen Sylben:


∪ ∪ Tribrachys


»Der Dreysechzehnteltakt. Händel setzte noch Tänze darin. Bey uns ist er abgekommen; doch hat unser Dreyachteltakt bey raschen Walzern denselben Charakter.«

»Die Griechen nahmen an: eine lange Sylbe ist immer gerade zwey kurzen gleich, und zwey kurze Sylben sind gleich einer langen. Folglich waren demTribrachys an Dauer der Zeit gleich:


∪ – der Jambos;

– ∪ der Trochaios


»Die Griechischen Dichter und unsre Tonkünstler vermischen sie mit dem vorigen; die letztern nur nicht nach so bestimmten, dem Ohr abgelauschten Regeln. Jambos und Trochaios sind in ihrem Charakter einander entgegen.«

»Da man bey diesem geschwinden Takt nur Eine Zeit fühlt: so drückt auch Eine Note schon alle drey Kürzen aus; welches bey Versen auch der allerlängsten Sylbe nicht gestattet wurde. Hierin weicht die Musik von der Poesie völlig ab; ein ganzer Schlag kann sogar zwey und dreyßig Kürzen ausdrücken.«

[352] »Dann folgt


– – der Spondeios


»Unser Zweyvierteltakt.«

»Bey diesem entsteht schon mehr Mannigfaltigkeit von Sylben und Füßen. Ihm gleich an Dauer der Zeit sind:


∪ ∪ ∪ ∪ der Prokeleusmatikos.

– ∪ ∪ der Daktylos.

∪ ∪ – der Anapaistos.

∪ – ∪ der Amphibrachys


»Die Tonkünstler verwechseln diese wieder nach Belieben. Den Amphibrachys nahmen die Griechen in ihre anapaistische Versart nicht auf; und äußerst selten den Prokeleusmatikos.«


»Darauf kommen fünf kurze Sylben.«

∪ ∪ ∪ ∪ ∪


»Dieser Fuß besteht aus dem Pyrrichios undTribrachys, wird von den Griechen nicht gebraucht, und hat keinen besondern Namen. Ihm gleich sind:


  • ∪ – – der Bakchios;
  • – ∪ – der Amphimakros, auch Kretikos genannt;
  • – – ∪ der Antibakchios;
  • – ∪ ∪ ∪ der erste Paion;
  • ∪ – ∪ ∪ der zweyte Paion;
  • ∪ ∪ – ∪ der dritte Paion;
  • ∪ ∪ ∪ – der vierte Paion.«

»Diese Füße geben für unsre Musik keinen besondern Takt. Bey den Griechen war die paionische Versart daraus zusammengesetzt. Unser verwöhntes Ohr kann den Fünfschlag nicht fassen.«

»Dann folgt unser Dreyvierteltakt:


  • [353] – – – der Molossos. Diesem gleich sind:
  • – – ∪ ∪ der Jonikos, welcher mit zwey langen
  • ∪ ∪ – – der Jonikos, welcher mit zwey kurzen Sylben anfängt;
  • – ∪ ∪ – der Choriambos;
  • ∪ – – ∪ der Antispastikos;
  • ∪ – ∪ – der Diiambos;
  • – ∪ – ∪ der Ditrochaios.«

»Aus diesen Füßen setzten die Griechen ihre antispastischen und Jonischen Versarten zusammen. Unsre Tonkünstler brauchen sie nach Willkühr in den Takten, die aus drey Theilen bestehen.«

»Alsdann kamen Füße von sieben Kürzen:


∪ – – – der erste Epitritos;

– ∪ – – der zweyte Epitritos;

– – ∪ – der dritte Epitritos;

– – – ∪ der vierte Epitritos;


die zum Theil in der antispastischen Versart gebraucht wurden.«

»Und endlich schließt:


– – – – der Dispondeios, unser Vierviertelakt; in welchem alle Füße vorkommen können.«


»Wenn man alle diese Füße wieder unter sich zusammensetzt, welche erstaunliche Mannigfaltigkeit gegen unsre neuern Reimereyen!«

»Hätten wir nur noch die Melodien zu einigen Tänzen der Griechen! besonders der Jonier und Jonierinnen, die in jeder Rücksicht wegen der Gelenkigkeit ihrer Körper berühmt waren.«

»Wer den Charakter dieser Füße nicht in den Schauspielen des Sophokles, Euripides und Aristophanes, oder den Oden des Pindar studiren kann, muß ihn mit seinem eignen Gefühl für sich [354] zu fassen suchen. Daß der Jamb ∪ – eine andre Art von Bewegung ausdrückt, als der Trochaios – ∪, wird auch einem Ungebildeten auffallen; und so der Anapaistos ∪ ∪ – gegen den Daktylos – ∪ ∪; und so der vierte Paion ∪ ∪ ∪ – gegen den ersten – ∪ ∪ ∪; so der Choriambos – ∪ ∪ – gegen den Antispastikos ∪ – – ∪; und so der Jonier ∪ ∪ – – gegen die Jonierin – – ∪ ∪

»Wie ein Praxiteles die Formen, ein Apelles die Formen und Farben in der Natur nachbildet und zur höchsten Schönheit bringt: so lauert einGluck auf Töne und Bewegungen, auf deren Langsamkeit, Geschwindigkeit, Schwierigkeit, und Hindernisse, Verwickelungen, Verflechtungen, leichte Schwalbenwendungen, hohe Adlerflüge, und die Stöße des Falken, der seine Beute fängt. Er hat von Kindheit an seine Lust am Spiel und den Balgereyen der Knaben, an dem zarten Gange und dem Freudentanz der Jungfrau, an dem leichten Laufe des Jünglings, und dem kühnen unaufhaltbaren Tritt der Männer zum Kampf und zur Schlacht. Sein Entzücken ist das Säuseln der Weste in heiligen Haynen, der Orkan, der auf Wasserkolossen im Meere reitet, und die gebrochne Woge, die wieder zur Ruhe wallt.«

»Aus seiner Phantasie und seinem Herzen schöpft er alsdann, wie ein Gott, das Spiel der zwey und dreyßig Winde aller Leidenschaften, und stellt, gleich einem Hannibal und Cäsar, die Faustinen und Gabrieli, die Farinelli und Pacchiarotti, die Lolli, Kramer, Lebrün undPunto in Schlachtordnung: ein Zevs, allgegenwärtig bey dem furchtbaren Gewitter; und der Donner rollt erschütternd mit vollem warmen Sommerregen über die schmachtenden Saaten seiner Welt.«

[355] »Unsre heutige Musik hat einen unendlich größern Reichthum an Sylben zu ihren Takten, als die Griechische Sprache; und diese selbst wäre für ihren lustigen Genius nicht gelenk genug.«

»In unserm Viervierteltakt zum Beyspiel sind doppelte Längen: Viertel, Achtel; und doppelte Kürzen: Sechzehntheile, Zwey- und Dreyßigtheile. Die letztern sind bey mäßiger Bewegung schon wahrer Flug gegen den Atalantalauf des Griechischen Prokeleusmatikos. Auch keuchen, stöhnen und hinken die terrestrischen Nordischen Sprachen dem luftigen Wesen oft erbärmlich nach. Wie muß sich Achilles zum Beyspiel plagen, die Worte, selbst der Französischen, die im gewöhnlichen Leben so geschmeidig ist, Calcas d'un trait mortel percé, mit dem flammenden Strahl der Gluckischen Melodie zu gatten∪– ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ –

»Man sollte glauben, die Geschwindigkeit wäre übertrieben; aber sie hat wirklich Grund in den Verhältnissen unsers Fünf- oder Sechsoktavensystems. Das tiefste C auf unsern Kontrebässen verhält sich schon gegen das dreygestrichne der Geigen gerade wie Eins zu Zwey und dreyßig. Wenn also die Bässe ein Paar Polyphemsschritte thun, laufen oder stiegen vielmehr die Geigen, Flöten und Hoboen, und auch die Stimmen der Marchesi und Todi, ganz natürlich deren zwey und dreyßig.«

»Wir können, besonders in der Instrumentalmusik, aus ganzen und halben Schlägen, Vierteln, Achteln, Sechzehntheilen und Zwey- und Dreyßigtheilen eine solche Menge verschiedner Füße oder Takte zusammensetzen, daß die zwey Dutzend Griechischen weit zurückbleiben müssen. Man sollte sie wohl einmal zählen und ordnen, und die verschiednen schönsten Formen nach vortreflichen Mustern in Klassen bringen. Bis jetzt sind sie bloß dem Instinkt überlassen[356] worden. Die Kunst der Musik erhebt sich schon dadurch allein über den Ausdruck der Sprachen in allem, was Bewegung, Leben und Leidenschaft betrift; und kann in der Folge zu einer weit höhern Vollkommenheit gelangen.«

»O, wie wünscht' ich,« fiel Hildegard ein, »daß der gute alte Reinhold hierbey zugegen wäre!«

»Wollen wir tiefer philosophiren,« fuhr Lockmann ferner fort, »so giebt uns die Musik in ihrer Mannigfaltigkeit gleichsam die allerfeinsten Elemente der Zeit. Die Sekunde, womit wir die Minute, und die Minute, womit wir die Stunde messen, passen so ziemlich für die gewöhnlichen Pulsschläge unsers Lebens. Die Vocale der Töne und Sprachen aber können wie Blitze nach der Schnelligkeit unsrer Gedanken, Gefühle und Handlungen entstehen und verschwinden.«

»Die Füße insgesamt sind die mannigfaltigen Formen der Bewegung in ihrer Reinheit von der Materie abgesondert. Die Mittel, wodurch sie sich dem Gehör äußern, sind Töne und Worte; und durch Töne und Worte stellt die Kunst die Wirklichkeit in der Natur selbst dar.«

»Wir wollen also zum Beyspiel nur die Wirklichkeit aufsuchen, die der allgemeinste Fuß in allen Sprachen, der Jambos, darstellt∪ –; und dieß am Menschen. Er bewegt sich am öftesten mit Händen, Armen, Füßen und Beinen. Wir finden gleich die Form, wenn er mit der Rechten aushohlt und zuschlägt. Die kurze Sylbe drückt die Bewegung aus, und die lange die auffallende Kraft. An den Beinen ist sie ein Sprung, ein rasch fortgesetzter Doppelschritt. Wollen wir noch andre Theile des Körpers nehmen? Ein zum Kusse gehaschter Mädchenkopf. Nun die Worte, welche diese Handlung ausdrücken: ich schlug, ich sprang, ich schritt, ich küßte sie. Die Form kommt ganz mit der Bewegung überein.«

[357] »Dem Jamb folgt der Anapäst ∪ ∪ –, und dervierte Paion ∪ ∪ ∪ –. Die Kraft wird mächtiger bewegt: von dem Gebirg' in das Thal herab zu der vertilgenden Schlacht.«

»Gluck geht mit seiner lebendigen Kunst in der Arie des Achilles noch viel weiter, bey


∪ – ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ –

Calcas d'un trait mortel percé;


man hört und sieht den Wurfpfeil fliegen, und mit fürchterlicher Gewalt durchbohren.«

»Die diesen entgegen gesetzten Füße haben nichts Angreifendes, und sind furchtsam, schüchtern, zärtlich, weichlich, freudig, oder auch sicher und majestätisch; Kraft im Genuß ihrer selbst und des Lebens; und so weiter.«

»Die Sylben und Wörter der Sprachen sind wahrscheinlich erst nach bloßen Tönen entstanden und erfunden worden; und so scheint auch der Vers seinen Ursprung der Melodie zu verdanken zu haben. Für das epische Gedicht hat ihn hernach schon die verstärkte Aussprache eingeführt. Eine gewisse Harmonie des Zeitmaaßes erleichterte nicht allein die Anstrengung der Stimme, sondern machte auch den Vortrag faßlicher und gefälliger.«

»Der Vers richtet sich nach der Verschiedenheit der Sprachen, und nach dem Inhalt und Umfang des Ganzen.«

»Die Stammsylbe, das Wesentliche des Worts, erfordert zwar an und für sich längere Dauer, als die Nebensylben; doch kann die Natur des Dinges, die Beschaffenheit und das Verhältniß desselben zu andern, in der Verbindung sie äußerst kurz machen.«

»Der Reim in den neuern Sprachen ist meistens nur ein sinnliches Zeichen des vollendeten Zeitmaaßes.«

»Eben weil der Vers ein größeres Zeitmaaß als ein Fuß seyn soll, muß er aus mehreren Füßen bestehen; und so eine Strophe aus mehreren Versen.«

[358] »Die Theile der längsten Taktarten, und die Sylben aller Füße, lassen sich, wie jede Zahl, auf gleich oder ungleich zurück bringen; jedoch nicht auf ein Maaß von zwey oder drey. Es giebt so erhabene Gefühle und Gegenstände, für die ein solches zu kleinlich wäre, wenn man es merkte. Sogar die längsten Taktarten sollten bey hohen lyrischen Scenen nur hörbar seyn, wie Geripp in lebendiger Schönheit erscheint.«

»Obgleich die Worte der Opern im Italiänischen und Französischen fast durchaus Jamben sind, so kommen doch alle Füße der Griechischen Poesie darin vor: aber nur wild und von ungefähr, nicht durch die Kunst für sichre Wirkung gebildet; welche höherer Genuß und Verstand mit der Zeit doch wieder einführen wird 45

»Der Jambische Vers der Griechischen Schauspiele bestand aus sechs Füßen. Im zweyten, vierten und sechsten Fuße mußte der Schwung des Jambos immer rein herrschen; nur im vierten durfte derTribrachys bey der Majestät der Tragödie sich noch blicken, lassen, äußerst selten im zweyten und letzten. Die Komödienschreiber hatten größere Freiheit. Im ersten, dritten und fünften Fuße nahmen zwar zur Abwechselung noch der Spondeios, Anapaistos und Daktylos ihre Stelle ein; aber nie erschien der Trochaios. So zart war das Ohr der Athenienser!«

»Die Italiäner sind schon zufrieden, wenn in ihren fünffüßigen Jambischen Versen nur zwey erträgliche Jamben vorkommen, und sie nehmen darin alle andern Füße auf Sie haben weiter keine [359] Regel, als den Wohlklang. Eben so die Franzosen. Daraus entsteht bey ihren Versen, Arien und Stanzen eine unendliche Mannigfaltigkeit; die entgegen gesetztesten Füße vereinigen sich da zusammen. Zuweilen findet sich nach der gewöhnlichen Aussprache, selbst bey den besten Dichtern, nicht Ein Jamb. Man nehme den Ariost in einer Menge Verse.«


»Si perfetto destrier, donna si degna,

A un ladron non mi par che si convegna;


ruft Rinald dem Sacripant in vortreflichem Rhythmus zu. Es sollen Jamben seyn, sind aber


∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪

∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪


Anapaisten, Daktylen, undTrochaien

»Die Deutschen Dichter gestatten in ihren Jambischen Versen keinem andern Fuße den Zutritt, und foltern in längern Gedichten Natur und Sprache, so daß das Ohr bey ihren besten Werken sich nach einer guten Prose und den göttlichen Knittelversen desHans Sachs zurücksehnt.«

»Bey Opern, die in ihren Jamben geschrieben sind, muß der Tonkünstler für die Menschenstimme, das Wesentliche, seinem unendlichen Reichthum entsagen, und sich mit einer ekelhaften Armuth gatten. Wahrscheinlich flickten die ältern deßwegen in der Verzweiflung Italiänische Arien ein, da die Dichter hartnäckig taub waren und von ihrer Gewohnheit nicht lassen wollten.«

»Es ist eine Lust anzuhören, wie Gluck die Jamben der Französischen Dichter in alle möglichen Füße der Griechischen Poesie verwandelt; nicht an einzelnen Stellen, sondern überall. Wir wollen bey dieser Oper gleich von vorn anfangen.«


[360]

»Diane impitoyable, envain vous l'ordonez

Cet affreux sacrifice!

Envain vous promettez

De nous être propice;

De nous rendre les vents, par votre ordre enchainés.

Non, la Grèce outragée

Des Troyens à ce prix ne sera pas vengée!

Je renonce aux honneurs, qui m'étoient destinés;

Et dût-il m'en couter la vie!

On n'immolera point ma fille Iphigénie.«


»Die mehrsten Jamben sind in der Musik in Anapaisten verwandelt:


∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪

cet affreux sacrifice,

∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪

de nous être propice,

∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪

de nous rendre les vents par votre ordre enchainés.

∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪ – ∪

Des Troyens à ce prix ne sera pas vengée.

∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪

Je renonce aux honneurs, qui m'etoient destinés.

∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ – ∪

Et dût il m'en couter la vie,

∪ ∪ – ∪ ∪ –

On n'immolera point.«


»Beym Sophokles selbst findet man nirgends in so wenig Zeilen der anapaistischen Versart deren so viele.«

»Im Chor der Griechischen Soldaten werden die schnellsten andern Füße damit vermischt.«


∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ –

Il faut des Dieux irrités

∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –

Nous révéler les volontés.


»Dreymal nach einander der vierte Paion. Die Generale fallen eben so in die Stimmen des Heers ein:


[361] ∪ ∪ – ∪ ∪ –

Pour calmer leur courroux

∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ –

Quel sacrifice exigent ils de nous?«


»Man muß weder Ohr noch Herz haben, wenn man die furchtbare Gewalt des Rhythmus hier nicht fühlen will, und sich einbildet, er habe bey dem Reichthum der neuern Musik nicht viel zu bedeuten.«

»Kalchas antwortet gleichfalls darin:


∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪

Pourquoi me faire violence?


und so weiter dann in Anapaisten:


∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ –

D'une sainte terreur tous mes sens sont saisis, u.s.w.


und das Volk darauf immer in Musik in derselben Versart:


∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪

Nommez nous la victime

∪ – ∪ ∪ ∪ –

Et prompts a l'immoler

∪ – ∪ ∪ ∪ –

Sur les autels des dieux

∪ ∪ – ∪ ∪ –

Tout son sang va couler –

∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪

Que notre fureur s'assouvisse

∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ –

Dans le sang du dernier Troyen.«


»Nun auf einmal ganz andre Griechische Füße im Chor des Volks bey dem reizenden Aufzug der Iphigenia mit der Mutter:


– ∪ – ∪ ∪ – – –

Que d'attraits! que de majesté!

– ∪ – ∪ – – – –

Que de grace! que de beauté!

– – – ∪ – – – ∪ – – ∪ – ∪

Qu'aux auteurs de ses jours elle doit être chère!

– ∪ – – – ∪ – –

Agamemnon est à la fois

∪ – – ∪ – – ∪

Le plus fortuné père

∪ – ∪ – ∪ – – – – – 7 –

Le plus heureux époux et le plus grand des Rois.«


[362] »Der am öftesten gebrauchte Kretische Fuß macht hier den Ausdruck süßer Bewunderung; und der Jonische bey que de majesté, geht in Erstaunen über. Der Molossos zeigt recht die Fülle beyque de beauté, und Gewalt und Stärke bey et le plus.«

»Man sieht wohl, daß Gluck, um Einheit des musikalischen Ausdrucks zu erhalten, einigen Sylben mit dem Kretischen Fuße Gewalt anthat, als bey Agamemnon est à la fois 46

»Und eben so hernach bey den frohen Daktylen der Mutter:


∪ – ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ –

Que j'aime à voir ces hommages flatteurs –

– ∪ ∪ – ∪ – ∪

Pour une mère tendre

– ∪ ∪ – ∪ – ∪ –

Que ce spectacle a des douceurs.«


»Gerade bey den leidenschaftlichsten Scenen brauchtGluck den Griechischen Accent am häufigsten; und er hat gewiß zur starken Wirkung derselben nicht wenig beygetragen.«

»Zum Beyspiel noch die berühmte Scene der Reue Agamemnons:


∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪

O toi l'objet le plus aimable,

∪ – ∪ – – – – –

Que | tant de ver|tus font chérir,

∪ – ∪ – – ∪ – – ∪

Par|donne à ton | père cou|pable

∪ ∪ – ∪ – ∪ – –

En faveur de | son repen|tir.«


»Man muß die Melodie hören, um zu fühlen, wie der Kretische Fuß hier das Herz angreift! einmal, wo der gewaltige Molossos darauf folgt; und dann, wie er doppelt hinter einander gleichsam schluchzt.«

»Und den eben so berühmten Abschied der Iphigenia:


[363] ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ ∪

Adieu! conservez dans votre ame

∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –

Le souvenir de notre ardeur;

∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪

Et qu'une si parfaite flamme

– ∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪

Vive du moins dans votre coeur.

∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪

N'oubliez pas, qu Iphigénie,

– ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –

Digne d'un moins funeste sort,

∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪

Pour vous seul chérissoit la vie

∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –

Et vous aima jusqu' à la mort.«


»Der vierte Paion ∪ ∪ ∪ –, der Fuß heftiger Leidenschaft, herrscht hier durchaus; er kommt nicht weniger als zehnmal vor, und nach der gewöhnlichen Aussprache kaum ein einziges mal, bey Qu'une si parfaite. Die sogenannte gute Taktzeit mildert die Kürzen, daß das Fremde nicht auffällt. Am mehrsten greift der Choriambos mit dem vierten Paion vereinigt das Herz an bey


– ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –

digne d'un moins funeste sort,


Gluck verstärkt ihren Ausdruck noch durch die Begleitung der Melodie in Oktaven.«

»In der dann folgenden Arie des wüthenden Achilles braucht er den heftigsten unter allen, den Prokeleusmatikos,∪ ∪ ∪ ∪, bey, den Worten


– ∪ ∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪

Et | si dans ce dés|ordre extrême

∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪ –

Votre père offert à mes coups

∪ – – – ∪ ∪ – ∪ – ∪

Frappé tomb|e et périt lui même, u. so weiter.«


»Der Bakchios Frappé tombe schlägt ein, recht wie ein Wetterstrahl.«

»Gluck hat schwerlich den Rhythmus der Griechischen Dichter in ihren Werken studirt, und dieser war also bloßer Instinkt seines [364] göttlichen Genies. Man kann wohl sagen, daß er der Französischen Sprache zuerst eigentlichen lyrischen Accent, Tanz und Beine gegeben hat. Die reizende Neuheit entzückte; kein Mensch beschwerte sich darüber; man konnte nicht müde werden, das Wunder anzustaunen.«

Hildegard sagte Lockmannen warmen herzlichen Dank für seinen neuen Unterricht; und gestand ihm mit der lebhaftesten Freude, daß sie den eigenthümlichen Reiz Gluckischer Musik nie so klar erkannt habe. Sie fügte hinzu:

»Warum vereinigte sich statt Bailli's de Roulet nicht einer von unsern Deutschen klassischen dramatischen Dichtern mit dem großen Meister! und warum trieb und lockte und reizte nicht beydeJoseph oder Friederich, Karl Theodor, oder ein Nachkömmling von dem Augustus der Hassischen Muse, ein unsterbliches vaterländisches Werk der höchsten Kunst hervorzubringen, weßwegen uns die drey stolzen Nazionen, bey denenHasse, Gluck und Händel Epoche machten, beneiden würden!«

Lockmann antwortete:

»Gluck trägt lange diesen Gedanken mit sich herum, und es ist seine liebste Beschäftigung, auf die treffendsten Melodien und Harmonien zu Klopstocks Hermanns Schlacht zu sinnen. In seiner Phantasie sind die mehrsten Gesänge schon ausgearbeitet, und er singt sie zuweilen am Klavier, obgleich noch keine Note davon aufgeschrieben ist.Millico, der ihn, wie Salieri, und mancher berühmte Meister, mit dem ich mich über ihn unterhalten habe, für das größte musikalische dramatische Genie hält, das je gelebt hat, und über alle seine Neapolitaner setzt, sprach mit mir darüber noch voll Entzücken; und sagte, die Italiänische Nazion würde nichts, [365] weder in lyrischer Poesie noch Musik, aufzuzeigen haben, was damit in Vergleichung gesetzt werden könnte.«

»Nur ist zu befürchten, daß verschiednes seinen Eifer erkältet habe 47

Sie sprachen mehr hierüber; und gingen dabey im Saal auf und nieder. Es fing schon an dunkel zu werden; um so weniger wich die Mutter von der Stelle.Lockmann zögerte, und zögerte; mußte aber endlich fort gehn. O, wie so ungern verließ er Hildegarden! Wie setzte der süße Blick ihrer schönen Augen, das holdselige Lächeln ihres schönen Mundes alles bey ihm in Wallung! O wie sehr schmachtete er nur nach einem Kuß, einer Umarmung! Aber auch nicht ein Augenblick war dafür zu erhaschen.

Er stand auf der Treppe, und unten im Hofe, wo er den Schlüssel an der Gartenthür erblickte, noch einigemal still. Niemand ließ sich sehen; nun konnte er sich nicht bändigen, und schlich sich hinein.

Er taumelte vor Begierde, wie ein lüsternes Kind, nach der Wasservertiefung, und lauschte zwischen den Lindenstämmen, ob Jemand käme. Es wurde völlig dunkel, und noch kam Niemand. Der Tag war wieder warm gewesen, und jede Fiber in ihm verlangte und hoffte voll Entzücken und Bangigkeit, daß Hildegard zum Bade kommen sollte. Die Sterne schwebten am Himmel funkelnd im ewigen Freudenfeuer ihre Straße fort; Lyra, Kassiopeja, Andromeda blickten freundlich in sein Wesen. Hildegard, schöner als sie alle, die Zierde der Schöpfung, erschien nicht. Die Glocken schlugen Viertel und Stunden in sein hochlebendiges Gefühl, bis das Silberlicht vom Aufgang des Mondes in Osten sich zeigte, er selbst dann [366] groß und hehr am Wald empordrang, und Blumen und Gesträuch, Zweig' und Wipfel des Gartens überglänzte. Wie ein Nimrod stand Lockmann auf der Lauer; aber das scheue flüchtige Reh erschien nicht.

Er trat im Schatten leise auf und ab, und wagte sich wieder bis vor den Eingang. Mitternacht war vorbey; nichts regte sich mehr im Hause. Er fand die Thür noch unverschlossen. Kaum könnt' er so viel Besinnung fassen, daß er dem Versuch widerstand, sich wie ein Dieb die Treppe hinauf bis in ihr Heiligthum zu stehlen. Lärm – das fühlte er – dürfte sie doch nicht machen, wenn er einmal bey ihr wäre. Bewunderung und Anbetung ihres hohen Wesens, die Charitinnen der Venus Urania, hielten ihn wie sichtbar selbst an der Rechten zurück, und Amor schwebte mit raschen Fittichen voran, und zog ihn mächtig bey der Linken: als ein Wind sich regte, und ein Fenster zuschlug, die Zweige rauschten, die Luftbilder verschwanden, und er sich plötzlich in Sicherheit entfernte.

Heftiger im Innern bewegt, ging er wieder zu der Wasservertiefung. O, wie die Quellenfluth ihm so lieblich in die Seele blinkte! Er sprach mit ihr, und dem Mond, dem Orion, Sirius und Stier am östlichen Himmel, mit Blumen und Gesträuch; kleidete sich gegen Morgen aus, und senkte seine Gluth in das entzückend frische reine göttliche Element, an einer Stelle, wo er bis an die Brust Boden fand, weil er nicht schwimmen gelernt hatte; tauchte dann den Kopf hinein, rauschte mit den Armen umher, und hätte sich vor schmachtender Lust ersäufen mögen, in dem Versuch, wie sie herumzuwallen. Abgekühlt trat er heraus, that einige Sätze in die Luft, wandelte kindisch, wie sie das erstemal, auf dem Rasen herum, trocknete sich dann ab, kleidete sich wieder an, und spähte nun die[367] beste Stelle aus, wo er bequem über die hohe Mauer klettern könnte; denn zu bleiben hielt er für allzu gefährlich. Am Ende des Gartens fand er eine Buche, von welcher ein paar starke Aeste sich über die Mauer streckten. Er hohlte noch eine nicht völlig glatte Stange, woran man sich festhalten konnte, um auf der andern Seite sich daran niederzulassen; schnitt dann in die zarte Rinde der Buche den Nahmen Iphigenia zum Andenken, kletterte hinauf, zog die Stange nach, und stellte sie auf der andern Seite fest. So kam er glücklich herunter, und durch die öden Straßen in das Schloß, nur von der da stehenden Wache bemerkt, die ihn erkannte, und ungestört auf seine Zimmer gehen ließ.

Er überblickte noch einmal aus dem Fenster seine Pfade, und die reizende, lieblich vom Mond beleuchtete Gegend; kleidete sich dann aus, aß noch ein nahrhaftes Stück kalten Kalbsbraten, und trank dazu eine Flasche köstlichen Burgunder; legte sich, als schon der Morgenschimmer lebendig in Osten auftrat, zu Bette, voll von Hildegarden und ihrem Zauberkreise, und wiegte sich damit in einen erquickenden Schlaf ein.

Fußnoten

1 Ich habe vernommen; sey zufrieden, wenn ich aufhöre dich zu hassen.

2 Unglückliche Sophonisbe, nun bist du auf dem Gipfel des menschlichen Elends! – Ohne Hofnung beklag' ich mich vergebens.

3 Welch ein wildes Schicksal, welch ein seltner Fall ist der meinige!

4 Sophonisbe, was wartest du?

An meinen Lippen hab' ich schon den tödtlichen Becher. Warum zittert mir die Hand? Welch eine Dunkelheit verbreitet sich rings um mich! Unter den unsichern Tritten warum wankt mir der Boden! Wo bin ich? Was ist mir geschehen? ist dieß vielleicht der natürliche Schauder vor dem furchtbaren Uebergange? Ha, ich glaubte nicht, daß der Anblick des Todes so schrecklich wäre!

Aber welch ein froher und zugleich wilder Schall? Woher? man sehe! macht auf!

O entsetzlicher Anblick! die Schiffe, die Gefangnen!

Vergebens erwartet ihr mich, ihr Stolzen! ich werde nicht kommen, meine Vertheidigung ist diese. – Getrunken!

O Gott! aber muß ich endlich so sterben! – Die Bande, die Ketten!

Ich Elende! Alle weichen von mir weg, und mir bleibt allein übrig – welche grausame Hülfe! – meine Standhaftigkeit.

5 Dieses ist die einzige, welche der vorige Herzog von Wirtemberg von den Opern, die Jomelli für seine Feste schrieb, hat herausgeben lassen. Durch wessen Schuld die andern zurückgeblieben seyn mögen?

Wer sie, so wie einige der folgenden, nicht kennt, kann, wenn er will, die wenigen Blätter, die sie betreffen, überschlagen. Manchem Freund der großen Künstler ist es doch wohl angenehm, daraus wenigstens ihre Existenz bestimmt zu vernehmen; auch ohne das Anerbieten im Vorbericht dieses Werks.

6 Undankbarer! so sehr hassest du mich also, und fliehst mich, daß du, wenn ich eile zu sterben, um mit dir vereinigt zu seyn, ins Leben zurückkehrst?

7 Ein Roß, das sich der Wohnung nähert, beschleunigt schneller seinen Lauf.

8 Lernt unerfahrne Mädchen! jeder nennt euch sein Liebstes – Nehmt euch vor ihnen in Acht! es ist lauter Betrug.

9 Was hab' ich vernommen, ewige Götter! welch ein unerwarteter Donnerschlag!

10 O die Gesetze der Freundschaft sind nicht bis auf diesen Punkt streng; der Prinz verzeihe!

11 Der Wille Jupiters, der Schatten meines Vaters, das Vaterland, der Himmel, das Versprechen, die Ehre, das verbreitete Gerücht ruft mich zu den Küsten Italiens.

12 Als einen schlechten Auswurf der Fluthen nehm' ich ihn vom Ufer auf.

13 Armer Vologes! ach, daß ich dich verliere! und dich verliere auf ewig! – Mein Herz aber, ha Tyrann! das wirst du nicht erhalten.

14 Du verlangst mein Herz? Das Herz will ich dir geben. (Vor sich.) Aber treulos! was red' ich! Grausamer, hoff' es nicht, nein, nein! Aber warte, aber höre, aber hemme den Zorn; ja, das Herz will ich dir geben.

Welch ein Abgrund von Qualen! überall ist Gefahr; ich habe keinen Rath, keine Vernunft mehr.

15 Welch eine düstre Zurüstung von Schrecken und Trauer! welch eine klägliche und wilde Wohnung von Finsterniß und Schatten! O weh! träum' ich, oder wach' ich? Ich höre, oder mich dünkt zu hören die Stimme, das Aechzen des sterbenden Gatten.

Und diese schwarze tiefe Dunkelheit, die da aufsteigt! – Ha, barbarischer Tyrann, du hast meinen Gemahl ermordet.

16 Blasser Schatten, der du hier dich aufhältst, blutige Gestalt, die du um mich her irrst, was rufst du mich? was willst du von mir?

17 Bey der bloßen Vorstellung vergeht mir der Athem, bricht mir der Schweiß aus, erstarr' ich.

18 Auf diesem todten Gesichte will ich mein krankes Leben aushauchen.

19 Schon im Jahre 1632 wurde eine Oper Phaeton zu Rom aufgeführt. Auch Graun mußte einen in Musik setzen.

20 Tyrannische Götter, nicht so viel Strenge! besänftigt den Kummer eines armen Herzens.

21 Verdammt mich das harte ungünstige Schicksal zu sterben: ha! so will ich wenigstens als ein Tapfrer fallen, ohn' einen Schatten von Feigheit.

Die ganze Welt rede dann zu ihrem Erstaunen von meinen Unfällen; und die Sterne mögen erröthen über ihre Grausamkeit.

22 Ich höre das Wiehern der erhitzten Rosse.

23 Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege; u.s.f. Ps. 110.

24 Stör' ich je deine Ruhe, so habe mein Herz keinen Frieden!

25 Porus starb also! Wenn der Himmel mich von meinem theuren Gatten trennt; u.s.f.

26 Die süße Gattin sich rauben sehn.

27 Armer Kleiner, du weißt dein Schicksal nicht.

28 Ha, du wendest den Blick anders wohin!

29 Dircea bin ich, gehe zum Tode, habe kein Verbrechen.

30 Wenn ich dir alle meine Leiden sagen könnte, so würd' ich dir vor Wehmuth das Herz zertheilen.

31 Das Gastmal.

32 Theure Stimme meines Geliebten, ich höre dich, erkenne dich wieder.

33 Feucht und nebelicht steigt schon die dunkle Nacht herauf.

34 O, aus Barmherzigkeit, verbirg mir wenigstens die herbe Wunde dieser Brust!

O, aus Barmherzigkeit! sage mir nicht, daß der Undankbare dir das Leben nahm, der es von dir erhielt.

35 Empfange das letzte Lebewohl, laß mich nicht so! Ach, wie vielmal, o Gott, soll ich Armer an diesem Tage sterben!

36 Theurer Schatten, der du herumschwebst, weine nicht, halte mit Klagen ein.

37 Die Hofnung grünt mir wieder im Busen; meine Standhaftigkeit hat den Sieg davon getragen; ich eile zum Triumphe.

38 Wozu mich entschließen? Was kann ich thun? Ich verzehre mich in Thränen, verlange zu sterben, und der Schmerz vermag nicht mich zu tödten.

39 Du weißt die ganze bittre Geschichte einer unglücklichen Familie.

40 Hör' unsre Klage, das Aechzen, das Seufzen, o Schatten, der du hier am traurigen Scheiterhaufen schwebst! und wandle dann glücklich in den Schooß des ewigen Friedens.

41 Theurer, zärtlicher Schatten, ach, warum eilst du zu deiner Ruhe, und ich bleibe hier?

Heiter wirst du der Wonne in den seligen Wohnungen genießen, wo weder Zorn noch Schmerz hinlangt, weder Zorn noch Schmerz! wo ewige Vergessenheit jede sterbliche Sorge einhüllt. Unter den väterlichen Umarmungen wirst du weder an meine Thränen den ken, noch an diesen verhaßten Sitz des Leidens.

Theurer zärtlicher Schatten, ach! warum eilst du zu deiner Ruhe, und ich bleibe hier?

42 Ich bleibe, um immer zu weinen, wo mich das harte Schicksal von einem Grauen ins andre leitet. Ach warum erscheint, die Thränen zu enden, holdselig der Tod für mich noch nicht!

43 Mozart starb, so sehr er auch bewundert wurde, in Armuth und Dürftigkeit. Der alte Haydn, der Jubel aller Konzerte in Europa, erwirbt sich seinen Unterhalt in London.

44 Mozart hat, von dieser Ouvertüre entzückt und bezaubert, einen Schluß dazu gemacht, ganz im Geiste Glucks, und wirklich erhaben, zum Triumph über alle Symphonien in Konzerten, die Haydnischen nicht ausgenommen.

45 Man wird sogleich sehen und fühlen, was ein Sophokles, selbst im Französischen, und einGluck mit einander hätten bewirken können. Jener würde sich von der ganz unnützen eingebildeten Form der Jamben gar nicht haben stören lassen.

46 Die Franzosen lassen sich dieß leicht gefallen;dans nos chants, heißt es bey ihnen, la valeur des notes détermine la quatité des syllabes.

47 Es ist, leider! auch nichts davon zum Vorschein gekommen, und alles mit ihm begraben worden.

Dritter Theil

[3]

Im nächsten Konzert wurden die göttlichen Scenen der Antigone von Traetta aufgeführt; und Alle hielten sie für die höchste Vollkommenheit der Kunst. So ganz sich und alles um sie her vergessend hatte man Hildegarden noch nicht gesehen: sie war leibhaftig die erhabne zärtliche Griechin, welche auf dem nächtlichen Schlachtfelde vor Theben die heilige letzte Pflicht gegen den geliebten erschlagnen Bruder erfüllt; auch so in dem weißen Trauergewand und Schleyer. Den Kältesten traten die Zähren des Mitleids in die Augen bey der feyerlichen Klage des Chors, ihren seelenrührenden Accenten dazwischen, und den wehmüthigen gefühlvollen reinen Nachlauten an den abgeschiednen Geist, von der hohen jungfräulichen Schönheit. Es herrschte dabey die tiefste Stille: nichts regte sich; Luft und Herzen füllte nur süße Trauer von Melodie und Harmonie.

Der Prinz war der erste, welcher eine Weile hernach zu Hildegarden sagte: »Unsere Empfindungen gestatten keinen Ausdruck von Worten; wir alle schweben bey dem Zauber Ihrer Töne zwischen Erd' und Himmel. Mit welcher wunderbaren Gewalt entzückt und fesselt Ihre Stimme!«

Er wendete sich dann zu dem jungen Kapellmeister, und sagte: »Noch [3] hat keine Musik so starken Eindruck auf mich gemacht; sie faßt rührend das Loos der Menschheit in sich.«

Die Damen wollten die Scenen wiederhohlt haben; aber Hildegard und der Prinz gestatteten es nicht: »So etwas,« sagten sie, »verliert durch die Wiederhohlung, und bekommt einen Anstrich vom Gemeinen. Alles Erhabne und Außerordentliche zeigt sich nur einmal in der Natur, feyerlich vorüberschreitend; und so soll es auch in der Kunst seyn: wenigstens muß eine Zeitperiode dazwischen fallen, wo die Kunst alsdann wieder neu und nicht mehr gemerkt wird.«

Lockmann kam den Tag darauf um die gewöhnliche Zeit. Die Mutter war wieder mit ihrer Arbeit beschäftigt, und schien sich nun den Musiksaal zu ihrem gewöhnlichen Aufenthalt gewählt zu haben.Hildegard saß schon mit der Iphigenia in Tauris am Klavier.

Sie hielten alle drey diese Oper, nebst der Alceste, für Glucks größtes Meisterstück.

»Der Plan des Gedichts,« fing Lockmann an, »ist mit Verstand und Kenntniß dessen, was wirkt, angelegt. Guillard hat das Ganze für seine Zeit bearbeitet, und Scenen erdacht, die, mit der Gewalt der Musik, wie Pfeile das Herz treffen. Er hätte zwar mehr Schönheiten vom Euripides hineinbringen können; aber er hat auch manches Unnütze weggelassen. Was beym bloßen Lesen zu künstlich ist und die Täuschung stört, verschwindet bey der lebendigen Fülle und dem Zauber der Töne im wirklichen Schauspiel. Man kann diese Oper kühn unter die wenigen höchst vollkommnen Werke ihrer Art rechnen.«

»Es ist nichts Mittelmäßiges darin; alles greift ein, und macht das rührendste Schauspiel tiefer Leiden von drey großen vortreflichen [4] Menschen: der gefühlvollen unter Barbaren verbannten Iphigenia; des ächten Helden Orestes; und des ächten Helden und Freundes Pylades. Die schönen Chöre der Griechischen Priesterinnen, Scythen, Eumeniden, und endlich der Griechen, die alle nicht erzwungen, sondern natürlich herbeykommen, geben dem Ganzen Pracht und Haltung.«

»Der Charakter der drey Hauptpersonen ist durchaus meisterhaft beobachtet.«

»Die Gewittersymphonie mit dem bald einfallenden Chor der Priesterinnen, unter Anführung der Iphigenia, ist ganz in Einem Guß, originell pittoresk, besonders in dem Zug der Wolken, welchen die Hörner durch den vier Takte lang angehaltenen Ton bey dem Zephyrspiel der andern Instrumente im Andante vortreflich darstellen; und sie ergreift, vorzüglich durch das hohe Pfeifen der Piccolflöten, gleich stürmisch erhaben.«

»Man kann in Musik nicht leidenschaftlicher ausdrücken, als Iphigeniens Traum ausgedrückt ist, besonders bey den Worten: Mon père percé de coups – c'étoit ma mère – c'est Oreste.«

»Reizender Seelenklang gleich in der ersten Arie der Iphigenia: O toi, qui prolongea mes jours.«

»Die Chöre sind durchaus schön und voll Gefühl.«

»Thoas tritt dann auf, und macht einen herrlichen Kontrast mit dem zarten Jungfräulichen der Priesterinnen, besonders in der Arie: Des noirs pressentimens. Eine Stelle von großer pittoresker Wirkung ist:Je crois voir sous mes pas la terre s'entrouvrir, et l'enfer prêt à m'engloutir dans ses abîmes effroyables. Und eben so: Tremble! ton supplice s'apprête! Melodie, Rhythmus und Begleitung stellen recht den Charakter des barbarischen Königs dar.«

[5] »Der Anfang


des zweyten Akts

ist lauter zarte Empfindung im kurzen Vorspiel von Instrumenten. Vortreflich sind die Gefühle beyder Freunde ausgedrückt, wie sie im Tempel allein sich sammeln. Schöne leidenschaftliche Musik in der Arie des Orestes: Dieux, qui me poursuivez. Dieß ist gerade das Tragische, wenn ein großer Mensch in verwickelte Umstände kommt, wo er nicht anders handeln kann.«

»Der Charakter des Pylades, als eines zärtlichen, klugen und standhaften Freundes, ist gut gehalten; seine Arie: Unis de la plus tendre enfance, himmlisch.«

»Vortrefliches Recitativ im Duett, wie beyde von einander getrennt werden, voll Wirkung auf dem Theater.«

»Göttliche Scene des Orestes darauf, wie er, allein, zur Ruhe kommt und einschlummert; das Sinken der Wellen nach dem Sturm, ist in der Begleitung höchst sinnlich ausgedrückt.«

»Der Chor der Eumeniden in der vierten Scene, schrecklich, und voll Darstellung des Wesentlichen vom Ganzen; welches nichts anders ist, als Qual und Pein über Muttermord, und Erduldung der Todesangst; alles im reizenden Gewande der Fabel und alten Sage. Glucks Musik ist zugleich pittoresk, und giebt den Schwung der Fackeln an. Die blasenden Instrumente – Flöten, Hoboen, Klarinetten, Fagotten, und besonders Posaunen – thun große Wirkung.«

»Iphigenia kommt gegen das Ende dazu, und das Gespräch zwischen Orestes und ihr, worin sie ihn ausfragt, ist ganz göttlich. Die Musik steigt durch mancherley Töne bey Agamemnon bis in Des dur, und kommt hernach, wo er seine Mutter als Mörderin [6] nennt, in B moll. Es ist das Höchste von musikalischer Declamazion.«

»Die Schlußarie der Iphigenia: O malheureuse Iphigénie, hat großen lyrischen Schwung, und drückt die gewaltige Fülle des Leidens im Herzen vortreflich aus. Doch merkt man, daß sie sich von der andern Musik unterscheidet. Mit geringer Veränderung ist es die göttliche, in Neapel berühmte Musik zu se mai senti spirarti sul volto.«


»Der dritte Akt

ist von der größten Wirkung auf dem Theater.«

»Die wehmüthige Declamazion und Melodie der Iphigenia schmelzt vorher das Herz, damit die heftigen Schläge hernach desto tiefer eindringen. Das Spiel der schwesterlichen Sympathie ist in der Poesie vortreflich. Himmelschöne Seelenaccorde in Iphigeniens Arie: D'une image, hélas! trop chérie.«

»Die Scene, wo sie den Orestes wählt, um ihn nach Argos zu senden, ist in der Poesie, vorzüglich aber in der Musik, äußerst rührend und zart behandelt, voll der natürlichsten Darstellung und meisterhaftesten Declamazion.«

»Das Duett in der vierten Scene: Et tu prétens encore, que tu m'aimes? ist erhabner Wetteifer der Freundschaft und Heldengröße; es gehört unter die allerrührendsten und schönsten. Der Dichter hat die Scene vortreflich behandelt, damit sie nicht bloße alltägliche Moral würde. Der Ton C moll ist gut gewählt.«

»Das nun folgende Recitativ des Orestes gehört aber zu dem Allerstärksten, was ich auf dem Theater kenne: Quoi! je ne vaincrai pas ta constance funeste! Die Wiederhohlung des ne sais-tu pas? mit immer höher steigender Leidenschaft, die Verstärkung und [7] Erhöhung der Stimme bis zum Schreyen, und die Fülle der Begleitung, hauptsächlich die Accorde der stürmenden Posaunen, mit den Klarinetten und Hoboen, und gegen das Ende mit den rauschenden Geigen – setzen die kleinste Fiber der Zuhörer in Erschütterung, und machen den Triumph der Musik über alle Künste; denn keine andre kann solche gewaltige Empfindungen hervorbringen.«

»Die Arie des Pylades nach diesem Sturm: Ah, mon ami, j'implore ta pitié; ist entzückend: sie thut durch ihre reine Seelenaccente dem Herzen wohl.«

»In der fünften Scene setzt Orest es endlich durch in einem vortreflichen kurzen Gesange, worin er drohet, daß er sich selbst das Leben nehmen will.«

»Pylades beschließt den Akt mit einer schönen Arie an die Freundschaft, worin er den Vorsatz äußert, seinen Freund zu retten.«

»Die mehrsten vorhergehenden Arien haben Griechischen Rhythmus, und geben der Handlung etwas Antikes, welches die Täuschung noch befördert.«


Vierter Akt.

»Vortrefliche Darstellung der Iphigenia, wie sie nun bald den Orestes opfern soll.«

»Die Arie: Je t'implore et je tremble, o Déesse implacable, drückt den Widerwillen und innern Kampf gut aus. Gluck hat in dieser Oper einige Arien im gemilderten Italiänischen Styl angebracht, die dem Ganzen Zierde geben; unter andern diese, welche den Charakter einer Arie der Berenize von ihm hat.«

»Nun kommen die traurigen Chöre der Priesterinnen, ganz vortreflich und voll weiblicher Grazie: O Diana, sois nous propice; [8] und: Chaste fille de Latone; immer nur in zwey Sopranstimmen.«

»Göttliches Recitativ der Iphigenia und des Orestes dazwischen; ganz aus der Seele declamirt: Voilà le terme heureux de mes longues souffrances! und die kurze Cavatine: Que ces régrets touchants pour mon coeur ont de charmes!«

»Großer Theaterstreich, wie Iphigenia das Messer in die Hand nimmt, und Orestes, knieend, vor dem Stoße noch ausruft: Ainsi tu péris en Aulide, Iphigénie, o ma soeur! Die Erkennung, recht auf Einen Punkt gesammelt, brennt und lodert. Sie ruft: Mon frère Oreste! und der Chor der Griechischen Priesterinnen: Oreste, notre Roi!«

»Mit Genie ausgefühlte zarte Züge. Iphigenia:O mon frère! in A dur, Melodie in der großen Terz.Orestes: O ma soeur, oui, c'est vous! in A moll, der kleinen Terz.«

»Göttlich darauf Iphigenia: O mon frère, o mon cher Oreste! in E moll; und weiter hernach: Laissons là ce souvenir funeste! Laissez moi ressentir l'excès de mon bonheur! jubelnd im ganz heitern C dur. Eine himmlische Cavatine!«

»Der Ausgang – wo Thoas kommt und erfährt, daß der Fremde Orestes ist, ihn grausam barbarisch dennoch geopfert haben will, und von Pylades, der mit einer Schaar Griechen herbeyeilt, umgebracht wird, worauf denn Diana erscheint – hat gute passende Musik. Der letzte Chor: Les Dieux long tems en courroux, ist vortreflich.«

»Gluck umwindet sein Lieblingskind gleichsam mit einem Zaubergürtel, indem er das Gewitter, wie in der Ferne – ein Muster vom Gebrauch des Orchesters! 1 – bey dem Gefecht der Griechen und [9] Scythen im vierten Akt; und die Begleitung der Arie des Orestes im zweyten Akt, während deren dieser zur Ruhe kommt und einschlummert, – als Diana erschienen ist, passend wieder anbringt. 2«

»Um einem recht fühlbar zu machen, was Musik ist und bewirken kann: lasse man dieses Drama, ohne Musik von treflichen Schauspielern aufführen. Es wird eine unerträgliche Nüchternheit entstehen, und der größte Theil vom Rausche der Leidenschaft verschwinden.«

»Die Pariser haben nicht übel geurtheilt, als sie von Glucks Musik sagten: sie sey antiker Schmerz, Griechische Thränen, und jungfräuliche Frischheit. Alles dreyes trift in den Iphigenien zusammen.«

»Zuhörer,« fuhr Lockmann fort, »die das Ganze nicht kennen, verlieren zu viel, wenn man einzelne Scenen aus Glucks neuern Werken für sie herausheben will; die Musik ist fast immer mit Poesie und Handlung unzertrennlich vereinigt, und alle Scenen bekommen ihren wahren vollen Gehalt durch das Vorhergehende und Nachfolgende. Außerdem gehört Musik, deren Wirkung das Genie für eine Peterskirche, für ein Theater von S. Carlo berechnet hat, nicht für Säle und Zimmer; die Sphäre ist schon viel zu beschränkt für die Gewalt der Posaunen, Trompeten und Pauken, und solche Musik paßt so wenig hinein, als Figuren aus einer Kuppel des Correggio, oder aus der Kreuzabnehmung von Rubens. Dergleichen Sachen muß man an Ort und Stelle selbst sehen und hören, wie den Mont blanc in Natur, das Wetter-und Schreckhorn, die Stürze des Rheins, Rhodans und der Aar, und die Wuth des [10] Boreas in den schäumenden Wogen des Weltmeers. Nur ein Kenner von viel Erfahrung und lebhafter Einbildungskraft kann, abgesondert von dem Ganzen, dem Künstler einigermaaßen nachempfinden. Ein bloßer Theoretiker lese die Partitur vom Recitativ des Orestes: Quoi, je ne vaincrai pas ta constance funeste! hör' es dann mit vollem geübten Orchester in einem weiten Schauspielhause: und er wird die Wahrheit des hier Gesagten auch wider Willen empfinden.«

»Doch wollen wir in der Folge zu unserm eignen Genuß einige Rhapsodien wagen.«

»Ehe wir mit Gluck anfingen, bracht' ich Ihnen, weil ich die Abschrift damals noch nicht ganz erhalten konnte, die schönsten Scenen der besten Oper, die ich in Italien gehört habe. Ich hoffe, daß man sie in unserm Konzert mit großem Vergnügen hören wird.«

Hildegard hatte sich schon an den herrlichen Melodien geweidet, ohne noch den Sinn der Worte recht fassen zu können. Sie hohlte die Scenen gleich von ihrem Zimmer. Lockmann legte sie nach einander in Ordnung, und sagte:

»Die Oper heißt Giulio Sabino; die Musik ist vonSarti. Er selbst führte sie zu Venedig, während des Karnevals von 1781, im Theater S. Benedetto vortreflich auf. Pacchiarotti war Giulio Sabino, und die Pozzi machte die Epponina, dessen Gattin.«

»Der Stoff aus der Geschichte ist anziehender als gewöhnlich, und uns viel näher, als die Griechischen und Römischen Helden. Julius Sabinus wurde für einen Enkel des Julius Cäsar gehalten, der mit dessen Aeltermutter, einer Gallierin, vertrauten Umgang gehabt hatte. Die Poesie ist treflich für eine Oper eingerichtet, und [11] hat die ergreifendsten Situazionen; die Worte der Arien sind aber weit fleißiger bearbeitet, als das Andre.«

»Bey der Aufführung war immer, ungewöhnlicher Weise, alles so gänzlich still, daß auch der leiseste Ton nicht verloren ging. Ich habe dabey süße Thränen weinen sehn, und oft in Entzückung, mit gleichen Gefühlen, ausrufen hören: O caro! o cara! o cari! Ein Nobile, der einen geheimen Groll gegen Pacchiarotti haben mochte, räusperte sich anfangs einigemal; aber die Volksstimme gebot ihm bald Stillschweigen: Non ha il senso comune.«

»Tacitus berührt die Geschichte des Julius Sabinus, und erzählt, daß er, nachdem er von den Römern abgefallen war, und eine Schlacht verloren hatte, sein Schloß anzündete, aussprengen ließ, er sey darin verbrannt, und sich neun Jahre lang verbarg, ohne von seinen Freunden verrathen zu werden.«

»Nach Verlauf dieser Zeit beginnt das Schauspiel.«

»Titus verliebt sich, auf seinem Zug gegen die Rebellen, in des Sabinus treue Gattin Epponina; sieht ihn selbst unerkannt, als einen Deutschen Helden, der bey ihm Dienste nehmen will; entdeckt alsdann, wer er ist, und nimmt ihn in seiner unterirdischen Wohnung gefangen.«

»La tu vedrai, chi sono, non ti parlo invano 3; ist die erste Arie des Helden bey der Zusammenkunft mit dem Titus. Sie gehört, mit dem begleiteten Recitativ vorher, unter das klassische Heroische der Musik, und ist Glanz und Muth von jugendlicher Tapferkeit, in Melodie und Harmonie eines Diomedes würdig. Es brennt recht auf das Herz, wenn bey e della tromba il suono, che [12] oggetto è di spavento 4, die Trompeten anstatt der Hörner einfallen, und die Bewegung rascher wird. Die Läufe gleichen einem brünstigen Wiehern nach der Schlacht. Beym Anhören zuckte es mir immer in der Faust. Ein göttlicher Gesang! Vortrefliche Begleitung im Recitative zu Balenar il lampo (della spada) 5. Der Anfang der Arie ist recht straff und gespannt; dann die Läufe meisterhaft für die Stimme. Die Harmonie hält sich fast durchaus in C dur, und besteht meistens in Konsonanzen. Dieß erhebt die Seele ungemein.«

»Trema il cor, non v'è più speme 6. Eine Bravourarie für die Pozzi zur Verzierung. Die Läufe und das lange Halten auf Einem Tone sind bloße Kunst; aber reizende Musik.«

»Das Duett für die Epponina und den Sabino:Come partir poss'io; muß man von schönen Kehlen hören. Es ist vollendet in der neuern Zärtlichkeit.«

»Cari figli un altro amplesso, dammi, o Sposa, un altro addio, o figli, o Sposa, cari pegni del cor mio, ah non posso, o Dio, lasciarvi, nè celarvi il mio dolor« 7! ist eine von den großen Scenen der neuern Musik. Sie macht auf dem Theater erstaunliche Wirkung. Sabinus wird in der unterirdischen Wohnung mit seiner ganzen Familie von Titus überrascht, und gefangen genommen. Heldencharakter voll Gefühl herrscht durchaus. Das lange Recitativ mit [13] Begleitung ist ein Meisterstück von Declamazion, Darstellung und Kunst. Venite, o figli, al vostro sen stringete il più misero padre 8; die Begleitung bey si, son Sabino 9 – Violinen und Bässe in Oktaven und hastigen Absätzen – macht einen vollkommen heroischen Ausdruck. Epponina bittet, zum herrlichen Kontrast, meistens in der Harmonie von verkleinerten Septimen. Göttlich sagt er dazwischen: Il mio sangue avilisci 10!

»Gewaltiger tragischer Ausdruck ist in der Stelle:Io già lo sento, quel che invita alla tomba, orribile di morte atro lamento 11; worauf die traurigen Töne der Hoboe und des Fagots im Einklang immer fortgehen E intorno errar mi veggo lo stuol funesto delle larve orrende 12; schöner enharmonischer, äußerst leichter Uebergang aus Es mol in E dur, durch die Sexte H zu Dis. Addio miei cari figli! vortreflich dascari in der Melodie ausgedrückt durch den fremden halben Ton des, c, h, c c, Sextquintenaccord auf g. Gerad' in solchen Kleinigkeiten liegt das höchst Lebendige der Darstellung bey der Aufführung.«

»Göttliche Melodie alsdann in der Arie. Der weite Umfang der melodischen Perioden verstärkt die Leidenschaft gewaltig; celarvi il mio dolor, ist ein Sprung vom zwey gestrichnen F ins ungestrichne B und G, und in einem Athem das lar ins zweygestrichne G zwey Oktaven hinaufgerissen. Dazu gehören freylich Sänger wie Pacchiarotti. [14] Wenn man die ganze gesammte Musik als einen Baum betrachten wollte; so stände diese Scene wie ein zarter schlanker blühender Sproß im höchsten Gipfel.«

»Noch mehr kann man dieß von dem Rondo sagen: In qual barbaro momento io ti do l'estremo addio! mit dem Recitativ und dem Marsch vorher D'una vita, infelice ecco l'infausto fine 13

»Rechte Muster von schönen Darstellungen tiefer tragischer Gefühle! Sarti hat sich dadurch zu den ersten Meistern der Kunst hinaufgeschwungen. Auch mag ihn Pacchiarotti's Vortrag nicht wenig begeistert haben.«

»Wieder ein reizender enharmonischer Gang von As dur in E dur, durch einen bloßen Nachschlag der kleinen Terz, bey Costanza, anima mia! pochi momenti restano al tuo penar 14

»Bey der Stelle: Un passagio è la morte, ah, nonl'oscuri un ombra di timor! 15 sieht man mit Lust, wie die Musik, in der vollkommensten Kunst des Helldunkels, sich sogleich nach dem Sinn ändert.«

»Herrlich geht das Rondo in ein Duett aus: Ah, si compia il fato rio! 16«

Hildegard mußte selbst gestehen, daß vortrefliche Italiänische Musik, von vortreflichen Neapolitanischen, Römischen und Venezianischen Stimmen vorgetragen, einen Reiz und Zauber, eine Süßigkeit, einen Flug, und ein Feuer habe, wodurch sie mehr als jede andre Herz [15] und Ohr unaussprechlich entzücke. »Man muß diesem sinnlichen schwärmerischen Volke die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es in der Musik – Erfindung und Ausführung zusammengenommen – oben an steht!« So endigten sie fast mit Einem Munde.

Alsdann sprachen sie von andern Dingen; undLockmann blickte dabey Hildegarden oft verstohlen zärtlich an. Eine Weile hernach, gegen Sonnenuntergang, gesellte sich der junge Hohenthal zu ihnen.

Hildegarden selbst verlangte, wieder mit ihrem Liebling allein zu seyn; doch war sie nach der letzten Scene in ihrem Zimmer schüchtern: ihr Verstand hatte einen geheimen Kampf mit ihrer Empfindung, ihrem Gefühl; eben deßwegen war sie unentschieden, und nahm keine andre Maßregel.

Als Mutter und Tochter sich noch etwas umgekleidet hatten, gingen sie zusammen in das Schloß, woLockmann sich von ihnen trennen, und traurig die himmlische Schönheit der Gesellschaft überlassen mußte.

Den folgenden Morgen, bey heiterm blauen Himmel und warmen Sonnenschein, begegneten Hildegard und ihr Bruder auf einem kurzen Spaziergange in dem angenehmsten Schatten des SchloßgartensLockmannen und dem alten guten Reinhold. Die Freude über die Zusammenkunft glänzte in aller Augen, lächelte auf ihren Lippen, und äußerte sich in gefälligem Scherz und Muthwillen.

Sie gingen so unter allerley Gespräch länger als eine Stunde auf und ab, und kamen endlich von der Baukunst in allen Welttheilen – der Vögel, der wilden Thiere, der Biber und Menschen – wie immer woHildegard und Lockmann waren, auf die Musik. Man erinnerte sich noch lebhaft an den Streit, welchen der Baumeister [16] mit dem letztern angefangen hatte. Das Wesentliche desselben ward wiederhohlt. Der Alte ergriff den jungen Künstler bey der Hand, und sagte: »Mein Sohn, noch immer hast Du Dein Versprechen nicht erfüllt; Du wolltest mir ja zeigen, wie große Meister dieselbe Leidenschaft, dieselbe Empfindung mit denselben Tönen ausdrücken, und zwar aus natürlichem Gefühl, ohne daß einer es dem andern nachmacht.«

Lockmann erwiederte: »Ich werde nichts schuldig bleiben, und getraue mir, mein Versprechen noch heute zu erfüllen.«

Hildegard faßte ihn gleich beym Wort, und sagte, mit einem Blick auf ihre Uhr: »Wir haben noch zwey Stunden bis zu Tische; die Zeit wäre jetzt so recht heiter dazu. Begleiten Sie uns nach Hause, und seyn Sie unsre Gäste, wenn Sie nichts Wichtigeres zu thun haben und nicht schon versprochen sind.«

Mit Freuden nahmen beyde die Einladung an, und man machte sich nun sogleich auf den Weg.

Lockmann fuhr fort: »Wir haben schon so viel Musik durchgegangen, daß es keiner andern dazu bedarf.«

»Eigentlich aber sind nur ein gutes Fortepiano, die Stimme einer Hildegard, ein reines wohlgebildetes Gehör, und ein fühlendes Herz dazu nöthig, um die an und für sich wesentlich verschiednen Charakter der Accorde zu erkennen. Die Ausbildung derselben zum wirklichen Leben richtet sich freylich nach den Worten und Personen, wie alles Einzelne in der Natur nach Ort und Umständen. Die Eiche bleibt aber immer Eiche, sie mag hundert Fuß hoch seyn, oder nur so eben aus dem Kern hervorsprossen; die Zeder bleibt Zeder, sie mag auf den Höhen des Libanon den Stürmen Trotz bieten, oder in einem Englischen Garten zur Verzierung angepflanzt seyn. Die [17] Bildung des Menschen richtet sich nach jedem Klima; doch überall ist er der Herr der Schöpfung.«

»Die Töne bestehen aus einem so zarten Elemente, daß sie sich geschmeidig nach der Verschiedenheit aller Kehlen und Instrumente, und überhaupt der Materie, durch die sie hervorgebracht werden, richten. Doch überall bleibt das Allgemeine, ihr Verhältniß von Höhe und Tiefe und Dauer zu einander; und der Charakter, der Ausdruck desselben.«

Während dieser Einleitung waren sie nach Hause, und bis in den Musiksaal gekommen. Hildegard hielt sich noch ein wenig in der Küche auf; unterdessen stimmte Lockmann das Klavier, und fing an, als sie hereintrat.

»Das Beständige und Allgemeine des Ausdrucks liegt in der Harmonie und dem Rhythmus; die Melodie schöpft aus beyden ihr Lebendiges.«

»Die Griechen vernachlässigten die erstre; wir Neuern den letztern.«

»Harmonie und Disharmonie ist leichtes oder schweres Verhältniß der Luftschwingungen in verschiednen Formen, und verschiednen Graden von Geschwindigkeit für das menschliche Ohr.«

»Die verschiednen Formen entstehen durch Verschiedenheit der Kehlen und Instrumente. Diese Art von Harmonie und Disharmonie ist, was Wirkung betrift, noch wenig untersucht worden; man hat sie, ungeachtet ihrer großen Wichtigkeit, immer dem eignen Gefühl der Komponisten, und übrigens meistens dem Ungefähr überlassen.«

»Die leichten und angenehmen Verhältnisse gehen bis auf die Zahl Sechs, von 1, 2, 3, 4, 5 und 6; und bis auf die mehrfache Verdoppelung dieser Zahlen. Die Natur selbst hat das Ohr des Menschen darnach geformt; die Bogengänge des Labyrinths sind [18] gerad' in den Verhältnissen der Hauptkonsonanzen – der Oktav, reinen Quinte und großen Terz – 2, 3, 5 17

»Wenn das große tiefe E Eine Schwingung macht, so macht in derselben Zeit das ungestrichne C deren zwey, das ungestrichne G drey, das eingestrichne C vier, das eingestrichne E fünf, und das eingestrichne G sechs

»Und hier haben wir alle Töne, die man Konsonanzen nennt, wenn man die dritte Oktav (acht) im zweygestrichnen C noch hinzunimmt.«

»Ueberhaupt sind Konsonanzen die Töne der Dreyklänge, die zu ihrer Vollständigkeit keinen vierten nöthig haben. Der verminderte Dreyklang ist schon ein Bruchstück der kleinen Septime.«

»Die Oktave, 1 und 2, stimmt so mit dem Grundton zusammen, daß die Töne dem Ohr fast nur zu Einem Ton werden. Sie ist die vollkommenste Konsonanz, und will durchaus rein seyn. Die Griechen liebten sie vor jeder andern; ihr Chor soll in ihrem besten Zeitalter nur daraus bestanden haben. Sie gleicht Vater und Sohn. Auch das Auge liebt dieses Verhältniß; und in der Baukunst giebt es die schönsten Thüren und Fenster.«

»Die vier Oktaven unsers Systems sind wie Knabe und Jüngling, Mann und Greis; der Umfang von Gefühlen des menschlichen Lebens. Was wir an Tiefe von Kenntnissen gewinnen, verlieren wir an Stärke und Behendigkeit.«

»Der Oktav am nächsten kommt die Quinte, in dem Verhältniß von 3 zu 2. Sie ist der himmlische Geist, der den schon organischen Stoff ausbildet, und darin strahlt und glänzt.«

[19] »Dann erhebt sich die Quart, 4 zu 3, in der zweyten Oktave zur höhern Ausbildung und Festigkeit.«

»Und endlich die große Terz, 5 zu 4, als das Herz, der Sitz vom Leben und vom frohen Gefühl des Daseyns in höchster Vollkommenheit.«

»O, wär' ich Pythagoras, um Ihnen die entzückende Vollkommenheit aller Urgeschöpfe in den geheimnißvollen Verhältnissen von 1, 2, 3, 4 und 5 tief genug auszuempfinden und zu schildern!«

»Dann ertönt die Oktav, 6, von der Quinte 3; und es entsteht die kleine Terz, das eingestrichne G zu dem eingestrichnen E, in dem Verhältnisse von 5 zu 6: der Geist schon nicht mehr im Schaffen und freyen Wirken, sondern wie vom Himmel verbannt, hienieden auf der Erde umherschauend; wenn ich das Bild noch ferner anwenden darf.«

»Die große und kleine Sext sind nur umgekehrte Terzen. Die große liegt schon in der ersten Quinte, dem ungestrichnen G, und der großen Terz, dem eingestrichnen E, da; und verhält sich wie 5 zu 3. Die kleine Sext entsteht, wenn die dritte Oktave des Grundtons, das zweygestrichne C, 8, zu der großen Terz, 5, sich hören läßt. Und dann strömt die ganze Harmonie aller Konsonanzen in vollem Leben durch die Luft.«

»Das Verhältniß von 1 zu 7, oder – nach der zweyten Oktave, dem eingestrichnen C, berechnet – das Verhältniß von 4 zu 7, welches mit CEG die Verhältnisse von 4, 5, 6 und 7 ausmachen würde, haben wir in unserm System nicht. Einzelne Theoretiker wollten den Ton zwischen A und B setzen und, mit dem vollkommnen Dreyklang verbunden, als einen besondern nicht dissonirenden Accord einführen; aber das musikalische Europa scheint ihn bis jetzt als eine mathematische [20] Grille zu verwerfen. Vielleicht wird er noch von einem großen Meister zum Ausdruck einer passenden Empfindung gebraucht (des Moments zum Beyspiel, wo eine schöne Seele in der Wahl steht, ob sie zur Sünde übergehen will, oder nicht); wenn er nicht schon oft aus Instinkt von gefühlvollen Sängern und Sängerinnen gebraucht ward.«

»Tartini, welcher ihn die konsonirende Septime nannte, und nach ihm Kirnberger 18, glaubten, er könne in Melodie und Harmonie dienen. Rameau aber nannte diese 7 einen verlornen Ton, und schloß ihn von der Harmonie aus.«

»Das Verhältniß von 6 zu 7, zum Beyspiel von dem eingestrichnen G zu einem Ton zwischen dem eingestrichnen A und B, der zum eingestrichnen C weder die übermäßige Sext (welche sich dazu wie 1/2 2/2 8/5 verhält), noch die kleine Septime wäre, die in dem Verhältnisse 9/16 mit diesem Tone steht; ingleichen das Verhältniß von 7 zu 8 fällt also weg, und die erste Dissonanz fängt in dem Verhältnisse von 8 zu 9 an, welches die große Sekunde, das zweygestrichne C zum zweygestrichnen D, ausmacht.«

»Alle Theile einer Saite kommen bey dem Anschlag oder Strich nach und nach, mit der gesammten Bewegung auch in einzelne; bey langer Dauer vom Ton des großen C kann sich endlich das viergestrichne C hören lassen; und dieses Nach-und Zusammentönen macht den Klang aus.«

»Die Quinte, Quarte, Terz und Sext brauchen zu ihrer harmonischen Fülle nur Einen Ton; daraus entsteht der Dreyklang mit seinen [21] Verwechselungen: die keuscheste Vereinigung von Konsonanzen, bey welcher nichts zu viel und nichts zu wenig ist.« –

»Der Dreyklang mit der großen Terz und reinen Quinte, der so genannte harte, ist der Ausdruck von Vollkommenheit, Schönheit, Stärke; welche von so vielerley Art seyn kann, als Wesen in der Natur und Kehlen und Instrumente vorhanden sind. Alles kann dadurch ausgedrückt werden, wenn es in Vollkommenheit hat, was es haben soll; sowohl das Angenehmste: Vereinigung, Aussöhnung zweyer Liebenden; als das Furchtbarste: der Tod.«

»Der Dreyklang mit der kleinen Terz und reinen Quint, der so genannte weiche, drückt geringere Vollkommenheit und Stärke aus; es fehlt zum glücklichen Ganzen etwas, dem Weibe der Mann, dem Manne das Weib: Sehnsucht, Zärtlichkeit, Traurigkeit von allerley Art; eben deswegen aber zuweilen auch tieferes Gefühl, als der harte.«

»Der verminderte Dreyklang, wo zur kleinen Terz noch die falsche Quinte hinzukommt, zeigt eine solche Lücke in der Vollkommenheit an, daß alles darauf treibt, sie bald zu ersetzen.«

»Der Ausdruck dieser Dreyklänge wird etwas verändert, wenn man die Töne verwechselt, und entweder die Terz oder die Quinte zum Grundton nimmt. Bey der Terz als Grundton, entsteht die Sext; gleichsam eine höhere Stufe, auf welche das Wesen steigt, oder Fluß und Regung; und bey der Quint als Grundton, die Quart und Sext, worin die Existenz, das Leben, auf seine höchste Stufe gebracht wird. Nichts kann in der Musik mehr blitzen und strahlen, als wenn der harte Dreyklang von den Instrumenten eines großen Orchesters so aus einander gebreitet in der ganzen Fülle und Verdoppelung durch alle Oktaven des Sextquartenaccords in der Luft schwebt. Die [22] Kadenzen werden auf ihm gemacht, damit die Stimme, oder die Melodie der Instrumente, aus seinem hohen Leben sich nach und nach, wie ein Adler oder Falk, in weiten Kreisen aus dem Aether, wieder herablasse; wozu auch das Wort (Kadenz) erfunden ward. Er ist der Accord des Enthusiasmus. Wahrscheinlich schriebRousseau, als er eben matt und von der Arbeit erschöpft war, in seinem musikalischen Wörterbuche unter andern seichten und falschen Zeilen, auch die:La Fadeur de Sixte-Quart. Welche Pracht und Herrlichkeit, welcher Inbegriff von allen Gefühlen des Ganzen, herrscht nicht darin am Ende der Komposizionen von großen Meistern!«

»Freylich kann man in dieser Höhe ein Stück weder anfangen noch endigen; und die Natur verlangt in der Musik immer Grund und Boden, sowohl beym Anfang als am Ende.«

»Das Wort Accord hat nach und nach einen weitläuftigen Sinn bekommen. Vorher verstand man darunter den Zusammenklang von vier Konsonanzen, oder von mehrern bey der Verdoppelung einiger von denselben; jetzt bedeutet es den Zusammenklang von vier oder mehrern Tönen überhaupt, sie mögen Konsonanzen oder Dissonanzen unter sich seyn.«

»Die vier Hauptaccorde, nächst den Accorden der Dreyklänge, sind vier Septimenaccorde, von denen jeder mit vier Tönen in der diatonischen Tonleiter liegt. Sie machen in ihren unendlich mannigfaltigen Umkehrungen, Verwechselungen und Vorhaltungen gleichsam fast alle übrigen Elemente der musikalischen Welt aus.«

»Der erste ist der Accord der kleinen Septime mit dem harten Dreyklang der Dominante, oder Quinte des Grundtons. Er kommt in der diatonischen Leiter nur Einmal vor, ist der erste Matador, und entscheidet. Aus seinen Verwechselungen entstehen, so wie aus [23] den Verwechselungen aller Septimenaccorde, der Quintsext-, der Terzquartsext-, und der Secund-Accord; je nachdem die Terz, die Quinte, oder Septime in der Tiefe liegen.«

»Sein Ausdruck ist das Zeugen und Werden des Dreyklangs, und alles dessen, was dieser für Leben, Geist und Gehalt hat.«

»Wenn er nicht der Accord der Quinte des Grundtons vom Ganzen ist: so ist er der Accord der Dominante einer neuen Existenz, wohin die vorige übergeht.«

»Am schönsten klingt er, wenn die große Terz, la note sensible, oben schwebt; schmachtende Lippen am vollen Becher der Lust, Berührung des heiß verlangten Zieles. Im Allgemeinen ist er Uebergang in irgend eine Existenz, sie sey höchst glücklich, oder höchst schrecklich.«

»Eins der vortreflichsten Muster vom Ausdruck des Schrecklichen findet man in der Sophonisbe vonTraetta, (Akt III. Sc. 10.) bey den Worten: Ah, non credei, che si terribil fosse l'aspetto della morte. Die ganze Melodie bewegt sich, in Mark und Bein dringend, durch alle Töne desselben auf der Dominante G, hält am meisten in der Note sensible, und stürzt sich bey Morte fürchterlich in die große Terz des harten Dreyklangs von C.«

»Eben so vortreflich, und noch tragischer, braucht diesen Accord Sarti in der göttlichen Scene, wo Giulio Sabino von seinen zarten Kindern und seiner geliebten Gattin Abschied nimmt; bey der Stelle: Jo già lo sento quel che invita alla tomba orribile di morte atro lamento. Auch hier stürmt die Melodie durch alle Töne desselben (nach der Grundharmonie, auf der Dominante B, in Wirklichkeit aber im Sextquintenaccord auf D der Terz) bis bey lamento in Ges Es.«

»Gluck braucht ihn eben so in der Alceste (Akt II. Scene 6.) bey den Worten: Ah già s'avanza il momento fatale.«

[24] »Als Uebergang vom Leiden zum Glück braucht ihn eben dieser Meister zu Anfang des dritten Akts im Orfeo bey den Worten: Fra poco il nostro cielo, il nostro sole il mondo di bel nuovo vedrai; und in der zweyten Scene des vierten Akts der Iphigenia in Tauris, bey der göttlichen Stelle des Orestes: Voilà le terme heureux de mes longues souffrances.«

»Er geht in allen seinen Verwechselungen entweder in den Grundton, oder in eine neue Harmonie über: die Septime in die Terz, und die große Terz in den Ton.«

»Den verschiednen mannigfaltigen Reiz und Ausdruck im Auseinanderbreiten, oder Zusammenziehen dieses Accordes, und in Bestimmung des Tons, welcher die Melodie führen, welcher der Harmonie zur Grundlage dienen; ferner, ob die Dissonanz, welche in allen Umkehrungen dieselbe bleibt, der Stimme oder einem der süßesten Instrumente gegeben werden; ob sie verborgen, versteckt, vorüberschlüpfend seyn; welcher Ton ausgelassen, welcher verdoppelt werden soll: alles dieses muß der Tonkünstler in seinem Herzen und gutem Gehör fühlen; so wie auch alle Verzierung des Accords.«

»Jeder Ton darin ändert sich, nachdem er in Verhältniß und Verbindung steht.«

»Wenn die große Terz, oder die Septime dieses Accords ein Instrument oder eine Stimme hat, welche diese Töne gar nicht rührend hervorbringen kann; so geht aller Reiz und Ausdruck verloren. Der vortreflichste Sänger und die vortreflichste Sängerin werden zu Schanden, wenn sie gerade diese wesentlichen Töne nicht natürlich rein und stark nach allen gehörigen Graden in ihrer Kehle haben. So viel kommt darauf an, ob ein Komponist seine Leute kennt! Daher richtet ein verständiger zuweilen durch mittelmäßige Personen [25] mehr aus, als ein unverständiger durch die vortreflichsten. Ich habe in Rom gesehen, daß Sänger bey der ersten Oper, von einem andern Meister, fast vom Theater gejagt wurden, welche bey der zweyten, von Cimarosa, bezauberten und wie verwandelt schienen.«

»Der zweyte Septimenaccord ist der Accord der kleinen Septime mit der kleinen Terz und reinen Quinte. Er kommt am öftesten, dreymal, in der diatonischen Leiter vor: auf der Secunde, großen Terz und großen Sexte; dieß giebt ihm Mannigfaltigkeit von Uebergang und Regung.«

»Sein Ausdruck ist Beharrlichkeit und Festigkeit in der Existenz, dem Leben und dem Vorsatze, worin man sich befindet. Er zeigt so recht die Mühe des Erdenlebens und die Anwendung der Kraft an; doch schwebt darin das entzückende Gefühl der Stärke. Alles ist mit Nerve durchzogen. Er fällt durch die Süßigkeit des vorigen gar leicht wieder in die schöne frische reine Existenz, oder überhaupt den Charakter derselben. Durch die verschiednen Verwechselungen verändert er sich mehr oder weniger, eben so wie der vorige.«

»Ein Demosthenes, der in der großen Volksversammlung einen Wetterstrahl herniederdonnert, und dadurch alle Verräther, alle Widersacher, zu Boden wirft und verscheucht; ein Herkules, der den Anteus mit gewaltigen Armen emporhebt, und in der Luft erdrückt; eine Sophonisbe, die den Giftbecher ergreift, um sich von den Römischen Räubern nicht im Triumph aufführen zu lassen; eine Iphigenia, Elektra, Antigone, wenn sie ihre schönsten Thaten beginnen: das sind die schönen Bilder zu diesem Accord.«

»In einer anhaltenden Reihe von Septimengängen, mit Klarinetten, Hörnern, Fagotten und starken Bässen, leuchtet sein Charakter erst recht hervor. Er muß in Scenen, worin Kampf und Ueberwindung vorkommt, herrschen, und mit andern schicklichen abwechseln.«

[26] »In Jomelli's Todtenmesse sind mehrere Muster seines Ausdrucks; als gleich bey requiem aeternam, lux perpetua, rex gloriae, de ore leonis, peccata mundi.«

»Gluck braucht den Secundenaccord davon treflich im Orfeo zu Ende des zweyten Akts, bey den Worten des Chors: Che più diviso sia da te; wo er eine dauernde unzertrennliche Glückseligkeit ausdrückt. Von seinem Ausdruck in einfacher Reinheit ist ein schönes Muster in eben dieses Meisters Iphigénie en Aulide (Akt II. Sc. 5.) bey den Worten: Qu'elle n'a rien à craindre. Und zwey andre herrliche Beyspiele seiner Fülle in einem Chore der Iphigénie en Tauride (Akt II. Sc. 6.) bey den Worten: Patrie infortunée, où par des noeuds si doux notre ame est encore enchainée; und in der ersten Scene des vierten Akts derselben, bey Iphigeniens Worten: Dans le fond de mon coeur mets la férocité.«

»Er macht recht das aus, was man im Kolorit saftig nennt.«

»Der dritte Septimenaccord ist der Accord der kleinen Septime mit der kleinen Terz und falschen Quinte. Er kommt in der diatonischen Leiter nur einmal vor. Wenn er wesentlich, und die Dissonanz kein bloßer Vorhalt ist: so drückt er Kampf und Leiden aus, und gehört unter die tragischen.«

»Gluck braucht ihn in der Verwechselung der Sextquinte gleich beym ersten Ausruf des Orestes zu Ende des ersten Akts der Iphigénie en Tauride zu den Worten: O mon ami, c'est moi, qui cause ton trépas. Eben so darin wieder Orestes zum Pylades, in der ersten Scene des zweyten Akts: Je t'ai donné la mort. Und in der zweyten Scene des vierten Akts, wo Orest sterben will: Les dieux m'en avoient fait un devoir nécessaire, in der Verwechselung der [27] Secunde 19.Leo bringt im Miserere durch ihn die rührendsten Stellen hervor. Die herzergreifendste ist: Et spiritum rectum innova in visceribus meis. Bey rectum ist er in der Verwechselung der Terzquartsext mit dem herben Vorhalt der großen Septime. Bey visceribus meis geht ihm dann die große Septime und übermäßige Sext erschütternd vor; und, in visceribus, wird zweymal in der Verwechselung der Sextquinte darin wiederhohlt. Man kann nichts Flehenderes hören, als die, drey Takte lang angehaltne Quinte des Soprans und Sexte, mit Abwechselung des höhern halben Tons in der Melodie, des Tenors dazu. Die ganze Stelle ist noch ein Meisterstück von melodischem Auseinanderbreiten der Stimmen.«

»Bey Septimengängen, wo er in die Dissonanzen der vorigen übergeht, merkt man recht die Schwermuth, die darin liegt.«

»Der Accord, wo die kleine Septime auf dem verminderten Dreyklange nur einen Vorhalt der kleinen Sexte macht, ist die köstlichste, süßeste und erquickendste Frucht des ganzen Tonreichs; bey keinem schmelzen so reizende Tinten zur ausdruckvollsten höchsten Schönheit zusammen; Raphael, Corregio und Tizian können durch die ausempfundenste Mischung der Farben nichts Lieblicheres in Blick, Kuß und Umarmung holder Jungfrauen und Jünglinge, zärtlicher treuer Freunde, darstellen.«

»In der Septime schwebt erstlich das Gefühl des eigentlichen dritten Septimenaccords, nur nicht tragisch, sondern gemildert und gereinigt; dann ihr eignes, als zärtlicher Vorhalt; dann etwas von [28] dem Herben der None, nach der Grundharmonie; ferner im Ganzen desselben das Schmachtende des verminderten Dreyklanges; dann in der Quinte und der bald auf die Septime folgenden Sext dazu das Entzückende des ersten Septimenaccords in der ersten Verwechselung, der Sextquinte; und auf der Note sensible zittert alles vor Lust, und glänzt wie Wonnethräne.«

»Auch haben die größten Komponisten, so wie die bewundertsten Sängerinnen und Sänger, mit diesem Accord ihre höchsten Zaubereyen verrichtet. Er hat etwas äusserst Bittendes und Flehendes; sein eigentlicher Charakter ist die süßeste Zärtlichkeit; und er gehört ohne allen Zweifel zu den entzückendsten Accorden für den Ausdruck.«

»Majo braucht ihn meisterhaft in dem herrlichen Duett am Ende des zweyten Akts vom Montezuma:

Caro ti lascio addio!

Ben mio addio!

Er läßt in ihm auf der Silbe di eine Kadenz halten, und bringt ihn, zur höchsten Verstärkung des Ausdrucks, gleich wieder auf einem andern Tone bey den Worten: Mi si divide il cor.«

»Jomelli im zweyten Akt des Vologeso (Scene 2) bey Lascia mi, o cara, la pace in sen. Und in der göttlichen Arie der Berenize im zweyten Akt eben dieser Oper bey L'ira sospendi, sospendi l'ira!«

»So in Glucks Alceste bey Io morirò d'amor in der schönen Arie Non vi turbate, no! (letzte Scene des zweyten Akts.) Und doppelt bey den Worten des Achilles in der Iphigénie en Aulide (Akt II. Sc. 5.): Je saurai me contraindre.«

»Noch eins der schönsten Muster seines Ausdrucks ist in desselben [29] Meisters Iphigenia in Tauris (Akt III. Sc. 4.) bey den Worten des Pylades: Oreste, hélas! peut-il me méconnaître 20

»Der vierte Septimenaccord ist der Accord der großen Septime mit der reinen Quinte und großen Terz. Er kommt in der diatonischen Leiter zweymal vor.«

»Bey diesem ist die Kraft am angestrengtesten, und er gelangt erst durch die Tiefen der vorigen wieder zur Ruhe, oder reinen Existenz. In seinen Verwechselungen ist er der ungelenkigste unter allen.«

»Ein vortrefliches Muster seines höchst tragischen Ausdrucks ist in Admets No, crudel, in Glucks Alceste bey den Worten: E un si barbaro abbandono, in der ersten Umkehrung desselben, der verkleinerten Sext; wo aber die Melodie den Sturz der großen Septime des Grundaccords selbst hat. Die reine Quinte wird hier herbe Dissonanz, und kämpft recht, wie göttlicher heroischer Charakter in den Tragödien des Sophokles und Euripides, mit den Uebeln der Welt.«

»Viel verstärkter ist sein Ausdruck in der sechsten Scene des zweyten Akts der Iphigenia in Tauris, wo der Chor in Iphigeniens Worte: Mêlez vos cris plaintifs à mes gémissemens; einfällt. Die eingeleitete und dauernde Dissonanz in der Höhe der Melodie zerreißt das Herz.«

»Am schneidendsten wird er in derselben Oper von diesem großen Meister des Ausdrucks angebracht, wo Iphigenia dem Orestes das Herz durchstoßen soll: Je tremble, et mon bras plus timide – Chor: Frappez!«

[30] »Nicht so in regelmäßiger Folge, sondern nur als Accent der Wehmuth, Bitterkeit, des Abscheus und Entsetzlichen, thut schon die verkleinerte Sext die größte Wirkung; und die Meister im Tragischen bringen dadurch die vortreflichsten Stellen hervor.«

»So gebraucht sie Traetta für Muttermord im Chor der Furien, die den schlummernden Orestes peinigen, bey den Worten: D'una madre svenata da te, zu zvenata. Gluck fühlte nicht so tief, als er dieselbe Empfindung bey Il a tué sa mère, zwey Takte lang in der übermäßigen Sext ausdrückte; hier gleichsamRubens gegen Raphael. Im Orfeo hat er sie doch treflich bey den Worten Cosa sìa languir d'amour; und so in der Iphigenia in Aulis, wo Agamemnon klagt: D'une victime si tendre et si chère.«

»So gebraucht sie Jomelli im Cajo Fabrizio in der dritten Scene des dritten Akts: La vita mi sento mancar; und in der letzten Scene des ersten Akts der Dido, Mi sento morir.«

»Pergolesi in seiner berühmten Arie: Se cerca se dice bey piangendo partì; und mehrmals im Stabat mater und Salve regina.«

»Der Grundbaß der wesentlichen Septimenaccorde schreitet mit der Quart in die Höhe, und mit der Quint in die Tiefe, wodurch man sie am leichtesten von bloßen Vorhalten unterscheiden kann.«

»Ein uneigentlicher Septimenaccord ist der Accord der verminderten Septime auf dem verminderten Dreyklang: er gleicht in seinem Ursprung dem mit der kleinen Septime darauf, und ist, wie dieser, ein Septnonenaccord; die verkleinerte Septime geht eben so in die Sext vom Quintsextenaccord der ersten Versetzung des ersten Septimenaccords über.«

»Er ist der sinnlichste Ausdruck des Leidens: nichts sträubt und wehrt sich mehr darin; lauter Elegie und Wehklage; der Zusammenklang [31] aller Gefühle und Empfindungen, besonders nach der tragischen Katastrophe; in einer Reihe nach einander fast zu weiblich für edle Jünglinge und Männer. Gluck braucht ihn zu häufig; aber nichts drückt den Moment der tiefsten Niederbeugung besser aus. Bey Entzücken, das an Schmerz grenzt, ist er im Taumel der Lust noch an seiner Stelle. Er gestattet nur weiche zarte Töne.«

»Eine verlaßne Ariadne; ein Petrarca, der den Tod seiner Laura beweint; junge Trojaner und Trojanerinnen, die zur Sklaverey abziehen: das sind die traurigen rührenden Bilder dazu; Saiteninstrumente die schicklichste Begleitung.«

»Reizende Beyspiele dieses Ausdrucks findet man bey den großen Meistern überall. Eins der schönsten mag wohl gleich zu Anfang der Kantate Orfeo vonPergolesi seyn, bey den Worten: E qui nel muto orrore in dolci accenti, wo dieser Accord nach der verkleinerten Sext auf orrore entzückende Wirkung thut.«

»In den Verwechselungen wird er durch den Kontrast doch zuweilen grell und schneidend.«

»Auf ihm werden eigentlich die enharmonischen Gänge gemacht; er ist gleichsam der Kapitalschlüssel der Harmonie, und man kann mit ihm überall hingehen.«

»Wenn die verkleinerte Septime auf dem verminderten Dreyklang nur Vorhalt der Sexte ist: so schwebt sie auf der Note sensible der weichen Tonart; und Septime und Note sensible drücken eben so die Begierde aus in eine beruhigende Harmonie sich aufzulösen, als die kleine Septime auf der Note sensible der harten Tonart. Beyde sind zärtliche oder entzückende Berührung zur Vereinigung. Die Note sensible schwillt unwiderstehlich in den Grundton; die Septime schmilzt in die reine Quinte, entweder unmittelbar, oder indem sie [32] durch die Sext sie erst betastet, und die Fülle der kleinen Terz und falschen Quinte bildet sich zur Terz des Dreyklangs.«

»Man streitet über den Ursprung des Accords der übermäßigen Sext; je nachdem man die Quart oder die Quinte dazu nimmt, kann man ihn von zweyerley Septimenaccorden herleiten: dem Accord der kleinen Septime auf dem verminderten Dreyklange, und dem Accord der verkleinerten Septime. Die erste Herleitung hat die Geschichte der Musik für sich. Die Alten brauchten den Terzquartenaccord, um zu einer Art von Schluß auf der Dominante der weichen Tonarten zu gelangen. Wir thun dieß ebenfalls, und erhöhen nur die Sext einen halben Ton, um zur Dominante dieNote sensible zu erhalten, welche jenen fehlte.«

»Andre behaupten, er sey eine Umkehrung des verkleinerten Septimenaccords, und wollen dazu die Quinte, oder, wegen Gefahr verbotner Quinten, nur die Terz, welche man verdoppeln kann; der Baß aber, sagen sie, werde einen halben Ton niedriger genommen, um den Charakter der weichen Tonart im Absteigen beyzubehalten. Wenn man den Accord versetze, so komme die Septime sogleich, nur mit der verminderten Terz, zum Vorschein.«

»Die übermäßige Sext ist herber Uebergang in die Dominante oder Quinte eines Molltons. Ihr Ausdruck ist tiefes Weh, äußerster Schmerz, der seiner Natur nach wenig Momente dauern kann, wie wenn man eine Wunde bekommt durch Stich oder Hieb. Sie drückt gewissermaaßen die Schärfe, die Spitze aus, wodurch das Leiden entsteht.«

»Im Stabat mater von Pergolesi ist sie an ihrer rechten Stelle bey den Worten: In tanto supplicio. In der Kantate Orfeo braucht dieser Meister sie dreymal hinter einander bey Euiridice, dove sei, e dove, dove sei!«

[33] »So braucht Jomelli sie recht wesentlich, wo Aeneas der Dido ankündigt, daß er sie verlassen muß; und sie darauf in plötzlichem Erschrecken ausruft: A chi, misera me, darò più fede! tief aus der Seele.«

»Im Ippolito ed Aricia von Traetta ist ein Meisterstück von ihrem Gebrauch gleich in der ersten Scene. Aricia soll aus Politik des Theseus sich der ewigen Keuschheit im Tempel der Diana und zu ihrer Nymphe widmen; liebt aber den Hippolyt, der ihr seine Leidenschaft schon zu erkennen gegeben hat. Diese Situazion ist durch die Musik ganz vortreflich aus der zarten jungfräulichen Seele dargestellt; ein Triumph der Gabrieli

»Als die fromme Unschuld in dem feyerlichen Tempel auftritt, ruft sie voll Kummer aus: O di tranquilla pace amabil sede, ascolta, o tempio, i voti miei.«

»Auf einem Worte, wo man es nicht denken sollte, auf amabil, herrscht in der Musik der Schmerz der übermäßigen Sext; und vortreflich, aus dem Innersten geschöpft! Nichts konnte das Mißhellige des Gegenstandes für das innre Gefühl besser ausdrücken. Die Scene ist recht im großen Styl; das Gold vom Genie hervorgegraben und herausgeschmolzen, die Wortschlacke den Schulmeistern überlassen. Alsdann folgt die süße Wehmuth der verkleinerten Septime durch das Ganze.«

»Paesiello braucht in seiner Passion bey den Worten: Tutto geme il mondo afflitto, zu geme erst die verkleinerte Septime selbst, und giebt der Melodie die verkleinerte Terz davon, anstatt der kleinen, in einem Abstand von zwey Oktaven, wo sie dem Gehör faßlich wird.«

»Noch mehr wird sie es in einem Abstand von drey Oktaven; näher [34] klappt sie eher als daß sie klänge, drückt aber Stöhnen von beklemmtem Herzen und höchste Wehmuth vortreflich aus. Bey afflitto kommt dann die übermäßige Sext durch die Umkehrung.«

»In großen Werken darf man nicht damit spielen, nicht das Pulver zur leeren Pracht vergebens verschießen, um das mit der Kugel geladne Gewehr zur rechten Zeit abfeuern und den bestimmten Fleck treffen zu können.«

»Die übermäßigen Intervallen drücken überhaupt heftige Leidenschaft aus, die sich nicht mehr verbergen kann. Als Beyspiel von der übermäßigen Secunde: Padre, regina, deh! questo cor lasciate; Hippolyt im dritten Akt, bey Traetta

»Jomelli braucht dieselbe vortreflich mit der übermäßigen Quart siebenmal nach einander, bey den Worten des Orestes: Cessa, di lacerarmi, di lacerarmi il core.«

»So Traetta, zweymal die übermäßige Quart bey der Phädra, die über den Hippolyt erbittert ist:Perderlo vorrei, perderlo vorrei.«

»So wieder Jomelli die übermäßige Quinte bey der Stelle des Orestes: Nascondimi di quel seno l'acerba ferità.«

»Uebrigens kann man den Ausdruck der einzelnen Intervallen, auch für die bloße Melodie, weder im Aufsteigen, noch im Heruntergehen bestimmen, wenn man nicht schon in der Harmonie der Dreyklänge damit anfängt. Zwey Töne machen noch kein Ganzes aus; wenigstens muß der dritte hinzugedacht werden. Wer zum Beyspiel sagt: die kleine Terz ist traurig, die reine Quinte fröhlich; der müßte den weichen Dreyklang aus traurig-fröhlich bestehen lassen. Und wenn er den Ausdruck der großen Terz im Heruntergehen melancholisch schildert: so könnte ein Ding zum Vorschein kommen, das traurig-fröhlich-melancholisch zu gleicher Zeit wäre.«

[35] »Die Vorhalte sind gleichsam Mitteltinten, die Harmonie zu verschmelzen; sie können bey allen Accorden und deren Verwechselungen angebracht werden, geben denselben oft einen starken Reiz, und machen die zufälligen Dissonanzen aus. Sie drücken entweder ein Sträuben, oder eine Begierde aus bey Freude und Leid. Es kommt auf Ort und Umstände an, ob sie edel oder unedel sind, ob sie Kraft und Stärke, oder bloße Ziererey, Empfindeley und unerträgliche Künsteley zeigen.«

»Der wichtigste unter ihnen ist der Vorhalt der None, welche die Terz und Quinte bey sich hat, und sich dadurch von der Secund, unterscheidet. Das Sträuben darin kann Widerwille und Haß werden.«

»Und nächst der None der Vorhalt der Quarte, die sich zuweilen von ihrem vorigen Vergnügen noch nicht losreißen kann, oder lüstern den neuen Genuß beschaut.«

»Secunde, Quart, Sext, Septime und None können, jede einzeln, und mehr oder weniger beysammen, den Vorhalt ausmachen; sie bleiben allezeit aus dem vorigen Takt in dem neuen liegen. Quart und Sext sind die angenehmsten; besonders ist die Sext ein ungemein reizender Uebergang bey den Accorden der kleinen Septime: ganz Jungfräulichkeit, die sich sträubt, doch von der Natur unüberwindlich hingerissen wird. Sie sind die Quellen der Manieren im Singen und Spielen; und aus ihnen entsteht gleichsam die gute Lebensart im Gesang.«

»Das beste System für die Musik ist das, worin man das Ganze der Harmonie am leichtesten übersehen, und die Regeln, nach welchen die großen Meister gearbeitet haben, am richtigsten und faßlichsten entwickeln kann. Ein bequemeres, als das alte war, erdachte [36] Rameau; man sollte seine Verdienste nicht verkennen, und endlich einmal in Deutschland aufhören, den Franzosen in ihm zu verfolgen. Kirnberger machte es nur einfacher, und dabey vollständiger; einiges Falsche, das man schon vorher bemerkt hatte, ward darin ausgemerzt. Aber noch immer finden sich Schwierigkeiten in den Versetzungen der Septimenaccorde, und den Vorhalten, wo beyde sich in einander verlieren; die Natur unterwirft sich nirgends so ganz der Regel.«

Reinhold hatte mit der größten Aufmerksamkeit zugehört, und sagte: »Man kann fast nicht zweifeln, daß der wahrste und eigentlichste Ausdruck bey allen diesen Stellen in der gebrauchten Harmonie liege, besonders wenn sie von solchen Kehlen und mit solchem lebendigen Gefühl vorgetragen werden. Inzwischen glaube ich doch, daß bey einigen, für den größern Theil des Publikums, schönere Melodie das völlig ersetzen könnte, was ihr an ächtem Gehalt bey andrer Harmonie abgehen möchte.«

Lockmann erwiederte: »Warum sollte nicht die schönste Melodie mit der wahrsten Harmonie vereinigt seyn können?«

»Der vortreflichste musikalische Ausdruck irgend einer Empfindung, einer Leidenschaft, beruhet fürs erste auf der Harmonie; nach deren Verhältnissen kommt dann der Vortrag in der gefälligsten Melodie, und mit dieser der ergreifendste Rhythmus.«

»Alle drey müssen vereinigt seyn; aber die erste ist das Wesentlichste: sie enthält die Elemente, aus denen die andern beyden bestehen. Man mag Messing noch so schön prägen, und auch etwas von dem königlichen Metall hinzu gethan haben: die Kunst der Bildung wird, was den inneren Werth betrift, nie die Gediegenheit des Goldes ersetzen.«

[37] Der Alte erwiederte lächelnd: »Wir wollen keinen neuen Streit anfangen; sonst könnt' ich sagen: Luft ist Luft, und nicht so verschieden, wie Metalle. Ich fühl' es, daß man bey so gewaltigen Gefühlen, wie zum Beyspiel in der Iphigénie en Tauride herrschen, in der Harmonie so tief gehen muß, als man kann; daß der Accord der großen Septime hierbey ein ungleich mächtigerer Hebebaum ist, als die andern, und daß die schönsten Phrasen in Terzen und Sexten dagegen kindisch sind.«

»Friede! Friede und Freude, Lust und Wonne für den reizenden Unterricht, den ich vor vielen Jahren genossen zu haben wünschte! Man lernt dadurch Kern von Schale richtiger unterscheiden.«

Es ging nun zu Tische. Auch die Mutter war ausgegangen, und hatte die Frau von Lupfen, die ihr unterweges begegnete, mitgebracht. Als man an der Tafel in Ordnung war, fing Hildegard an, den Alten wegen seiner vorigen Geringschätzung der Instrumentalmusik zum Besten zu haben, und sagte: »Sie scheinen nun mit Herrn Lockmann einverstanden zu seyn, daß jeder Accord seinen besondern Ausdruck habe, und daß man etwas Besonderes dabey empfinde, auch ohne daß Worte es bezeichnen. Musik an und für sich wäre demnach die reine und allgemeine Kunst; und Vocalmusik nur ein Theil davon. Die allgemeine stände weit über dieser, und ließe sich nur zu ihr hernieder.«

Auch Lockmann neckte ihn: »Oder die Dichter erhöben sich zuweilen bis zu dem Tonkünstler, und ersännen Worte zu dessen Melodien; wie man es beyHaydn und bey vielen reizenden Liedermelodien in mehreren Sprachen versucht hat. Man machte das Hemde und den Rock nach dem Leibe.«

Die Frau von Hohenthal selbst fügte lächelnd hinzu: »Noverre [38] behauptete, ein Tonkünstler, der für das Ballet schreiben wolle, müsse, wo nicht selbst Tänzer seyn, doch die Tanzkunst vollkommen verstehen. So wie der Tonkünstler zu den Texten des Dichters Melodie und Harmonie erfände: so sollte eigentlich der Balletmeister seine Tänze zu dem Rhythmus der Musik und zu ihrem Ausdruck überhaupt, erfinden.«

Reinhold antwortete: »Ich alter Mann bin seit Kurzem noch von mancher Meinung zurückgekommen. So glaubt' ich zum Beyspiel, daß keine Sängerin in der Welt mit ihrer Stimme Farinelli'n undCaffarelli'n gleich kommen könne; und hier vor mir blüht und strahlt in üppiger Schönheit die lebendige Widerlegung: aber auch die Widerlegung alles jetzt Gesagten.«

»Zugegeben, wenn Sie wollen, daß die reine allgemeine Musik für die Region der Geister seyn mag. Für mich ist die Musik bloß menschliche Kunst; der Mensch brachte sie aus sich selbst hervor, und sie hat aller andern Natur wenig zu danken. Die menschliche Stimme ist der erste Quell derselben, gute Vocalmusik das Muster aller; und die Sprache davon unzertrennlich.«

Lockmann erwiederte: »Die Musik ist eine Kunst, die hauptsächlich das Innere, Unsinnliche, weit umher für das Ohr in die Lüfte verbreitet, und allgemein ausdrückt, was die Sprache oft nur rauh und eckicht andeuten kann. Wer keine gute Stimme hat – warum sollte der es nicht mit Instrumenten thun?«

Frau von Lupfen fiel ein: »Nicht wahr, lieberReinhold, Krücken und Stelzen? Die menschliche Stimme allein kann Empfindungen durch Töne ausdrücken, welche nicht mehr allgemein sind, sondern etwas ganz Bestimmtes von Person zu Person sagen.« Dann wendete sie sich zu Hildegarden, und[39] sagte: »Boshafte! Dein Sieg über uns sollte Dir, auch unerörtert genug seyn.«

Diese erröthete, und erwiederte: »Boshafte, Du selbst! – Instrumentalmusik, worin Fluß wahren Gefühls, und Schwung, Flug origineller Phantasie herrscht, von Virtuosen in höchster Fertigkeit vortreflich vorgetragen, drückt ein so eignes geistiges Leben im Menschen aus, daß es jeder anderen Sprache unübersetzbar ist. Herr Reinhold muß die Meisterstücke von Tartini und Pugnani ganz vergessen haben.«

Hohenthal hemmte den Zwist sogleich dadurch, daß er der Frau von Lupfen, neben welcher er saß, scherzend ins Ohr raunte: »Meine Schwester ist unschuldig; warum haben wir unsre schönen Stimmen verloren!«

Der Alte ergötzte sich an dem Muthwillen, und fing nun wirklich an, die Instrumentalmusik zu preisen. Er rühmte sie für den Tanz, für die Jagd, für die Kriegsschaaren, und überhaupt als umgebende Pracht und Herrlichkeit der Menschenstimme aus der Natur um sie her. Auch erzählte er dazu manche Beyspiele.

Es war eine Lust, ihn reden zu hören, und zu sehen, wie die blühende Jugend ihm dafür liebkoste.

Das machte ihn weichherzig, und er fuhr dann fort: »Nun kann ich zufrieden den Ueberrest meines Pfades wallen. Ich habe viel Schönes und Gutes auf dieser Welt empfunden und genossen; und noch die letzten Sonnenblicke des Lebens erheitern warm und erfreulich meine Seele. Auch bleiben in den angenehmsten Gegenden von Europa Denkmahle von mir zurück, bey denen man sich meiner vielleicht mit Wohlwollen erinnern wird.«

Dieß rührte die Frau von Hohenthal innig, und sie wünschte die [40] Risse von seinen merkwürdigsten Gebäuden zu sehen. Selbst in Italien hatte er einige, unter andern ein Theater, aufgeführt; auch in der Provence und der Schweiz; in Deutschland mehrere bequeme Wohnungen. Dann war er Erbe eines sehr wohlhabenden Oheims in Holländischen Diensten geworden, und hatte sich in der schönen Gegend am Rheinstrom, seinem Vaterlande, zur Ruhe gesetzt.

Er versprach, einige von seinen Rissen hervorzusuchen, und fügte hinzu: »Das Ohr ist ein weit feinerer Sinn, als das Auge: es empfindet die Verhältnisse viel richtiger, und bildet den Geist, daß er die Schönheit derselben erfinden und beurtheilen kann. Was Ihnen an meinen Arbeiten gefallen mag, hab' ich wohl der Musik zu verdanken. Lockmann hat mich recht ergriffen, als er das Verhältniß der Oktave mit der schönsten Form der Thüren und Fenster verglich. Eben so haben wir in der Baukunst Quinten, Quarten, Terzen und Sexten, und überhaupt, was er die vollkommne Existenz in der Tonkunst nennt. Ich kann sie Ihnen selbst an diesem Hause zeigen, welches mir unter allen meinen Gebäuden das liebste ist.«

Dieß war nun wie zur Erkenntlichkeit aus Lockmanns Seele. Feyerabend nahm ihm das Wort vor dem Munde weg, und sagte:

»So war die Erziehung der Griechen ein immerwährendes Gefühl von Harmonie: Gymnastik für den Körper; Musik für Herz und Geist. Wie die Musik: so beruht die ganze Moral, und endlich jede Kunst, auf Verhältnissen. Glücklich der Mensch dessen moralischer Sinn die Harmonie der Tugenden so leicht erkennen kann, wie unser göttliches Ohr die Reinheit der Konsonanzen!«

Lockmann fuhr fort: »Warum sollt' es nicht auch bey uns einmal [41] wieder so werden? Wie viele müßige Stunden hat nicht der junge Bürger, selbst der Landmann, der Soldat, der Jäger, der Künstler, und die Jugend überhaupt, wo sie nicht wissen, was sie vor langer Weile anfangen sollen? Es fehlt nur zweckmäßige Anleitung; die mehrsten würden sich gern mit Musik beschäftigen. Doch zeichnen sich Böhmen, Thüringen und Sachsen, nächst Italien, schon jetzt durch musikalische Erziehung vor allen Ländern der Welt aus.«

Unter diesen und andern angenehmen Gesprächen, kam man mit der Mahlzeit bis zu den schönen Früchten. Endlich schenkte Hildegard aus einer Flasche aromatisch duftendem Johannisberger die Gläser voll, stieß mit dem guten heitern Reinhold an, indeß die Andern das Beyspiel fröhlich befolgten, und sagte: »Ewige Lust und Wonne den Erfindern der Trompete, des Horns und der Pauke, der Geigen und Klaviere!« Frau von Lupfen fuhr in dem Tone fort: »Die edle Menschenstimme sey überall die Königin, der sie huldigen!«

Man stand auf, und ging in ein Nebenzimmer zum Kaffee. Hohenthal mußte hernach einige von seinen Zeichnungen hohlen.

Er brachte bald architektonische und andre; auch eine von einem Englischen Kriegsschiffe mit vollen Segeln in See. Der alte Meister lobte ihn nach Verdienst wegen der Richtigkeit, Schönheit und zweckmäßigen Manier, gab ihm gefällig hier und da ersprießlichen Unterricht, und rühmte, ganz frey von Neid und Eifersucht, die Englischen Architekten, nach deren Gebäuden er zwey aufgenommen hatte. AuchLockmann bewunderte die Fertigkeit des Jünglings. Hildegard und Frau von Lupfen sagten ihm mit Empfindung angenehme Worte; so daß der Edle erröthete, und die Zeichnungen geschwind[42] wegtrug. Zur fernern erfreulichen Unterhaltung kam er mit den Ruinen von Palmyra und Balbeck wieder.

Reinhold hatte in Rom den Borra, welcher sie zeichnete, persönlich gekannt, und eben dort den geistreichen gefühlvollen Wood einigemal gesprochen; bey der Erinnerung an sie machten diese Meisterstücke ihm doppelte Freude.

Nachdem sie bey dem Schönsten sich eine Weile aufgehalten hatten, sagte er: »Nach dem Perikles ist das erste Jahrhundert die dritte goldne Periode der Baukunst. Die Peterskirche muß an Schönheit und Pracht den zwey Sonnentempeln weichen. Sonderbar, daß in dem kleinen Bezirk, von wo die großen weitverbreiteten Religionen über unsern Erdball ausgingen, die Denkmahle von Verehrung der sichtbaren ungeheuern Lebensquelle, auch in Ruinen, alle anderen Tempel überblenden!«

Feyerabend bemerkte ferner, indem er die drey hundert und vier und achtzig haushohen Marmorsäulen vom Hof des einen berechnete: »Verehrung der Universalwesen, wovon wir und alle einzelnen Dinge abstammen, ist bey dem sich selbst überlassenen Menschen ganz natürlich. Er hält, wenn nicht übernatürliche Offenbarungen ihn eines Bessern belehren, Sonne und Feuer im April, May und Junius sehr leicht für den allgemeinen elastischen Zeugungsgeist, und die andern Elemente für die reizenden Grazien, mit denen er sich begattet.«

Das Gespräch kam nun auf die Zenobia, das in jeder Rücksicht, auch im Genusse der Liebe, außerordentliche Weib. Hohenthal übersetzte Reinholden Woods meisterhafte Schilderung von ihr, bis dahin wo sie wieder zum Gewöhnlichen und Niedrigen herabsinkt, und in der Gefangenschaft ihre erhabnen Freunde verräth.

[43] Die Geschichte machte auf Hildegarden tiefen Eindruck, den sie nicht verbergen konnte. Sie drücktePalmyra an ihr Herz, und sagte dabey: »O edle Kunst, Stolz und Zierde des Menschen! du machst uns allgegenwärtig.«

Sie und Lockmann mußten dem Alten noch ein paar Duette singen. Hildegard dankte ihrem Lehrer dann scherzhaft, daß er wenigstens von einigen Provinzen Deutschlands gut gesprochen habe; und so gingen sie aus einander.


Unterdessen feyerte der Prinz nicht. Er suchte Mittel und Wege, Hildegarden allein zu erhaschen; dieß war ihm aber bis jetzt noch nicht gelungen, da sie sich so klug und fein vor ihm hütete. Er hatte, um Gelegenheit zu finden, schon öfters ihre Mutter und ihren Bruder besucht; durch seinen KammerdienerLux, einen durchtriebnen Vogel, aller Schelmstücke voll, ihr Kammermädchen zu gewinnen getrachtet; und dieses, durch Veranstaltung auf einem Spaziergange, wo Lux aus Ehrerbietung sich absonderte, selbst gesprochen: aber alles war vergeblich; Fanny stand schon in Verbindung, die sie unbestechlich machte. Das viel ältere Kammermädchen der Mutter,Susanna, eine Betschwester und eine Deutsche, schien für seine Absichten unbrauchbar.

Mit Wolfseck war nichts auszurichten: das sah er wohl ein. Nun ging sein Plan darauf, sich Zeit und Spielraum zu verschaffen. Er wollte Hildegarden, auch wider ihren Willen, nach Wien bringen: in eine größere Sphäre, wo Zerstreuungen und Verführungen aller Art weit leichter seyn würden. Mit dem jungen schönen Lockmann argwohnte er, bald nach seinen ersten Angriffen, ein tieferes Verständniß. Ein so kluges Frauenzimmer, meinte er, das von der Natur [44] so reichlich zum höchsten Vergnügen ausgesteuert sey, könne auf dieses unmöglich so ganz Verzicht thun. Wallersheimen hielt er für zu leicht und zu geckenhaft, als daß sie an eine ernsthafte Verbindung mit ihm denken sollte; und er hatte bey ihm das Wahre getroffen. Von dem reizenden Kapellmeister getrennt, glaubte er, würde sie wohl zahmer werden. An eine Verheurathung mit Törring, um nicht sitzen zu bleiben, dächte sie wahrscheinlich eben so wenig, als an eine mit Wolfseck.

Die Hauptstadt von Oestreich war für den jungenHohenthal gewiß der beste Ort, sich für seine künftige Bestimmung zu bilden. Dagegen konnte nichts eingewendet werden. Die Mutter reiste wenigstens auf ein halbes Jahr mit ihm dahin; wo konnte sie in Deutschland den Winter angenehmer zubringen, besonders da sie in der Residenz des Fürsten keine Wohnung hatte? Daß die Tochter beyde begleitete, war höchst schicklich. Für sie besonders mußte Wien, der Musik wegen, viele Reize haben; auch konnte er sagen: dort sey Gelegenheit für sie, eine große Partie zu machen. Er fühlte wohl, daß der Fürst, der von ihrem Umgang bezaubert war, sie ungern entbehren würde; aber er durfte ja nur vorstellen: es wäre bloß auf einen Winter, und sie käme im Frühling mit neuen Vollkommenheiten zurück. Die Fürstin sollte getreulich dazu helfen.

Fürs erste suchte er den jungen Hohenthal nach diesem Aufenthalt lüstern zu machen, und schilderte ihm mit Beredtsamkeit alle die Vortheile, die er dort für seine künftige Laufbahn hätte. Dieß gelang ihm gleich nach Wunsch.

Alsdann wendete er sich an die Mutter, in Gesellschaft der Fürstin. Die Sache war so klar, daß sie wenig Bedenklichkeiten gestattete; Hohenthal konnte nirgends seine Studien mit mehr Nutzen fortsetzen, [45] und bessere Bekanntschaften für die Zukunft machen. Hildegard regte ihr zwar dabey das Herz auf, und sie blickte dem Prinzen hell in die Augen; inzwischen verließ sie sich darauf, daß ihre Tochter den edelsten Charakter hatte, und der großen Welt schon gewohnt war.

Der Prinz redete mit seinem Vater darüber, wie sich leicht denken läßt, nur in Rücksicht Hohenthals; und erhielt dessen ganzen Beyfall. Es könne nicht fehlen, meinte der Fürst: der heroische, verstand- und kenntnißreiche Jüngling müsse bey dem erhabnen Joseph bald wohl angeschrieben stehen.

Man dachte auf baldige Ausführung des Plans.

Es fiel Hildegarden sehr auf, als die Mutter ihr zuerst Nachricht davon gab. Sie wurde davon ganz durchdrungen, wußte sich nicht sogleich zu fassen, und schwebte mit der Mutter im Zimmer auf und nieder. Der angelegte Plan war ihr deutlich; und sie brach nur deshalb nicht los, weil ihre Mutter hinzusetzte: »Gluck und Haydn sind jetzt die größten Meister der Musik in Deutschland, und wohl in ganz Europa. Auch kommen die besten Italiänischen Sänger und Sängerinnen nach Wien; deren Bekanntschaft wird Dir schon allein sehr angenehm seyn und viel Vergnügen machen.«

»O gewiß!« antwortete Hildegard leise obenhin, in andres tiefes Nachdenken verloren.

Der Mutter selbst lag es am Herzen, sie bey dieser Gelegenheit aus den gefährlichen Verbindungen zu bringen, in welche sie unschuldiger Weise gerathen war. Wallersheim stand ihr nicht an; überdieß hatte sie in Erfahrung gebracht, daß er vorher Neigung für die junge Wolfseck habe blicken lassen, und wollte nicht doppelte Feindschaft auf sich laden.Törring war ein heftiger Mann; und [46] bey seinen Jahren ließ sich keine gute Ehe mit ihm erwarten. Der schöne Kapellmeister, den Hildegard so oft sah, mußte doch endlich Verdacht erregen. Aus allen diesen Gründen hatte die Mutter den Vorschlag angenommen.

Es ward darüber ein Besuch angemeldet; so konnteHildegard sich entfernen und weiter für sich überlegen.

»Armer Lockmann!« das war ihr erstes Wort, als sie in ihr Zimmer trat. – »Doch vielleicht ist es in dieser Rücksicht gut; was hätte endlich daraus werden sollen? Ach, der Holde liebt mich zu zärtlich, zu feurig, als daß ich eine bloße freundschaftliche Verbindung mit ihm wagen könnte. Genug, ich habe mich mit ihm zu weiter nichts verpflichtet. Er muß sein Schicksal standhaft ertragen, und es soll nur kurze Zeit dauern. O, könnte ich aus einem Schiffbruch an die Küsten von Sicilien, Spanien oder Portugall schwimmen, und, jedem unbekannt, mein Glück mir selbst schaffen! Welche Fesseln! Verzeih es mir, herzlich geliebte Mutter! Theurer Bruder! Doch wenigstens soll dem Prinzen seine Absicht nicht gelingen.«

Den neuesten Brief der Herzogin D****, welche ihr die Dido von Piccini aus Paris geschickt, hatte sie erst vor einigen Tagen aus Lucern erhalten. Ihre Freundin meldete ihr darin, daß sie, nach kurzen Spazierreisen in die Runde, sich einige Wochen in Basel aufzuhalten gedächte, wohin sie ihre Antwort richten könnte. Wie ein Blitz flog der Gedanke in Hildegards Seele: »Wenn du mit der D**** eine Zusammenkunft veranstaltetest, die Lupfen auf ihr Gut begleitetest, und jene dorthin, oder auch an einen Mittelort beschiedest! In London waren wir ja Ein Wesen. Sie ist kühn, und hat Geist, wie Keine von unserm Geschlecht. Es ist keine Zeit zu verlieren. Mir drohen die neuen Bekanntschaften in Wien; aus [47] denen werde ich mich nie wieder los wickeln und los reißen. Man wird mir mit Gewalt die Flügel beschneiden.«

Mit diesen Gedanken saß sie bey der Abendmahlzeit, behielt sie beym Einschlummern, wachte mit ihnen auf, und brütete den ganzen Tag über ihnen, so daß sie überall zerstreut war; doch in diesen Momenten ein doppelt reizendes Geschöpf: wirklich genialisch lebhaft. Den Abend, kurz vor dem Abgange der Post, bat sie ihre Freundin in einer Nachschrift zu dem schon fertigen Briefe: sie möchte in Basel noch einen andern von ihr abwarten. Vielleicht könnte sie bey Gelegenheit der Reise nach Wien, die sie ihr gemeldet hatte, es möglich machen, daß sie in der Nähe von Basel einander wieder sähen und sprächen.

Uebrigens stellte sie eben dieselben Betrachtungen an, wie ihre Mutter: daß der Kreis, worin sie lebe, nicht mehr für sie tauge, daß sie den Nachstellungen des Prinzen hier eben so ausgesetzt sey, als an jedem andern Orte, und daß es sich nicht schicke, ihr gewöhnliches Stillschweigen über ihn zu brechen, weil die Mutter sonst nur zu neuer Furcht und unnöthiger Vorsicht veranlaßt werden, und in sie dringen würde, eine Partie zu nehmen.

Hohenthal freute sich wie ein Kind auf Wien.Feyerabend pries den Aufenthalt daselbst aus allen Gründen; die Mutter sah dort die größten Vortheile. Hildegard mußte von ihrer Verstellungskunst Gebrauch machen, und stimmte jungfräulich schüchtern mit in diese Aeußerungen. Der Prinz hielt sich nun klüglich zurück, wie ein Vogelsteller, nachdem er genug gelockt hat, hinter dem Herde bleibt. Uebrigens wurde von dem Vorhaben noch nichts bekannt gemacht.

Im nächsten Konzert sang Hildegard nur das Duett aus Sarti's [48] Giulio Sabino: Come partir poss'io; aber fast zerstreuet, und nicht mit der Lust wie gewöhnlich. Doch entzückten ihre süßen Töne. Die heroische Arie des Giulio Sabino von Lockmann gesungen: La tu vedrai, chi sono, no, non ti parlo invano; ergriff den Prinzen ganz sonderbar. So wie hierin, wurde Lockmann auch in dem göttlichen Rondo: In qual barbaro momento io ti do l'estremo addio! allgemein bewundert. Der Prinz erstaunte bey diesen ersten Worten; doch hörte er bald, daß sie nicht weiter auf die gegenwärtigen Umstände paßten. Hildegard that sich Gewalt an, ihn gelassen anzublicken, und ihm hier und da eine Antwort zu geben. Er machte immer gewandt und fein den Hofmann.

Löffler spielte dazwischen mit seltner Fertigkeit ein Violin-Konzert von Viotti.

Lockmann hatte seine Oper schon seit einigen Wochen zu Ende gebracht, sie doppelt abschreiben, und die drey Akte des einen Exemplars, jeden besonders, leicht und zierlich Italiänisch einbinden lassen. Am folgenden Nachmittag, wo er auf einige Augenblicke mit Hildegarden allein war, überreichte er ihr sein Werk, und nahm sich gleich dafür einen himmlisch süßen Kuß, nach welchem er, wie ein gejagter lechzender Hirsch nach frischen Quellen, so lange geschmachtet hatte.

»Ach Gott!« rief sie, voll wehmüthigen Mitleidens, aus.

Die Mutter war eben bey ihrem Sohne auf der andern Seite; sie kam aber bald wieder, so daß er nur noch sagen konnte: sie möchte verschweigen, daß die Musik von ihm wäre. Er hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was vorging, legte den Ausruf zu seinem Vortheil aus, setzte sich, erquickt und gestärkt, ans Klavier, und fing an.


[49] »Achille in Sciro,


von einem jungen neuern Tonkünstler.«

»Das Gedicht von Metastasio ist das ergreifendste und erfreulichste Schauspiel für diejenigen, die den Achill aus der Iliade kennen.«

»Das Heer der Griechen war versammelt, und schon bereit, nach Troja hinüber zu schiffen, um die Schmach des Vaterlandes zu rächen. Nur ging die Sage: diese Stadt könne ohne den jungen Achill nicht eingenommen werden.«

»Thetis, seine Mutter, wußte aber schon, daß er nach dem Verhängnisse dort umkommen sollte, und hatte ihn durch einen Getreuen, den Nearch, in Frauenzimmerkleidern am Hofe des Lykomedes auf der Insel Skyros versteckt. Er wird da unerkannt unter die Mädchen der Deidamia, Tochter des Königs, aufgenommen. Achilles giebt sich dieser bald zu erkennen; beyde verlieben sich in einander, und so weiter.«

»Ulysses wird auf ein dunkles Gerücht nach Skyros geschickt, ihn dort auszukundschaften. Es gelingt dem Schlauen. Nach einem harten Kampfe zwischen Ruhm und erster Jünglingsliebe in dem Herzen des Helden, bey der hohen Schönheit und dem zauberischen Widerstand der Geliebten, segelt der Kühne mit ihm ab.«

»Der Stoff gehört gewiß unter die anziehendsten; und der Dichter wußte ihn für die Italiänischen Theater, besonders für das Römische, reizend zu bearbeiten. Er hatte im Virgil, Ariost, und Tasso bewunderte Muster vor sich. Die Fabel ist indeß viel reiner und natürlicher, als die von der Dido, und von der Armida. Das Unschickliche darin, nämlich daß man einen Achilles verkleidet unter [50] Mädchen steckt, ohne an den Erfolg zu denken, geht voraus, und fällt nicht auf den Vater der Deidamia; man denkt nun wenig daran, Thetis mag es lächelnd verantworten: es ist nun einmal geschehen, wird für bekannt angenommen, und Dichter sowohl als Zuhörer bekümmern sich weiter nicht darum.«

»Achilles in weiblicher Kleidung muß noch die Sopranstimme haben; sonst würde alle Täuschung verloren gehen. Die Rolle desselben kann bey uns in Deutschland nur eine Sängerin machen, deren Gestalt und Charakter dafür paßt.«

»Das Wesentliche ist: erste Leidenschaft der Liebe, und heroisches Wesen, das sich bey dem Anblick der kriegerischen Gegenstände nicht mehr verbergen läßt; kurz: Kampf zwischen Ruhm und Liebe in dem Herzen eines jungen Helden. Ein Lieblingsthema der Italiäner. Ich selbst habe eine junge Dame in Florenz,Fantastici, über dieses Thema eine Menge vortreflicher Strophen, einige voll des höchsten lyrischen Feuers, improvisiren hören, und mit Lust ihren Gesang auf dem Fortepiano begleitet.«

»Ihre Geschmeidigkeit und Kunst, gnädiges Fräulein, hab' ich schon in den schwersten Rollen bewundert. Möchten Sie doch diese Melodien würdig finden, mich auch durch sie noch zu bezaubern!«

Er spielte ohne weitere Vorrede sogleich die Symphonie: voll edler Zärtlichkeit im Andante, und voll heroischen Wesens im Allegro, das in einen raschen Kontretanz überging, begleitet von Hörnern, Klarinetten. Flöten, Cymbeln, und Handtrommeln für das festliche Getümmel der Bacchantinnen, die aus dem Tempel ihres Gottes ziehn, und dann mit ihren Thyrsusstäben ein kurzes Ballet unter folgendem Wechselgesange beginnen:


[51] Coro.

Ah, di tue lodi al suono,

Padre Lieo, discendi!

Ah, le nostr' alme accendi

Del sacro tuo furor!


Parte del Coro.

O fonte de' diletti,

O dolce obblio de' mali,

Per te d'esser mortali

Noi ci scordiam talor.


Tutto il Coro.

Ah, le nostr' alme accendi

Del sacro tuo furor!


Parte del Coro.

Per te, se in fredde vene

Pigro ristagna e langue,

Bolle di nuovo il sangue

D' insolito calor.


Tutto il Coro.

Ah le nostr' alme accendi

Del sacro tuo furor.


Parte del Coro.

Chi te raccoglie in seno,

Esser non può fallace;

Fai diventar verace

Un labbro mentitor.


Tutto il Coro.

Ah le nostr' alme accendi

Del sacro tuo furor.


Parte del Coro.

Tu dai corragio al vile,

Rasciughi al mesto i pianti,

Discacci dagli amanti

L'incommodo rossor.


Tutto il Coro.

O fonte de' diletti,

O dolce obblio de' mali,

Accendi i nostri petti

Del sacro tuo furor.


Chor.

Beym Schall deines Lobes, o Vater Bacchus, steige herab vom Olymp! Entzünd' unsre Seelen mit deiner heiligen Wuth!


Ein Theil des Chors.

O Quelle des Vergnügens, o süße Vergessenheit der Sorgen, du erhebst an deinen Festen uns über der Sterblichkeit Loos.


Der ganze Chor.

Entzünd' unsre Seelen mit deiner heiligen Wuth!


Ein Theil des Chors.

Durch dich, wenn in kalten Adern träge das Blut schleicht und matt wird, wallt es von neuem mit ungewöhnlicher Wärme.


Der ganze Chor.

Entzünd' unsre Seelen mit deiner heiligen Wuth.


Ein Theil des Chors.

Wer dich in den Busen aufnimmt kann kein Betrüger seyn. Durch dich vergißt sich der Lügner, und redet Wahrheit.


[52] Der ganze Chor.

Entzünd' unsre Seelen mit deiner heiligen Wuth.


Ein Theil des Chors.

Du giebst dem Feigen Muth, trocknest dem Betrübten die Thränen, verjagst von liebenden Seelen die beschwerliche Schüchternheit.


Der ganze Chor.

O Quelle des Vergnügens, o süße Vergessenheit der Sorgen, entzünd' unsre Seelen mit deiner heiligen Wuth.


Der Gesang war für zwey Soprane und einen Alt. Die Melodien schmolzen reizend in eine Harmonie, einfach, und abwechselnd voll; die Instrumente flogen jubelnd dazwischen.

Hildegard ward von der schönen, so ganz Griechischen Natur entzückt. Ihr Gesicht glänzte von süßer Empfindung; sie rief einmal über das andre ihm zu: »Vortreflich!« Selbst die Mutter stand dazwischen auf, ließ ihre Arbeit, und lauschte. Lockmann war höchst glücklich.

Hildegard sagte noch: »Der Chor bleibt der Musik eigen, und ist ihr höchster Triumph über die andern Künste; weder die Poesie noch die Mahlerey kann das übereinstimmende Gefühl einer Menge so stark ausdrücken. Bey jener ist das Wort zu willkührlich, als daß viele eben dasselbe treffen sollten;diese hat nur Moment, und zu wenig Dauer. Die Worte der Poesie zeigen sich hier nur wie Wellen [53] im Sturm auf der Tiefe. – Und welch ein treflicher Rhythmus zum Tanze!«

Lockmann fuhr fort: »Die Trompete schmettert plötzlich in der Ferne, unweit des Gestades; sie verkündigt die Ankunft zweyer Schiffe, und hemmt Gesang und Tanz.«


»Deidamia tritt darüber hervor, und sagt zu Achill, der als Pyrrha verkleidet ist: Udisti?

Achille. Udii.

Deidamia. Chi temerario ardisce

Turbar col suon profano

Dell' Orgie venerate il rito arcano?«


Deidamia. Hast Du gehört?

Achill. Ich habe.

Deidamia. Welcher Verwegne wagt es, mit fremdem Laut den geheimen Gebrauch der heiligen Orgien zu stören?


»Und so beginnt reizend das Schauspiel.«

»Deidamia flieht. Ulysses landet, sucht den Achill zu entdecken, und findet ihn nach verschiednen Proben in der Pyrrha.«

»Um dem Ganzen Fülle und Abwechselung zu geben, läßt der Dichter noch vorher den Prinzen Theagenes, welchem Lykomedes seine Tochter zur Gattin bestimmt hatte, auf einer andern Seite der Insel landen.«

»Nearch kündigt dieß dem Achill gleich in der dritten Scene an, um seine Liebe noch mehr zu entflammen; und dieser drückt sein Gefühl darüber in folgender Arie aus:


Involarmi il mio tesoro!

Ah, dov' è quest alma ardita?

A da togliermi la vita.

Chi voul togliermi il mio Ben.


M' avvilisci in queste spoglie

Il poter di due pupille;

Ma lo so, ch'io sono Achille,

E mi sento Achille in sen.«


Mir mein Kleinod rauben? Ha, wo ist diese kühne Seele? Der muß mir das Leben rauben, der mir die Geliebte nehmen will.


Die Macht zweyer Augen erniedrigt mich in diese Kleidung. Aber ich [54] weiß, daß ich Achilles bin, und fühle mich Achilles in der Brust.


Hildegard sang sie gleich voll Feuer. In der Melodie blitzten und strahlten die ersten schönen Charakterzüge des Helden.

Deidamia fertigt dann den Prinzen bald ab, in einer Arie, wozu Lockmann Melodie und Begleitung in die Seele und Kehle seiner Hildegard ausempfunden hatte.


Del sen gli ardori

Nessun mi vanti;

Non soffro amori,

Non voglio amanti;

Troppo mi è cara

La libertà.


Niemand sage mir zärtlich vor seine Flamme im Busen. Ich dulde die Liebe nicht, will keine Liebhaber; die Freyheit ist mir allzutheuer.


Herbe Jungfräulichkeit und Dianenwesen, obgleich verstellt, herrschte darin durch und durch. Sie merkte es, und mußte darüber lächeln.

»Alles dient bloß zum Vorspiel im ersten Akt,« fuhr Lockmann fort; »doch ist es Lust zu sehen, was Deidamia und Nearch zu thun haben, den Achill einigermaaßen in die gehörigen Schranken zu bändigen. Ulysses hat dagegen zu leichte Arbeit.«

»Der Kern vom Ganzen ist die siebente, achte und neunte Scene des zweyten Akts; sie gehören unter das Schönste der Italiänischen Oper.«

»In der siebenten giebt Lykomedes dem Ulysses bey Nacht ein Gastmal, in einem prächtigen, herrlich erleuchteten Saale.«

»So bald sie an der Tafel sitzen, fängt die Musik an, und der Chor beginnt nach einer festlichen Einleitung von Instrumenten:«


Lungi, lungi fuggite, fuggite

Cure ingrate, molesti pensieri!

No, non lice del giorno felice

Che un istante si venga a turbar.


Dolci affetti, diletti sinceri

Porga amore, ministri la pace;

E da' moti di gioia verace

Lieta ogni alma si senta agitar.


Lungi, lungi fuggite, fuggite

Cure ingrate, molesti pensieri!

No, non lice del giorno felice

Ch'un istante si venga a turbar.


Fliehet, fliehet weit weit unangenehme Sorgen, beschwerliche Gedanken! [55] Nein, es ist nicht erlaubt, einen Augenblick des glücklichen Tages zu stören.


Süße Gefälligkeiten, lautere Vergnügen erzeige die Liebe, bringe der Friede dar; und von den Gefühlen einer wahrhaften Freude sey jede Seele froh durchdrungen.


Fliehet, fliehet weit weit unangenehme Sorgen, u.s.f.


»Achill, als Pyrrha, steht hinter seiner geliebten Deidamia, und bedient sie. Die Scene ist von dem Dichter mit seltner Grazie behandelt; und die Rolle des verkleideten jungen Helden, des größten unter allen Homerischen, gestattet das erfreulichste Theaterspiel.«

»Lykomedes fragt bald:


Quando da' Greci lidi i vostri legni

L'ancora scioglieranno

Ulisse. Al mio ritorno; altro non manca

Ch'il soccorso di Sciro.

Licomede. O qual mi toglie

Spettacolo sublime

La mia canuta étà!

Ulisse. (Non si trascuri

L'opportuno momento!)

E di te degna,

Gran Re, la brama.«


Lykomed. Wann werden Eure Schiffe von den Griechischen Ufern die Anker lichten?

Ulyß. Bey meiner Zurückkunft; nur der Beystand von Skyros fehlt noch.

Lykomed. O, welch ein erhabnes Schauspiel raubt mir das graue Alter!

Ulyß. (Der günstige Augenblick werde nicht versäumt!) Das [56] Verlangen, großer König, ist Deiner würdig.


»Hier fängt die Begleitung von kriegerischen Instrumenten an, und schwillt nach und nach immer höher.« – Lockmann sang, und schlug mächtig die Fülle heroischer Accorde mit den ergreifendsten Uebergängen.


»Ove mirar più mai

Tant' armi, tanti Duci,

Tante squadre guerriere,

Tende, navi, cavalli, aste, e bandiere?


Tutta Europa v'accorre. Omai son vuote

Le selve, e le città. Da padri istessi

Da vecchi padri invidiata, e spinta


La gioventù proterva

Corre all' armi fremendo. –

– – Chi d'onore

Sente stimoli in sen, chi sa, che sia

Desío di gloria, or non rimane.«


Wo könnte man je so viel Zurüstungen, so viel Heerführer sehen, Zelte, Schiffe, Rosse, Lanzen, Fahnen!


Ganz Europa läuft herbey; die Wälder, die Städte sind leer. Von den Vätern selbst, den alten Vätern beneidet und fortgetrieben, eilt die wilde Jugend tobend zu den Waffen. – –


Wer in der Brust den Stachel der Ehre fühlt, wer weiß, was Verlangen nach Ruhm ist, bleibt nicht zurück.


»Achill geräth außer sich.


Deidamia. Ma Pirra!«


Deidamia. Aber Pyrrha!


Hildegard selbst glühte, und rief dazwischen: »Wahre Beredtsamkeit in der Musik, erst durch sie recht hinreißend.«

[57] »Lykomed fordert ihn zum Singen auf; Deidamia muß ihn selbst bitten.«

»Er setzt sich, rührt die Guitarre, und fängt das reizende Lied an:


Se un core annodi,

Se un alma accendi,

Che non pretendi

Tiranno Amor?

Vuoi, che al potere

Delle tue frodi

Ceda il sapere,

Ceda il valor.


Coro.

Se un core annodi,

Se un alma accendi,

Che non pretendi

Tiranno Amor?


Pirra.

Se in bianche piume

De' Numi il Nume

Canori accenti

Spiegò talor:

Se fra gli armenti

Muggì negletto:

Fu solo effetto

Del tuo rigor.


Coro.

Se un core annodi, etc.


Pirra.

De' tuoi seguaci

Se a far si viene,

Sempre in tormento

Si truova un cor.

E vuoi, che baci

Le sue catene,

Che sia contento

Del suo dolor.


Coro.

Se un core annodi,

Se un' alma accendi,

Che non pretendi,

Tiranno Amor?«


Wenn du ein Herz fesselst, eine Seel' entflammst; was verlangst du nicht, Tyrann Amor?

Du willst, daß der Macht deines Truges die Klugheit und die Stärke weichen.


Chor.

Wenn du ein Herz fesselst, eine Seel' entflammst; was verlangst du nicht, Tyrann Amor?


Pyrrha.

Wenn in weißen Federn der Gott der Götter einst zärtliche Accente lispelte; wenn er unter Heerden ohne Verehrung brüllte: das wirktest du allein durch deine Strenge.


Chor.

Wenn du ein Herz fesselst, eine Seel' entflammst, u.s.w.


[58] Pyrrha.

Wenn ein Herz unter dein Gefolge kommt: so ist es stets in Marter.

Und du willst, daß es seine Ketten küsse, sich weide an seinem Schmerz.


Chor.

Wenn du ein Herz fesselst, eine Seel' entflammst: was verlangst du nicht, Tyrann Amor!


In der Melodie aus Hildegards frischen lächelnden Lippen, und dem Zephyrspiel um sie her, war ein solcher Zauber, daß die Mutter selbst glaubte, noch nie etwas so Liebliches gehört zu haben.

»Jetzt bringen einige von dem Gefolge des Ulysses Geschenke für den Lykomed; unter andern eine herrliche Rüstung mit Schwert und Schild. Achill ruft dabey vor sich aus:«


»O ciel, che miro!

Licomede. Mai non si tinse in Tiro

Porpora più vivace!(ammirando le vesti)

Teagene. Altri sin ora(ammirando le vasi)

Sculti vasi io non vidi

Di magistero egual

Deidamia. L'Eoa marina(ammmirando le gemme)

Non à lucide gemme al par di quelle.

Achille. Ah, chi vide fin ora armi più belle!

(Si leva per andare a veder più da vicino le armi.)«


Achill. O Himmel, was seh ich!

Lykomed. Glänzender ward nie in Tyrus ein Purpur gefärbt!(die Kleider bewundernd.)

Theagenes. Von gleich meisterhaftem Grabstichel(die Gefäße bewundernd) [59] sah ich bis jetzt noch keine Gefäße ausgearbeitet.

Deidamia. So hellleuchtend wie diese(die Edelsteine bewundernd) haben die östlichen Gestade keine Edelsteine.

Achilles. Ach, wer sah je schönere Rüstung und Waffen!(Er steht auf, und geht, die Waffen mehr in der Nähe zu betrachten.)


»Dieß ist ganz nach dem schönen antiken Basrelief.


Deidamia. Pirra, che fai? ritorna

Agli interrotti carmi.

Achille. (Che tormento crudele!)

(di dentro) All' armi! all' armi!«


Deidamia. Pyrrha, was machst Du? kehre zurück zum unterbrochnen Gesange.

Achilles. (Welche grausame Marter!)(Hinter der Scene) Zu den Waffen! zu den Waffen!


»Ulysses hatte auf dem Platze vor der Burg, und in der Burg selbst, ein verstelltes Gefecht angeordnet. Alles läuft davon; nur Achilles bleibt, und, in einen Winkel versteckt, Ulysses mit seinem Vertrauten.«

»Nun kommt die göttliche achte Scene.«


»Achille. Ove son? Che ascoltai? mi sento in fronte

Le chiome sollevar! Qual nebbia i lumi

Offuscando mi va! che fiamma è questa

Onde sento avvamparmi!

Ah, fernar non mi posso. All' armi! all' armi!«


Achill. Wo bin ich? was hört' ich? mir sträuben sich die Haare auf dem Haupte! Welch eine Dunkelheit befällt meine Augen! Welch eine Flamme fühl' ich in mir [60] auflodern! Ha! ich kann mich nicht mehr fassen! Zu den Waffen! zu den Waffen!


»Hohes Muster heroischer Accente!« sagte Hildegard entzückt vor sich.


Ulisse. Guardalo!(ad Arcade)

Achille. E questa cetra

Dunque è l'arme d'Achille?

Ah no; la sorte

Altre m'offre, e più degne.

A terra, a terra

(Getta la cetra, e va all' armi portate co' doni di Ulisse)

Vile stromento. All' onorato incarco

Dello secundo pesante(Imbraccia lo scudo)

Torni il braccio avvilito: in questa mano

Lampeggi il ferro.(Impugna la spada) Ah ricomincio adesso

A ravvisar me stesso! Ah, fossi a fonte

A mille squadre e mille!


Ulysses. Betracht' ihn!(zum Arkas)

Achill. Und diese Zitter ist also, die Rüstung Achills? Ha, nein! das Schicksal zeigt mir andre, und würdigere Waffen. Auf den Boden, auf den Boden,(er wirft die Zitter weg, und geht zu den Waffen, die mit den Geschenken des Ulysses herbeygetragen worden sind) niedriges Instrument! Der verunehrte Arm kehre zurück zur rühmlichen Last des schweren Schildes!(er nimmt den Schild an den Arm.) In dieser Hand blitze das Schwert!(er ergreift das Schwert.) Ha, jetzt fang ich an, mich selbst wieder zu erkennen. O, wär' ich an der Spitze von tausend und wieder tausend Schaaren!


»Dieß alles muß unter Begleitung der dazu gewählten Instrumente gehört werden.«


Ulisse. E qual sarà, se non è questo Achille?(Palesandosi.)

Achille. Numi? Ulisse, che dici?

Ulisse. Anima grande,

Prole de' Numi, invitto Achille, al fine

Lascia, che al sen ti stringa.

Eh non è tempo

Di finger più. Si, tu la speme sei

Tu l'onor della Grecia,

Tu dell' Asia il terror. Perché reprimi

Gl' impeti generosi

Del magnanimo cor? Son di te degni;

Secondali, Signor. Lo so, lo veggo,

Raffrenar non ti puoi.

Vieni: io ti guido

Alle palme, à trofei. La Grecia armata

Non aspetta che te. L' Asia nemica

Non trema, che al tuo nome.

Andiam.


Ulysses. Und wer sollt' Achill seyn, [61] wenn dieser nicht Achill ist?(Er tritt hervor und zeigt sich.)

Achill. Götter! – Ulysses, was sagst du?

Ulysses. Große Seele, Abkömmling der Götter, unüberwindlicher Achilles, laß mich Dich endlich an meine Brust drücken! O, es ist umsonst, Dich länger zu verstellen! Ja, Du bist die Hofnung, Du die, Ehre Griechenlands, Du der Schrecken Asiens. Warum unterdrückst Du die Aufwallungen der Heldenbrust? sie sind Deiner würdig. Folg ihnen, Herr. Ich weiß, ich sehe, Du kannst dir nicht mehr Einhalt thun. Komm! ich führe Dich zu Palmen, zu Siegszeichen. Nur Dich erwartet das bewafnete Griechenland. Das feindliche Asien zittert nur bey Deinem Namen. Laß uns gehn!


Lockmann declamirte dieß voll Begeistrung; eben so das Folgende. Er hatte die Rolle des Ulysses ganz für sich ausgearbeitet.


[62] Achille. Si vengo.

Guidami, dove vuoi – ma –

Ulisse. Che t'arresta?

Achille. E Deidamia?

Ulisse. E Deidamia un giorno

Ritornar ti vedrà cinto d'allori,

E più degno d'amore.

Achille. E intanto –

Ulisse. E intanto

Che d'incendio di guerra

Tutta avvampa la terra, a tutti ascoso

Qui languir tu vorresti in vil riposo?

Diria l' étà futura:

Di Dardano le mura

Diomede espugnò; d'Ettore ottenne

Le spoglie Idomeneo; di Priamo il trono

Miser tutto in faville

Stenelo, Ajace. – E che faceva Achille?


Achill. Ja, ich komme. Führe mich, wohin Du willst – aber –

Ulysses. Was hält Dich?

Achill. Und Deidamia?

Ulysses. Und Deidamia wird Dich, eines Tages, mit Lorbeern umgeben, und der Liebe würdiger zurückkehren sehen.

Achilles. Und während –

Ulysses. Und während, daß von den Flammen des Krieges die ganze Erde lodert, wolltest Du, Allen verborgen, hier in feiger Ruhe hinsinken? Was würde die künftige Welt sagen! Diomedes erstürmte die Mauern des Dardanus; Idomeneus erhielt die Rüstung Hektors; Sthenelos, Ajax setzten den Thron des Priamos in Brand und Flammen – Und was that Achilles?


»Ulysses parodirt hier in der Musik das Liedchen, das Achill als Pyrrha sang.«


Achille, in gonna avvolto

Traea misto e sepolto

Fra le ancelle di Sciro i giorni sui,

Dormendo al suon delle fatiche altrui.


Achilles, in Weibertracht versteckt, verlebte seine Tage, unter die Zofen [63] von Skyros begraben, und schlief bey dem Schall fremder Thaten.


Hildegard rief dabey: »O, ein entzückendes Schauspiel, die Oper, worin Dichter und Tonkünstler so zu einem göttlichen Wesen vereinigt sind!«


Ah non sia verl Destati alfine: emenda

Il grave error. Più non soffrir, che alcuno

Ti miri in queste spoglie. Ah, se vedessi

Quale oggetto di riso

Con que' fregi è un guerriero! In cuesto scudo

Lo puoi veder. Guardati, Achille!(Gli leva lo scudo) Dimmi,

Ti riconosci?(Presentandogli lo scudo)

Achille. Oh vergognosi, oh indegni

Impacci del valor, come finora

Tollerar vi potei! Guidami, Ulisse

L'armi a vestir. Fra questi ceppi avvinto

Più non farmi penar.

Ulisse. Seguimi!(Ò vinto!)


Ha, es sey nicht wahr! Erwach endlich; verbeßre den schweren Irrthum. Erdulde nicht länger, daß Dich einer in dieser Kleidung betrachtet. Ach, wenn Du sähest, welch ein Gegenstand des Gelächters ein Krieger mit diesen Zierrathen ist! In diesem Schilde kannst Du es sehen. Betrachte Dich Achilles!(Er nimmt ihm den Schild ab.) Sage mir, erkennst Du Dich?(Er hält ihm den Schild vor).

Achill. O schimpfliche, o unwürdige Hindernisse der Tapferkeit, wie hab ich euch bis jetzt ertragen können! Führe mich, Ulysses, die Rüstung anzulegen! laß mich nicht länger in diesen Banden leiden!

[64] Ulysses. Folge mir. (Ich habe gesiegt!)


»Neunte Scene. Nearch kommt herbey.«


Nearco. Pirra, Pirra, ove corri?

Achille. Anima vile,

Quel vergognoso nome

Più non t' esca da' labbiri! i miei rossori

Non farmi rammentar!(partendo)

Nearco. Senti! tu parti?

E la tua Principessa?

Achille. A lei dirai –

Ulisse. Achille, andiam.

Nearco. Che posso dirle mai? –

Achille. Dille, che si consoli;

Dille, che m' ami; e dille

Che parti fido Achille,

Che fido tornerà.

Che a suoi begli occhi soli

Vuo' che il mio cor si stempre,

Che l' Idol mio fu sempre,

Che l' Idol mio sarà.


Nearch. Pyrrha, Pyrrha, wo läufst Du hin?

Achill. Niedrige Seele, dieser schimpfliche Name gehe nicht mehr über Deine Lippen. Erinnere mich nicht wieder an das, worüber ich erröthe!(im Fortgehen.)

Nearch. Höre! Du verläßt uns? und Deine Geliebte?

Achill. Du wirst ihr sagen –

Ulysses. Achill, laß uns gehen!

Nearch. Was kann ich ihr sagen ...?

Achill. Sag ihr, sie solle sich trösten; sag ihr, sie solle mich lieben; sag ihr, Achilles verlasse sie getreu, er komme getreu zurück.

Sag ihr, daß mein Herz an ihren schönen Augen allein sich erweichen soll, daß sie immer mein Abgott war, immer mein Abgott seyn wird.


Edle Zärtlichkeit mit heroischer Harmonie vereinigt schwellten Hildegards Brust. Sie sang die Arie zweymal, und fing sie aus Lust zum drittenmal wieder an. Der Rhythmus war heftig nach der [65] Natur: kein Wort in der Melodie mehr wiederhohlt, als in der Poesie; alles lauter schnelle Blitze dankbarer süßer Gefühle.

»Sie eilen fort. Deidamia erhält durch den Nearch die entsetzliche Nachricht.«


»Imdritten Akt

tritt Achilles in strahlender Rüstung mit dem Ulysses auf, um an Bord zu gehen. Deidamia eilt herbey, und sucht ihn aufzuhalten. Nun beginnt der größte Kampf zwischen Ruhm und Liebe.«

»Achilles sagt endlich:


A compiacerti –(a Deidamia) (o stelle!)

E debolezza; a seguitarti(ad Ulisse) (oh Numi!)

E crudeltà. Si, ma la gloria esige – –

No, l'amor mio non soffre – oh gloria! oh amore!«


In Dein Verlangen einzuwilligen(zur Deidamia) (o Himmel!) ist Schwachheit; Dir zu folgen(zum Ulysses) (o Götter!) ist Grausamkeit. Ja, aber der Ruhm erfordert – – Nein, meine Liebe duldet nicht – – – O Ruhm! O Liebe!


Die Musik dazu war reiner Seelenklang, abwechselnd nach den gewaltigen Bewegungen im Herzen.

»Deidamia sinkt in Ohnmacht. Ulysses kann ihn nicht mehr losreißen.


Eh! tu pretendi

Prove di crudeltà, non di valore.

Scostati, Ulisse!«


Ha! Du verlangst Proben von Grausamkeit, nicht von Muth. Ulysses, weg von meiner Seite!


»Dieser muß nun Gewalt brauchen. Er geht, und entdeckt die ganze Geschichte dem Vater.«

»Deidamia kommt wieder zu sich. Nearch sagt ihr dessen Vorhaben; sie ruft:


[66]

Misera! oh Dei

Che fia di me! Se m' abbandoni, Achille,

A chi ricorrerò?

Achille. Ch'io t'abbandoni

In periglio si grande! ah no: sarebbe

Fra le imprese d'Achille

La prima una viltà. Vivi sicura;

Lascia pur di tua sorte a me la cura.

Tornate sereni

Begli astri d'amore!

La speme baleni

Fra il vostro dolore;

Se mesti girate,

Mi fate morir.

Oh Dio! lo sapete,

Voi soli al mio core

Voi date e togliete

La forza e l' ardir.«


Ich Unglückliche! o ihr Götter, was soll aus mir werden! Wenn mich Achilles verläßt, zu wem soll ich meine Zuflucht nehmen?

Achilles. Ich Dich in so großer Gefahr verlassen! Ha nein! unter den Thaten des Achilles würde die erste eine Niederträchtigkeit seyn. Sey sicher! und überlaß mir die Sorge für Dein Schicksal.

Werdet wieder heiter schöne Gestirne der Liebe! Die Hofnung blitze unter euerm Schmerz. Wenn ihr traurig blickt, so tödtet ihr mich.

O Gott! Ihr wißt es, ihr allein gebt meinem Herzen Stärke und Kühnheit, und nehmt sie ihm wieder.


Die Melodie zu dieser Arie, aus dem E dur, von Hoboen, Fagotten und Hörnern begleitet, war ganz ausLockmanns Herzen, Engelsgesang, und konnte neben den schönsten von Majo stehen. Er selbst sang sie mit so zerschmelzender Zärtlichkeit, daßHildegard ihre Gefühle dabey nicht mehr unterdrücken konnte. Ihr Busen wallte auf und nieder; sie mußte mehr als einmal tiefen Athem schöpfen. Die Thränen glänzten im himmlischen Licht ihrer Augen, und die [67] Mutter selbst ward tief gerührt. Sie sagte: »Solche Musik, mit solchem Ausdruck vorgetragen, kann von Niemand anderm seyn, als von Ihnen selbst.«

Die Tochter schwieg; auch Lockmann schwieg, und fuhr dann weiter fort:

»Achilles geht; er will sie bey ihrem Vater in Schutz nehmen, und läßt sie bey dem Nearch.«

»Nun in der Poesie noch eine vortrefliche Scene der Deidamia.«


Numi clementi

Se puri, se innocenti

Furon gli affetti miei: voi dissipate

Questo nembo crudel. Voi gl'inspiraste:

Protegeteli voi. Se colpa è amore,

Si lo confesso, errai.

Ma grande è la mia scusa:

Achille amai.


Chi può dir, che rea son io,

Guardi in volto all' idol mio:

E le scuse del mio core

Da quel volto intendera.


Da quel volto, in cui ripose

Fausto il ciel, benigno Amore

Tante cifre luminose

Di valore e di beltà.


Gütige Götter, wenn meine Neigungen rein und unschuldig waren: so zerstreut dieses grausame Ungewitter! Ihr gabt sie mir: nun beschützt sie auch. Wenn Liebe ein Verbrechen ist: so bekenn' ich, ich habe gesündigt. Aber groß ist meine Entschuldigung: ich liebte den Achilles.


Wer sagen kann, daß ich strafbar bin, sehe meinem Geliebten ins Gesicht: und wird die Entschuldigung meines Herzens aus diesem Gesichte vernehmen.


Aus diesem Gesicht, in welches der günstige Himmel, die wohlthätige Liebe, so viel glänzende Züge von Tapferkeit und Schönheit legten.


[68] Das Ganze war ein Muster der rührendsten musikalischen Elegie, aus dem A moll.

»Der Vater ist natürlich bald zufrieden gestellt. Selbst der Prinz, ihr bestimmter Bräutigam, unterstützt beyde; so daß Lykomedes endlich ausruft:


(a Licomede.) L'esser padre a tal figlio è gran mercede. – –


– – Gl' illustri sposi unisca

Il bramato da lor laccio tenace;

E la gloria e l'amor tornino in pace.«


Der Vater eines solchen Sohns zu seyn ist eine große Belohnung. – – –


Die erhabnen Verlobten vereinige das von ihnen gewünschte feste Band; und Ruhm und Liebe mögen wieder friedlich beysammen wohnen.


»Das Ganze schließt ein feyerlicher Chor.«

»Theagenes, Lykomedes und Nearch haben in der Poesie schöne Scenen und Arien; sie dienen aber meistens nur zur Verzierung und Ausfüllung des Ganzen.«

»Ulysses hat, außer dem Angeführten, noch einiges Vortrefliche, das ins Wesentliche eingreift; als in der ersten Scene des dritten Akts, wo Achilles ganz als großer Held erscheint, und Ulysses ausruft:


Oh sensi! oh voci! oh pentimento! oh ardori

Degni d' Achille! e si volea di tanto

Fraudar la terra? e si speró di Sciro

Nell' angusto recinto


Celar furto si grande! Oh troppa ingiusta,

Troppa timida madre! E non previde,

Che a celar tanto fuoco

Ogni arte è vana, ogni ritegno è poco?


Del terreno nel concavo seno

Vasto incendio se bolle ristretto,

A dispetto del carcere indegno

Con piùsdegno gran strada sifa.


Fugge allora; ma, intanto che fugge,

Crolla, abbatte, sovverte, distrugge

Piani, monti, foreste, e città.«


O Gefühl! o Worte! o Reue! o Gluth! würdig des Achilles. Und um so vieles wollte man die Erde betrügen? und man hofte, in dem engen Bezirk von Skyros einen so großen Raub zu verbergen!


[69] O allzuungerechte, allzufurchtsame Mutter! Und sah sie nicht voraus, daß ein so großes Feuer zu verbergen, jede Kunst eitel, jede Rückhaltung zu wenig ist?


Wenn im hohlen Schooß der Erde eine ungeheure Feuersbrunst verschlossen kocht: so reißt sie sich mit größrer Wuth aus dem unwürdigen Kerker in weiter Oefnung.


Sie flieht dann; aber indeß sie flieht, erschüttert sie, wirft nieder, kehrt um, zerstört Ebnen, Berge, Wälder und Städte.


Alles war im Charakter des Ulysses, und doch mit hoher lyrischer Begeisterung vorgetragen; und im zweyten Theil der Arie ein meisterhafter doppelter Kontrapunkt.

»Deidamia,« fuhr Lockmann fort, »hat noch erhabne lyrische Stellen; besonders die dritte Scene im dritten Akt, wo sie den Achilles mit der feurigsten Beredtsamkeit der höchsten Leidenschaft zurückzuhalten, strebt. Aber sie ist hier zu sehr nach Tasso's Armida kopirt. Welche Worte zum Beyspiel für die zarte jungfräuliche Seele:


– – Parti; ma prima

Quel glorioso acciaro

Immergi in questo sen. L' opra pietosa

Giova ad entrambi. Ad avvezzarti, Achille,

Tu cominci alle stragi; io fuggo almeno

Un più lungo morir. Tu lieto vai

Senza aver, chi t' arresti – – –


Ah perfido! ah spergiuro!

Barbaro! Traditor! Parti; e son questi

Gli ultimi tuoi congedi? Ove s' intese

Tirannia più crudel! Va scellerato,

Va pur; fuggi da me; l'ira de' Numi

Non fugirrai. Se v'è giustizia in cielo,

Se v'è pietà, congiureranno a gara

Tutti tutti a punirti. Ombra seguace

Presente ovunque sei

Vedrò le mie vendette. Jo già le godo

Immaginando; i fulmini ti veggo

Gia balenar d'intorno« – – etc.


Geh; aber tauche das glorreiche Schwert erst in diese Brust. Die [70] mitleidige That hilft beyden: Dir Achilles, daß Du anfängst, Dich zu Mord und Verderben zu gewöhnen; und ich vermeide wenigstens ein langsameres Sterben. Du gehst froh davon, ohne daß jemand da ist, der Dich aufhält. – –


Ha, Treuloser! ha Meineidiger! Barbar! Verräther! Du gehst; und das ist Dein letzter Abschied? Wo hörte man je eine größere Tyranney! Geh Bösewicht, geh nur! fliehe von mir! dem Zorn der Götter wirst Du nicht entfliehen. Wenn Gerechtigkeit, wenn Erbarmen im Himmel ist: so werden sie alle, alle um die Wette sich verschwören, Dich zu strafen. Als ein folgender Schatten, gegenwärtig wo Du seyn magst, werd' ich meine Rache sehen. Schon weid' ich mich daran in der Vorstellung; schon seh' ich die Wetterstrahlen um Dich blitzen –.


[71] »Metastasio war hier als Nachahmer auf das Vorbild, außer sich, geheftet, und schöpfte nichtin sich. Andre Dichter nach ihm schrieben glücklicher seine Kopie für ihre Armiden fast nur ab.«

»Es ist in dieser Oper kein Duett und kein Terzett; aber warum sollen ewig dieselben Formen in jeder wiederhohlt werden? Selbst dieses giebt der Musik im Ganzen nun wieder eine neue reine Keuschheit nach dem immerwährenden Französischen Lärmen.«

Hildegard hatte bey dieser Musik neue unaussprechliche Empfindungen; mit solcher Allgewalt und Vertrautheit rührte noch nie ein Meister ihr Herz.

»Ich huldige Ihrem Genius,« sagte sie endlich; »Sie haben ganz das so seltne Gefühl und die Kunst der Sprache der Töne, und reden sie mit einer solchen Gewandtheit und Fertigkeit, und immer nach den Gegenständen, schmeichelnd, edel-lieblich und zärtlich, heroisch, strahlend und blendend, und klagend und drohend den Schmerz der Verzweiflung, daß Sie völlig Tyrann Ihrer Zuhörer sind, und mit ihnen machen können, was Sie wollen.«

Die Mutter fügte hinzu: »Achilles hat in der Musik Ihre Physiognomie; und wer Sie kennt, sieht Sie in seinen Melodien.«

Die Tochter fiel ein: »O, alles regt, alles bewegt sich darin, und ist hohes Werk der Natur. Ich möchte ihn schon auf dem Theater sehn!«

Glücklich und froh erwiederte Lockmann: »Stolze Erhebung und der süßeste Lohn für mich ist Ihr so lebhafter Beyfall; doch bitt' ich Sie, meinen Namen zu verschweigen. Es ist immer eine gefährliche Sache um das erste Urtheil des Publikums! Nur Wenige empfinden gleich anfangs klar und zuverlässig: die Menge entscheidet, und folgt nur zu oft den Anregungen von Neid und Kabale. Die [72] größten Meisterstücke der neuern Zeit, ein Tartüffe vonMoliere, ein Se cerca se dice von Pergolesi – ich bin übrigens weit davon entfernt, mein jugendliches Produkt mit ihnen in Vergleichung zu stellen – haben so unterliegen müssen.«

»Wohl wahr,« versetzte Hildegard; »der nahe geborgte Glanz des Mondes wird oft mehr verehrt, als das ewig lodernde Quellenfeuer des Sirius. So soll es Ihrem Werke freilich nicht ergehen. Doch schweigen wollen wir.«

Der junge Künstler konnte nicht länger bleiben; bis zum Rausch und Taumel begeistert, und doch bescheiden, küßte er Mutter und Tochter dankbar die Hand, versprach im nächsten Konzert die Hauptscenen mit voller Musik aufzuführen, und entfernte sich.

»Gewiß,« fuhr die Mutter selbst nun ferner fort, »ein außerordentlicher junger Mann, der bald allgemeine Bewunderung erregen muß!«

Hildegard, noch in die Fülle ihrer Empfindungen verloren, setzte sich still und rasch an das Fortepiano. Die Mutter ging in Gedanken auf und ab, setzte sich aber, als ihre Tochter das Vortreflichste wiederhohlte, bald neben sie. Das Tornate sereni begli astri d'amore, einen wahren Zauber, sang diese zweymal und dreymal. Die Mutter hohlte den Sohn; auch er hatte noch nie etwas so Schönes, Schmeichelndes und Zärtliches gehört. Sie konnte nicht umhin, ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit den Komponisten zu nennen. Er erstaunte; so auch über das Dille che si consoli; doch am meisten über das erhabne und feurige Ove son? Che ascoltai! Mi sento in fronte le chiome sollevar. Das Guitarreliedchen, Se un core annodi, spielte er gleich auswendig, so sehr gefiel es ihm; und eben so den dithyrambischen Kontretanz am Schlusse der [73] Symphonie. Feyerabend kam herbey; es war ein Fest und ein Genuß.

Nach Tische ward vor dem Schlafengehen das Köstlichste noch einmal gesungen und gespielt.Hildegard konnte nicht einschlummern; sie stand nach Mitternacht auf, setzte sich im bloßen Hemde aus Fortepiano, lispelte:


Se un core annodi,

Se un alma accendi,

Che non pretendi

Tirrano Amor?


Vuoi, che al potere

Delle tue frodi

Ceda il sapere,

Ceda il valor;


und tastete leise leise in der nächtlichen Dämmerung die Begleitung dazu. O, hätte Lockmann hier das süßeste Leben auf Erden erlauschen und erblicken können!

Die hohe Schönheit schwebte ein paarmal auf und ab, und seufzte: »Ach, daß er so leidenschaftlich ist! daß du ihn zurücklassen mußt! Ach, daß nichts so ganz vollkommen glücklich seyn kann und darf! Hartes Loos der Menschheit!«

So legte sich die Unschuld wieder in ihr Bett, hüllte sich ein, und sank in einen Schlummer hin von Phantasien der Zukunft.

Den folgenden Morgen ward die Neuigkeit der Frau von Lupfen, ebenfalls unter dem Siegel der Verschwiegenheit, anvertrauet. Solche mannigfaltige neue entzückende Schönheiten hatte sie nicht erwartet, so hoch sie den jungen Künstler auch schätzte.

Lockmann hielt doppelte Probe, und beydemal waren Hildegard, [74] ihr Bruder und Feyerabend zugegen. Er gab die Oper für das Werk eines jungen Neapolitaners, Passionei, aus, und sagte: sie sey ihm vor wenig Wochen zugeschickt worden. Alle freuten sich höchlich darüber, und behaupteten, daß die Italiänische Musik gewiß nicht im Fallen sey. Besonders bewunderte man, wie leicht und gut die glänzendsten Läufe und Sprünge für die Instrumente gesetzt waren. Hildegard wollte nur mit halber Stimme singen; aber alles fiel ihr so in die Kehle, alles war für den Umfang ihrer Stimme, für ihre Art und Weise, so leicht, daß sie aus Lust das Schönste, wie auf einem großen Theater, sang.

Die Fülle und Pracht des Instrumentenspiels hob manche Melodie ganz anders hervor, ohne sie zu bedecken, oder zeigte sie in dem Lichte, wo sie am mehrsten Reiz hatte. Alle behaupteten, Neapolitanische Melodie gehe über alles. Lockmann sagte dießmal nichts über den Werth der Musik; so kamen denn Alle mit ihren eignen natürlichen Empfindungen zum Vorschein, und man hörte, wie sehr ihr Geschmack für Harmonie, Melodie und Rhythmus während der kurzen Zeit durch die hohen Muster und den vortreflichen Unterricht sich ausgebildet hatte.

Hildegard in der Rolle des Achilles, undLockmann selbst als Ulysses entzückten durch ihren Gesang bis zum Jubel. Für die erste Probe nahm er nur das Wesentliche. Bey der zweyten aber wolltenHildegard und ihr Bruder das Werk ganz hören. Nun bemerkte man erst, mit wie viel Gefühl und Kunst es angelegt und ausgeführt war: so blitzten und strahlten die Hauptscenen hervor, und so wich das weniger Bedeutende zurück. Selbst Leo und Jomelli, Händel und Gluck würden in dieser jungen Pflanzschule mit frohem und vergnügtem Lächeln zugegen gewesen seyn.

[75] Den Tag vor dem Konzerte war eine wilde Schweinsjagd, zu Ehren eines durchreisenden Pohlnischen Fürsten, welcher den Prinzen von Wien aus kannte. Hildegard konnte sich davon nicht lossagen, so gern sie auch gewollt hätte. Auf dieser Jagd geriethen Törring und Wallersheim in einen bittern Wortwechsel.

Im Konzerte wurden Passionei und Hildegard allgemein bewundert. Der fremde Fürst erstaunte über die seltne Schönheit und hohe Kunst in jeder Rücksicht. Der Prinz zeichnete sich durch richtige und fertige Urtheilskraft aus; er setzte den neuen jungen Neapolitaner an Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, an Reinheit und Zweckmäßigkeit noch überMajo, und an Schönheit origineller Melodie diesem wohl gleich. Man könne hier, äußerte er, bey keiner Arie sagen, wie Gluck einmal bey einer sonst meisterhaften von Salieri: puzza di Musica. Das hier und da blühende jugendlich Ueppige bekränze, ziere nur festlich und lebendig, wie frische Morgenblumen eine reizende Gestalt. Kurz, Passionei könne die Kunst zu ihrer wahren hohen Vollkommenheit bringen. Zugleich machte der Prinz Hildegarden und dem Kapellmeister über Vortrag und Aufführung die angenehmsten Lobsprüche. Wer Musik verstand, und Werth, Gehalt unterscheiden konnte, stimmte damit laut überein; und fügte noch dieses und jenes im Besondern hinzu.

Hohenthal konnte jetzt nicht länger an sich halten; er nahm Lockmann voll Eifer bey der rechten Hand, zog ihn hervor, und sagte zu der umstehenden Menge: »Es ist nicht erlaubt, dem bescheidnen Meister seinen ihm gebührenden Ruhm länger vorzuenthalten. Passionei, der junge Neapolitaner, das neue strahlenvoll aufgehende Gestirn, ist Lockmann, der Deutsche

[76] Dieser erröthete über und über, als rund umher frohes Erstaunen auf ihn blickte.

»Willkommen unter uns, hoher schöpferischer Geist!« rief der Prinz, umfaßte ihn mit beyden Armen, drückte ihn an seine Brust, und zollte dem Adel der Natur den Kuß der Bewunderung.

»Nächstens solche Musik zu der Poesie einesKlopstock oder Göthe, lieber Lockmann!« rief der Fürst, und drückte ihm warm und herzlich die Hand.

Der alte Reinhold eilte, mit Zähren des Entzückens in den Augen, herbey, umfaßte ihn voll Enthusiasmus, und rief: »Segen Dir, mein Sohn, für die Freude, die Du mir verschafst!«

Es war eine schöne Scene.

Ove son? che ascoltai? mußte wiederhohlt werden; und Hildegard sang es mit neuen Verzierungen unübertreflich.


Tornate sereni

Begli astri d'amore! sang Lockmann selbst, auf ihr dringendes Verlangen.

Zum Beschlusse ward der Anfangschor nebst der Symphonie wiederhohlt:


Ah, di tue lodi al suono,

Padre Lieo, discendi!

Ah, le nostr' alme accendi

Del sacro tuo furor!


Alles drang jetzt noch weit tiefer ein.

Der fremde Fürst, den das unvorbereitete doppelte Schauspiel überrascht, ergötzt und ergriffen hatte, schickte dem Meister noch denselben Abend einen Ring mit einem prächtigen Brillant, nebst einem angenehmen Billet.

[77] Den andern Nachmittag war Spazierfahrt; und Abends bis tief in die Nacht Ball, wozu sich Mehrere aus der Nachbarschaft schon Tags zuvor eingefunden hatten.

Hildegard betrug sich gegen Wallersheim, der sie gefahren hatte, und gegen ihren andern Liebhaber, mit der größten Vorsicht. Dieß machte, daß sie nicht mit dem gewöhnlichen Leben tanzte; doch an Kunst und Fertigkeit übertraf sie auch so alle Andren bey weitem. Sie tanzte mit dem Grafen von Törring, und dem Herrn von Wallersheim gleich freundlich und gut; konnte aber doch nicht hindern, daß beyde noch in eben dieser Nacht sich auf den andern Morgen an einen entlegenen Ort beschieden. Mit dem fremden Fürsten, einem guten muntern Herrn in die Dreyßig, überließ sie sich nur einmal schon spät ganz der Freude in einem kosakischen Tanze. Beyde wurden bewundert; vorzüglich Hildegard, die das wilde Spiel mit unbeschreiblichem Reiz im natürlichsten Charakter trieb.

Lockmann hatte sich zu Feyerabenden unter die Zuschauer gestellt, und verwendete in hohem Entzücken kein Auge von ihr; aber bald hernach sank er von seinen herrlichen Aussichten in einen tiefen Abgrund, als Feyerabend gegen ihn den unschuldigen Wunsch äußerte, daß er den Winter mit der Familie Hohenthal in Wien seyn möchte.

»Wie? in Wien?« fragte Lockmann erstaunt.

Die hastige Frage fiel Feyerabenden auf. Man hatte ihm zwar gesagt, er möchte noch nichts davon bekannt werden lassen; aber er glaubte,Lockmann, als Freund vom Hause, wisse alles, wie er selbst.

In der Zerstreuung entdeckte er diesem mit wenig Worten das ganze Vorhaben. Hohenthal, sagte er, solle da seine Studien fortsetzen, [78] und Mutter und Schwester würden ihn begleiten und den nächsten Winter in Wien zubringen.

Diese Nachricht fiel Lockmannen sehr aufs Herz. Zum Glück brachte das Gedränge sie bald von einander; das Orchester fing den Kontretanz vonLockmanns Oper an, und seine heftigen Empfindungen blieben unbemerkt.

Alles um ihn her war nur ein verwirrtes buntes Gaukelspiel; er mußte freye Luft haben, machte sich fort, tappte wie betäubt auf sein Zimmer, und murmelte zwischen den Zähnen: »O die Falsche! die Falsche!« Nun ging er eine Zeitlang hastig auf und ab; sann tief nach, und endlich kamen die Worte aus seinem Munde: »Nicht einmal bis zur Vertraulichkeit hast du es mit ihr bringen können! Es ist nichts! alles umsonst! Du mußt das Aeußerste wagen.«

Er kleidete sich aus, warf sich auf sein Bett, und brachte die Nacht zu, wie auf der Folter.

Den folgenden Morgen – es war der wärmste Tag zu Anfang des Septembers, und das schönste Wetter – schlugen sich Törring und Wallersheim im Wald auf der Grenze. Törring parirte sich eine Streifwunde in die linke Seite, und traf zugleichWallersheimen mit einem starken Gegenstoß zwischen die rechte Schulter. Ihre beyden Begleiter brachten sie nun aus einander.

Lockmann ging den Nachmittag nicht zuHildegarden. Er dachte: »Es wäre doch nur wieder die alte Leyer; da säße die Mutter, und es würde dir nicht möglich seyn, deine Empfindungen zu verbergen.«

Hildegard hatte sich auf jeden Fall schon zur Abreise vorbereitet; sie erwartete ihn voll Unruhe, Sorge und Ueberlegung, wie sie ihm die Neuigkeit beybringen könnte. Es war ihr recht und auch [79] nicht recht, als er gegen Abend sich noch immer nicht hatte sehen lassen.

Schon glänzte Jupiter am östlichen Himmel. – In Gedanken versunken und verloren, doch fest in dem Entschlusse, sogar bis in Hildegards Schlafgemach zu dringen, ging Lockmann die Schloßtreppen hinunter, und eilte nach der Stelle des Gartens, wo er über die Mauer gestiegen war. Er fand noch die Stange da liegen, und der Abendstern funkelte ihm Muth ein. Weil sich niemand sehen ließ, so legte er die Stange an, kletterte hinauf, schwang sich auf den Ast der Buche, hängte sich mit beyden Händen an diese, und in einem Satze war er auf dem Boden. Er verbarg sich in das Gesträuch, und sein Herz schlug in der Dunkelheit mächtig.

Dießmal hatte er den rechten Zeitpunkt getroffen.Hildegard legte in ihrem Zimmer gerade die überflüßigen Kleider ab, und machte Anstalt, ihren schönen Körper auf den gestrigen Tanz zu erfrischen.

Bald sah er sie in einem weißen Gewande den einen Gang leicht heran schreiten; und sein Herz schlug vor Erwartung der Dinge.

Er versteckte sich tiefer. Sie drehte den schönen, in den wallenden Locken so reizenden Kopf herum, zog nun unbesorgt das Gewand aus, und warf es auf den grünen Rasen am Wasserbecken. Indessen schlich er sich näher herbey; und als sie eben mit den Armen das Hemd über das Gesicht breitete, und es ausziehen wollte: war er in drey Sätzen bey ihr, und hielt sie mit dem rechten Arm, um den Rücken her, umschlungen. Sie that vor Schrecken einen durchdringenden Schrey. Er ließ sich dadurch nicht stören, und betastete gierig mit der linken Hand den entzückenden Leib. Verstrickt drehte und wendete sie sich, und schoß rückwärts. Schnell und hastig griff er in die gewölbten Hüften, hob die süße Last auf, und legte, oder [80] warf sie nieder auf den weichen Rasen. Hier zerriß Hil degard sich endlich das Hemd über dem Kopf, und bekam die Arme frey. Nun begann der Kampf. Sie war übermannt: er hielt sie fest; doch vermocht' er nicht, etwas auszurichten.

»Falsche!« sagte er leise mit süßem Tone, und ließ Kuß über Kuß auf ihre Lippen regnen: »Heimlich wolltest Du von hier weg, nach Wien, und Deinen Getreuen verspottet zurücklassen? O, wir sind für einander geboren und erzogen, himmlisches Wesen, süßes reizendes Leben! Wir werden mit einander glücklich seyn, glücklicher als irgend ein andres Paar. Nur in die weite Welt! Ich muß Dich mit Gewalt von Deinem mütterlichen Boden los reißen!«

Sie trat unterdessen mit beyden Beinen nach ihm, suchte ihn von sich zu stoßen, konnte es nicht, biß nun, und flehte, weil er sie geschickt der Anwendung ihrer Stärke beraubt hatte.

»Lassen Sie mich, Lockmann! Sonst ewige, bittere Feindschaft! Sie sollen mir nachfolgen, ich will alles thun; nur lassen Sie mich jetzt.«

Vor Wuth der Leidenschaft sah und hörte er nicht. Er flehte nur: »Barmherzigkeit, Mitleiden! Sey gütig, sey hold, Engel! O, alles in mir ist unüberwindliches Feuer der Liebe für Dich, für alle Deine unaussprechliche Schönheiten und Reize!« Mit diesen Worten drückte er sein flammendes Gesicht an ihre Brust.

»Mörder! Räuber!« schrie sie endlich, rang sich darüber die Hände los, wälzte sich auf die Seite, und in einem listigen Ruck stürzte sie mit ihm – er unten, sie oben – ins Wasser, wo es am tiefsten war. Auch jetzt hielt er noch fest, bis ihm das Wasser in Nase, Ohren und Mund drang. Schon sanken sie beyde; jetzt griff er aus Instinkt um sich, und ließ sie, um sich selbst zu retten.

[81] Wie ein Schwan schwamm sie nun empor, und davon. Schon im Ertrinken, ganz unter der Fluth, umklammerte er noch ihr linkes Bein; und so ward er von ihr fortgezogen, bis in seichtes Wasser, und ans andre Ufer, wo keine Gefahr mehr war.

Ganz von sich und sinnlos lag er da. Von neuem erschreckt, zog sie ihn mit den Händen aufs Trockne, und rüttelte und schüttelte an ihm, bis er anfing, sich zu regen, und das Wasser ihm wieder zum Munde herausquoll. Sie zupfte ihn in der Angst an der Nase, und kneipte ihn in die Seiten. Als er sich endlich hob und erbrach, gab sie ihm, damit er desto besser zu Bewußtseyn käme, eine hinlängliche Zahl derber Ohrfeigen links und rechts, und rechts und links. Er stützte sich darüber mit beyden Händen auf, und würgte sich aus allen Kräften.

Sie eilte zu ihrem Gewand und Hemde, trocknete sich geschwind, warf beydes über sich, und sah nach ihm hin. Als er sich noch mehr aufrichtete, und um sich blickte, vergaß sie die Pantoffeln, und lief wie eine Atalanta davon. Sie mußte aber unwillkührlich ein helles Gelächter aufschlagen, als sie sah, wie er sich so würgte, wodurch er völlig wieder zu sich kam.

Inzwischen war sie den langen Garten zu Ende, schon vorn, schloß auf, schlüpfte durch die Thür, schloß zu, und ging nun bedachtsam mit nackten Füßen in das Haus, und die Treppe hinauf in ihre Zimmer. Noch ganz in Wallung und in Furcht blickte sie zum Fenster hinaus, wo sie aber nichts mehr von ihm sehen konnte.

»O Lockmann! Du schlimmer als alle Andre!« Mit diesen Worten ging sie nun auf und ab, und freute sich, daß sie glücklich entkommen war. Dann wusch sie sich die niedlichen Füße, einen nach dem andern,[82] und kleidete sich um. »Nein, nein,« sagte sie dazwischen; »so weit soll es nicht kommen, guter Lockmann

Er stand unterdessen, nun wieder zu sich gekommen, stumm und verzweifelt an der Wasservertiefung. Die Nässe troff ihm von Kleid und Haaren. Er war schon im Begriff, sich von neuem hinein zu stürzen, als seiner Phantasie auf einmal vorschwebte, welche lächerliche und erbärmliche Figur er todt darin machen würde. – Langsam ging er unter die Linden, und fing an, die Bisse zu fühlen, die sie ihm mit ihren perlenartigen, aber scharfen Zähnen in die Lippen und ins Kinn gegeben hatte; auch summte ihm der Kopf noch von den gewaltigen Ohrfeigen.

Jetzt blieb ihm kein andrer Versuch übrig. Wehmüthig und traurig, doch dabey noch voll seliger Empfindung über das ihm ganz neue Ringspiel, kletterte er die Buche hinauf, und ließ sich an der Stange die Mauer wieder hinunter, schweifte noch einige Zeit wild im Felde herum, und begab sich dann in das Schloß. Hier begegnete ihm, als er nach seinem Zimmer eilte, auf der zweyten Treppe der Prinz.

Diesen dünkte, beym Lampenschein Lockmanns Haar und Kleidung durchaus naß gesehen zu haben; aber er trauete seinen Blicken nicht, weil er sie nur so flüchtig geworfen hatte.

Der Biß in die Unterlippe war heillos. Er wusch die Wunde, so wie die andern, mit Essig aus. Natürlicher Weise schmerzten sie ihn heftig; aber sie waren noch in der Ursache entzückend. Nun fing er an vernünftiger zu denken: »Immer ein starker Schritt weiter! die Abreise wird nicht so geschwind vor sich gehen.«

Etwa eine Stunde nachher kam der junge Hohenthal nach Hause, und Hildegard wurde zu Tische gerufen. Sie war daran, obgleich wieder in Ordnung, sehr zerstreut, doch äußerst lebhaft. Um ihren [83] Muthwillen an irgend etwas auszulassen, neckte sie ihren Bruder mit seinem kriegerischen Wesen, und Feyerabenden zum Kontrast mit seinem Stubensitzen. Beyde wehrten sich tapfer; doch blieb etwas Komisches, das sie nicht von sich abwälzen konnten. Der Mutter schmeichelte Hildegard auf die angenehmste Weise.

Vor dem Schlafengehen war ihr Bruder einige Augenblicke mit ihr allein auf dem Musiksaal. Hier sagte er ihr im Vertrauen, daß Wallersheim undTörring einander in einem Zweykampf verwundet hätten. Sie erschrak darüber, und beyder Thorheit that ihr leid; doch kam der Vorfall ihr gerade gelegen.

Den folgenden Morgen nach dem Frühstück erzählte sie ihn der Mutter, und diese erschrak darüber weit mehr. Tief bewegt, mit Thränen in den Augen, faßteHildegard ihre Rechte, küßte sie zärtlich, drückte sie an ihr Herz, und sagte: »O, liebe theure Mutter, ich kann hier nicht länger bleiben. Die Lupfen reist in den ersten Tagen der nächsten Woche ab. Lassen Sie mich mit ihr gehen. Wir treffen einander dann binnen Kurzem in Regensburg. Vierzehn Tage, drey Wochen – was will das sagen? Meine beste Freundin nächst der Lupfen, die Herzogin D****, ist jetzt in Basel, und verlangt sehnlich, mich einmal wieder zu sprechen. Das Gut der Lupfen ist nicht weit davon; ich könnte die D**** dahin bescheiden. O, liebe theure Mutter, schlagen Sie mir diese Bitte nicht ab. Vielleicht bered' ich die Herzogin, uns nach Wien zu begleiten.«

Die Mutter antwortete nicht sogleich, und dachte eine Weile nach. Hildegard schmiegte sich an ihren Busen: »O, beste Mutter, ich bin bey der Lupfen gut aufgehoben. An meiner Aufführung haben Sie, glaube ich, nichts auszusetzen; lassen Sie mich nicht vergebens bitten!«

[84] »Liebe Tochter, was machst Du mir für Sorge!« sagte die Mutter dann gerührt; und fuhr mit kluger Miene fort: »O, wie wird Lockmannen zu Muthe seyn, wenn Du so plötzlich wegreisest!«

»Lockmannen?« erwiederte Hildegard schnell, und erröthete; »dem mag zu Muthe seyn, wie ihm will. Es ist wahr, der junge schöne vortrefliche Mann voll Geist und Talent hat, bey öfterm Umgange und gleicher Beschäftigung, Neigung, ja Leidenschaft für mich bekommen, und es auch gewagt, sie mir zu entdecken; ich habe ihn aber mit Spott und Vernunft davon zurückzubringen gesucht, und die letzte Zeit, wie Sie wissen, ihn fast niemals allein gesehen. Ihre Vorsorge, daß Sie bey seinen Stunden immer zugegen waren, habe ich innerlich gepriesen. O, es ist sehr gut, daß ich auch von dem schnell wegkomme! Er würde mir, bey längerem Aufschub, ganz natürlich die Ohren voll jammern. Doch, liebe Mutter, schonen Sie ihn, und lassen Sie Sich nichts merken.«

Sie sagte dieß mit so viel Unschuld, und einem Ausdruck so voll Wahrheit, daß die Mutter ihr Herz erleichtert fühlte, und beynahe schon nachgab.

Hildegard drang noch einmal in sie, und stellte vor: was für ein Gerede die Wolfsecke, Wallersheime, und die Fürstin anfangen würden; und wie stolz oder kindisch sie dabey erscheinen müßte. Endlich sagte die zärtliche Mutter: »Nun denn! ich verlasse mich auf Deinen guten Verstand; wir, Dein seliger Vater und ich, haben nichts an Dir verabsäumt. Du denkst und lebst nun für Dein eignes Wohl. Kinder muß man hüten; Erwachsene können nicht mehr gehütet werden, und verdienen es auch nicht, wenn sie ihr eignes Glück verscherzen wollen.«

»O, göttliche Worte!« erwiederte Hildegard freudig; »sie sollen tief in mein Gedächtniß eingegraben bleiben.«

[85] Sogleich eilte sie zu ihrem Bruder, und sagte ihm: »Freue Dich; binnen vierzehn Tagen, höchstens drey Wochen, wirst Du abreisen. Ich gehe, vielleicht schon künftigen Montag, mit der Lupfen voraus auf ihr Gut, und schreibe der Herzogin, die jetzt mit ihrem Gemahl in Basel ist, daß wir uns dort treffen wollen. Wenn ich sie nur bereden kann, den Winter mit uns in Wien zu bleiben!«

Er drohte ihr schalkhaft mit einem Finger, und sagte: »Die Mutter ist sehr gut, daß sie dieß geschehen läßt. Ihr drey Weiber beysammen könnt in Schwaben, auch während der kurzen Zeit, eine Menge Unheil anfangen.«

Sie erwiederte lachend: »Wir kommen bald in Regensburg wieder zu einander;« gab ihm einen schwesterlichen zärtlichen Kuß, und verließ ihn, um geschwind der Herzogin zu schreiben. Auch der Lupfen, mit der sie schon in der engsten Vertraulichkeit des Prinzen wegen Verabredung genommen hatte, machte sie höchst vergnügt die Einwilligung ihrer Mutter bekannt.

Wegen Lockmanns war ihr Bruder immer ohne Sorgen gewesen; er kannte sie von London aus hinlänglich, und hielt ihren Umgang mit diesem Künstler für weiter nichts als für Spielerey aus Liebe zur Musik. Doch möchte er sich wohl betrogen haben, wenn Lockmann seine Plane schlauer betrieben hätte, und nicht so ehrlich, so hastig gewesen wäre.

Sonntags Abends beurlaubte sich Hildegard mit ihrer Mutter bey dem Fürsten, und dann bey der Fürstin. Ihre plötzliche Abreise wurde bey beyden auf eine nothwendige Zusammenkunft mit der Herzogin von D**** geschoben. Der Fürst erfuhr jetzt zuerst, daß Mutter und Tochter fest entschlossen waren, das erste halbe Jahr mit dem jungen Hohenthal in Wien zu bleiben. Es that ihm äußerst [86] leid, Hildegarden so lange zu entbehren. Er gab ihr zum Andenken sein reichstes Porträt in Miniatur von dem berühmten Mengs, woran die bloße Einfassung mit Edelsteinen über tausend Louisd'or werth war, umarmte sie dabey als zärtlicher Vater, und küßte sie auf Mund und Stirn und Augen, und wieder, wie verliebt, recht mit Genuß, auf den zarten Purpur der Lippen. Dann sagte er lächelnd: »O die süßen, gewaltigen Töne, und die sinnreichen Reden, die mich aus ihnen entzückt haben! Kommen Sie bald wieder!« Er trennte sich von ihr mit Thränen in den Augen.

Als sie die Zimmer der Fürstin verlassen hatten, begegnete ihnen im Saale der Prinz. Sie sagten ihm flüchtig dasselbe; er erstaunte drüber, mußte sich aber doch fassen. Die ganze fürstliche Familie hatte inzwischen noch nichts von dem Zweykampf der beyden Nebenbuhler gehört; er wurde auch noch einige Zeit geheim gehalten, und der Fürst that hernach weislich, als ob er nichts davon erfahren habe. Hildegard zeigte bey dem Abschied überhaupt bewundernswürdige Gegenwart des Geistes, und sagte dem Fürsten, der Fürstin, und auch dem Prinzen die angenehmsten Dinge.

Noch denselben Abend schrieb sie, obgleich im Innersten bewegt, doch klug und fein, ihrem Lockmann. Sie dankte ihm herzlich für seinen vortreflichen Unterricht, für die hohen Meisterstücke, mit denen er sie bekannt gemacht, und für das viele Vergnügen, das sie in seinem Umgange genossen habe. Dann sagte sie ihm: eine nothwendige Zusammenkunft mit einer Dame aus London veranlasse ihre plötzlliche Abreise; im nächsten May komme sie gewiß zurück, hoffe, dann wieder durch einen neuen Achill von ihm entzückt und bezaubert zu werden, u.s.w.

Dieß Billet legte sie, nebst einer nicht geringen Summe, in ihr eignes [87] kostbares Englisches Schreibzeug, das er einmal sehr gelobt hatte, und setzte noch in einigen Zeilen hinzu, daß er es von ihr zum Andenken annehmen müsse und solle.

Sie brachte das Schreibezeug ihrer Mutter, zeigte ihr alles, und bat sie, es ihm morgen nach ihrer Abreise einhändigen zu lassen. Die Mutter war froh, daß dieser gefährliche Umgang sich glücklicher endigte, als sie erwartet hatte, und versprach gutmüthig, was die Tochter wollte.

Noch denselben Abend ward alles auf einen schönen leichten Englischen zweysitzigen Wagen gepackt, den die Mutter ihr mit gab. Den andern Morgen bey Tagesanbruch ging es fort. Der Abschied war kurz; doch flossen Zähren wehmüthiger dunkler Gefühle, ob man gleich einander bald wieder zu sehen hoffte.

Katt, der vortrefliche Jäger des Herrn von Lupfen, welcher letztre bis den Winter zurückblieb, fuhr mit den beyden Kammermädchen voraus, um überall die Posten zu bestellen; und Hildegard mit der Frau von Lupfen gleich nach.

Fast eine Stunde Wegs wurde wenig oder nichts gesprochen. Endlich sagte Hildegard lächelnd, vom lieblichsten Purpur der Morgenröthe beleuchtet: »War es doch bey einem so leichten Geschöpfe, wie ich bin, als hätte ein großes Floß auf dem Rheinstrom sollen flott gemacht werden. Ein paar Dutzend Anker wurden erst gelichtet.« Vor sich dachte sie hinzu: »Aber nun soll es auch unaufhaltbar fortgehen.«

Die Frau von Lupfen pries die Engländerinnen, im Punkte des Reisens, vor den Weibern jeder andern Nazion glücklich; und setzte hinzu: »Sie allein führen das wahre menschliche Leben.«

Der Postillion fuhr scharf, und die Pferde jagten in der Kühle mit [88] Lust. Schon sahen sie auf den Höhen die schönen Gewässer des Vater-Rheins blinken, aus welchen hier und da ein dünner Nebel dampfte. Die ganze Gegend war eine pittoreske Masse, ein großes harmonisches Werden. Die Sonne stammte und glühte durch das Gewölk; und nun strahlte sie weit und breit durch die freyen Räume des Aethers.

Am Gebirge schoß ein Falk auf, und verlor sich bald in hohem Fluge. »Glückliche Vorbedeutung!« riefen beyde.

Hildegard fuhr fort: »Es gehört viel Uebung dazu, die Verschiedenheit des Lichts rein empfinden zu können; von dem leisesten Piano und den zarten Melodien der ersten Morgendämmerung, bis zu den großen Accorden und starken Tönen in ihren Verbindungen, Dissonanzen und Auflösungen. Die Natur ist auch hierin unendlich reich. O, der Mensch hat viel zu genießen!«

Eine Weile hernach sprachen sie von der Herzogin D****. Hildegard erzählte dabey, daß diese, noch unverheurathet, mit ihrer Mutter schon zweymal ganz Italien durchreist wäre. Nach verschiedenen andren Anekdoten von der Herzogin und ihrem Gemahl, setzte sie hinzu: die erste Frucht ihrer Liebe sey gleich nach der Geburt gestorben; und jetzt reisten sie, um sich zu zerstreuen, von einem angenehmen Ort zum andern.

Nun erst brachte Frau von Lupfen das Gespräch auf den komischen Wolfseck, die Herrenvon Wallersheim und Törring, den schlauen Prinzen, und den vortreflichen Meister, den schönen jungen Lockmann. Die Eigenschaften Aller, und zuletzt der ganze Hof, wurden mit weiblicher Feinheit und vieler Kenntniß beurtheilt. »Ach, der arme Lockmann!« brach die Frau von Lupfen schalkhaft noch einmal über ihn aus, als sie eben bey der ersten Stazion anlangten; [89] »daß so etwas doch so umständlich ist, und man es nicht so leicht mit sich nehmen kann!« Hildegard hatte keinen Moment mehr, ihr darauf zu antworten.

Lockmann wußte noch nichts von der plötzlichen Abreise, und machte sich allerley Grillen, als das Schreibezeug mit dem Billet überbracht wurde. Wie erstaunte er, als er dieses las! »Wann ist sie abgereist?« fragte er den Bedienten hastig. – »Diesen Morgen, mit der Frau von Lupfen.« – Er erkundigte sich nach der übrigen Begleitung, und fertigte den Bedienten geschwind ab, um mit seinen Empfindungen allein zu seyn.

Ihr nach, ihr nach, wallte jeder Blutstropfen in ihm. Unzähligemal betrachtete er die holden Züge ihrer Hand mit nassen Augen, und drückte sie an Mund und Herz. Dann eröfnete er das schöne Schreibezeug. Die Goldstücke, welche er darin fand, sah er mit dem höchsten Widerwillen an; doch beruhigte er sich endlich auch darüber mit dem Gedanken: es war der Mutter wegen schicklich. »O, ein langer, langer trauriger Winter! Ach, sie kehrt nie wieder zurück! O Natur, ich habe dein schönstes Kleinod verloren! Welchem Unwürdigen wird es zu Theil werden! Ich bin ein Schatten; mein Leben ist fort!« So tobten die Gefühle in ihm auf und ab.

Der Prinz vermuthete eine Verabredung zwischen beyden, auf diese feine Weise durchzugehen, und hielt Lockmannen streng im Auge. Wallersheim und Törring ärgerten sich über ihre Wunden, als sie die Abreise erfuhren. Der letztre glaubte noch immer, jener habe hauptsächlich Schuld daran, daß er nicht glücklicher gewesen sey. Wolfseck fing endlich an zu begreifen, daß er ein dummes Unternehmen gewagt habe. Die Weiber, welche Anspruch auf Eroberungen machten, waren froh über Hildegards Entfernung. Aber [90] alles fühlte, daß der Hof seiner schönsten Zierde beraubt sey. Reinhold besuchte das nächste Konzert in Trauerkleidung; die ganze Kapelle sah verstört aus, und nichts wollte klingen. Selbst Madam Ewald und die andern Zofen krächzten wie die Raben. Niemand hörte zu. Im Hohenthalischen Hause machte man Anstalten, der Schönheit so bald wie möglich nachzufolgen. Man vermißte sie überall, und die Gesellschaft hatte gar keinen Reiz mehr.

Die Reise der beyden Damen war eine immerwährende Lustbarkeit. Frau von Lupfen hatte den Weg oft gemacht, und ihre Bekannten beeiferten sich,Hildegarden fest zu halten. Die Männer dünkte, nie etwas Schöneres gesehen zu haben; und doch sang sie nirgends: sie trieb nur, fort zu kommen, und gab auf dem letzten Drittel des Weges keinen Besuch mehr. Wenn sie einen Wagen hinter sich rollen hörte, so dachte sie immer, ihre Mutter und ihr Bruder wären darin.

Es schien ein höheres Wesen im Spiel zu seyn. Den andern Tag, als sie auf dem Gute der Frau von Lupfen angekommen waren, traf auch schon die Herzogin ein. Welche Herrlichkeit und Wonne! Die beyden Freundinnen konnten sich an einander nicht satt sehen, nicht genug küssen und umarmen; und alle drey wurden ein Kleeblatt. Frau von Lupfen fand die Herzogin so recht nach ihrem Geschmack: gut, lebhaft, voll Geist, und fern von aller Ziererey. Sie hätte die neue Freundin gern den ganzen Winter bey sich behalten mögen; aber Hildegard ging bey ihrem Anliegen rasch zu Werke. Schon den andern Morgen, wo sie eine Unterredung mit der Herzogin allein hatte, ward beschlossen, daß sie in ihrer Gesellschaft den Winter, und vielleicht noch den Sommer, eine Reise durch Italien machen wollte. »Es wäre kindisch und einfältig,« sagte die Engländerin, [91] »Gefahren, oder wenigstens verdrießlichen Händeln, die wir vor uns sehen, nicht klug und vernünftig ausweichen zu wollen! Schreib das Deiner Mutter und Deinem Bruder. Sie werden nach und nach schon zufrieden seyn, wenn sie sehen, daß sie nicht anders können; und wir ziehen über den Brenner in das gelobte Land. Sind die vortreflichsten Menschen im Unglück, dann sagt mancher Tropf: hätten sie nur dieses oder jenes gethan! und doch würde er eben dasselbe vorher sehr bitter getadelt haben.«

Frau von Lupfen, auf die das Unangenehme des Entschlusses fallen mußte, fand ihn etwas grell; doch ergab sie sich endlich aus zärtlicher Freundschaft. Damit der Weg dem Prinzen nicht verrathen werden könnte, wurde ferner beschlossen, der Mutter zu melden: sie wären nach den Hierischen Inseln gereist, und wollten den Ueberrest des Winters in dem einsamen Nizza zubringen. Frau von Lupfen versprach, das Geheimniß getreulich zu verschweigen.

Hildegard studirte dann den Brief an ihre Mutter aus, und schrieb ihn den folgenden Morgen unter Herzklopfen. Sie erzählte alles von dem Prinzen, auch das Gespräch bey dem l'Hombrespiel, und erklärte, weshalb sie dieß nicht sogleich entdeckt habe. Ueberhaupt schilderte sie den Prinzen als einen zweytenLovelace; und setzte hinzu: ihr Geschlecht habe an Einem weiblichen Messias genug; sie wolle sich nicht zur zweyten Clarisse kreuzigen lassen.

Es koste ihr, hieß es in dem Briefe weiter, viel Ueberwindung, diesen Schritt zu thun; aber er sey nothwendig. Uebrigens gelobte sie die untadelhafteste Aufführung an, und wiederhohlte die eignen Worte der Mutter. Endlich schloß sie mit der Aeußerung: Binnen einem halben Jahre würde sie hoffentlich ohne Gefahr wieder bey ihr seyn können, wonach sie sehnlich verlange.

[92] Beyde Freundinnen fanden den Brief vortreflich; und Frau von Lupfen versprach, ihn durch einen Kurier zur gehörigen Zeit nach Regensburg zu überschicken. »Drey solche Weiber,« sagte die Herzogin, »werden doch wohl mit einem Deutschen Prinzen fertig werden!«

Damit sie nicht übereilt würden, fuhren sie gleich den folgenden Tag nach Inspruck ab. Den Leuten im Hause ward eine ganz andre Fahrt, und nur die nächste Stazion gesagt.

Wie auch die geistreichsten Weiber immer etwas, und zuweilen das Wichtigste, vergessen: so schrieb die D**** erst in Inspruck selbst an die Frau von Hohenthal; versprach ihr die höchste Sorgfalt für ihre Tochter; und bat sie rührend, daß sie ihr das unschätzbare Glück gönnen möchte, nur die kurze Zeit, sechs Monate lang, die Gesellschaft derselben genießen zu dürfen. Sie werde, setzte sie noch hinzu, bey ihr besser aufgehoben seyn, als bey einem Herrn von Wolfseck; in welchem Fall sie deren Begleitung doch auch würde haben entbehren müssen.

Den Brief datirte sie von dem Gute der Frau von Lupfen, und schickte ihn dieser durch eine Stafette.

Von eben daher meldete mit dieser Gelegenheit auch Hildegard ihre Ankunft; und beschrieb bey guter Laune, wie galant die Herren in Franken und Schwaben auf ihrer Reise gewesen wären; fügte aber einige dunkle Worte von den Gefahren hinzu, die sie in Wien erwarteten.

Nun ging es ohne Säumen von dem Thal, durch welches die Inn schnell wie ein Pfeil schießt, den steilen Brenner hinauf, und von dessen Marmorhöhen mit Lust hinab durch die pittoresken Felsenwände von Tyrol, den Weg entlang, welchen die Etsch zeigt, in eine [93] Stadt nach der andern. In dem angenehmen geräumigen Kessel von Gebirgen zu Roveredo, von wo schon der Monte Valdo anfängt sich in die mildere Luft gegen Verona hin zu erheben, rasteten sie einige Tage.

Bey der Familie Fontana lernten sie die gebildeten Menschen des Orts kennen. Hildegard war hier die Schwester des Herzogs. Ihre hohe Schönheit bezauberte Aller Augen, so daß die D**** und ihr Gemahl darüber vernachlässigt wurden. Noch weit mehr that dieß der reizbare Italiänische Sinn zu Verona und Mantua, so daß Hildegarden die allgemeine Huldigung bald unerträglich ward, und sie aus zarter Achtung für ihre Freundin auf dem Wege nach Mayland sich in deren Bruder verwandelte. Welch ein himmlischer Jüngling war sie nun, mit dem sonnichten Blick und den Absalonslocken unter dem runden Hut, und mit dem schlanken Wuchs unter dem Venezianischen Scharlachmantel!

Sie ergötzten sich eben zu Turin an dem göttlichen Spiel und der Eitelkeit des alten Fauns Pugnani, der sich mehr als gewöhnlich angriff: als in Regensburg der Frau von Hohenthal der Brief der Frau von Lupfen eingehändigt wurde.

Sie ließ im ersten Schrecken das Papier aus der Hand fallen. Ihr Sohn, der von der Brücke kam, an deren einem Pfeiler ein Schiff gescheitert war, trat in das Zimmer, hob den Brief bestürzt auf, und las ihn. »O Gott!« sagte sie; »das hab ich nicht von ihr erwartet!« Der junge Hohenthal ging in Ueberlegung einmal auf und ab, und sagte dann:

»Das Unglück ist nicht so groß! vielleicht ist es gar keins, und so recht gut. Sie will nach Italien, und hat die Zeit nicht erwarten können. Nur sollte sie gegen uns nicht mit dem Popanz von Lovelace, [94] dessen erträumten Bubenstücken, und der ewigen Briefstellerin Clarisse aufgezogen kommen! ... Das verdammte Romanlesen! ... Der Prinz und sie sind ganz andre Menschen. Sie ist ja so erstaunlich vor ihm auf ihrer Hut; und hätt' es also wohl mit ihm aufnehmen können. – Der Herzog ist ein rechtschaffner Mann, nur zu verliebt in seine Frau, und zu nachgiebig gegen sie; die Herzogin – freylich voll wilder Einfälle und Launen, aber doch tugendhaft. Hildegard hat in ihrem Charakter manches mit ihr gemein. Für ihre Person bin ich außer Sorge; wenn nur ihre Leidenschaft für die Musik sie nicht zu thörichten Streichen verleitet!«

Die Mutter faßte darauf wieder etwas Muth, und sagte: »Hildegard denkt edel, und war in ihrer Aufführung immer untadelhaft. Der Prinz hat etwas Falsches im Auge, und bey viel Verstand und Feinheit etwas Verwegnes in seinen Gesichtszügen. Ach! es schmerzt mich nur, daß ich meine Tochter nicht mehr bey mir habe, und nicht weiß, wo sie nun herumirrt!«

Die Lupfen schrieb: Hildegard habe sich nicht halten lassen, und sey mit der Herzogin nach der Schweiz gegangen.

»O, die heillosen drey Weiber!« sagte Hohenthal lachend. »Hat es mir doch geahndet, daß bey dieser Zusammenkunft etwas Sonderbares herauskommen würde. Wir müssen sie nun wohl ihrem Schicksal überlassen; an Nachreisen ist nicht zu denken.«

Fanny, ihr schönes Kammermädchen, lag ihm dabey nicht wenig im Sinn. Doch dachte der hochstrebende Jüngling auch hier: »Vielleicht ist es gut so.«

Kurz, sie schrieben beyde ein halbes Dutzend Briefe an die drey Weiber, und wuschen ihnen tüchtig die Köpfe, jedes nach seiner Art: die Mutter zärtlich, rührend, und besorgt; der Sohn mit hellem [95] Verstand und voll Feuer; dann fertigten sie den Jäger Katt wieder als Kurier ab, und reisten gerades Wegs nach Wien, wo der Prinz schon acht Tage vorher angekommen war, um Anstalten zu ihrem Empfang zu treffen.

Hildegard hatte in Mayland – wo sie sich nach der Rückkehr aus Turin einige Zeit aufhielten, um die Briefe von Deutschland abzuwarten – ein Fortepiano von Stein zu ihrem Gebrauch bekommen, und sang der D**** die schönen Scenen aus Lockmanns Achilles vor. Diese konnte sich daran nicht satt hören, und erstaunte zugleich über die vollendete Kunst im Gesang ihrer Freundin. Sie war eine ausgebildete Kennerin, spielte selbst die Harfe vortreflich, und brauchte ihre Fingerkoppen nicht, wie ihre Lehrerin Madame Krumholz, mit Pomaden zu erweichen; sondern lockte auch ohnedieß die leisesten Töne, so zart wie ein Windhauch, aus dem Instrument hervor.Hildegard erzählte auf ihr Verlangen manches von dem jungen Meister, und machte sie zugleich mit den schönsten Scenen von Jomelli, Majo undTraetta bekannt. Von dem letztern hatte sie die Sophonisbe ganz bey sich. Die erhabne Scene, wo die heroische Königin das Gift trinkt, machte auf die Herzogin und ihren Gemahl, der die Geige nicht übel spielte, und Hildegarden sehr gut begleitete, den tiefsten Eindruck. Beyde wünschten, sie auf dem Theater mit voller Musik zu hören und zu sehen.

Hildegard ging wenig in Gesellschaft, und sah mit Begierde und Lust nur das Merkwürdigste in dem schönen Lande. Doch machte sie überall, auf öffentlichen Spaziergängen, in den Kirchen und an der Tafel, Bekanntschaft mit den interessantesten Personen. Dabey konnte sie ein Abentheuer mit drey der schönsten Damen nicht vermeiden, die ihretwegen höchst eifersüchtig auf einander wurden, und [96] lange in bittrer Feindschaft blieben, als Hildegard und ihre Gesellschaft nach dem Empfang der Briefe plötzlich abreisten. Es würde zu weitläuftig und gegen unsern Zweck seyn, wenn wir solche Novellen, deren sich in der Folge noch manche zutrugen, erzählen wollten.Hildegard ward dabey immer gewandter und geschickter, den unerfahrnen Jüngling zu spielen.

Die Briefe von Hause freuten Hildegarden höchlich, obgleich die zärtliche Besorgniß und einige zornige Worte der Mutter sie bis zu Thränen rührten.

In Cremona sahen und hörten sie die besten Geigen in der Welt von Amati, Steiner und Stratuarius, die bey einigen Familien immer vom Vater auf den Sohn kommen, nicht veräußert werden dürfen, und folglich immer in dem Orte bleiben. Der ätherreine, gewölbtvolle, süße Kapweinklang des vortreflichsten unter allen Instrumenten bringt hier auch immer Virtuosen hervor, und die Reisenden bewunderten mehrere edle junge Herren, die mit großer Gefälligkeit ihretwegen einen Wettstreit hielten.

Sie setzten über den königlichen Po, den Rheinstrom von Italien. Hildegard konnte der Begierde kaum widerstehen, sich hinein zu stürzen, wie eine Najade durch seine Quellenwasser zu gaukeln, und sich mit ihm zu vermählen.

Den andern Morgen, als sie zu Parma angekommen waren, wallfahrteten sie sogleich zu Correggio's Zaubereyen; spielten in Lust und Vergnügen mit dem heitern Knaben Jesus auf der Flucht nach Aegypten; vergossen Thränen mit der in den tiefsten Schmerz versunknen Magdalena bey dem vom Kreuz abgenommenen Geliebten im Schooße der erblassenden Mutter, und schwebten mit dem Verklärten in den Höhen des Himmels.

[97] Den Nachmittag weideten sie Herz und Auge an der Erscheinung der Madonna mit dem Kleinen bey dem heiligen Hieronymus. O, wie so lieblich der holde Knabe mit dem zarten Händchen in den blonden Locken der schönen Magdalena spielt! Der Herzog sagte scherzend: er möchte wohl mehr als eine Ewigkeit mit der Magdalena beysammen seyn. Die Herzogin bemerkte unterdessen, daß die Kinder der Lombardey an Schönheit und Lebhaftigkeit alle andern überträfen, und daß Tizian und Correggio die göttlichsten Modelle gehabt hätten. Mit einem schmachtenden Blick gen Himmel erbat sie sich einen solchen Engel. Hildegard stand schwebend in dem lichten See von Schönheit.

Die Sonne senkte sich schon nach den Alpen hinab, als sie noch das alte jetzt ungebrauchte Theater besahen. Sie maßen es mit ihren Schritten, und fanden es gerad' in zwey gleiche Theile getheilt: funfzig Schritte des Herzogs nahmen die zwölf Bänke und die achtzehn Logen, jede mit Toskanischen Säulen ein; und funfzig die Bühne. Die größte Breite hielt ihrer vierzig. Für Scenen zur See konnte es drey Fuß unter Wasser gesetzt werden. Es gefiel der ganzen Gesellschaft ungemein; der Herzog und die Herzogin wünschten es nach London.

Hildegard war aus geheimer Lust auf der Bühne geblieben, indeß ihre Freundin, und, außer andern Personen, die sie hinein begleitet hatten, auch ein Unbekannter auf die hintersten Logen stiegen. Die Herzogin rief ihr zu: sie möchte einige Töne singen, damit sie vernähme, wie es für die Zuhörer ausfiele.

Sogleich trat Hildegard an das äußerste Ende, und gab leise das zweygestrichne C an. Der Ton flog süß und rein durch den ganzen Raum. Sie gab ihn noch einmal leise an, schwellte ihn bis zu einer [98] beträchtlichen Stärke, und ließ ihn allmählig sinken, dann langsam verschwinden, und zwar mit einer solchen Festigkeit und Klarheit, daß alle Anwesenden erstaunten.

Bravissimo, bravone! rief der Unbekannte, ganz außer sich.

Sie trat etwas hervor, und machte erst einen leisen Lauf, dann einen stärkeren, dann einen in weitem Umfang und mit der größten Fülle. Es war, als ob bey einem majestätischen Gewitter Blitze zum Einschlagen am Himmel flammten.

Sogleich erhob sich ein Jubel von Beyfall, worüber Hildegard vergnügt lächelte.

Der Unbekannte sagte vor sich: »Wer ist der Musico, der unter allen, die ich je gehört habe, bey weitem die vortreflichste Stimme hat, daß ich ihn nicht kenne!«

Die Herzogin betrachtete ihn aufmerksamer; er war ein wohlgewachsner Mann in den Vierzig, mit geistreicher Physiognomie, schönen großen Augen voll Feuer, und, nach seiner Kleidung zu urtheilen, von Vermögen.

Sie rief Hildegarden zu: Se un core annodi! Hildegard sang es zum Entzücken.

Die Herzogin rief weiter: Tornate sereni! – Die Welschen Herzen brannten, und konnten ihren Rausch von Beyfall nicht bändigen.

Der Unbekannte fragte in loderndem Enthusiasmus die Herzogin: »Ist er auf das Karneval schon versprochen? Wer ist der göttlich schöne Jüngling? Er fällt mir wie vom Himmel.«

Hildegard fing inzwischen, ihrer Seits ebenfalls voll Enthusiasmus, an, das erhabne Recitativ zu deklamiren: Dove son? che m'avenne? Ihre Action dabey war die Natur der Leidenschaft selbst. Die Herzogin hatte während dessen Zeit eine ganze zusammenhangende [99] Geschichte für den Unbekannten – den Hauptunternehmer des Theaters Argentina zu Rom – auszudenken. Der erste Sänger, welchen er für das nächste Karneval angenommen hatte, lag in Turin gefährlich krank, und er reiste nun herum, einen andern aufzusuchen. Das von Hildegarden gesungene Recitativ bestärkte ihn vollends in seinem Entschlusse, diesen Sänger anzunehmen, es möchte auch kosten, was es wollte; und wenn er sich auch schon anderswohin versprochen hätte.

Er kannte den Achill von Metastasio sehr wohl, und auch die Musik dazu von verschiednen Meistern; aber diese übertraf bey weitem alle andren, und war ihm ganz neu. Er fragte die Herzogin noch einmal: »In Vertrauen! wie heißt der schöne Sänger? wo kommt er her? wo geht er hin? Ich frage zu seinem und meinem Vortheil.«

Die Herzogin antwortete: »Er heißt Passionei. Sein Vater, ein vortreflicher Tenorist, nahm ihn, als er noch keine zehn Jahr alt war, ich glaube aus dem Kirchenstaate, mit nach England, und reiste mit ihm, als er seine Stimme ausgebildet hatte, an den Nordischen Höfen herum, und alsdann durch Deutschland. Vor Kurzem starb er in den Niederlanden, und hinterließ seinem Sohn ein ansehnliches Vermögen. Achill war die letzte Oper, die er in Musik setzte. Diese und seine vorletzte, Sophonisbe, sind nie aufgeführt worden, und beyde völlig neu. Die Melodien zu den Hauptscenen sind meistens von dem jungen Passionei selbst. Er will nun eine Reise durch sein Vaterland machen, aus der Quelle schöpfen, und den gegenwärtigen Zustand der Musik kennen lernen, eh' er sich irgendwo öffentlich hören läßt.«

Der Römer war über diese Nachricht entzückt, und erwiederte: »Das braucht er nicht; ein solches Original ist vom Himmel bestimmt, [100] seinen eignen Flug zu nehmen. Ich stehe für den Erfolg. Mir fehlt der erste Sänger für das Theater Argentina, in Rom, dessen Unternehmer ich bin. Er soll gleich in der Hauptstadt der Welt strahlen und glänzen. Ich wag' es, ihm für das nächste Karneval achthundert Zechinen anzubieten, und bezahle ihm die beyden Opern dazu, wie dem besten Meister.«

Hildegard war inzwischen auf der Bühne verschwunden, kam nun, begeistert und in der besten Laune, am äußersten Ende wieder zum Vorschein, sang den Dithyramb:


Ah di tue lodi al suono

Padre Lieo discendi!


und machte Sätze, wie ein flüchtiges Reh; wie der wahre schnellfüßige Achill als Pyrrha. Man konnte nichts Reizenders sehen und hören, obgleich der Taumel von Instrumenten fehlte.

Der Römer und alle Andren waren vor Jubel außer sich. Die Herzogin antwortete ihm, als er ihr im Eifer die Hand drückte und küßte: er möchte sich von dem, was sie ihm gesagt hätte, gegen den jungen Passionei noch nichts merken lassen. Sie wolle zu ihrem eignen Vergnügen alles nach seinem Wunsche einzuleiten suchen. Der große Künstler – ein seltner Fall! – denke zu bescheiden von seinem Werth.

Der Römer begleitete sie bis an ihr Wirthshaus, und machte unterwegs Hildegarden die feinsten Lobsprüche, als ein ausgelernter Kenner. Sobald sie in ihren Zimmern allein waren, fing die Herzogin laut an zu lachen, und sagte: »Mädchen, Du hast diesen Abend Deine Sachen gut gemacht. Nun hör' aber auch, was für ein Glück Dir bevorsteht!«

»Du heißest Passionei. Dein Vater, ein vortreflicher Tenorist, [101] nahm Dich, als Du noch keine zehn Jahr alt warst, aus dem Kirchenstaate mit nach England, und zog mit Dir, als Deine Stimme sich ausgebildet hatte, an den Nordischen Höfen herum, alsdann durch Deutschland. Vor Kurzem starb er in den Niederlanden, und hinterließ Dir ein ansehnliches Vermögen. Achill war die letzte Oper, die er in Musik setzte; Sophonisbe seine vorletzte. Beyde sind nie aufgeführt worden, und völlig neu. Die Melodien zu den Hauptscenen sind meistens von Dir, dem jungenPassionei, selbst. Du willst – nun eine Reise durch Italien, Dein Vaterland, machen, und aus der Quelle schöpfen, ehe Du Dich irgendwo verpflichtest!«

»Gut, und nicht gut!« versetzte Hildegard; »und weiter?«

»Du trittst, obgleich ein solches Original vom Himmel bestimmt ist, seinen eignen Flug zu nehmen, dessen ungeachtet dazu genöthigt und erbeten, während des nächsten Karnevals in dem Haupttheater Argentina zu Rom als Achill und Sophonisbe auf; erhältst achthundert Zechinen, vielleicht auch mehr, und die beyden Opern werden Dir obendrein bezahlt. Der Grünmantel, der uns nach Hause begleitete, und dessen erster Sänger in Turin todt krank liegt, ist der Unternehmer des Theaters.«

»Bist Du unsinnig, Frau?« rief Hildegard, sprang auf, und faßte die Herzogin bey den Schultern. »Weißt Du nicht, daß kein Frauenzimmer ein Römisches Theater betreten darf? Und wenn nun Personen dort wären, die mich in Deutschland gesehn und gehört hätten! Es gäbe eine saubre Geschichte, wenn heraus käme, wer ich bin! Und mit unsrer alten Oper würden wir schöne Ehre einlegen!«

»Das alles habe ich schon überdacht;« erwiederte die Herzogin. »Die Römer sind Phantasten mit ihrem Theaterwesen; und die Kinder verdienen keine so mütterliche Züchtigung. Hat doch im neunten [102] Jahrhundert ein Englischdeutsches Mädchen einmal den Papst gemacht! natürlicher Weise ohne Bart; denn damals wählte man sie noch jung 21. Du geistreiches Geschöpf wirst Dich doch also wohl nicht scheuen, auf sehr kurze Zeit einen armseligen Kastraten zu spielen? Wie lange hat der Chevalier d'Eon England und Frankreich getäuscht! Wenn auch einer oder ein Paar Deutschen, die Dich gesehen und gehört hätten, in Rom seyn sollten, wie man doch, da Du erst so kurze Zeit von Hause weg bist, gar nicht erwarten kann: so erkennen sie Dich unter der Travestirung zuverlässig nicht, und finden höchstens nur sonderbare Aehnlichkeit. Das Theater und die nächtliche Beleuchtung verändern übrigens so sehr, daß oft der Freund seinen Freund nicht erkennt. – Und bedenke den Ruhm, wenn es gelingt, woran ich gar nicht zweifle! – Von Traetta's Sophonisbe – ich will meinen Kopf darauf verwetten – weiß Niemand in Rom eine Note und Sylbe. Wir können sogleich eine Probe an dem Unternehmer machen. Das Geld theilst Du, heilige Cäcilia, unter die Armen aus. Ich habe mächtige Freunde in Rom; doch werd' ich mich bis auf die Letzt unbekannt halten. Die Gefahr ist auf jeden Fall nicht groß. – Auch alles dieses bey Seite gesetzt: warum soll der öffentliche Unterricht auf dem Theater, der oft so viel wirkt und so tief eindringt, immer Lohnbedienten, und nicht selten Personen von den verderbtesten Sitten überlassen werden, und Männern oder Frauenzimmern aus den höhern Klassen von ausnehmendem Genie und der ausgebildetsten Kunst versagt bleiben! Es ist Zeit, einmal ein untadelhaftes reizendes Beyspiel zu geben.«

[103] Hildegard sank bey diesen Reden auf einen Sopha, und stützte ihren schönen Kopf nachdenkend auf den rechten Arm.

Die Herzogin fuhr fort: »In Frankreich ist durch ein Gesetz entschieden, daß auch eine Person vom ältesten Adel, die sich dem Theater widmet, dadurch nichts von ihren Vorzügen und Rechten verliert. König Ludwig der Vierzehnte hat sich selbst auf dem Theater gezeigt. Sollte sich ein junges schönes Deutsches Fräulein, voll Leben, Geist und Talent, erniedrigen, wenn es auf einer Reise im Vorbeygehen muthwillig den Römern durch Kontrast ihre Thorheit darstellte? Eine Hildegard ist von der Natur dazu bestimmt, noch lange Zeit das Auslesen unter den edelsten Männern aller Nazionen zu haben. Ich wüßte nicht, was ich thäte, wenn ich an ihrer Stelle wäre. – Und Traetta's Oper? – die wollen wirnach dem Achill geben. Es ist endlich einmal Zeit, die alten Meisterstücke nicht vermodern zu lassen, und sie wieder aufzuführen, wenn die neuen Ernten schlechten Ertrag geben. Sollte auch – was doch gar nicht zu befürchten ist – ein musikalischer Cerberus in Rom den Schatz bewachen: so ist er doch für die übrigen hundert und sechzig tausend Seelen gewiß ganz neu. Und übrigens wird jeder Vernünftige die Entschuldigung des geschmackvollen Betrugs für gerecht erkennen. – Ferner soll Lockmann seinen verdienten Preis erhalten. Was kann er mehr verlangen, als daß sein erstes Werk in Rom aufgeführt, und von einer Hildegard gesungen wird! Wir brauchen kein Geld. O, wenn eine neuere dürftige Faustina so auftreten könnte! Es entschiede ohne allen Zweifel für das Glück ihrer übrigen Laufbahn. Ein Wunder, daß der schöne kühne Gedanke noch keiner eingefallen ist! – Und endlich, Kind, kann alles verborgen bleiben; es ist leicht so einzurichten, daß selbst Deine [104] Kammerjungfer nichts davon erfährt. – Damit der Unternehmer von der Sophonisbe nicht nachtheilig denke: so soll er, anstatt dafür zu bezahlen, die Einnahme von einer Vorstellung derselben geben.«

Der Herzog hatte stillschweigend mit vieler Ueberlegung zugehört, und sagte nun: »Der Gedanke ist kühn, aber schön, edel, wenn er glücklich ausgeführt werden kann. Ich mag freylich nichts damit zu thun haben; doch will ich alles Mögliche beytragen, wenn die Sache ins Mißliche gerathen sollte, sie wieder gut zu machen.«

Die Herzogin erwiederte in dem Schwung und Eifer, worin sie nun einmal war: »O, es kann nicht anders als gut gehen.«

Hildegard schwieg noch eine Weile, und bedeckte mit den zarten Händen die schönen Augen, aus denen der Trieb ihres Herzens gewaltig hervorstrahlte. Die D**** hatte ganz aus ihrer Seele gesprochen, und alles, was sie von ihrem Lockmann wußte, stimmte damit überein. Endlich sagte sie unentschieden und leise: »Gewiß, der Zeitpunkt zur That ist da; doch das Unternehmen gefährlich. Wir müssen es noch reifer überlegen.«

Die Herzogin sagte zum Beschluß: »Was von fern wie Gefahr aussieht, ist in der That oft keine, sondern ein Vergnügen.«

Den andern Morgen war der Unternehmer wieder bey ihnen. Hildegard versprach ihm noch nichts; doch ließ sie sich Signor Passionei nennen, und Hofnung von sich blicken.

Sie gingen mit ihm den Achill durch, der ihn entzückte und bezauberte. Dann auch die Sophonisbe, von der Hildegard noch am vorigen Abend vor dem Schlafengehen den Namen des Komponisten weggerissen hatte. Er setzte die erhabne Scene darin über alles, was er kannte; doch hielt er die Oper im Ganzen bey weitem nicht für ein so vollkommnes Kunstwerk, als die erstere. – An Traetta [105] dachte er dabey mit keinem Gedanken. Er ließ nicht ab mit Bitten, daß der junge Passionei Rom und ihn mit seiner göttlichen Stimme und Gestalt beglücken möchte. Dieser willigte aber aus Schüchternheit noch nicht ein, und sagte: Rom sey ein gar zu gefährlicher Ort.

Sie aßen Mittags bey Bodoni, dem Raphael der Buchdruckerkunst, dessen Werke der Herzog alle gekauft hatte. Hildegard trieb, in der ersten Angst vor ihrer Mutter und ihrem Bruder, daß sie noch den Nachmittag nach Reggio abfuhren. Der Unternehmer folgte ihr in Verzweiflung dahin.

Den folgenden Abend, eben als sie das Haus besahen, worin Ariost geboren ist, willigte sie endlich ein. Nach dem Vertrage, der in dem Wirthshause aufgesetzt wurde, erhielt sie für das kurze Karneval achthundert Zechinen, die Einnahme einer Vorstellung, freye Wohnung, freye Tafel mit mehrern Gedecken etc., und zweyhundert Zechinen für die Opern. Die Herzogin machte noch mit dem Unternehmer allein aus: er sollte von ihr und ihrem Gemal in Rom nichts sagen; Passionei würde sich übrigens zur gehörigen Zeit einstellen.

Er reiste in ihrer Gesellschaft nach Modena, und von dort sogleich nach Rom, um alles Uebrige zu veranstalten.

Hildegard hatte sich auf ihrer Reise durch die Lombardey mit so viel Geschmack und Vorsicht gekleidet, auch sich überall so edel betragen, daß man von ihrem Geschlecht nicht einmal etwas muthmaßte. Ihre wenigen Leute waren von erprobter Treue; keiner unter ihnen verstand Italiänisch, und konnte von dem Abentheuer, das Hildegard vorhatte, nur das Mindeste merken.

Von Modena, wo sie bey ihrer Abreise Salvini's Iliade kaufte, [106] um den Helden Homers überall gegenwärtig zu haben, fuhren sie nach Ferrara, ließen ihre Wagen da stehen, und machten einen Flug nach Venedig, um dort die Nachtigallen zu hören.

Noch an dem Abend ihrer Ankunft hielten die junge Zauberin Johanna Pavan und die launichte Theresia Almerigo in der heiligen Dämmerung der Kirche ai Mendicanti einen Wettstreit mit einander. Wahre Herzenslust für Hildegard! Besonders bewunderte sie das reine Metall der erstern. Schade, daß die lyrischen Schwärmerinnen Marchetti und Giuliana schon weggegangen waren. Hildegard erstaunte über die männliche Aufführung der ganzen Musik von den guten Mädchen; wobey Orchester und Gesang wie in einem Gusse zusammen stimmten.

Den andern Abend ward sie aufs neue durch den Contrealt der Bianca Sacchetti entzückt, die ihre Melodien mit so viel Grazie auszuzieren wußte.

Der Herzog bemerkte, das andre Geschlecht habe gewiß mehr Natur für die Musik, als die Männer, denen sie zu sehr bloßes Spiel sey. Er hielt diese Erziehungshäuser für ein Meisterstück guter Politik, da sie zugleich zum Vergnügen der Stadt und der ganzen Nazion dienen.

Hildegard sammelte schnell für sich die schönsten neuen Blumen. Der Herzog und seine Gemalin sagten aber: so bescheiden sie auch wäre, so ständen doch alle unendlich weit unter ihr.

Binnen wenig Tagen sah Hildegard, unter der vortreflichen Anführung ihrer Freundin, das Merkwürdigste und Außerordentlichste jeder Art, besser, als Andre vielleicht in so viel Monaten und Jahren.

Eben so zu Ferrara, Bologna und Florenz. Aus der letztern Stadt [107] antwortete sie unter Herzklopfen ihrer Mutter und ihrem Bruder: sie wären noch in Nizza, und wollten nun nach Genua, um den Winter in Italien zuzubringen; aber sie bäte dringend und flehend, den Prinzen nichts davon wissen zu lassen.

Die Briefe schickte sie an die Frau von Lupfen, und erzählte ihr Manches von ihrer Reise, verschwieg aber ihr gefährliches Unternehmen.

Fanny, ein kluges Mädchen, hing an Hildegarden mit seltner Treue, und hatte bis jetzt noch nichts verrathen, da es ihr in keinem Fall nützen, wohl aber viel schaden konnte. Auch diese schrieb von Nizza aus an die Kammerjungfer der Mutter, wie angenehm sie durch die Provence gereist wären, und wie vergnügt sie lebten.

Hildegard sah ein, daß es nothwendig sey, Fanny'n ihr Vorhaben zu entdecken, und daß diese sich als ihren Bedienten verkleiden müsse. Sie wollte in Rom außer ihr noch einen andern Italiänischen annehmen. Auf der Reise, in der freyen Luft, unter andern Menschen, schon fast ganz sich selbst überlassen, faßte sie Muth, wenn ihr das erste Unternehmen gelingen würde, die Rolle – natürlicher Weise als Frauenzimmer – weiter fort zu spielen. Zu einer andern in der Welt fühlte sie in sich noch wenig Beruf. Ach, ohne seine Leidenschaft wäre Lockmann der beste Begleiter für sie gewesen! und sie hätte ihm nur einen Wink geben dürfen.

Im Garten Boboli, auf einem Spaziergange, bey schönem Abendroth, wo sie mit Fanny allein sich hieran, und an der schönsten Aussicht in Florenz gegen den Berg von San Pelegrino hin, geweidet hatte, leitete sie die Sache ein, ohne vorher ihre Freundin um Rath gefragt zu haben. Fanny erstaunte. Doch, da sie aus London her an Abentheuer und Katastrophen gewöhnt war, so ließ sie sich [108] bald willig finden. In dem neuen Lande kam ihr überhaupt alles romantisch vor. Sie hatte sich schon mehrmals, wenn sie in dem Zimmer allein war, mit Hildegards Mantel und Hut vor den Spiegel gestellt, und, bey ihrem schönen Wuchse, Lust bekommen, sich wie ihre Herrschaft zu tragen.

Noch denselben Abend ward mit Hülfe der Herzogin die Kleidung erfunden, und nach dem eignen Geschmack des Mädchens gewählt, das für alle Art von Putz großes Talent hatte, und sich höchlich über die Neuigkeit freute. Fanny sang auch sehr artig Englische Lieder und Romanzen, und lallte naiv schon die nöthigsten Italiänischen Wörter.

Der Unternehmer hatte sie noch nicht bemerkt: wohl aber sie ihn zu Modena. Von Reggio war sie in dem andern Wagen hinter drein gefahren.

Nachdem man alles in Bereitschaft gesetzt hatte, ging es rasch den kürzesten Weg über Siena und Radicofani nach Rom.

Auf der letzten Post wartete Hildegard einige Stunden, ließ den Herzog mit seiner Gemalin vorausjagen, und folgte dann mit ihrer Fanny, die jetzt einen weißen Mantel und einen dreyeckigen mit Gold bordirten Hut trug.

O, welche Gefühle durchwallten ihr ganzes Wesen, als sie näher an Rom kam, und die Peterskuppel sich hoch empor in die Luft wölbte, und in der Abendsonne prangte! Der mildere Himmel der ganzen neuen Region schien sie mit liebkosenden Blitzen zu empfangen. Je weiter sie in den heitern Kreis der stolzen blauen Fernen hinein fuhren, desto wonnebanger schlug ihr Herz.

Als der Wagen an den Ponte Molle kam, sprangen einige junge Römer und Römerinnen hervor, und riefen: »Willkommen! Glück zu Deiner Ankunft!«

[109] Der Postillion hielt an. Sie sahen bald am Wagen, daß sie sich geirrt hatten, und waren überrascht von dem freundlichen Blick des fremden holden Jünglings. Das jüngste Frauenzimmer, an Gestalt eine antike Faustina, entschuldigte die Gesellschaft: daß sie geglaubt hätten, der Wagen brächte ihren Bruder, den sie von Ancona erwarteten. Ihre Augen waren die schönsten in Rom, und strahlten, wie große Fixsterne im reinsten Aether. Man wechselte von beyden Seiten die gefälligsten Worte.

Es ging nun schnell nach der Porta del Popolo, und durch eine herrliche Straße nach der andern schräg durch die Kutschenfahrt des Corso zu dem angenehmen Quartier beym Theater, welches schon längst für Passionei bereitet stand, und wo der Unternehmer selbst, höchlich über seine Ankunft erfreut, ihn empfing.

Die Sachen wurden abgepackt, der schöne Englische Wagen an einen sichern Ort gestellt, und alles bald in Ordnung gebracht.

Noch denselben Abend durchstrich der Unternehmer mit Passionei die großen nahen Plätze, bis zum Monte Citorio, wo er im Kaffeehause stolz seine neue Beute aufführte. Man erblickte mit Lust die schöne Gestalt, den schlanken königlichen Wuchs unter dem Venezianischen Mantel; und stand und sprach gefällig um den Jüngling her, als er ein Glas Gefrornes zu sich nahm.

Gegen Mitternacht hielten sie ein köstliches Mahl, wozu auch einige Freunde des Unternehmers, der zweyte, kaum sechzehnjährige Sänger – von Siena gebürtig, zart und weichlich von Person, aber von unbedeutenden Gesichtszügen, etwas kleiner als Passionei – und der Tenorist, ein starker Mann in die dreyßig, gut für die Rolle des Ulysses, eingeladen waren.

Man machte geschwind angenehme Bekanntschaft. Das Gespräch [110] ward kurzweilig und Italiänisch lebhaft. Passionei sprach wenig; aber alles, was er sagte, verrieth feinen Sinn und durchdringenden Verstand, welcher zuweilen mit dem übergroßen Aberwitz der Andren einen auffallenden Kontrast machte. Man ging spät aus einander. Unten, nicht weit von der Thür, kamen Alle darin überein: Passionei sey schön, geschmeidig, klug, verständig, und gelehrt in seiner Kunst.

Hildegard schlief sanft und ruhig, und erwachte, als schon die Sonne zu den Fenstern hereinschien, aus den lieblichsten Träumen.

Noch denselben Morgen nahm sie, auf Empfehlung des Unternehmers, einen jungen flinken Römischen Bedienten, mit Namen Paolo, an; und sagte, leichtweg ländlich sittlich scherzend, in Fanny's Beyseyn: »Der Name paßt gut zu dem Deinigen, Pietro;« – so wurde nämlich das Kammermädchen jetzt getauft; – »und ich hoffe, von dem neuen Apostel so gut wie von dem alten bedient zu werden.«

Von dem erstem begleitet, besah sie noch diesen Vormittag die Peterskirche, die Rotunde, und das Kolisäum: drey Wunderwerke, die ihre Seele zum Großen und Erhabnen stimmten.

Mittags war die Gesellschaft bey der Tafel zahlreicher: außer den schon gestern Abend da gewesenen Sängern, kamen auch die andern, und die Hauptpersonen vom Ballet und Orchester. Hildegard nahm mit ihrem gefälligen Wesen und sinnvollen Ausdruck bald alle für sich ein, so wenig Besonderes sie ihnen auch sagen konnte, da sie ihre Eigenschaften und Verhältnisse noch nicht kannte. Sie aß und trank wenig, und bemerkte für sich die Theatersitte, und – so viel davon zum Vorschein kam – das Eigne von denen, die sich auszeichneten.

[111] Den Abend machte sie die Höflichkeitsbesuche bey den Herren, die das Theaterwesen unter sich hatten; ihnen gefiel Hildegards reizende Figur und ihr bescheidnes, doch edles Betragen ungemein. Die nächstfolgenden Abende fuhr sie – immer von dem Unternehmer begleitet – zu den Römischen Damen und Vornehmen, die in der Musik den Ton angaben. Diese baten, um etwas von Hildegards Stimme und Methode zu hören, daß sie einige Kleinigkeiten, Lieder von Millico, Rondos von Sarti und Cimarosa, singen möchte. Sie that es, obgleich nachlässig und ohne Anstrengung, zu allgemeiner Bewunderung, besonders der Damen. Dabey erzählte der Unternehmer immer ihre Geschichte mit neuen Veränderungen und Zusätzen.

Erst als dieses beschwerliche Geschäft glücklich vollendet war, ging Hildegard, und zwar des Nachts, zu der Herzogin, die weit von ihr auf dem Spanischen Platze wohnte. Diese erzählte ihrer Freundin Wunder, was für Eroberungen sie schon gemacht, ohne daß man den geringsten Verdacht wegen ihres Geschlechtes hätte.

Gerade den achten Tag nach Hildegards Ankunft in Rom sollte Abends die erste Probe gehalten werden. Sehr viele Menschen hatten den neuen Sänger auf seinen Spaziergängen nach dem Vatikan und in die nahen Palläste, so wie auf seinen Spazierfahrten nach den entfernten, und nach den Villen, schon gesehn und gesprochen. Alles brannte nun vor Verlangen ihn auch singen zu hören. Der ganze Platz vor dem Theater stand gedrängt voll. Ungeachtet des strengsten Befehls, niemanden vom Volke hinein zu lassen, drohten die Verwegensten, das Thor zu erbrechen, wenn man es nicht öfnen wollte. Es war das wüthendste Geschrey und Getümmel.

[112] Passionei zeigte sich endlich auf einem Balcon; und man gebot Stille, um zu hören, was er sagen würde.

»Meine Herren,« erscholl weit und breit die süße helltönende Stimme, »wir dürfen für uns nicht thun, was Sie verlangen, so gern wir auch wollten. Haben Sie aber Geduld! Ich werde sogleich zum Gouverneur fahren, ihn dringend bitten, und, wie ich hoffe, bald mit der Erlaubniß wieder hier seyn.«

»Es lebe der Freundliche, Gute!« rief alles aus Einem Munde.

Wie gesagt, so gethan. Man hielt sich ruhig, bis er durch dringende Vorstellungen und einnehmende Bitten die gewünschte Erlaubniß erhalten hatte, und glücklich wiederkam. Das Thor ward geöfnet, und die Menge strömte nun unter Jubel in Parterre und Logen.

Nichts regte sich mehr, sobald das Orchester die Symphonie anfing. Sie gefiel, nebst dem Kontretanz und dem Chor, gleich außerordentlich.

Hildegard-Passionei sang darauf seine Scenen und Arien meistens nur sotto voce, zeigte aber bey einzelnen schweren Stellen die ausgebildetste Kunst einer reinen tonvollen Kehle. Er hatte sich für die achtzehn bis zwanzig Vorstellungen der Oper schon seine Oekonomie eingerichtet; und der rauschende Beyfall bey jenen schweren Stellen lockte ihm nur wenig mehr ab, als er geben wollte.

Der beliebteste Kapellmeister in Rom, ein junger Mann in die dreyßig, dirigirte. Hildegard selbst aber gab fast immer das Tempo an, ließ wiederhohlen, was nicht ganz nach ihrem Sinne ging, zeigte, jedoch gefällig und bescheiden, den rechten Vortrag; und man folgte gehorsam ihrer bessern Einsicht. Sie erstaunte über die vorher unerkannte Wirkung ganzer Scenen in dem weiten Raume des großen Theaters, und bewunderte Lockmann's zweckmäßige[113] Kunst: die kühnsten Striche gleichsam al Fresco, und die herbsten Dissonanzen in den entschiedensten rührungvollsten Ausdruck verschmolzen. Hildegard war oft bey Sacchini's Proben in London zugegen gewesen; sie ließ sich daher von der Menge nicht stören, sondern sprach und handelte wie ein erfahrner Meister.

Kurz, die erste Probe fiel äußerst gut aus. Alle Zuhörer fanden in der ganzen Oper nichts Mittelmäßiges, sondern jede Scene ungewöhnlich ausgearbeitet; und die feinsten Kenner bewunderten einen Reichthum klassischer Schönheiten, und den durchaus originellen großen Styl. Bravone il Maestro! bravissimo Passionei! erscholl oft von einzelnen Stimmen da und dort.

Am allgemeinsten bewunderte man: Se un core annodi; und die Scene: Ove son? che ascoltai? – Dille, che si consoli. Aber bey Tornate sereni begli astri d'amore! konnte man das Entzücken und den Jubel nicht bändigen. Eine rührende Stimme bat im Namen Aller schmeichelnd um Wiederhohlung. Passionei ließ sich auch gefällig finden, und zeigte nun, was er vermochte. Man hatte nie etwas Göttlicheres gehört, und gestand sich einander mit Zähren der Wonne in den Augen, daß er in Bravour und Ausdruck gleich stark sey, und alle Sänger, auch die berühmtesten, übertreffe.

Als die Zuhörer das Theater verließen, war auf den Straßen ein Schwirren in der Luft von der leichten Melodie: Se un core annodi, mit welcher sich hier und da die erhabne: Tornate sereni, durchkreuzte und vermischte.

Zu Mitternacht bey den Abendmahlzeiten ward von weiter nichts gesprochen, und man ließ durch ganz Rom das Lob des unvergleichlichen Sängers hoch leben.

Die folgenden Proben wurden kurz vorher angesagt, und deshalb [114] ungestörter gehalten. Hildegard sah dabey mehr auf das Ganze und den Vortrag des Orchesters. Auch der zweyte Sänger that sich nun hervor, und näherte sich bey seiner Hauptscene:Numi clementi, dem Vortreflichen. Sie gab mit Feinheit Acht auf sein Eigenthümliches, um bey Gelegenheit, wenn der Fall vorkäme, es anderwärts in gehöriger Vollkommenheit zu zeigen; aber noch genauer merkte sie auf den Vortrag des Tenoristen, der jenen an Ausbildung und Fertigkeit bey weitem übertraf.

Die blasenden Instrumente, Hoboen, Fagotten, Hörner und Trompeten, waren glücklicher Weise meistens mit Deutschen, Böhmen und Oestreichern, oder mit Schülern von Deutschen besetzt, die der rastlose Unternehmer zum Theil in der Lombardey angeworben hatte.

Schon bey der vorletzten Probe kam alles bis zu einem Gusse: Geigen, Bratschen und Bässe begleiteten durchaus meisterhaft; kein Virtuose wollte sich mit seinen Künsteleyen zeigen. Die letzte aber war wirklich Vollendung. Jeder mußte dabey in seiner theatralischen Kleidung auftreten; das antike Griechische Kostume war angenommen, und, wegen des Pittoresken im ersten Chor, zwey der berühmtesten Mahler zu Rathe gezogen worden. Hildegard hatte es so klug eingerichtet, daß sie in ihrem Zimmer am Theater, mit Fanny'n allein und unbemerkt, sich anziehen, und für den dritten Akt umkleiden konnte. Sie ertheilte voll Enthusiasmus allen Sängern, Tänzern und Musikern das gebührende Lob; aber für die vernachlässigte Aktion noch ersprießlichen Unterricht.

Endlich kam der große Tag der ersten Vorstellung.Hildegard hatte die Nacht wieder so sicher und ruhig geschlafen, wie Alexander vor seiner berühmtesten Schlacht. Sie ward von dem edlen [115] Unternehmen begeistert, und fühlte sich ganz in ihrem natürlichen Beruf, wenn auch entdeckt werden sollte, wer sie wäre.

Schon mehrere Tage vorher war von der bestimmten Anzahl der Einlaßbillete keins mehr übrig, und sie stiegen zu einem unerhörten Preise.

Prächtig erscholl die Symphonie des Bacchanals. Der Vorhang ward aufgezogen, und der Kontretanz mit dem Chor begann zum Entzücken. Die süße Wuth des Gottes zuckte in den Nerven der Zuschauer, und alle hätten mitjubeln mögen.

Groß und hehr trat Pyrrha mit der Deidamia hervor; ihr Blick strahlte wild und kühn an das Seegestade, wo in der Ferne die Trompete schmetterte.

Udisti! fragte Deidamia bang und erschrocken; und Pyrrha antwortete mit dem festen Ton der Sicherheit:Udii. »O, wie schön er ist!« hörte man überall.

So fing pittoresk und reizend das Schauspiel an, und gewann gleich jedes Herz.

Bald flieht alles; und nur sie bleibt. Ihre erste Arie:Involarmi il mio tesoro! Ah dov'è quest' alma ardita? glich einem Baum in schöner Frühlingsblüthe, und versprach die goldnen Wunderfrüchte, die nachkamen. Bravo Passionei! erscholl von Parterre und Logen unter rauschendem Beyfall.

Gleich nachher fing sich in einer Loge nahe bey der Bühne ein Gespräch an, welches für Hildegar den hätte gefährlich werden können, wenn Römer und Römerinnen des mindesten Verdachtes fähig gewesen wären. Ein junger Lord, W*** C**, der schon vor zwey Jahren den Sommer über sich in Rom aufgehalten hatte, und vor wenig Tagen von einer Reise durch Griechenland, Kleinasien, Syrien [116] und Aegypten zurückgekommen war, sagte ziemlich laut zu einem berühmten Mahler: »Das Mädchen ist schöner, als alles, was ich jemals gesehen habe; und singt und spielt ihre Rolle unvergleichlich. Ich erwartete einen Opern-Achill; aber aus dieser athmet zu meinem größten Erstaunen Homers Genius. Wer ist sie? wie heißt sie?« Er hatte, in Hildegards Schönheit vertieft, und von ihrem Blick gefesselt, gar nicht Acht gegeben, was um ihn her war gerufen und gesprochen worden.

Der Mahler antwortete lachend: »Es ist der SängerPassionei. Auf den Theatern unsrer heiligen Stadt dürfen keine Frauenzimmer erscheinen; aber die jungen Kastraten ahmen sie so gut nach, daß sie die feinsten Kenner täuschen, wie wir an Ihnen ein Beyspiel sehen.«

Der Engländer hatte für sein Lieblingsstudium, die Naturgeschichte, und auch um mit tieferer Kenntniß sich an den Werken der Kunst zu weiden, von welchen er durch Erbschaft eine reiche Sammlung besaß, die Anatomie geübt, und wußte die Verschiedenheit des Männlichen und Weiblichen nicht bloß aus demAlbini. Er war etwas aufgebracht über die Zurechtweisung; doch hielt ihn das Sonderbare des Vorfalls zurück, dem Künstler die Augen zu öfnen. Die Andern in der Loge verzogen hinter seinem Rücken den Mund.

Der Mahler wollt' es noch besser machen; und, eben als der Sieneser die Arie: Del sen gli ardori nessun mi vanti, gegen den Charakter derselben ziemlich weichlich sang, fuhr er fort: »Eine solche Beraubung in der Kindheit macht zuweilen, daß späterhin die Formen sich sehr verändern.«

Der Lord erwiederte hierbey kalt und lächelnd nur: »Dieser hat seinen Bubenkopf glücklich behalten!«

[117] Ein Jüngling in der Loge erwiederte feurig: »Könnt' es ein Frauenzimmer geben, das einen so festen süßen Ton der ersten Gattung und solche Lungen hätte; so müßt' es gewiß von sonderbarer Laune seyn, wenn es bey so viel Schönheit ...« – Das halbe Parterre gebot Stillschweigen. Kurz, es war alles in die Luft gesprochen; man hielt des Lords Aeußerung für ungereimt, dachte nicht weiter daran, ließ sich während des Zwischenakts das Gefrorne wohl schmecken, sprach über Personen in Parterre und Logen, und freute sich höchlich über das Ballet, worin Theseus den Minotaurus erlegte.

In der siebenten Scene des zweyten Akts ward bey der schönen Stelle: Ove mirar più mai tant armi, tanti duci, der Tenorist zuerst bewundert, aber noch mehr der Meister.

Das Lied der Pyrrha: Se un core annodi, erregte allgemeinen Jubel. Doch der Kern des Ganzen: Ove son? che ascoltai? machte den stärksten Eindruck. Der Tenorist und Hildegard wetteiferten; sie war aber unendlich mehr der Griechische Held, und ließ sich von seinem Theatralischen nicht mißleiten. Das Erstaunen des Lords stieg bis zum höchsten Enthusiasmus; er wußte selbst nicht mehr, was er über das Geschlecht der Person denken sollte, da er noch keinen Musico genau und oft beobachtet hatte. Gesang, Begleitung und Aktion – alles täuschte ihn, wie antik, wie Natur. Er rief ihr auch nach der vorübereilenden Arie:


Dille, che si consoli,

Dille, che m'ami;


so stark zu: Bravissimo Achille! daß Hildegard nach ihm blicken mußte, und die Blitze der Augen in einander flogen. Der Lord war ein schöner junger Mann, und hatte selbst etwas Griechisches in [118] seinem Kopfe, besonders in den runden braunen von Natur gelockten Haaren.

Nach dem zweyten Akt war ein Toben und Lärmen der Bewunderung, daß man sein eignes Wort nicht hören konnte; selbst das neue Ballet, die Einschiffung eines Französischen Regiments zu Toulon nach Amerika, brachte lange keine Stille zuwege.

Das

Tornate sereni

Begli astri d'amore!


im dritten Akt, übertraf aber an Wirkung alles Andre bey weitem. Auch zeigte Hildegard darin, von dem allgemeinen Beyfall begeistert und hingerissen, und nun freyer, muthiger, die Gewalt und Fülle ihrer Kehle, und den Reichthum ihrer Kunst am meisten. Nichts regte sich vor unaussprechlicher Lust. Sie machte Läufe und Stürze und Sprünge von drittehalb Oktaven, und schlug Nachtigallenreine Triller.

Am Ende der Arie richteten sich alle Gesichter mit bittenden Bewegungen nach der Loge des Gouverneurs, weil nur er in Rom das Recht hat, wiederhohlen zu lassen. Der strenge Mann rief auch zu allgemeinem Frohlocken, nach undenklicher Zeit zum erstenmal wieder: Ancòra!

Aber man traute seinen Ohren kaum, als der Gesang anfing, und man etwas ganz anders zu hören meinte. Da waren keine Flüge und Sprünge, sondern die lautersten einfachsten Accente wahrer Empfindung, die Natur durchaus in der höchsten Unschuld. Besonders der zweyte Theil:


O Dio, lo sapete,

Voi soli al mio core

[119]

Voi date, e togliete

La forza, e l'ardir;


preßte auch den Kältesten Thränen aus: so wahr hatte man die zärtlichste Sprache der Liebe noch nicht gehört.

Eine edle Schönheit – eben die, welche Hildegarden bey ihrer Ankunft in Rom vor dem Ponte Molle anhielt – rief dazwischen unwillkürlich, nach einem starken Seufzer, mit lauter Stimme aus: »So hat mich noch kein Mensch gerührt!« Ihre Nachbarn mußten, lachen; fühlten aber dasselbe.

Ein uralter, längst vergessener, Kapellmeister mit schneeweißen Haaren, noch aus Leo's Zeiten, konnte sich ebenfalls nicht enthalten, dazwischen auszurufen: »Das ist der wahre Gesang; der greift ans Herz, und ist kein Spiel der Phantasie!«

Jeder Ton war ein elektrischer Schlag, und Parterre und Logen eine Fluth von göttlichem Gefühl.

O, wie glücklich war Hildegard, als sie dieß sah! sie hätte ihr Talent nicht für Zepter und Kronen vertauscht. Selbst Mutter und Bruder würden ihr die Ausschweifung vergeben haben, wenn sie zugegen gewesen wären. Ihren Lockmann wünschte sie gutherzig her nach Rom, in den Taumel der Bewunderung.

Die Herzogin schrieb ihr in der Loge: sie müsse diese Nacht bey ihr essen. Ach, viele Damen – verlangten heftig Passionei'n dasselbe zu schreiben. Der Herzog überbrachte das Billet seiner Gemalin; er wartete, bis Hildegard sich umgekleidet hatte, und nahm sie dann gleich mit in seinen Wagen.

Die D**** fiel über sie her, und erdrückte sie fast vor Liebe. »O, wenn Jemand für das Theater geboren ist: so bist Du es gewiß, mehr als Garrick Deines Geschlechts!«

[120] Man hält in dem Lande des Improvisirens die erste Vorstellung nur für die letzte Probe; daher stiegen an den zwey folgenden Tagen die Billete noch höher.Passionei erschien immer mit neuen Reizen, und ward vergöttert, angebetet. Nach und nach senkte sich das Stürmische der ersten Empfindungen in einen klaren See von allgemeinem Urtheil. »Es gab seines gleichen nicht, und er übertraf alles, was man gesehen und gehört hatte.« Kenner nannten die Musik ein Meisterstück; der Vater Passionei, sagten sie, habe gezeigt, wie ein Mann von Genie reformiren müsse, und sey nicht barbarisch, wie Gluck, zu Werke gegangen. Der Ausdruck herrsche bey der schönsten Melodie, und durch die gewaltigste Fülle der Instrumentenbegleitung, von welcher noch kein Italiäner solchen Vortheil gezogen habe. Doch sey es nur der erste glückliche Versuch, und bey weitem nicht alles, was sich leisten lasse. Noch fehle das leidenschaftliche Duett, Terzett, Quartett, und die Pracht der Chöre; die zwey darin wären Kleinigkeiten. Einige erfahrne Kenner, junge Damen von Geschmack, Sänger und Sängerinnen, und Neapolitaner und Venezianer, die sich eben in Rom aufhielten, und zum Theil die andern Bühnen besetzten, gaben diese Meinung an. Die letztern würden wohl nicht so mild geurtheilt haben, wenn sie nicht geglaubt hätten, der Tonkünstler sey schon todt.

Der große Haufe der Römer schwärmte inzwischen immer fort, und kannte nichts Schöneres und Erhabneres. Das Theater war voll, so lange die Oper gegeben wurde. Die Herzogin sammelte eine Menge Sonette und die ausschweifendsten Lobeserhebungen.Passionei ward in den interessantesten Stellungen gezeichnet, gemahlt, und zwar oft entstellt, doch einigemal vortreflich nach dem Leben kopirt, und schon in einem historischen Gemählde angebracht, welches [121] der junge Lord von einem Künstler aus London nach dem antiken Basrelief für sich verfertigen ließ.

Der Lord erfuhr gleich den zweyten Tag Pas sionei's kurze Geschichte, die bald allgemein bekannt wurde. Niemand dachte weiter darüber nach; ihm allein kam sie verdächtig vor. Er hatte in London, von wo er freylich schon seit drey Jahren abwesend war, nie etwas von einem Passionei gehört. Sein Verlangen, den Sänger in der Nähe zu sehen und zu sprechen, war brennend; es wollte ihm aber nicht damit glücken. Hildegard ging wenig aus, und nahm Besuche, von denen sie anfangs bestürmt wurde, eben so wenig an, als Einladungen. Sie war jeden Tag mit ihrer Rolle beschäftigt, und erdachte etwas Neues dafür; überdieß hatte sie noch die Sophonisbe zu studiren, die Klippe, an welcher sie zu scheitern befürchtete. Die erste Probe dieser Oper ward so geheim veranstaltet, daß kein Fremder hinzukam; auch hatten die Römer in sieben Schauspielhäusern jetzt so viel zu sehen und zu hören, daß sie wenig deshalb nachforschten!

Die Probe übertraf bey weitem Hildegards Erwartung. Den Masinissa, machte der Sieneser, freylich zu jung für diese Rolle; und den Siface der Tenorist, für welchen diese Rolle so gut geschrieben war, daß er recht darin glänzen wollte. Beyde hatten wenig zu lernen; die Melodien fielen leicht in die Kehle. Ueberhaupt bestand die ganze Oper nur in Sophonisben; alles Andre war Nebenwerk. Die beyden Virtuosen auf der Hoboe und dem Horn freuten sich indeß sehr über ihre Solos in der vierten Scene des dritten Akts.

Hildegarden war ein schwerer Stein vom Herzen, als weder der Kapellmeister, welcher die Aufführung dirigirte, noch einer von den andern Tonkünstlern nur das Mindeste von einem Betruge äußerten,[122] und alle die Musik der schönen Scenen, besonders der erhabnen im dritten Akt, bewunderten. Sie sagten: manches sey gewöhnlich, und das Ganze nicht so neu und gediegen, wie der Achill, aber doch der Styl vortreflich; die letzte Scene klassisch, und allein eine Oper werth. Hiermit urtheilten sie nicht übel; verstanden sich aber wenig auf Physiognomie der Geister.

Die erste Probe ging so gut, daß man nur noch zwey andre hielt.

Bey der ersten Aufführung waren die Billete noch theurer als beym Achill.

Hildegard hatte sich reich und mit Geschmack gekleidet, und in ihrem gelockten Haar strahlte ein Diadem von großen Diamanten. In der vierten Scene bey den Worten: Intesi, ti basti, s'io cesso d'odiarti, glaubten alte Kenner in ihr die junge Gabrieli zu sehen und zu hören. Niemand aber dachte anTraetta.

Der Tenorist erhielt vollen Beyfall in der letzten Scene des ersten Akts. Dieser gefiel zwar, erregte aber bey weitem nicht so viel Enthusiasmus, wie der erste Akt des Achill.

Im zweyten trank man Chocolate und aß Gefrornes. Man hielt alles darin für gewöhnlich; nur das Terzett erregte Aufmerksamkeit.

Aber im dritten lebte alles wieder auf. Bey der Arie: Sventurata in van mi lagno, zeigte Hildegard sich in ihrer stärksten Bravour, wie man sie noch nicht gehört hatte. Alles erstaunte über die Neuheit und das Glänzende ihrer Manieren und Läufe; und mehr als Eine Stimme rief: »So etwas kann kein Frauenzimmer!«

Der junge Lord, welcher noch keine Vorstellung versäumt hatte, verwunderte sich seinerseits über die allgemeine Blindheit. So lange [123] Hildegard noch den Achill spielte, dünkte er sich nie recht sicher; jetzt aber – Doch er wollte warten.

Die zehnte Scene war der Triumph von allem; das ganze Theater lauschte wie gefesselt und gebunden, und jedem lief ein Schauder nach dem andern durch die Glieder.


Ecco al mio labbro già la tazza letal!

Ma ohime! la mano perchè mi trema,

Qual si spande intorno fosco vapor,

Sotto l'incerte piante il suol perchè vacilla –

Dove son? che m'avenne?

E questo forse il natural ribrezzo al tremendo passaggio?

Ah, non credei, che si terribil fosse l'aspetto della morte!


Man hörte kaum, und hatte nur Augen: so sehr war die königliche Gestalt in jeder Stellung, Bewegung und Geberde Sophonisbe. Das hohe Tragische that den Zuschauern wirklich zu weh. Der junge Lord rief außer sich: »Donna è vera Sofonisba!«

Dieß schallte Hildegarden schrecklicher in die Ohren, als hinter der Scene der Römische Marsch.


Ma qual suono lieto insieme e feroce? donde? s'osservi! aprite! –

O vista atroce! le navi! i prigioneri!

Invano m'attendete, o superbi! Io non verrò,

La mia difesa è questa. Bevvasi! –

O dio! ma dunque ò da morir cosi?

I ferri! le catene!

Mi lascian tutti, misera, in abbandono; e sol m'avvanza,

Che soccorso crudel? la mia constanza.


Das Quintett zum Beschlusse, wo sie stirbt, vollendete die ungeheure Wirkung; die Zuschauer waren blaß und von Schrecken versteinert.

[124] Erst als der Vorhang fiel, schöpften sie wieder recht Athem, und riefen: Bravissimo Passionei!

Die Donna des Lords war ganz und gar in die bloße Luft gesprochen; er blieb aber überzeugt, wie von seinem Leben, daß Passionei ein Frauenzimmer sey.

Hildegard hatte, als sie das Donna hörte, große Mühe, die Scene gehörig auszuspielen; und konnte sich auch nachher nicht gleich wieder davon erhohlen. Sie wußte nicht, woher das Wort kam. Der Engländer war ihr freylich jederzeit in die Augen gefallen, und sie sah seinen schönen Kopf gern, so wie die noch schönern Augen, welche so voll Seele Acht gaben und auf ihr Spiel lauerten. Sie dachte einen Augenblick, die Herzogin oder ihr Gemal müßten sie verrathen haben; doch verwarf sie diesen Argwohn bald.

Als die Gefahr mit Traetta überstanden war, glaubte sie endlich das Natürlichste: es habe ein feiner Lobspruch seyn sollen.

Bey den Abendmahlzeiten, und am folgenden Morgen in den Kaffeehäusern, urtheilte man über die Oper ziemlich eben so wie das Orchester. Von Passionei aber sagte man: er sey ein Phönix von Sänger; alle wesentlichen Eigenschaften vereinigten sich bey ihm in hoher Vollkommenheit.

Bey der zweyten Vorstellung gefiel alles weit mehr; man übersah nun das Ganze, und erwartete mit Begierde den dritten Akt. Die erhabne tragische Scene zerriß das Herz nicht mehr so stark, und that nur lieblich weh; der Beyfall war daher froher, besonnener und allgemeiner. Hildegards Blicke bewachten fein, doch nicht unbemerkt, den jungen Lord. Sein Herz schlug ihr in vollen Flammen entgegen; doch betrug er sich sehr verständig.

Den Vormittag darauf kamen die drey Unternehmer des Theaters [125] zu ihrem Abgott Passionei, schütteten einen Haufen schöner vollwichtiger Zechinen auf eine Tafel, zählten ihm achthundert Stück vor, die er gegen Quittung in Empfang nahm, und sagten ihm, daß der Rest beym Schluß des Karnevals erfolgen würde. Sie wollten zugleich für das nächste Jahr einen Kontrakt mit ihm schließen; er ließ sich aber noch nicht ein, ob er gleich ihnen Hofnung machte.

Als sie fort waren, that Hildegard dreyhundert Zechinen in einen Beutel, rief Fanny'n, und drückte ihr denselben, zum Lohn für ihre Treue und Verschwiegenheit, in die Hand. Das übrige Geld schloß sie ein.

Mittags speiste sie bey der Herzogin, welche muthwillig darüber scherzte, daß die Römer sich klüger als alle Welt dünkten; und den Nachmittag fuhr sie zu einem Banquier, den ihre Freundin ihr als den sichersten empfohlen hatte, um für die andern fünfhundert Zechinen einen Wechsel zu kaufen.

Passionei kam vor dessen Haus, nahe bey derVilla Aldobrandini, und stieg, als die Thür geöfnet wurde, noch in Gedanken verloren, aus dem Wagen. Man führte ihn in ein Zimmer, und – welche angenehme Ueberraschung! – dieselbe junge schöne Römerin, von der er bey seiner Ankunft unweit des Ponte Molle bewillkommt worden war, kam ihm freundlich entgegen.

Sie erröthete, als sie den Sänger empfing, der sie, wie noch kein Mensch, gerührt hatte. Ihre Augen waren wirklich schöne Gestirne der Liebe, wie es in der Arie heißt, und die Natur schien sie aus den reinsten und heißesten Sonnenstrahlen gebildet zu haben; ihre Blicke loderten von unwillkürlichem Feuer.

Auch sie war überrascht von der Zusammenkunft; und ehe sie noch [126] fragte, was sein Begehren sey, dankte sie ihm mit abgebrochnen Worten für das unaussprechliche Vergnügen, das er ihr als Achill gemacht habe.

Indessen kam ihr Bruder, der Banquier. Passionei sagte in wenig Worten sein Verlangen, welches sogleich erfüllt werden konnte. Er schrieb dem Banquier den Namen Kapellmeister Lockmann auf, zählte ihm die fünfhundert Zechinen vor, und blieb dann wieder mit der schönen Römerin allein, weil der Bruder wegging, ihm den Wechsel auszufertigen.

Sie erzählte ihm geschwind ihr Familienverhältniß. Vater und Mutter wären gestorben. Ihr Bruder sey das älteste Kind vom Hause; seine Frau lege so eben einen Besuch ab; und zwey ältere Schwestern wären verheurathet: eine in Ancona, die andre in Neapel. Dabey war sie so gut, so freundlich, mit Einem Wort: in Passionei verliebt.

Hildegard fühlte hier zum erstenmal etwas von dem Uebernatürlichen der Sappho. Sie ward blaß; ihr Herz schlug, daß sie Mühe hatte, es zu verbergen, und ein Seufzer nach dem andern drängte sich aus ihrer Brust hervor. Der Blick der himmlischen Unschuld flammte auf sie – ach! – wie eine zärtliche Umarmung. Sie konnte sich nicht enthalten, als sie neben dem schönen Mädchen am Fenster stand, dessen zarte Hand zu fassen, und an ihre Lippen zu drücken. Und das Mädchen ließ es lächelnd geschehen, als sie sich nur ein wenig geweigert hatte.

Der Bruder kam darüber wieder, und brachte den Wechsel, der auf die Gebrüder Bethmann in Frankfurt am Mayn gestellt war.

Jetzt fing auch er an, Passionei'n Lobsprüche zu machen, und erzählte dabey, daß Eugenia – so hieß die Schwester – ebenfalls [127] sänge, und seine Art und Manieren nachzuahmen gesucht hätte. Sie schlug bescheiden die Augen nieder, und sagte: »Warum mußt Du meine Verwegenheit dem Unerreichbaren entdecken?«

Er erwiederte: »Vielleicht ist er so gefällig, Dir einige Augenblicke Unterricht zu geben. Von einem solchen Meister sind die mehr werth, als Monate und Jahre von andern.« Nun führte er Passionei'n und Eugenien in das andre Zimmer, und langte eine Guitarre herunter.

Eugenia stimmte sie schüchtern, legte sie, reizend wie Erato selbst, an, that einige langsame Griffe, als ob sie nicht recht daran wollte, und sang dann plötzlich mit raschen Griffen, wie auf einmal begeistert, in quellreinen vollen Tönen, unter der allerfertigsten Begleitung der zarten Finger:


Se un core annodi,

Se un alma accendi,

Che non pretendi

Tiranno Amor!


Auf Tiranno legte sie einen Nachdruck, der Hildegarden durch Mark und Bein drang, so daß sie wirklich vor Schrecken darüber zusammen fuhr. Zum Glück für sie sang Eugenia gleich weiter fort. Einen solchen Auftritt hatte sie in ihrem Leben noch nicht gehabt; es ward ihr dunkel vor den Augen. Sie stammelte nur dazwischen: »Göttlich!« und nie hatte sie das Wort so gefühlt. Auf beyden Seiten war die tiefste Inbrunst der Natur für hohe Schönheit.

Passionei hörte still zu, und rühmte am Ende alles, was Eugenia vortreflich gesungen und gespielt hatte, nach Verdienst, besonders aber den Ausdruck voll der wahrsten Empfindung. »O,« sagte[128] Eugenia lächelnd – und es war, als ob der Himmel sich aufthäte –: »gerade den Ausdruck, wenn Sie mir nicht schmeicheln, hab' ich von Ihnen.«

Passionei beneidete sie wegen ihrer Fertigkeit auf dem so lieblichen Instrument; und machte ihr dann auf ihr Bitten langsam einige von seinen Manieren vor, die sie in ihre Kehle zu bekommen wünschte. O, wie sie ihn dabey anblickte, seine Töne wiederhohlte, und beyde sie in einander schmelzten! Eine größere Süßigkeit hat der Erdboden nie gehört.

Schade, daß sie darin gestört wurden! Jetzt kam die Frau vom Hause: auch eine schöne Römerin, nur nicht von so edler und geistreicher Art, und stark in die Zwanzig; da Eugenia kaum sechzehn Jahre haben mochte.

Sie ließ, als die kleine Gesellschaft eine Weile angenehme Gespräche geführt hatte, ihre Kinder kommen: ein Mädchen von sechs, und einen Buben von acht Jahren; beyde schön wie die Engel; der Bube seinem Vater ein wenig ähnlich, und das Töchterchen der Mutter.

Das Haus hatte eine Lage, die zu den zauberischesten in Rom gehörte. Eben schwebte das Kolisäum im süßen Abendlichte fern aus dem Grünen in die hohe Luft, wie ein Gemählde voll Empfindung vergangner Zeiten; und durch die hohen Bogen sah man Feld und Himmel. Rechter Hand leuchtete die Villa Casali, wie ein Lustsitz der Liebe hervor; und weiter hin Castel Gandolfo, Rocca di Papa und Frascati. Das schöne Gebirge wölbte sich majestätisch herum gen Tivoli, und der hohe Sorakte machte einen prächtigen Beschluß.

Rom lag vor der Höhe in den stolzen Formen seiner Gebäude, und [129] den rührenden Ruinen mit Grün überzogen, woraus hier und da Pinien und Zypressen sproßten und ihr Haupt erhoben.

Passionei war über eine Stunde da gewesen, als er sich empfahl; und mußte versprechen, seinen Besuch bald und oft zu wiederhohlen.

Die Ohren brausten Hildegarden im Wagen, als sie alles wieder durchempfand. »Wie mancher Einheimische und Fremde wird nach einem solchen Blicke schmachten! ... O, ich mag es nicht ausdenken!« So verstummte sie in sich.

Diesen Abend spielte sie ihre Rolle zum erstenmal sehr zerstreut; doch brachte die Gewalt der Musik im dritten Akt sie wieder zu sich. Am besten machte sie die Scenen von Jomelli, worin Sophonisbe von ihren Kindern Abschied nimmt, und deren Schönheit heute auch erst bemerkt wurde.

Den nächsten Morgen schrieb sie folgenden Brief:


»Mein lieber Lockmann,


ich habe mit der Herzogin D**** eine Reise nach Italien gemacht, und wir befinden uns jetzt in Rom. Sie erhalten hierbey zur Belohnung einen Wechsel von fünfhundert Ducaten, den sie sogleich heben können. Sie hätten fünftausend verdient. Wofür? das kann ich der Post nicht anvertrauen. Ich werde Ihnen Wunderdinge erzählen, wenn ich wieder bey Ihnen bin.«

»So bald das Karneval vorbey ist, reisen wir nach Neapel. Melden Sie mir dorthin den Empfang unter der Adresse der Herzogin bey dem G*** H***. Im May segeln wir nach Sizilien und Malta, und kommen durch Kalabrien zurück nach Neapel. Von da geht es den Sommer im Fluge nach Wien, und wir begleiten meine Mutter an den Rheinstrom. Leben Sie wohl.


Hildegard


Sie überlas Wechsel und Brief noch einmal; legte beydes wohl zusammen, [130] verklebte das Couvert mit Oblate, siegelte zu, und schrieb die Adresse. Den Nachmittag gab sie den Brief ihrer Fanny, daß diese ihn Abends richtig bestellen sollte.

Sie ging und fuhr nun oft aus, um die unendlichen Schätze Roms, die Pracht und Herrlichkeit, die Schönheit der Tempel, Palläste und Brunnen, und die Majestät der Ruinen zu sehen. Die Oper ging, mit unaufhörlichem und immer neuem Beyfall, ihren Gang fort. Hildegarden war die Sophonisbe ohne Vergleich leichter zu spielen, als der Achill, und alle Gefahr schien glücklich überstanden.

Die Leidenschaft des jungen Lords schlummerte inzwischen nicht; doch ging er behutsam zu Werke, weil die Erscheinung zu außerordentlich war.

Er hatte gleich zu Anfang einen Besuch bey der Herzogin gemacht, mit der er zu London immer nur in großen Gesellschaften gewesen war. Bey diesem Besuche wurde auch von Passionei gesprochen. Die Herzogin bewunderte und pries sein Talent, seine Figur, that aber, als ob sie ihn nicht näher kennte.

Erst bey der Vorstellung der Sophonisbe gelang es dem Lord, von dem Unternehmer selbst das Gegentheil heraus zu locken. Er erfuhr nun auch, daß beyde Frauenzimmer fast täglich zusammen kamen, und daß man in ihrem Hause glaubte, die Herzogin richte sich nach der Sitte der Römischen Damen, und Passionei sey ihr Cicisbeo. Begieriger, hinter die Wahrheit zu kommen, ist wohl noch kein Mensch gewesen, als der Lord. Er und die Herzogin, beydes geistreiche Personen von hoher Kultur, gewannen bald Hochachtung für einander, die bis zur Traulichkeit ging. In der Folge besuchte er sie öfter; doch traf er nie Passionei'n bey ihr, der, so lange der Achill auf dem Theater war, nur nach den Vorstellungen um Mitternacht [131] zu ihr kam. Wenn von ihm gesprochen wurde, hielt er aus Absichten seinen Verdacht immer zurück.

Als er die nähere Bekanntschaft zwischen beyden erfahren hatte, suchte er die Herzogin gleich den folgenden Morgen darüber auszuforschen. Diese gestand ihm lächelnd ein, sie wäre in Turin bey Pugnani mit Passionei bekannt geworden, hätt' es aber rathsam, gefunden, hier zu Land' ein Geheimniß daraus zu machen, daß er durch ihre Vermittelung Rom bezaubere. Der Unternehmer, sagte sie, wäre ein Plaudermaul. Uebrigens blieb es beym Alten.

Der Lord sah sie mit besonderm Blick an, und drohte ihr mit dem Zeigefinger.

Sie konnte ihm nur darauf sagen: »Geduld, Lord, und Verschwiegenheit! Sie sollen bald Alles erfahren, und von Herzen darüber lachen;« denn eben trat ihr Gemal mit einem Kardinal in das Zimmer, und unterbrach sie.

An den nächstfolgenden Tagen fand der Lord die Herzogin immer in Gesellschaft. Er ließ nun auflauern, um irgendwo Passionei'n allein zu haben. Zwey Besuche von ihm wurden nicht angenommen; auf das Theater ging er nicht, weil zu viel Personen hinauf kamen, das Getümmel zu groß war, und er kein Aufsehen machen wollte. An einem heitern Nachmittage meldete ihm endlich sein Kammerdiener: Passionei sey mit der Herzogin und einem Römischen Antiquar über die Engelsbrücke, nach der Peterskirche oder dem Vatikan, gefahren. Der Miethwagen des Lords stand immer bereit, und er fuhr in der besten Laune gleich nach.

Als er auf den Petersplatz kam, sah er den Wagen der Herzogin an dem Eingange der Kirche halten. Er stieg aus, und ging hinein. Es war sonst niemand darin als ein Küster, der an dem Pfeiler der [132] linken Seite – wo der Eingang zu der Treppe ist, auf welcher man zum Dache steigt – die Thür hinter sich zumachen wollte. Der Lord fragte ihn, ob er nicht eine Dame mit zwey Herren gesehen hätte. Der Küster antwortete: sie wären so eben hinauf gegangen, um die Einrichtung des Dachwerks und das Gewölbe der Kuppel von außen zu betrachten. Der Lord bat um Erlaubniß, die Gelegenheit zu benutzen; und sie wurde ihm sogleich bewilligt.

Er eilte voran, und fand oben Passionei'n in seinem Venezianischen Mantel rückwärts nach dem Platze zu stehen; indeß die Herzogin mit ihrem Begleiter in einem Gespräche war, und langsam nach der Kuppel wandelte.

Passionei drehte sich um; und ein freudiges »Ha!« der Verwunderung flog dem Lord von ihren lächelnden Lippen entgegen. Nun erfolgte eine Pause, die mehr sagte, als die lieblichsten Worte der Beredsamkeit. Beyder Blicke weideten sich an einander in hoher Schönheit; nur die ihrigen schüchtern und furchtsam, die seinigen mit kühner Begierde. Er ging zuerst auf sie zu, und faßte sie schon vertraut bey der zarten Mädchenhand. Beynahe hätte sie in der Zerstreuung ihm erlaubt, ihr die Hand zu küssen: doch besann sie sich noch, daß sie Passionei war; und entzog die Hand seinem warmen Druck.

Der Lord sagte ihr in Englischer Sprache: »Unverhoftes Glück, daß ich den Sänger, der einzig in seiner Art ist, und mich so oft mehr als irgend etwas in der Welt entzückt hat, endlich einmal bey der Hand fassen, und ihm meine höchste Bewunderung bezeugen kann!«

Die Herzogin hatte ihr den Lord schon genug geschildert, und beyde einander so oft betrachtet, daß sie ihm in derselben Sprache erwiederte: »Mir sank der Muth, Lord, so bald ich etwas von Ihnen [133] wußte; und ich schämte mich meiner Verwegenheit, den größten aller Helden, auch nur als verliebten Jüngling in Frauenzimmerkleidung, darzustellen. Wie weit muß in Ihren Augen der sanfte zierliche Metastasio hinter Ihrem Homer zurückgeblieben, und wie leicht sinnig ich Ihnen vorgekommen seyn! Zu seinem und meinem Glück sind die heutigen Römer so zahm geworden, daß Ihnen solche heroische wilde Gefühle ganz fremd sind.«

Sie sagte dieß in der besten Londoner Aussprache, mit einem solchen Feuer, und so schnell, daß der Lord erstaunte, und augenblicklich wieder anfing, über ihr Geschlecht zu zweifeln.

Unterdessen hatte der Küster die Herzogin eingehohlt. Sie wendete sich um, und erblickte den Lord bey Hildegarden, eben als er sie fragte: »Wie lange sind Sie in England gewesen? So leicht und vortreflich hat unsre Sprache noch kein Italiäner gesprochen.«

Die Herzogin rief und winkte beyde herbey, weil sie ganz richtig dachte, das würde eine Geschichte geben.

Der Lord zögerte; Hildegard aber eilte zu ihr hin, und antwortete nur, ganz als Italiäner: »Ich kam in früher Jugend, wo die Organe noch geschmeidig sind, nach London; und der gewaltige Trieb, die Sprache der ersten Nazion auf der Erde zu sprechen, machte, daß ich die meinige fast vergaß.«

Die Herzogin kam ihnen auf halbem Weg entgegen. »Verzeihen Sie, Herzogin,« stammelte der Lord verwirrt: »das glücklichste Ungefähr –« Die Wangen glühten, die Augen flammten ihm.

»Es freut mich, erwiederte die Herzogin, daß wir uns endlich alle Drey zusammen finden, was so oft mein Wunsch gewesen ist.«

Der Antiquar fuhr in seiner Erklärung fort, und wiederhohlte, wie kostbar, schön und zweckmäßig das Dachwerk des ungeheuren [134] Wundergebäudes sey; und welche Päpste, welche Architekten im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sich dadurch verewigt hätten. Dann erzählte er, wie die Pfeiler der Kuppel gesunken, ein Riß in dieser entstanden, und der starke eiserne Reif darum befestigt worden wäre.

Der Küster fuhr fort, und beschrieb den Knopf der Kuppel. Vier bis fünf Personen, sagte er, könnten geräumig darin stehen, so klein er auch unten auf dem Platze aussähe; und alle Englische Damen, die hieher kämen, stiegen hinein.

»Die Verhältnisse,« sagte der Antiquar, »sind bey jedem Theil auf ein Haar berechnet; und dieß macht, daß das Ungeheure nirgends hervorspringt und auffällt, so bald man einigermaaßen das Ganze übersieht.«

Dabey kam die Gesellschaft in das Geländer oben auf der Kuppel, und genoß der schönsten Aussicht über Rom hin in die weite herrliche Gegend, und bis an das Seegestade. Von Griechenland her wehete heiter ein gelinder Ostwind.

Jetzt drängte die Herzogin den Lord nach der an dern Seite voran, um ein Wort mit ihm allein zu sprechen, und zu hören, was er von Passionei denke.Hildegarden wandelte, indeß der Antiquar anfing, ihn zu unterhalten, die Lust an, auf die Leiter zu steigen, die nach dem Knopfe führt; und in Gedanken schritt sie eine Sprosse nach der andern weiter, bis sie endlich an die schmale Oefnung kam.

Der Lord wollte sich noch nicht über Passionei auslassen, und langte das Geländer herum gerade unten bey dem Thürchen an, dem Eingang zur Leiter, als Hildegard den Kopf eben in den hohlen Raum steckte, und sich nun empor hob, und mit den Füßen hinein schritt.

[135] Er versäumte die Gelegenheit nicht, und stieg schnell hinter drein. Hildegard wollte, als sie kaum einige Namen gelesen hatte, wieder zurück; aber jetzt war er schon mit halbem Leibe hinter ihrem Rücken.

Sie erschrak, als sie bey einer plötzlichen Wendung ihn erblickte; doch konnte sie ihn jetzt nicht wohl mehr aufhalten. Zwar sagte sie, hastig bittend: er möchte sie erst hinunter lassen; aber in dem Augenblick stand er schon vor ihr. Ihr Mantel, in welchen sie sich fest wickelte, flog mit einem Riß aus einander; und so waren ihre Arme, ihre Weste und Halskrause dem Gierigen ein schwacher Widerstand. Er faßte entzückt die lieblich warmen herblich zarten schönsten Formen des Gefühls, die er bald von aller Hülle freygemacht hatte.

Sie schrie und rief, und suchte sich los zu winden; ihr war, als ob der Satan sie in Händen habe, aber Satan der Engel des Lichts.

»Wundergeschöpf! Wir müssen Eins werden; so wollen es Natur und Schicksal!« Dieß flog unter Kuß auf Kuß voll Zärtlichkeit aus seinen Lippen.

Die Herzogin war schon an der Oefnung, Hildegarden zu Hülfe zu kommen, und rief dem Lord zu: er sollte sich mäßigen; aber er ließ sich nicht stören, und flisterte: »Besänftige Dich! sey gut und hold! Mein Herz und Geist, alle meine Sinne, mein Leben hängt an Dir; ich bete Dich an. Dein Geschlecht war mir den ersten Augenblick, als ich Dich sah, nicht verborgen.«

Hildegard weinte vor Scham und Zorn. »Sie sehen mich für etwas anders an, als ich bin. Lassen Sie mich! Ich beschwöre Sie bey Ihrer edlen Denkungsart.«

Die Herzogin hatte ihn einigemal so derb in die Waden gekneipt, [136] daß er endlich nachgab. Hildegard schlug sogleich den Mantel wieder um sich, und stieg dann mit der Herzogin zuerst hinunter.

Antiquar und Küster waren gleich anfangs wieder auf das Geländer gegangen; sie verstanden nichts vom Englischen, glaubten, da die Sprache der Fremden so gedämpft war, sie trieben Scherz, und redeten der Herzogin zu, ebenfalls hinauf zu steigen.

Hildegard eilte nun mit dieser die Kuppel hinunter. Die Herzogin verabredete mit ihr in aller Geschwindigkeit, sie für Passionei's Tochter auszugeben; und übrigens sollte alles beym Alten bleiben.

Der Lord kam ihnen schnell nach. Sie faßten sich in Gegenwart des Antiquars und des Küsters, wie Leute von Welt. Die letztern beschrieben noch, wie prächtig die architektonische Erleuchtung des Tempels und der Kuppel am Petersfeste wäre. Die Fremden mochten aber nicht länger bleiben, gingen wieder hinunter, und trennten sich unten auf dem Platze:Hildegard mit zornigem und verschämtem Blick; der Lord mit Augen, worin die Freude über seine Entdeckung funkelte.

Die Herzogin sagte nachher zu Hildegarden: sie stände für seine Verschwiegenheit. Auch dieser selbst war deßwegen nicht sehr bange; nur fürchtete sie sich vor seinen Verfolgungen.

Der Lord verlangte unterwegs sehnlich, ihre wahre Geschichte zu wissen. »Wer mag sie seyn? – Eine Römerin? und so vertraut mit der Herzogin! So schön, so reizend, so blühend, so vortreflich: und doch so unbekannt! so fertig in unsrer Sprache! Wie entständ' in London und in ganz England eine solche Sängerin? Ihr Ruhm ginge ja durch Europa, und erschallte in beyden Indien. Ein unerklärliches Räthsel! ... Aber mein muß sie werden, für alles was ich habe!«

[137] Er nahm sich fest vor, auf jeden Fall ihr jährlich zwey-, drey-, viertausend Guineen – bey seinen reichen Einkünften gar nicht zu viel – auf Lebenslang auszusetzen; und mit der Zauberin zu reisen, wohin sie nur wollte.

Hildegard spielte diesen Abend, gegen alles Erwarten der D****, die Sophonisbe vortreflicher als je, weil sie ganz zur bangen Leidenschaft gestimmt war. Der Lord befand sich in der Loge der Herzogin, erfuhr aber von dieser nichts anders, als das Verabredete. Die reinsten Seelenaccente, alles, was Kunst und Empfindung vermag, durchblitzten und durchflammten sein Wesen.

Am Ende gab er der Herzogin in feinen Ausdrücken seinen Entschluß zu verstehen; diese benahm ihm aber im Ton der ungeheucheltsten Wahrheit alle Hoffnung, auf solche Weise je zu seinem Zwecke zu gelangen. Die Passionei, sagte sie, wäre ein Muster der strengsten Tugend.

»Wie kommt sie aber auf dieses Theater? und auf welchen andern ist sie schon gewesen?«

»Noch nie auf einem!«

»Nie auf einem Theater?«

»Nie, auf einem öffentlichen. Ich allein verleitete sie muthwillig zu diesem Schritte; gegen ihren Willen, obgleich nicht gegen ihre Neigung. Ihr Vater war, als ich sie an einem Deutschen Hofe kennen lernte, vor Kurzem gestorben. Ich nahm sie mit mir, daß sie in Italien die großen Schulen der Musik kennen lernen möchte.«

Dann wiederhohlte die Herzogin voll Enthusiasmus, mit weit mehr Beredtsamkeit, einen Theil von dem, was sie Hildegarden in Parma gesagt hatte. Ihre Erzählung war durch die Thatsachen und den Erfolg so wahrscheinlich, daß der junge Lord glaubte und erstaunte.

[138] Er bat um Erlaubniß, sie nach Hause begleiten zu dürfen.

Sie fanden ihren Gemal in Gesellschaft mit zwey Künstlern, einem Italiäner und einem Deutschen, denen er einige ihrer besten Gemählde abgekauft hatte. Als sie sich zur Tafel setzen wollten, fand zu allgemeiner Freude auch Hildegard sich ein, und bekam ihren Platz zwischen dem Lord und der Herzogin.

Man sprach bald über die Erziehung und Bildung der Künstler in Rom, über die Urtheile des Publikums, und über die immer entscheidenden Stimmen.

Die beyden Meister beklagten sich bitter über Ränke und Kabalen; und erzählten drollichte Anekdoten.

Dann sprach man über die vorzüglichsten lebenden Künstler, und die Hauptwerke, durch welche sie ihren Ruhm erlangt hatten; und verglich sie mit denen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, und mit den Antiken. Die Laien sagten frey und edel ihre Meinung.

Hildegard machte mit reizender Bescheidenheit über das, was sie gesehen hatte, die feinsten und richtigsten Bemerkungen, worin lebendige Empfindung und geübter Verstand entzückend schön vereinigt waren. Die Künstler hörten dem unvergleichlichen Sänger, von dem sie so etwas nicht erwarteten, mit Vergnügen zu; und dem Lord schwoll die Brust noch höher von Leidenschaft.

Auch er sprach dann mit der Suada der Liebe von dem gegenwärtigen Griechenland, von Kleinasien, und seinen Reisen durch beyde Länder; er rühmteChoiseuls Eifer, und glänzte mit dem gebildetsten Geschmack, wie mit den gründlichsten Kenntnissen.

Die Zeit schwand mit Schnelligkeit dahin. Hildegard vergaß beynahe, daß sie Passionei war, und hing mit lauschendem Blick an [139] den zarten holden beredten Lippen, deren kühnen wilden Feuerkuß sie noch fühlte.

Die Gesellschaft trennte sich erst spät nach Mitternacht, und nur ungern.

Den folgenden Morgen gegen Mittag wollte der Lord Hildegarden einen Besuch machen; aber er ward nicht angenommen.

Den Nachmittag gab Hildegard-Passionei Eugenien, in Beyseyn der Schwägerin, gefällig eine halbe Stunde Unterricht.

Im Schauspiel erschien er mit neuen Reizen; und um Mitternacht aß er bey der Herzogin in derselben Gesellschaft, wie gestern.

Den andern Nachmittag sahen beyde die Villa Borghese mit einander, den folgenden die Villa Ludovisi; und so verstrich die Zeit des Karnevals.

Bey der letzten Vorstellung, deren Ertrag Hildegarden gehörte, und wobey die Römer ihre Erkenntlichkeit zeigten, übertraf sie sich selbst, und jede Beschreibung, so, daß Alles vor jubelndem Enthusiasmus brannte. Sie bestimmte die Einnahme ganz zu Preisen für junge Künstler. Man erstaunte über das unerhörte Beyspiel; aber noch immer blieb sie derSänger Passionei, und man schöpfte nicht den geringsten Verdacht.

Der junge Lord hatte, wenn er, abgesondert von den Andern, auf Spaziergängen in den Villen der Stadt sich glückliche Momente mit ihr allein befand, alles nur Mögliche versucht; aber die leidenschaftlichste Beredsamkeit, die vortheilhaftesten Anerbietungen, Schmeicheleyen, Bitten, nichts brachte ihn weiter. In der Verzweiflung entschloß er sich endlich zu dem einzigen noch übrigen Mittel: sie zu heurathen; und machte ihr, als er in der Villa Pamfili wieder mit ihr allein war, förmlich den Antrag.

[140] Sie konnte darüber, daß er sich ihr so ganz hingeben wollte, die lauterste Zärtlichkeit nicht verbergen; die gefühlteste Hochachtung hatte sie ihm schon oft bezeigt. Mit einem Blick, in welchem ihre schöne Seele strahlte, sagte sie ihm: er möchte sich nicht von einer vorübergehenden Leidenschaft täuschen lassen; Gesetz und Gewohnheit habe mit der Ehe gar strenge Fesseln vereinigt, und nicht selten folge nach einem kurzen Zeitraum die bitterste Reue. Er kenne sie noch zu wenig, um sein künftiges Leben an sie zu wagen. Noch setzte sie muthwillig hinzu: Verstellung sey den Schauspielerinnen eigen. Auf Reisen in andren Gegenden, unter andren Menschen, würde der flüchtige Eindruck, den sie bey den Zaubereyen der Musik auf seine Sinne gemacht hätte, leicht verschwinden.

Er antwortete schnell und voll Feuer: »Ich reise in Gedanken noch immer herum durch die berühmtesten Gegenden; aber ich kenne nichts Göttlicheres für mich, als Sie. Dieß geht durchs Innerste, und wird so seyn, so lange ich athme.«

Er drückte sie dabey fest an sein Herz, und ihre Seelen ergossen sich durch Blick und Kuß in einan der.

Sie bat nur um Frist, bis sie einige Zeit zu Neapel sich ... Er ließ sie nicht weiter reden; doch mußte er endlich ihrem Willen nachgeben.

Selige Stätte der hohen Pinien zwischen blühenden Mandelbäumen und knospenden Pfirsichen und Aprikosen! Die Abendsonne bestrahlte sie mit ihrer Rosengluth aus dem Gewölk hervor, und ging in den heitersten Lüften unter.

Sie warteten nur die Feyerlichkeit beym Schlusse des Karnevals ab. Hildegard nahm an diesem Tage, Morgens, von Eugenien zärtlich Abschied. In einem Momente, wo sie mit ihrer Freundin [141] allein war, hätte sie sich ihr fast entdeckt. Indeß sagte sie ihr nur: sie müsse nach Neapel reisen, segle von da nach Sizilien, und hoffe zu Ausgang des Mayes wieder dort, und bald nachher in Rom einzutreffen. Dann habe sie ihr ein Geheimniß zu eröfnen, worüber sie sich verwundern werde. Ein schmachtender Kuß versiegelte ihren Freundschaftsbund auf Zeit Lebens; und Zähren rollten beyden im Gefühl himmlischer Schönheit aus den Augen.

Als Hildegard nach Hause kam, warteten die Unternehmer schon auf sie, ihr den Rest des Geldes auszuzahlen. Sie gab, gegen alle Gewohnheit, ihnen, den Sängern, den Tänzern und dem Orchester, Mittags einen prächtigen Schmaus, daß Alle taumelnd durch die Straßen zogen. Dann entließ sie ihren Italiänischen Bedienten, und fuhr, nun wieder in Frauenzimmerkleidern, – was man für einen Fastnachtsscherz hielt – mit der Herzogin und den beyden Engländern im Corso auf und ab.

Nach Mitternacht stieg die ganze Gesellschaft von einer üppigen Tafel in ihre Reisewagen. Es ging zum Johannisthore hinaus, daß von den Hufen der Pferde die Funken flogen; und man lachte den Weg fort über das glücklich bestandne große Abentheuer.

In Velletri war schon eine Mittagsmahlzeit für sie bestellt. Sie kamen bey guter Zeit dort an, und machten erst einen Spaziergang. Hildegard zeigte sich jetzt, da sie ihrer Rolle und aller Sorgen entledigt war, wieder in ihren natürlichen Reizen, und bezauberte, fesselte den Lord immer mehr durch neue Schönheiten des Körpers und des Geistes.

Sie aßen unter Scherz und Muthwillen, und schliefen dann ein paar Stunden: Hildegard von nun an immer mit der Herzogin in demselben Zimmer.

[142] Dann ging es im Fluge, doch für das brennende Verlangen des Verliebten noch immer zu langsam, mit steigender Lust fort durch die glücklichen Gefilde von Kampanien, bis sie die königliche Heerstraße hinter Kapua erreichten.

Wie im Triumph zog der Lord an einem heitern Morgen mit Hildegarden in dem Menschengewimmel der Strada di Toledo auf. »O, welch ein schönes Paar!« hörten sie überall bis zum Albergo reale.

Schon gegen Abend kam der Ungeduldige mit einem Notar, der den Ehekontrakt ausfertigen sollte.Hildegard weigerte sich, und zürnte über die Eilfertigkeit; die Herzogin aber redete ihr zu, gab ihr einen geheimen Wink, und ließ, doch gegen Hildegards Willen, schreiben. Als ihr Name kommen sollte, diktirte sie, anstatt Cäcilia Passionei, zu des Lords Erstaunen: Hildegard von Hohenthal. Die Herzogin schob das Papier lachend weg, und schickte mit Freundlichkeit den Notar fort, welcher sehr natürlich glaubte, daß man ihn zum Besten hätte. Und nun erfolgte zu des Lords unaussprechlicher Lust die wahre Entdeckung und Erkennung. Er hatte in London den Gesandten von Hohenthal und dessen Gemalin öfters in Gesellschaft gesehn, auch Hildegarden selbst einigemal, jedoch fast noch als Kind. Die Ferne der Zeit schwand, und er lag, glücklich wie ein Gott, zu ihren Füßen.

»Ach, daß der edle vortrefliche Mann nicht mehr lebt!« Bey diesen Worten bewölkten Thränen seinen Blick, und Hildegard seufzte tief.

Sie erklärte ihm nun mit Festigkeit, daß die Vermählung nicht eher vor sich gehen könne, als bis sie die Einwilligung ihrer geliebten verehrten Mutter und ihres theuern Bruders erhalten habe.

[143] »O Himmel!« rief er aus, wie ein lechzender Wandrer, der noch eine lange Strecke zum Felsenquell hinanklimmen muß. Er und die beyden Damen setzten sich in ihren Zimmern nieder, und schrieben, was ihnen Herz und Verstand eingab. Noch in derselben Nacht ward sein Kammerdiener als Kurier nach Wien abgeschickt.

Hildegard hatte schon vor drey Wochen in Rom durch die Frau von Lupfen einen Brief von ihrer Mutter erhalten, worin diese ihr sagte: der Prinz wäre, bald nachher, als er von ihr erfahren hätte, daß sie mit der Herzogin eine Reise durch die Provence mache, mit seiner Gemahlin nach Prag abgegangen; sie bitte und beschwöre sie nun bey ihrer Pflicht und kindlichen Liebe, so bald wie möglich zu ihr zurückzukehren.

Hildegards Antwort auf diesen Brief verspätete sich, weil die wichtigen Begebenheiten sie zurückhielten; jetzt ward sie aber ein reiner Ausguß des zärtlichsten Herzens. Doch verschwieg Hildegard das große Abentheuer in Rom, über welches sie jetzt, da die genialische Leidenschaft ihr Ziel erreicht hatte, selbst erschrak, obgleich ihre Meinung über die Würde des Theaterlebens immer dieselbe blieb. Sie schilderte kurz, aber stark und treffend, die Schönheiten von Italien, sowohl der Natur als der Kunst; ging dann über zu der Bekanntschaft mit dem jungen Lord, dessen Namen die Mutter wohl kennen müsse; und beschrieb mit Grazie seine Person, seinen Charakter, sein Herz und seinen Geist. Noch setzte sie hinzu: ihre Hochachtung könne sie ihm nicht versagen; auch ihre Liebe nicht, wenn die gütigste Mutter und der Bruder in sein Verlangen willigten. Noch habe kein Sterblicher einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht; mit keinem andern hoffe sie ihre übrige Lebenszeit so[144] glücklich zuzubringen; ihre Neigungen stimmten durchaus schön und rührend zusammen.

Der Brief des Lords war voll Feuer und männlich: zwar nur wenige Züge von Hildegarden, aber meisterhaft, Tizianisch. Er bat in den zärtlichsten Ausdrücken um ihren Besitz; und äußerte sehnliches Verlangen, die Mutter, welche ihre schöne Tochter zur Lust und Bewunderung aller Edeln erzogen und gebildet habe, und eben so den theuern Bruder, wieder zu sehen und zu umarmen.

Die Herzogin sagte in ihrem Briefe: sie wüßte keine bessere Partie für ihre Freundin; Hildegard wäre des Lords werth, so wie der Lord ihrer; die schönsten und reichsten Töchter der besten Häuser in London würden sie beneiden.

Dem Kammerdiener brauchte für Eilfertigkeit keine Belohnung versprochen zu werden, da er die Freigebigkeit seines Herrn hinlänglich kannte.

Hildegard und der Lord machten bald Bekanntschaft mit den vorzüglichsten Menschen in Neapel, die dem unvergleichlichen Paare alle huldigten; auch mit den berühmtesten Tonkünstlern, die anfangs nur wenig von Hildegards Talent zu hören bekamen, von denen sie aber auch schon dafür Bewunderung erhielt.

Damit nicht gleich verrathen würde, wie sie die Römer zum Besten gehabt hätte, so wurden öftere Spazierreisen in die schöne Gegend angestellt; und sie genoß den Unterricht der Liebe über dieses merkwürdige Stück Welt. Auch faßte sie alles sehr leicht, und lockte die tiefsten Kenntnisse aus dem Lord hervor, so daß er zuerst den süßesten Genuß von ihnen hatte. Die Aussichten, die er pries, zeichnete sie mit mehr Fleiß und Treue, als gewöhnlich; und entzückte ihn auch durch dieses neue Talent.

[145] Sie waren kaum eine Woche in Neapel gewesen, so erhielt sie schon Antwort von ihrem Lockmann. Die Unschuld erröthete bey den Zügen seiner Hand, und freute sich, daß ihr der Brief nicht in Beyseyn ihres Geliebten gebracht war. Lockmann hatte den Wechsel richtig empfangen, und gehoben; auch wußte er, wofür. Er schrieb Hildegarden: »die ArieBegli astri d'amore, wäre ihm, klein geschrieben, von seinem Kopisten in Rom auf der Briefpost zugeschickt und dabey gemeldet worden, daß Allen vor Entzücken über einen neuen Sänger, Namens Passionei, verwaisten Sohn des Komponisten, die Köpfe brennten. Zu seinem allerhöchsten Vergnügen und Erstaunen sehe er, daß dieser Passionei Niemand anders seyn könne, als sie selbst. Er hätte geglaubt, sie befinde sich in Wien; und wäre im Begriff gewesen, eben dahin zu reisen.«

Der Brief schloß sich mit einem Dithyramb darüber, daß sie ihren Beruf vom Himmel erkenne. Noch setzte Lockmann hinzu: sein Hof solle keine Sylbe davon erfahren, bis sie es selbst für gut finde.

Hildegard erblaßte beym Lesen, weil sie die Folgen ihres Abentheuers im Geiste voraussah.

Die Herzogin ward betroffen über den Eindruck.Hildegard gab ihr den Brief, der mit Besonnenheit geschrieben war und nichts Verfängliches enthielt; und entdeckte ihr nachher, daß der junge feurige Mann eine unglückliche Leidenschaft für sie gefaßt habe. Die Herzogin sprach ihr Muth zu, und lachte, daß der Brief nichts Schlimmeres enthielte. Dergleichen Anfechtungen, sagte sie, wären die Glorie ihres Geschlechts. Das würde sich schon vermitteln lassen.

Hildegard selbst lachte und scherzte nun; doch war das nur Verstellung, damit ihre Freundin keinen Argwohn schöpfen sollte. Diese [146] dachte indeß vor sich: mit dem jungen schönen Kapellmeister möcht' es wohl nicht ganz richtig seyn, wenn auch in der Hauptsache nichts geschehen wäre: denn sonst hätte sie, bey ihrer Klugheit und Feinheit, gewiß andre Maaßregeln genommen.

Hildegard betrug sich groß bey ihrem Geliebten; sie zeigte ihm den Brief, und sagte ihm dabey noch, daß sie mit den andern dreyhundert Zechinen die Treue, Verschwiegenheit und guten Dienste ihrerFanny belohnt hätte. Dann schilderte sie ihmLockmannen nach dem Leben, verschwieg aber doch behutsam dessen Leidenschaft.

Bald schlug Hildegard eine Reise nach Pestum vor, um sich zu zerstreuen. Sie ward sogleich gemacht, konnte aber den Kapellmeister nicht aus ihren Gedanken bringen.

Den Tag nach der Rückkehr von dort traf der Kammerdiener wieder ein, und brachte den Segen der Mutter und des Bruders. Die erstere erinnerte sich des jungen schönen vielversprechenden Mannes noch sehr wohl; und wünschte nur, daß die Vermählung in Wien vollzogen werden möchte.

Der bis zur höchsten Inbrunst verliebte Lord konnte so lange nicht warten, und bestürmte Hildegarden mit den zärtlichsten Bitten. Schon den andern Morgen wurden sie von einem Englischen Geistlichen getrauet; wobey H***, ein alter Freund von dem Vater des Bräutigams, und L**, nebst andern Engländern und Deutschen zugegen waren, die alle nie ein reizenderes Paar gesehen hatten.

Der edle Jüngling war kein Sterblicher mehr, nur entzücktes ewiges Leben, als sie nun ganz die Seine ward, und er bezaubert die Blume der Schönheit in himmelreiner Knospe lieblich umschattet fand. Diese letzte Entdeckung war die köstlichste Zierde, der wahre Schmuck [147] jeder andern. Er hatte kaum sie zu hoffen gewagt; und schwelgte nun mit wüthender Gierde.

Auch sie genoß, von den neuen brennend-süßen gewaltigen Gefühlen durchstürmt, die volle Wonne der Keuschheit. Im Taumel der Lust stiegen sie immer höher und höher; die Welt schwand vor ihnen, und man konnte sie lange Zeit wenig mehr sehen und sprechen. Sie schweiften allein zu Bajä umher, oder am Vesuv, ihrem, jetzt nur ruhigen, Ebenbilde. Noch öfter fuhren sie in einer niedlichen Art von Gondel, am Pausilipp vorbey, wo schon alles grünte und blühte, nach den schönen Inseln.

Die Herzogin fing an darüber eifersüchtig zu werden, und sagte ihr im Scherz: sie sey fast nur ihreehemalige Freundin. Hildegard erstickte ihre Vorwürfe erröthend und lächelnd mit Küssen; und das glückliche Paar wurde nach und nach wieder gesellig. Hierzu trug ein andrer Umstand nicht wenig bey.

Der alte Reinhold hatte seinen lieben Lockmann inzwischen an Kindesstatt angenommen, und ihn, mit Ausnahme einiger wenigen Vermächtnisse, zum Universalerben eingesetzt. Lockmann konnte sich nun leicht unabhängig machen; und erpreßte dadurch von seinem Fürsten, dem er sagte, daß er eine besondre Art von Heimweh, das Italien-Weh, hätte, die Erlaubniß einige Monate zu reisen. Seinem trauten verschwiegnen Vater entdeckte er jedoch das ganze Geheimniß.

Er reiste Tag und Nacht in Trab und in Galopp; so kam er denn bald in Rom an. Hier hielt er sich nur zwey Tage auf, und hörte, wie berauscht, welche Verwüstung Hildegard als Achill angerichtet hatte. Aus Zeichnungen und Gemählden sah er nun augenscheinlich, daß Passionei niemand anders gewesen sey, als sie. Ihre [148] Kühnheit freute ihn, und er lachte über die doppelte Verkleidung: das reizendere Schauspiel in dem Schauspiel.

Gleich bey seiner Ankunft ließ er sich einen Wechsel auszahlen, der von den vortreflichen GebrüdernBethmann gerade wieder zurück auf Eugeniens Bruder gestellt war; und sagte diesem, welche Geldsorten er zu bekommen wünschte, da er übermorgen nach Neapel reisen wollte.

O gewiß, eine sonderbare Fügung – das ist kein Aberglaube! – sticht auch im menschlichen Leben, wie in der Natur überhaupt, die Dinge zu einem bessern und schönern Ganzen, als unsre Klugheit je anzuordnen vermöchte.

Auch Eugeniens Bruder war eben im Begriff, nach Neapel zu reisen, um dort mit seiner Schwester und seinem Schwager, wie in Ancona, Familienangelegenheiten in Richtigkeit zu bringen. Um den Zauberer Passionei wieder zu sehen und zu hören, liebkoste Eugenia ihm so lange, bis er versprach, sie mitzunehmen.

Lockmann war schon durch seine Bekanntschaft mit diesem empfohlen; daher wurden sie bald einig, daß sie die Reise mit einander machen wollten.

Sie fuhren, wie man gewöhnlich zu thun pflegt, nach Mitternacht ab, als eben das letzte Viertel des Mondes aufging. Lockmann bekam, da er viele Besuche zumachen hatte, Eugenien erst beym Einsteigen zu sehen. Die edle Form ihres Gesichts, der Strahl der Augen, der schlanke und doch völlige Wuchs fiel ihm gleich sehr auf. Die wenigen Worte, die sie mit dem klaren Ton der reinsten Kehle auf seine Höflichkeiten erwiederte, thaten seinem Ohre wohl; noch viel angenehmer aber war bald im Wagen die jungfräuliche Wärme von ihrer Herzensseite seinem Gefühl. Er mußte mit ihr vorwärts [149] sitzen, da der Bruder es nicht anders gestattete. Doch aus Schuldigkeit wechselte er, obgleich ungern, die nächste Stazion, und kam ganz von ihr ab, rückwärts zu ihrem Mädchen.

Als die Räder nicht mehr rasselten, und still auf ebnem feuchtem Sande wegrollten, fing die schöne Gefährtin gleich an, von ihrem Passionei zu sprechen, und fragte Lockmannen: wie lang' er ihn kenne.

Lockmann nahm sich wohl in Acht, Hildegarden nicht zu verrathen, und antwortete: »Erst seit dem vorigen Sommer; aber sein göttlicher Gesang hat binnen kurzer Zeit, ob ich ihn gleich nur in Konzerten gehört habe, mehr auf mich gewirkt, als alle andre Musik in meinem ganzen Leben.«

Zum Glück forschte sie nicht weiter nach; und alle Drey erzählten ihm nun von den Lustbarkeiten des letzten Karnevals, worin Passionei alles Andre bey weitem übertroffen habe. Der Bruder behauptete:Marchesi mit seiner Fertigkeit sey gegen ihn nur Spielwerk, und komme, was Ausdruck und Gewalt des Tons betreffe, gar nicht mit ihm in Vergleichung. Die Schwester bedauerte, daß sein Vater, der unvergleichliche Meister, nicht mehr lebe; sein Tod sey ein allgemeiner und unersetzlicher Verlust.

Lockmann fühlte bey diesen, von dem heiter rührenden Organ gesprochenen Worten recht eigentlich, daß ein solches Lob, selbst dem Ohr eines Kapellmeisters, der süßeste Laut ist.

So ging das Gespräch angenehm fort bis zu der er sten Stazion und weiter; gegen Morgen schlummerten dann alle nach einander ein.

Sie erwachten bey der zweyten Stazion, und hielten nur so lange an, bis frische Pferde vorgespannt waren. Eugenien und Lockmannen [150] verlangte nach Neapel, und sie wünschten daher, daß man nicht erst frühstücken möchte.

Als der Morgen purpurn über die Hügel glänzte, und endlich die jungen Strahlen der Sonne durch die heitre Luft in den Wagen spielten, entstand nach und nach auch in ihrem Herzen gleichsam ein neues Werden. Sie betrachteten sich erst in der Dämmerung, wo die edlen Formen noch wenig hervorgingen, mit geschärften Blicken, weideten sich dann an einander wie verstohlen im Rosenlicht der Liebe, und wurden entzückt von den hohen Schönheiten, die Phöbus in ihrer reinsten Erhabenheit darstellte. Lockmanns Löwenmähne, die zwar erst vorgestern geschoren, aber doch um seine erhitzten Wangen und sein rundlich schwellendes Kinn in bläulicher Schwärze deutlich zu erkennen war, prägten Eugenien eine gewisse mit Regungen der Zärtlichkeit vermischte Ehrfurcht ein, die sie bey ihrem Passionei nie gefühlt hatte.

Und er? – er hatte gerade das süße lebendige Feuer ihrer Augen, den Jonisch südlichen Geist, der alles durchbrennt und durchflammt, und von keinen Verhältnissen oder Gewohnheiten sich binden läßt, bey seiner Hildegard vermißt. Doch machten ihre andren zauberischen Eigenschaften, daß solche Gesinnungen bey ihm nicht aufsproßten. Er glaubte, daß Klima, größere Freyheit, und hinreißender neuer Umgang auch an ihr seinen Einfluß zeigen würde, und schloß dieß besonders aus dem, was sie schon gewagt hatte.

Das Gespräch ward wieder lebendig, und Lockmann machte mit Eugenien bald völlig trauliche Bekanntschaft. Bey einer schönen Gestalt, Annehmlichkeit, und Reizen in dem ganzen Wesen, neigten sie sich leicht zu einander. Die Gutherzigkeit und Ehrlichkeit des Deutschen gefällt den Weibern in der ganzen Welt. – Lockmanns [151] Fertigkeit in ihrer Sprache, seine seltne Gewandtheit, seine geistreichen Bemerkungen und kurzweiligen Erzählungen ergötzten Eugenien, so daß ihre schönen Augen doppelt Feuer sprühten. Er hielt sich jedoch während der ganzen Reise bey ihr immer in den Schranken der strengsten Sittsamkeit und Ehrerbietung; wodurch er sich die volle Achtung ihres Bruders erwarb, und die Neigung, welche sie schon zu ihm gefaßt hatte, noch mehr reizte.

Die Zeit verfloß unvermerkt; Thäler und Hügel schwanden eilig zurück, als sie den andern Vormittag zu Kapua anlangten, wo sie bey dem besten Wirthshause anhielten, um da zu essen.

Während der Mahlzeit kam das Gespräch wieder auf Passionei.

Der Sohn des Wirthes klimperte die Guitarre nicht übel, und eine vortrefliche lockte Eugenien an die Wand des Zimmers, wo sie hing.

Sie hatte auf der Reise Muth bekommen, und nahm das liebliche Instrument herunter. Leicht von ihr in reine Stimmung gebracht, gehorchte es, wie belebt, dem reizenden Fingerspiel; und in süßen Harmonien flogen die Silbertöne hervor zu ihrem Engelsgesang:Se un core annodi. Ihr Bruder und Lockmann machten nach ihrer Anführung, bis die Strophen alle durch waren, den Chor; und der letztre gab alsdann ihrem Vortrag, ihrer Stimme und ihrer, Fertigkeit das gebührende Lob.

»O, könnten Sie es von Passionei hören!« sagte sie, bescheiden erröthend. »Doch das ist noch nichts. Könnten Sie von ihm hören: Begli astri d'amore! Aber Sie kennen gewiß durch ihn schon die ganze Musik.«

Er antwortete: »Manches daraus;« und bat sie schmeichelnd, ihn noch mit der letztern Arie zu entzücken. Sie erwiederte: »Begleiten [152] wollt' ich wohl Jemand, der sie sänge; aber selbst singen kann ich sie nicht. Sie ist meiner Stimme zu hoch, zu tief und zu schwer.« Dabey bog sie verführerisch den schönen Kopf über das Saitenspiel; und der auffordernde Blick brannte in sein Wesen. Die Töne seiner lieblichen Stimme hatten sie schon rührend durchdrungen; und sie glaubte gewiß, daß er die Arie wie die andre kenne.

Er erwiederte: »Nun, so will ich den Versuch machen; bloß zu Ihrem Zeitvertreib, und um länger Herz, Ohr und Auge an Ihrem himmlischen Spiel zu weiden.«

Der schöne Deutsche stand auf, und sie fing an. Zart und stark erklangen und zerflossen die breiten Accorde der Einleitung, die von Eugeniens Meister vortreflich für das Instrument eingerichtet war; und Lockmann sang so warm, so heiß, wie er ausempfunden hatte, mit der rührendsten, reinsten und ausgebildetsten Jünglingsstimme: Begli astri d'amore.

Die Natur triumphirte. O, das war und sagte noch etwas ganz Anderes als Passionei's Diskant; es war so etwas Thätiges, mit voller Stärke Angreifendes darin, daß das goldne Geschöpf auf die letzt fast ihr Spiel vergaß, und, als er aufhörte, eine Weile stumm blieb, und Athem schöpfte.

Der Bruder mußte die Danksagung machen, und rief aus: »Vortreflich! o, gewiß auch vortreflich!Bravo, bravone, bravissimo!«

»Das glaub' ich! das empfind' ich!« fuhr tief ergriffen und bewegt die holde Eugenia fort; »o gewiß, Sie sind ein eben so großer Sänger!« So stand sie in Gedanken auf, ging mit leisen Schritten, als ob sie seinen Gesang noch hörte, nach der Wand, und hängte das Instrument wieder an seine Stelle. Passionei wich aus ihrem Herzen, wie ein heftiger unnatürlicher Traum, wie ein vorübergehender [153] Zeitvertreib; Lockmann dünkte sie der wahre Geselle, Freund und Gefährte für lange häusliche Glückseligkeit.

Die Pferde waren schon vorgespannt; man bezahlte, setzte sich stillschweigend in den Wagen, und es ging schnell weiter.

Eugeniens ernste absichtliche Gefälligkeit zeigte Lockmannen unterwegs bald ihr Innres. Er dachte mit unruhigen Blicken nach, die sie für sich auslegte. Sein Herz war ein Kampfplatz von mancherley Gefühlen. Der alte Zauber wirkte noch mächtig; doch war der neue so süß, so unwiderstehlich! »Hildegards Familie wird dich als ihren Verführer hassen; ihr Stand dir in jeder Rücksicht Händel verursachen!« Und endlich drängte sich ihm der Gedanke gewaltig auf: »Sie hat nur mit dir gespielt, sich nie ein Wort von wirklicher Verbindung entschlüpfen lassen. Freundschaft war die Losung von Anfang bis zu Ende. – Aber die fünfhundert Dukaten! das kühne Unternehmen! Jene sollten für den Achill seyn. Und dieses? wie konnte die Herzogin es gestatten? Wie kannst du sie von dieser entfernen? O sehr leicht; wenn sie nur will!« –

»O, wie schnell das geht!« rief Eugenia aus, als sie über die breite königliche Heerstraße kurz vor Neapel wegrollten. »O, wie schnell das geht!« wiederhohlte Lockmann, dem es, wie ihr, nur allzu schnell ging.

Ehe sie es sich versahen, schon bey Sonnenuntergang, waren sie in der Stadt, und eine Straße nach der andern durch. Bald hielt der Wagen vor dem Hause ihrer Schwester, nicht weit von dem Schloßplatze. Sie wurden mit Freuden bewillkommt, herzlich empfangen, und empfahlen Lockmannen der Schwester und dem Schwager als ihren Freund. Er nahm sein Quartier in einem guten, nicht weit davon gelegenen Wirthshause. Man lud ihn gefällig zum [154] Abendessen ein; er verbat es sich wegen dringender Geschäfte, versprach aber, den andern Mittag zu kommen.

Sein erster Gang war nach des G*** H***'s Hause, um da nach der Wohnung der Herzogin D**** zu fragen. Er kannte Neapel wie seine Vaterstadt, schritt bald hastig, bald langsam, über die Chiaja, und erfuhr den Augenblick, was er wissen wollte. Die Freude darüber, daß die Herzogin, und folglich auch Hildegard, noch in Neapel war, brachte ihn schneller zurück; doch stand er eine Weile vor ihrer Wohnung still, und die Ohren klangen ihm.

Beym Eingange leuchtete eine Laterne. Plötzlich erscholl eine Stimme: »Lockmann! o, Herr Kapellmeister Lockmann!« – Fanny, die von einer Bekanntschaft nach Hause kam, war auf ihn zu gesprungen, und hielt ihn an beyden Händen. Er gab dem lieben Mädchen den frohen Kuß des Wiedersehens.

»Ist sie zu Hause? kann ich sie sprechen? das Fräulein oder Herrn Passionei

»Nein, sie ist eben in Gesellschaft. O, das wird ihr leid thun! Aber ich höre, Sie wissen den Anfang, nicht das Ende.« Mit diesen Worten zog sie ihn von dem Thor ab nach dem Meere zu, welches in starken Wogen an das Gestade rauschte. »Mein Fräulein ist verheurathet;« (es war ihm, als ob das Ufer die Worte schrecklich brüllte, so sanft Fanny sie auch aussprach.) »Verheurathet!« – dieß preßte ihm plötzlich Herz und Lungen zusammen, daß Mahler und Bildhauer ihn in dem Moment zum Modell eines Anteus hätten brauchen können – »und höchst glücklich verheurathet! mit einem jungen schönen liebenswürdigen Lord von unermeßlichem Reichthum; und Mutter und Bruder, die ihn kennen, haben natürlicher Weise ohne Schwierigkeit ihre Einwilligung dazu gegeben.«

[155] Er wankte bey dem Todesurtheil, so daß die unschuldige Fanny glaubte, er träte in einen Abgrund, und ihn mit dem rechten Arme faßte. Zum Glück konnte sie in der Dämmerung sein bleiches Gesicht und seine starren Augen nicht sehen. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, wie bey einem schweren Katarrh, und er war nicht fähig, eine Sylbe mehr hervorzubringen. Alle Quellen seines Lebens schossen zurück, und es erbrauste fürchterlich vor seiner Seele.

Er lehnte und legte die linke Seite über eine kleine Mauer am Ufer, und eine feuchte Nachtluft wehte mitleidig Erfrischung über ihn.

Fanny merkte an seinem Stillschweigen und seiner von ihr abgekehrten Stellung, daß die Neuigkeit ihm gar nicht wohl behagte, und lenkte ihre Rede geschwind auf etwas Angenehmeres.

»O, wie oft haben wir in Rom gewünscht, Sie möchten zugegen seyn, und hören und sehen, welchen erstaunlichen Eindruck Ihre schöne Musik machte! Die Leute waren alle wie bezaubert; ich habe in meinem Leben so etwas nicht gesehen. Von meinem damaligen Fräulein war es freylich ein großes Wagstück. Die Herzogin D**** hat sie dazu verleitet; ein wenig wohl auch ihr eigner Muthwille, und die Lust, in Ihrer herrlichen Oper aufzutreten. Unser Lord machte ...«

Lockmann hörte wenig; doch erhohlte er sich unterdessen einigermaßen, und fragte mit gebrochner Stimme: »Wann kommt Ihre junge Lady nach Hause?«

»Das kann ich nicht sagen; aber ich will einen Bedienten zu ihr schicken, und sie wird sogleich da seyn.«

Der Anfall von Leidenschaft war bey Lockmannen so heftig und unerwartet plötzlich, daß keine Besinnung statt fand. So bald diese [156] eintrat, dachte er an Eugenien und an seinen Monolog über sie im Wagen; jetzt erschien sie ihm, wie das wahre Sankt-Johannisfeuer den Schiffern, wenn der Orkan nicht mehr in den Lüften wüthet, die Hofnung der Rettung wieder zurückkehrt, und das Schiff nur noch auf den Wogen himmelan himmelab sich wiegt. Sein Kopf hellte sich nach und nach wieder auf; es kochte nur noch in seinen Eingeweiden.

Er schöpfte Muth, richtete sich empor, nahmFanny'n unter den Arm, ging mit ihr auf und ab, und erwiederte: »Das nicht, liebes Kind! Sagen Sie nichts von meiner Ankunft; ich will die Lady morgen früh überraschen. Um welche Zeit werd' ich sie sprechen können?«

»O, sie stehen spät auf,« antwortete die Boshafte; »so um neun oder zehn Uhr!« (Noch ein wiederholter Windstoß nach dem Sturm.)

»Wohl denn! um zehn Uhr werd' ich da seyn. Aber verrathen Sie ja nichts!« Sie versprach es ihm; doch dachte sie nicht daran, ihr Wort zu halten.

Er sagte nur noch mit einem starken Seufzer: »Es ist mir höchst empfindlich, daß ich sie nun nicht mehr auf einem Theater sehen werde; weßwegen ich doch eigentlich hieher gereist bin.«

Fanny erwiederte: »Nun wohl schwerlich. Vielleicht aber doch, Ihnen zu gefallen; nur auf keinem öffentlichen.«

So entließ er sie, und schweifte dann noch eine Zeit lang am Meere hin und her, dessen rauschende Wogenschläge ganz zu den Bewegungen seines Herzens harmonirten. »Wenn du da gewesen wärest, so hättest du sie!« ... »Das neue Leben,« fuhr er, ungerecht in seinem Grimm, weiter fort, »erregte Begierden in ihr. Der Engländer kaperte sie weg.«

[157] Er ging nach Hause, und trank. »Viele Arbeit vergeblich. O, veränderliches Ziel menschlicher Wünsche! Doch nicht vergeblich. Auch du hast dein Theil empfunden und genossen; und dir winkt ein neues mit göttlichen Reizen auf deiner Pilgrimschaft durch das Leben: – vielleicht das wahre, rechte, einzige!«

Die Einsamkeit ward ihm bald zur Last. Er ging wieder aus, und trat unter den Fenstern seiner neuen Göttin langsam auf und ab. In den Zimmern war Herrlichkeit und Freude. Seine Phantasie erhob sich, und gewann Flug.

Er kam wieder nach Hause, und ließ sich eine neue, köstlich am Vesuv gereifte Flasche bringen.

Dann ging er noch einmal aus, wandelte langsam über den Schloßplatz, schritt schüchtern die Chiaja hinunter, und langte eben vor der Wohnung der neuen Lady an, als Wagen mit lodernden Fackeln herbey fuhren. Sie hielten. Die Herzogin und ihr Gemahl stiegen zuerst aus: Personen, die er nicht kannte. Dann trat aus dem andern ein junger schöner schlanker Mann; und endlich – o nicht mehr seine! – Hildegard. Sein Herz flog ihr entgegen. Schön war sie noch; aber die Rose, nicht mehr auf ihrem mütterlichen Busche, dünkte ihn blaß geworden. Sie hatte für ihn den hohen Reiz verloren, indeß die andre in junger frischer Schönheit prangte. – Der Sturm legte sich fast ganz, als die Scene verschwand.

Ziemlich besänftigt kam er wieder in sein Quartier, um endlich da zu bleiben, seine Abendmahlzeit zu halten, und sich von dem schrecklichen Ungewitter bey seiner Ankunft zu erhohlen.

Dieß geschah; aber auf eine andre Weise, als er sich einbildete. Eugeniens Schwager, auch ein Banquier, hatte dem Herzog von D**** erst vor Kurzem einen starken Wechsel ausgezahlt, und [158] bey dieser Gelegenheit den Lord und Hildegarden kennen lernen. Diese wußte seinen Namen von ihrer schönen Freundin noch sehr wohl, und hatte sich vorgenommen, ihn bald aufzusuchen. So machte sie durch ein glückliches Ungefähr mit ihm Bekanntschaft, erkundigte sich nach Eugenien, und bat ihn angelegentlich: er möchte es ihr sogleich sagen lassen, wenn sein Schwager, und vielleicht die Schwester mit ihm, noch während ihrer Anwesenheit zu Neapel eintreffen sollten. »Ich liebe,« setzte sie hinzu, »Eugenien recht sehr, und kenne keine schöneren Augen in der Welt.« Uebrigens entdeckte sie ihm weiter nichts von dem großen Abentheuer.

Lockmann hatte bey der Ankunft in Neapel kaum seine Reisegefährten verlassen, so erzählten diese dem Schwager und der Schwester, wie sie mit ihm bekannt geworden wären, und erkundigten sich nach dem schönen Passionei, der in Rom so viel Aufsehen gemacht habe, und jetzt in Neapel sey. Nur seinen Ruhm und Namen kannte man von Rom her; von seiner Anwesenheit wußte man nicht das Geringste. Jene erstaunten darüber.

Bey fernerem Gespräch über andre Dinge sagteEugenia noch, daß er mit zwey Engländern und einer Engländerin abgereist wäre.

»Gut, daß Du mich daran erinnerst!« erwiederte der Neapolitaner; »eine junge schöne Lady, die erst seit einigen Wochen verheurathet ist, hat sich sehr genau nach Dir erkundigt, und mich gebeten, ihr sogleich melden zu lassen, wenn Ihr einträfet. Sie liebe Dich gar sehr, sagte sie noch, und kenne keine schöneren Augen in der Welt.«

Dieß fuhr Eugenien wie eine Flamme ins Gesicht. Sie stutzte. »Eine junge schöne Lady! erst hier verheurathet! Ich kenne keine.« Aber während der Rede ahndete ihr schon das Geheimniß: ohne [159] Zweifel dasselbe, welches Passionei ihr eröfnen wollte! Bey aller ihrer Unschuld hatte sein Betragen sie doch befremdet. »Wie sieht sie aus? Beschreib sie uns doch ein wenig.«

»Etwas größer als Du; blaue Augen, eine Stirn wie Elfenbein, blondes volles langes Haar, schlank und herrlich gewachsen, wie Du, nur nicht ganz so völlig, die Nase fast gerade die Stirn herein, einen Mund zum Küssen, mit zwey Reihen Perlenzähnen –«

Der Bruder ließ ihn nicht ausreden; er rief: »Das ist Passionei! Die Römer sind angeführt!«

Eugenia sprach erröthend fort: »Gewiß, sie war es. Der junge Deutsche wollte auch nicht mit der Sprache über ihn heraus.«

Der heftige und neugierige Neapolitaner war geschwind entschlossen. »Kommt Kinder! laßt uns zur Lady hingehen! Sie kann es nicht übel nehmen; hat sie es doch befohlen!«

Um den Weg nicht umsonst zu machen, wollten sie nur erst fragen lassen, ob die Lady zu Hause wäre. Dieß geschah; und man bestellte dann, daß ihre Ankunft richtig gemeldet würde.

Bruder und Schwester, die der Neapolitaner schon tüchtig gefoppt hatte, und dieser selbst, machten sich nun auf. Sie wollten Lockmannen mitnehmen, zu dem sie schon vorher geschickt hatten; aber er kreuzte eben am Meer herum.

Inzwischen hatte Fanny ihrer jungen Lady dessen Ankunft mit allen Umständen sogleich erzählt. Diese erschrak zwar darüber, doch fiel sie ihr nicht unerwartet auf. Zwischen Furcht und Sorge freute sie sich sogar, und meinte, es müsse alles glücklich ausgehen.

Die kleine Gesellschaft kam dann in einem großen Saal zusammen, wo ein vortrefliches Englisches Pianoforte stand, und Hildegard zuweilen sang.

[160] Der Neapolitaner ließ sich allein melden; sein Besuch ward angenommen. Er kam, und Schwester und Bruder gleich hinter drein. Es entstand ein Gelächter und Freudengeschrey. Hildegard lief auf Eugenien zu, faßte sie zärtlich in ihre Arme, und hing an ihren Lippen. Das gute Kind erröthete über und über.

»Ja, ich war muthwillig, und habe die Römer zum Besten gehabt; jedoch zu ihrem Vergnügen. Ich habe unser Geschlecht gerächt, die Unnatur zu verdrängen gesucht, und hoffe guten Erfolg.«

»Die Oper Achill ist nicht von meinem Vater, welcher kein Sänger, sondern Gesandter am Englischen Hofe war. Sie ist von einem jungen Deutschen, mit Namen Lockmann, so gut hohem Genius in seiner Kunst, wie Eure größten Meister. Der kühne Adler wird in erhabnem Fluge bald alles überschweben.«

»Die Sophonisbe schrieb Traetta, der wie ein Zevs den tragischen Wetterstrahl schleuderte, vor zwanzig Jahren in Deutschland. Bey Euch ist er nun vergessen; ich habe ihn gleichsam wieder von den Todten auferweckt.«

Sie sagte dieß mit einem so schönen Feuer, wie die Melpomene des Sophokles.

Der Neapolitaner rief: »Recht so! göttlich!«

Eugenia flisterte ihrem Bruder zu: »Ha! darum sang er das Begli astri d'amore so vortreflich! der Meister selbst!«

Hildegard, die neben ihr stand, vernahm dieß deutlich. »Wie, liebe Eugenia? kennst Du den jungen schönen Lockmann schon?«

Der Bruder antwortete ihr: »Wir haben mit ihm glücklich die Reise von Rom hieher gemacht.«

Hildegard wußte sich vor Freude über diese Nachricht nicht zu fassen; die Hälfte ihres sehnlichen Verlangens war schon erfüllt.

[161] »Und er ist noch nicht bey uns?« sagte die Herzogin voll Verwunderung.

»Wir sind erst gegen Abend angekommen;« erwiederte Eugenia.

»O, er ist schon hier gewesen, hat uns aber nicht zu Hause gefunden;« sagte Hildegard, ging auf die Herzogin zu, und nahm sie bey Seite.

Nachdem sie eine Minute heimlich mit einander gesprochen hatten, sagte die D**** laut: »Ohne Bedenken! Ehre und Ruhm und die Huldigung der Schönheit ist für das Genie der größte Reiz zu unsterblichen Werken. Dieß gilt mehr als eine Pension des Königs von Frankreich. – Wir wollen den jungen Künstler noch diesen Abend, sogleich, in Triumph abhohlen.«

Es ward ein Kundschafter nach ihm abgeschickt; und man ließ die Wagen anspannen. Inzwischen flochten die Damen ihm einen Kranz von jungen Lorbeerreisern, die sich unter Eugeniens zarten Fingern willig und schön bogen.

Lockmann befand sich in seinem Quartier.

Die drey wahren Grazien setzten sich in den ersten Wagen, und fuhren voraus. Die beyden Italiäner und die beyden edlen Britten stiegen lächelnd in den andern, und folgten.

Man denke sich Lockmanns Ueberraschung, als seine Freundin unangemeldet in das Zimmer flog und in himmlischer Heiterkeit rief: »Willkommen in Neapel, theurer Freund, hoher Genius! Empfangen Sie hier den Lohn für Ihre Verdienste von der Hand der Schönheit.«

Sie hielt seine beyden Hände fest, und Eugenia band ihm lieblich erröthend den frischen Kranz über die heißen Schläfe, auf die schwarzen Locken.

[162] Vor den gewaltigen Gefühlen, die ihn überströmten, vermochte er nur mit einem tiefen Seufzer zu sagen: »O Schauspielerin ohne ihresgleichen!«

Die Männer traten nun herein, und riefen, wie abgeredet: »Willkommen in Neapel, entzückender Genius der gewaltigsten von allen Künsten!« Der Gatte seiner Freundin Hildegard führte das Wort.

Die Damen führten, trugen, und hoben ihn nun in ihren Wagen. Die Herzogin und Hildegard drängten ihn mit der Römerin im höchsten Stolze der Schönheit auf den Ehrensitz, und fuhren unter tausend Liebkosungen langsam über den Schloßplatz, wobey der andre Wagen ihnen eben so nachfolgte. Die außerordentliche Scene hatte die Gäste im Wirthshause um sie her versammelt, und diese und eine Menge Menschen folgten.

Noch in derselben Nacht ward ein großes Fest gegeben, und ihre ausgewählten Bekannten dazu eingeladen, die nun erst unter Lachen, Jubel und Bewunderung das seltne Abentheuer erfuhren.

Als sie sich an die Tafel setzten, nahm Lockmann seinen Kranz ab, und brachte ihn gewandt und schnell auf Hildegards schönes Haar, das reizend in Locken den schneeweißen Hals bis auf den Busen herabfiel; und sagte: »Die höchste Ehre, dem sie gebühret!«

Dieß gefiel der ganzen Gesellschaft. Hildegard freute sich inniglich über Lockmanns gute Laune, und war so eine Zeitlang die Königin des Festes.

Zu Ende des Mahles schwebte der Kranz leicht, wie von selbst, auf das stolze Haupt der Römerin, das in jungfräulicher Röthe damit prangte. Die Guitarre war schon bereit; sie mußte ihr Lied singen, und that es gefällig, von Reiz übergossen. Der Chorus um die neue [163] Zauberin war nun vollständig. Sie wurde, indeß allgemeines Frohlocken um sie tobte, gleichsam unter die Musen aufgenommen, und hier zur hohen Kunst eingeweiht.

Bevor man aufstand, gab sie die kurze Melodie eines alten zweystimmigen Kanons, vielleicht noch aus dem sechzehnten Jahrhundert, auf ihrem Instrument an; und Hildegard faßte ihn geschwind.

Eugenia sang dann in der Sprache der Musik:


Lebe, liebe, trinke, lärme,

Kränze dich mit mir;


und fuhr fort, indeß Hildegard eben dasselbe sang:


Schwärme mit mir, wenn ich schwärme:

Ich bin wieder klug mit dir.


Es war die süßeste Melodie der Freude, die sich bey dem zweyten Absatze wie von selbst in rührende Harmonie verflocht: ein Meisterstück von Duett. Die alte Griechische Skolie wälzte sich dann in Oktaven durch den ganzen Kreis, und drückte so recht den Taumel der Lust aus.

Als nach der Tafel die Gesellschaft sich in Gruppen vertheilte, konnte Hildegard mit ihrem alten Freund auf einige Momente allein seyn, und sagte ihm noch mit eindringender Zutraulichkeit die wenigen Worte: »Ihr scharfsinniger Verstand und Ihre reife Ueberlegung wird, hoff' ich, mit meiner Wahl zufrieden seyn. Ich habe für unser beyder Glück gesorgt; auch Sie werden das Ihrige als kluger Mann ergreifen, und Sich von keinen unseligen Grillen irre führen lassen. Albernes Uebel und Weh begegnet uns auf jedem Schritte, wenn wir über unsre angebornen Verhältnisse hinaus wollen.«

Er erwiederte, von den Andern abgewendet: »Ich erkenne die Göttin, die noch weiser ist, als die Göttin des Achill und Ulysses. [164] Der hat auf jeden Fall hohen Genuß und Lohn, der etwas Vortrefliches liebt.«

Man wollte die Reisenden sich ausruhen lassen; und also ging die Gesellschaft bald nach Mitternacht aus einander. Die Wagen sollten vorfahren; aber Eugenia machte den kurzen Weg lieber zu Fuße.

Lockmann, der sich, zu Hildegards innigem Wohlgefallen, und zu Aller Bewunderung, als ein Held betragen hatte, nahm die holde Jungfrau, blühender und strahlender als je, in den Arm, welches sie mit sichtbarem Vergnügen geschehen ließ. Er dankte mit Gefühl und Würde herzlich für die ehrenvolle Aufnahme. Die Andern folgten. Es war wie ein schöner warmer Sonnenuntergang, der einen entzückenden Frühling versprach. Hildegarden wallte das Herz, und in ihrem Auge glänzten unaufhaltbare Zähren.

Unterwegs gaben Arm und Hand der süßen Schönheit den ersten Druck der Liebe, der sie wie Feuer durchdrang. Sie entzog ihm zwar sittsam die zarte Hand, aber so lässig und spielend, daß er fühlen mußte, wie gern er aufgenommen ward. Als er zur Thür hinein war, raubte er sich noch, unbemerkt, den ersten Kuß, und sog auf einen Moment den Nektar ihrer Lippen. Sie sträubte sich überwunden, und ward entflammt auf Zeitlebens.

Den andern Morgen hohlte Hildegard bey guter Zeit ihre neue Freundin, und deren Bruder, Schwester und Schwager zu einem Frühstück ab; und machte sie fein und beredt mit allen wirklich vortreflichen Eigenschaften Lockmanns bekannt. Auch dieser war eingeladen, und kam bald.

Man machte dann Musik; und Hildegard wählte die Scenen, worin er sich in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigen konnte.

[165] Alle Italiäner wurden so bezaubert, daß sie gern zu Mittag blieben.

Nach Tische ward eine lustige Wasserfahrt zu dem angenehmsten Ort am Pausilipp gemacht. Lockmann erzählte unterwegs Hildegarden, was der alte Reinhold für ihn gethan hatte. Die Hörner und Klarinetten auf der Jacht jubelten dazu, als ob sie die Sprache verständen.

Auf einem Spaziergange hielt er sich mit Eugenien von der übrigen Gesellschaft entfernt, machte ihr die gefälligsten Liebkosungen, und sagte die rührendsten Zärtlichkeiten. Hildegard unterrichtete indeß die Andern von seinen Glücksumständen, und ging dabey so lockend, aber auch so edel und wahr zu Werke, wie nie eine Brautwerberin.

Die Begebenheit zu Rom hatte sich inzwischen durch Neapel bey allen Musikfreunden verbreitet; und alle ergötzten sich höchlich darüber. Lockmann stand wegen seiner Schönheit, seines Geistes, seines Charakters, und wegen der Komposizionen, die man schon von ihm kannte, in großer Achtung, und ward nun wegen seines Meisterstücks bewundert. Auch dieses kam der Familie den folgenden Morgen zu Ohren.

Noch war kein Antrag geschehen; aber man hielt den jungen schönen Deutschen für den angenehmsten Gesellschafter, und in seiner Kunst für höchst vortreflich. Eugenia schwieg dabey, war aber zerstreut, und erröthete, so oft man von ihm sprach.

Lockmann benutzte binnen wenig Tagen jede Gelegenheit so gut, daß er ihr bald das zärtliche Jawort in Entzücken von den süßen Lippen lockte.

Er that darauf den förmlichen Antrag. Die Verlobung erfolgte mit einem prächtigen Gastmahl; und gleich nach Ostern die festlichste Hochzeit. [166] Nun pflanzte Lockmann sich erst recht in die Schönheit und Glückseligkeit des menschlichen Lebens ein; er empfand die höchste Wonne des Daseyns glühend und brennend, und theilte sie jauchzend im Uebermaße mit.

Die drey jungen zärtlichen Paare machten dann einen verliebten Flug um die reizenden Küsten von Sizilien, kehrten durch das pittoreske wilde Kalabrien zurück, und schlugen überall – auch in ihrem May – wie die Nachtigallen. Bald schwärmten sie nach Rom, wo man zwar aufgebracht über Hildegarden war, aber ihr, und dem außerordentlichen Deutschen, welcher der Stadt ihre größte Schönheit entführte, dennoch huldigte.

Hildegard und ihr Gemahl hielten sich nicht auf; sie reisten mit dem Herzog und der Herzogin bey Nacht schnell durch, voraus nach Terni. Lockmann blieb nur so lange, bis Eugenia in Bereitschaft war, die den Unvergleichlichen schon lieb genug gewonnen hatte, um ihm bis an das Ende der Welt zu folgen.

Dann reisten sie eilfertig durch die schönen Thäler des Apennin, an dem Adriatischen Meere hin, und nun zurück durch die kühlen Tiefen der Alpen; und dann jedes Paar an den Ort seiner Bestimmung.

Die Herzogin D**** gebar zuerst: leibhaftig das Christkindlein im heiligen Hieronymus von Correggio. Hildegard drey Monate später eine Hebe voll Gesundheit und Leben. Zu ihrer höchsten Freude verlor sie nichts von der Schönheit und Stärke ihrer Stimme, und entzückte damit noch lange Londen, Paris und M**, an welchen letztern Ort ihr Gemahl bald als Gesandter kam. Die kindische Furcht, durch welche sie, nächst ihrer Tugend, den gefährlichsten Verführungen entschlüpfte, verschwand. Frauvon Lupfen hatte ihre Stimme verloren, weil sie in ihrer ersten Jugend geschnürt [167] worden war. Die Schwangerschaft trieb dann ihren Brustkasten so aus einander, daß er seine vorige Kraft einbüßte. Der selige Hohenthal gestattete nie, daß man seine Tochter schnürte, und sie war frey, wie eine Spartanerin, eine Georgierin, herangewachsen.

Eugenia beglückte ihren Lockmann mit einem andern Achill, über den er den ersten fast vergaß. Sein alter Freund lullte und wiegte den kleinen Schreyer mit Lust zum Stillschweigen, kos'te Römisch und Deutsch mit der reizenden Mutter, und erheiterte den kurzen Rest seines Lebens in ihren Sonnenblicken.

Lockmann bekam schon das zweyte Jahr nachher einen königlichen Ruf nach M**, welchen er schwerlich angenommen hätte, wenn Vater Reinhold nicht eben plötzlich in die Ewigkeit hingeschlummert wäre. Dieser starb an einem Stickflusse. Man fand ihn eines Vormittags todt in seinem Bette. Er hielt noch eine Prise Tabak zwischen dem rechten Daumen und dem Zeigefinger, und lag halb aufgerichtet mit erhöhtem Kopfküssen in einer vergnügten Geberde.

Der Fürst wollte Lockmanns Flug in eine ihm angemeßnere Sphäre nicht hemmen. Ihn begleitete dessen Segen, als er von ihm schied. Der dankbare Künstler versprach ihm aus seinen neuen Komposizionen alle die Ove son? che ascoltai? und die


Tornate sereni

Begli astri d'amore!


Fußnoten

1 Man sehe Th. II. S. 253.

2 Mozart hat diesen Kunstgriff, das Ganze zusammen zu halten, in seiner allgemein bewunderten Zauberflöte zu Anfange des zweyten Akts, mit einigen Zügen glücklich nachgeahmt.

3 Da wirst Du sehen, wer ich bin; nein, ich rede nicht vergebens mit Dir.

4 Und der Schall der Trompete, der in Erschrecken setzt.

5 Wenn der Blitz des Schwertes flammt.

6 Mir zittert das Herz, es ist keine Hofnung mehr.

7 Theure Kinder, noch eine Umarmung! gieb mir, o Gattin, noch einen Abschiedskuß! O Kinder, o Gattin! theure Pfänder meines Herzens! Ach, o Gott, ich kann Euch nicht verlassen, noch meinen Schmerz verbergen!

8 Kommt, o Kinder, drückt den unglücklichsten der Väter an Eure Brust.

9 Ja, ich bin Sabino.

10 Du beschimpfst mein Blut.

11 Schon hör' ich die gräuliche dumpfe Stimme des Todes, die mich zum Grabe verlangt.

12 Und sehe um mich herschweifen die verhaßten Haufen gräßlicher Gestalten.

13 In welchem harten Augenblicke sag' ich Dir das letzte Lebewohl! – So naht denn von einem unglücklichen Leben das traurige Ende.

14 Standhaftigkeit, meine Seele! wenig Augenblicke deines Leidens sind übrig.

15 Der Tod ist ein Uebergang: ihn bewölke kein Schatten von Furcht.

16 Ha, so werde denn das böse Schicksal vollendet!

17 Andreas Comparetti. Observationes de aure interna anatomicae. Patavii.

18 Dieser hat ihn, unter dem Namen J, in der Orgel der Dreyfaltigkeits-Kirche zu Berlin anbringen lassen.

19 Oedip bey Kolon angelangt, in Sacchini's Meisterstücke, ruft recht eigentlich darin aus: Dieux justes! dieux clémens! Besonders herzzerreißend ist er eben da in der Verwechselung der Terzquartsext.

20 Antigone, die zärtliche Tochter, vermischt bey solchen Seelenaccenten ihre Thränen mit den Thränen des Oedip: Jouissons du bonheur de confondre nos larmes.

21 Man wird der Londoner Dame leicht verzeihen, daß sie die alte Sage aus den Zeiten des Boccaz her zu Hülfe nimmt, um ihren wilden Einfall durchzusetzen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heinse, Wilhelm. Roman. Hildegard von Hohenthal. Hildegard von Hohenthal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4D3D-1