Friedrich Hebbel
Wie verhalten sich im Dichter
Kraft und Erkenntnis zueinander?

[585] Wenn die Poeten unsrer Zeit, namentlich die dramatischen, das Ziel verfehlen, so redet man sich und ihnen gewöhnlich ein, das rühre daher, weil sie einen verkehrten Weg einschlagen, und erspart sich die Untersuchung, ob denn auch von vornherein die nötigen Mittel vorhanden gewesen sind, und ob die meisten derselben, wenn sie sich auch über die Anlage selbst nicht täuschten, sich doch nicht über den Grad derselben getäuscht haben. Unstreitig ist der Verstandes-Irrtum, der so herauskommt, auch leichter zu ertragen, als der innere Mangel, der sonst eingeräumt werden müßte, und darin mag der Grund liegen, warum man so hartnäckig an ihm festhält; in diesen müßte man sich ein für alle Mal mit unbedingter Resignation ergeben, jenem dagegen wäre abzuhelfen, wenigstens scheinbar, da eine Legion mißlungener Versuche die Befugnis, immer neue wieder anzustellen, und die Hoffnung, endlich einmal das Rechte zu treffen, nicht ausschlösse, der Tag der letzten Rechenschaft also niemals käme. Aber wenn nun der Beweis geliefert werden sollte, daß ein solcher Irrtum ohne einen solchen Mangel auch nur möglich wäre, so würde sichs schnell zeigen, welch eine Widersinnigkeit man behauptet hätte. Denn, daß die schaffende Natur auf jeder Höhe, die sie auf ihrem langen Wege von der Basis bis zur Spitze zurücklegt, eine Weile ausruht und das hervorruft, was sie auf ihr schon hervorrufen kann, ist klar, und nicht minder, daß auf diese Weise in der physischen, wie in der geistigen Sphäre hin und wieder an gewissen Punkten mit Notwendigkeit ein Übergangsgeschöpf hervortreten muß, das der Idee nach einer höheren Gattung angehört, als es durch seine noch mangelhaften Organe zu realisieren vermag. Wie könnte solch ein Geschöpf nun aber wohl dem Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen entfliehen? Der fliegende Fisch wird aus dem leichten Element, in das er hineinstrebt, immer wieder in das schwerere, dem er sich zu entziehen sucht, zurückfallen, die Fledermaus wird niemals Vogel und ist [585] doch unleugbar mehr, als das Tier, mit dem sie den Namen teilt, der unzulänglich begabte Dichter zieht im Traum phantastische Fäden, bringt es aber nie zum Gewebe und ist darum das Spiel jedes Windes, der in seine lustige Schöpfung hinein bläst. Das alles ist einfach; wie jedoch mit entschiedener Kraft eine unentschiedene Richtung, mit dem Vermögen für das Bestimmteste, worin eine solche Kraft eben besteht, ein unbestimmtes Abirren ins Wüste und Leere hinein vereinbar sein könne, ist durchaus nicht zu begreifen.

Man wird daher wohl zu der entgegengesetzten Betrachtungsweise zurückkehren und einräumen müssen, daß der Poet, der den rechten Weg nicht zu finden weiß, schon darum nicht der rechte sein kann, wenn damit auch die meisten unsrer sogenannten Literatur-Hoffnungen wegfallen. Kraft und Erkenntnis bedingen sich im Dichter, wie überall, gegenseitig. Die Natur ist nicht so grausam, dem Individuum, dem sie die Kraft versagte, die Erkenntnis aufzudringen, denn sie würde es dadurch vernichten; sie ist noch weniger so unverständig, dem Individuum, dem sie die Kraft verlieh, die Erkenntnis vorzuenthalten, denn sie würde dadurch die höchsten Wirkungen, die sie durch dasselbe bezweckt, schwächen, ja aufheben. Wo die Erkenntnis mangelt, da gebricht es sicher an der Kraft, ihr zu genügen, und wo die Kraft ausreicht, da kann es an der Erkenntnis nimmermehr fehlen. Man hat sich in Deutschland freilich den Begriff des Naiven, den man noch instinktmäßig als die Grundbedingung alles künstlerischen Wirkens festhielt, auf eine Weise zurechtgemacht, die diesem Axiom widerspricht, aber das ist eben ein Unbegriff. Man setzt das Naive in einen beharrlichen Zustand dumpfer Unbewußtheit, in dem das Schöne nicht bloß, wie allerdings geschieht, empfangen, sondern auch geboren werde, und reduziert so die zwei Momente, in die der schöpferische Prozeß zerfällt, ohne daß eins das andere beeinträchtigt, auf einen. Es ist nun zwar seltsam genug, daß sich diese Vorstellung gerade bei uns festsetzen konnte, da wir doch in dem Briefwechsel, den unsre beiden größten Dichter in der Fülle ihrer Kraft, zu der Zeit, wo sie ihr Bestes lieferten, miteinander führten, die schlagendste Widerlegung derselben haben; oder waren Schiller und Goethe sich nicht fast bis zur Durchsichtigkeit klar? Sie steht aber offenbar noch bis auf diesen Tag in [586] Ansehen, und der Grund ist, wie öfter in ästhetischen Dingen, in der Verwechselung der Karikatur mit dem Wesen der Sache zu suchen. Es gibt nämlich eine doppelte Naivetät, die triviale, deren sich der Besitzer nicht rühmen würde, wenn er wüßte, daß sie auf lauter Negation beruht, und die echte, die nicht den Geist, und also auch nicht das von diesem unzertrennliche Bewußtsein ausschließt, wohl aber eine bestimmte Form des Geistes, die Reflexion. Beide muß ich etwas näher charakterisieren.

Die triviale Naivetät wurzelt allerdings, jener Vorstellung gemäß, im vollständigsten Erkenntnismangel und wird nur durch diesen, nur durch das, was ihr fehlt, in Tätigkeit gesetzt. In ihr feiert die Natur den possierlichsten ihrer Triumphe und erreicht durch Versagen und Nehmen, was sie durch Gewähren und Geben nie erreichen wird, unerschütterliche Selbstgefälligkeit und unerschöpfliche Produktivität. Ihr beweist die Abwesenheit einer Eigenschaft immer die Anwesenheit einer andern; die Leere an allem idealen Gehalt, z.B. die Fülle konkreten Lebens. Sie weiß von keinem Gesetz, weil kein Gesetz auf sie rechnet, und kann sich deshalb auch an keins stoßen; sie soll nur spielen, und sie spielt das Königsspiel in dem schrankenlosen Bereich des Nichts. Desungeachtet erlaubt sich die Natur nicht etwa bloß einen neckischen Scherz mit ihr, sondern erfüllt eine mütterliche Pflicht gegen sie, wenn sie das Licht von ihr abhält. Übergehen konnte sie sie nicht, sie war möglich und darum notwendig, aber eben weil sie ihr alle und jede Ausstattung für Tat und Wirkung vorenthielt, war sie ihr einen Ersatz in erhöhtem Selbstgenuß schuldig, und den hat sie. Freilich gibt es auch, und das ist natürlich, da ja jede Stufe weiterführt und alle Übergänge sich ineinander verlaufen, in dieser trivialen Naivetät Grade, und es finden sich Individuen, die zuweilen eine Ahnung des inneren Defizits durchfröstelt; so haben wir jetzt in Deutschland einen erwachten Iffland, der sicher mehr ist, wie der frühere schlafende, und der doch wie weniger aussieht, weil er sich selbst bezweifelt. Doch das geschieht nur in einzelnen seltnen Momenten, und von einem Durchbruch der Erkenntnis ist nicht die Rede, sie unterdrücken ihn mit Gewalt. Der fliegende Fisch tröstet sich, wenn er wieder heruntertaumelt: ich bin Bruder des Adlers und des Leviathans zugleich, und die Fledermaus denkt: mir gehört der [587] Tag, wie die Nacht! Dennoch tritt, solchen Individuen gegenüber, unbedingt die Zurechnung ein, die bei den übrigen, noch unter sie gestellten, wegfällt, denn wenn sie ein mangelhaftes Talent, dessen Lückenhaftigkeit sie, ungleich diesen, selbst fühlen, mit entschlossener Resignation wegwürfen, so könnten sie sich als Geister vollenden und aus den letzten Produzenten die ersten Kritiker werden. Sie ziehen vor, sich und die Welt zu betrügen, und büßen als Menschen, was sie als Künstler verbrechen, da ästhetische Sünden so gut, wie moralische, ethische Nachwirkungen haben, wenn sie auch keine kriminelle Strafen nach sich ziehen, sondern nur innerlich am Kern des Wesens zehren. Hier gilt Schillers tiefer Ausspruch: »Das kleine Ich, was sich nicht so weit zu erweitern vermag, daß es dem Ideal genügt, verengert das Ideal nach sich!« Das ist ein Frevel, aber doch gewiß auch ein Fluch!

Von diesem allen trifft nun nichts die echte Naivetät. Nichts? doch, der Schein, und aus diesem Schein eben ist die widersinnige Vorstellung, die uns hier beschäftigt, hervorgegangen. Das werden wir gleich sehen. Wenn die triviale Naivetät vom Gesetz nichts weiß und nichts wissen darf, weil sie eben des Selbstgenusses wegen hervorbringen muß und doch nichts hervorbringen kann, was vor dem Gesetz Bestand hätte, so ist die echte, als reinste Erscheinung des Genies und als einzige des vollen und ganzen, so gesetzmäßig organisiert, daß das Gesetz sich ganz von selbst in ihr vollzieht, daß sie sich auf dasselbe nicht erst zu besinnen, nicht erst die Probe zu machen braucht. Bei der einen fällt also, wie bei der anderen, das Moment der Reflexion weg; aus den verschiedenartigsten Gründen zwar, aber was tuts, der gemeine Beobachter findet einen Vergleichungspunkt heraus und konfundiert nun nach Lust und Belieben. Ein Denken, das, wie schon A. W. Schlegel bemerkt, nur darum nicht als Nachdenken auftritt, weil es zu schnell vonstatten geht, ist ihm überhaupt kein Denken und fällt mit dem trivialen Denk-Unvermögen zusammen; der Blitz ist kein Feuer, weil er ohne Zündhölzchen zustande kommt, Ideen, die, wie Goldadern den Berg, das Kunstwerk in seiner Tiefe durchkreuzen, sich aber nirgends in klingende Sentenzen-Scheidemünzen umsetzen, sind keine oder doch nur zufällig, ohne Wissen und Wollen des Künstlers hineingeraten und eher dem, der sie entdeckt, als ihm [588] selbst anzurechnen, wie dem Erwachsenen die Reflexion über ein Kinderspiel, dem er zusieht. Es liegt der ganzen Betrachtungsweise offenbar außer der Oberflächlichkeit des Geistes auch einige Gemeinheit des Herzens zu Grunde. Man wollte der unbequemen Ehrfurcht vor dem Ursprünglichen, das im Genie zur Erscheinung gelangt, los sein und erfand sich deswegen von der Naivetät, die es unzertrennlich begleitet, einen Begriff, der es an sich zwar in seiner Würde und Bedeutung unangetastet läßt, den Träger aber, das damit ausgestattete und nach der Meinung von ehedem bevorzugte Individuum, noch unter die gewöhnlich begabte Menschen-Natur hinabdrückt. Wenn ein Kind spielend eine Uhr zusammensetzte, aber gar nicht ahnte, daß sich damit die Zeit messen ließe, sondern sie zum Kegeln benutzen wollte, könnte man ihm das Ding nicht aus der Hand nehmen und es brauchen, das Werk hochschätzen und doch über das Kind lächeln? Solch ein Kind wollte man gern aus dem Genius machen!

Wir haben uns überzeugt, daß dieser Unbegriff nur das Wesen der trivialen Naivetät ausspricht und auf die echte nicht paßt; er kann also gegen das oben ausgesprochene Axiom nichts beweisen.

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TextGrid Repository (2012). Hebbel, Friedrich. Theoretische Schriften. Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander. Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3C1F-4