Carl Hauptmann
Einhart der Lächler

Erster Band

Erstes Buch
1.
1

Wenn jetzt einmal die Seelen von Einharts Vater und Mutter rein für sich gegeneinander klangen, was fast nie mehr geschah, war es nur eine monotone Dissonanz. Laut oder heimlich. Einharts Vater war ein gewichtiger Ordnungsmann, schon als er die junge, wohlhabende Zigeunerdirne heiratete. Er war ein peinlich pflichtgetreuer Beamter, der damals schon eine höhere Postverwaltungsstelle in einer kleinen Stadt versehen, ein Mann von strengen, soldatisch gebundenen Formen im Umgang, mit scharfen, schwarzen Augen, die wenig und kurz lachten, so nebenhin nur, die selten aus der Würde kamen – mit einem dunklen, strengen Schnurrbart, der so voll stand, daß die Hand sich nie um ihn kümmerte, die schon damals steif herabhing ohne Geste, wenn sie nicht eifrig und flüchtig mit dem großen Rohrhalter ihre Arbeit tat – oder auch leicht gebieterisch sich streckte, wenn Herr Selle Anordnungen gab, oder etwas verwies.

Wenn jetzt, in den wirklichen Widerwärtigkeiten mit Einhart, Herr Selle erregt im Zimmer hin- und herging, mußte er die Hände auf dem Rücken fest zusammen nehmen, so gleichsam sich selbst noch mehr[3] bindend, daß er nicht doch einmal seine Würde ganz vergäße und dreinschlüge unter die phantastische, traumäugige Zigeunerbrut. So wenigstens deuchte es jetzt dem alten Herren, wo Einhart ein Jüngling geworden ganz mit den sanften, rabenschwarzen, unerwecklichen Glutaugen der Mutter und mit einer Seele voll regloser Verachtung gegen alle Wünsche und Forderungen, so weit sie von Vaters Seite kamen und ein geordnetes, bürgerliches Fortkommen betrafen, und die einfach wie Meerwasser von einer Öljacke abtroffen, selbst wenn wahre Gewaltwogen der Sittlichkeit den nur halb in dieser Welt des Scheins sich aufhaltenden Sinnierer und Lächler zu erschüttern und auf rechte Wege zu bringen versuchten.

Es war ein Irrtum von Herrn Selle, daß ihm schien, als wenn er schon früher, so gleichsam von Anfang an, Frau Selle mit den strengen Blicken des Vorwurfs angesehn. Wenn es auch Geistesgemeinschaft nie zwischen ihnen gegeben. Dessen hatte Luisa nie bedurft. Flammen waren zusammengeschlagen. So gebunden er auch gewesen, stolz und würdig, die heißen Flammen schmelzen noch immer die Erstarrungen. Flammen waren aus der jungen [4] Dunklen gekommen. Sie hatte noch jetzt Augen von verzehrender Sehnsucht. Wie sie ihn angesehen, der jung und kalt geschienen, hatte sie den Fels schmelzen wollen. Sie war wirklich eine Zigeunerin von Blut. Sie hatte wohl als einzige Tochter im Hause gegolten. In Wahrheit hatte man das Kind an der braunen Brust einer Zigeunermutter, die betteln kam und sich krank hingeschleppt, gesehen, es richtig gekauft und angenommen an Kindesstatt. Natürlich war Luisa dann im Bürgerhause in sanfter Erziehung aufgewachsen. Nur noch im Blicke lag manchmal etwas Demütiges oder auch Wildes, was leicht einsank und sich vergaß, daß das Mädchen dann lange wie erstarrt geschienen. Schön war Luisa nie gewesen, braungelben Gesichtes, ein wenig schmal und leicht welk. Etwas Kochendes, etwas Verzehrendes im Blicke nur. Aber das kam nur von ferne. Als wenn ein weiter Garten stiller Traumblumen läge in Demut und Trauer, und über hohe Gitterstäbe sähe der Haß herein mit spitzen, gelben Blicken. Aber ihre dunklen Augen lachten dann auch gleich, wenn der Haß kam. Daß Herr Selle wenn nicht eine sanfte, doch eine achtlos versöhnte, hinlachende Demütige in beginnenden Uneinigkeiten vor sich gehabt, [5] als die Gluten Luisas kälter geworden, die ersten Kinder an ihrer Brust gesogen, ihr Auge wie einer Raubtiermutter Auge, ihr schlanker, jäher Leib wie einer Tigermutter Leib zum Haßsprunge bereit über der Brut gewacht. Damals hatte Herr Selle nur eins ums andere der dunklen, lieblichen Mädchenkinder in Luisas Fürsorge und zehrender Mutterpflege angesehen, und hatte Frau Selle nur wieder heiß begehrt, eine Jugend die andere, schmachtend und unbesonnen, und durch keine Harmonien anders gebunden, als die Glut des Blutes und der Sinne, und es war in ihm wirklich immer wieder Würde und Pflicht und sonstiges sittliches Meinen in des Begehrens heißer Quelle ertrunken.

Das war lange her.

Einhart war jetzt über die Sechzehn, noch sehr schmächtig und fast wie ein Knabe. Es waren außerdem vier Schwestern im Hause. So kamen sie nach der Reihe: Johanna, Katharina, Einhart, Rosa und Emma. Mutter und Vater kannten sich kaum noch. Leib und Leben stand nun da und hier. Herr Selle sprach jetzt überhaupt nicht. Oder wenn er sprach, sprach er zu niemand recht, nur so mit ernstem Blick in die Luft. Er hatte eine hohe Stellung erklommen.[6] Auch Frau Selle fühlte das. Er war geheimer Rat. Die schwarzäugigen Töchter sahen an ihm auf und streichelten ihn. Sie versuchten ihm auch in die Augen zu sehen. Wenn es jetzt ein Zerwürfnis gab um Einhart, der wie ein schriller Ton allmählich in dumpfes Brüten klang, dann vermochten die phlegmatischen Zigeunerfräulein, die sie fast alle schon geworden, doch noch wieder schlau die Dissonanzen leise zu verstreichen. Sie stillten der Mutter dann oft plötzlich aufquellende Ratlosigkeit mit leicht gesponnenen Schmeichelgeweben und umstellten den erregten Herrn Geheimrat, der im Schlafrock eifrig auf dem weichen Teppich hinschritt, noch immer mit auf dem Rücken fest verschränkten Händen, und ließen ihn nicht aus ihren Liebesblicken. Dann gab es noch immer eine Heiterkeit schließlich.

In Frau Selle, die jetzt verwelkt aussah, nicht sehr fett, nur gelb und verzehrt, kam dann aus dem Sich-ratlos-wissen, das wie ein Aufkochen im Blick gefunkelt, das leichte, lässige Verachtungslachen, das fast in Demut vor den jungen Augen sich weghob.

Mit den vier Töchtern war Frau Selle heimlich eins. Und der strenge Herr Selle ergab sich Schmeichelwort und Schmeichelblicken der vier dunklen[7] Schönen, die in dem Bruder Einhart ein geliebtes Rätsel sahen, und Rosa, die dritte, das eigentliche Ereignis anstaunte.

Nämlich das war es zumeist: Es war ein strenges Pflichtleben, das Herr Selle führte. Er hatte nur Reglementbücher und Reskripte vor seiner Seele, mußte immerfort nur an solche Dinge denken, die im Grunde für seine Seele nichts bedeuteten, nur für seine Pflicht. Die Inventarien der großen Posten, lange Berechnungen für all die Sendungen, deren Seelen in Kuverts verborgen steckten und ihn nichts angingen. Das erfüllte ihn. Er hatte sogar im Traume oft nur Zahlen in seiner Seele. Seine Seele war wie eine graue Kammer, in der nicht einmal die Dinge selber, nur Merkzeichen und Nummern von den Dingen noch hingen. So lebte er in der großen Mietwohnung mitten in der engen Straße der Residenzstadt ohne Störung und durchaus zufrieden. Da sah er unten die bekannten Menschen gehen, die ihn ehrten und grüßten, die ihn in seiner Würde kannten. Und es fehlte nicht das heimliche Gefühl, daß die Würde mit den Jahren noch zu höheren Titeln und Auszeichnungen anwuchs.

[8] Aber Frau Selle träumte und die Töchter träumten. Wenn die auf der Straße oder gar in den Frühlingsanlagen allein hingingen, sahen sie wie eine Schar huschender Vögel aus, im Begriffe und bereit, die welke, gelbe, in vornehm bürgerliche Hüllen maskierte, fremdartig-jähe Mama mit sich irgend wohin empor und fort zu reißen. Alles war dann stürmisch und laut, verträumt und rücksichtslos. Sie kümmerten sich um niemand. Ihre hastigen Stimmen klangen alle ein wenig heiser. Miteinander allein vor der Mutter war eine jede wie losgebunden. Eine jede hatte für sich etwas Versucherisches im Blick. Wenn Männer kamen, sahen sie nicht scheu. Aber diese Art war mehr nur Mut aus der Höhe, mehr wie ein herausfordernder Widerstreit, der manchen hart traf wie ein Schlag, daß er sie dann verfolgte und fast wie einen Trotz der Liebe empfand. Lose, ungehaltene, schöne, dunkelfarbige Zigeunerdirnen in fließenden Frühlingsroben wie helle Küchlein um die alte Glucke. Die aber freilich dann gesetzt sich reckten und wie vornehme, stolze Fräulein gingen, wenn der Herr Rat Selle es einmal in Würde selbst unternahm, Sonntags mit hinauszuwandern und neben Frau Selle [9] stumm und steif emporgereckt in den Frühling zu ziehen.

Die blühenden Kirschen entzückten auch ihn. Wenigstens bekamen seine Augen einen richtigen Krähenfuß, der die ganze Zeit starr an der Schläfe stand. Und er nahm auch eine Blüte, die die älteste Tochter Johanna ihm sanft und mit Grazie lachend ins Knopfloch gesteckt. Indes Katharina und Rosa und Emma um ihn draußen, wo sie Kuchen und Kaffeeflaschen am Waldsaume ausgepackt, sich wohlig träge dehnten. Während Herr Selle mitten auf einem Plaid aufrecht saß, umbaut von einem Gehege von Blütenästen, die die vier Dirnen im Übermut von Obst- und Weidenbäumen am Damme herabgerissen.

Frau Selle war dann kindlich und weich, trieb sich achtlos allein auf der Wiese nach Blumen herum, kam mit Sträußen und streichelte jetzt auch einmal Herrn Selles straffe Wange, die sich mit halbem Blick Mühe gab, wie lachend auszusehen.

Wer die Menschen dann von ferne sah, mochte an glückliche Menschen denken.

Frau Selle, so in Freiheit und unter Blüten, träumte dann hin. Und die schwarzbraunen Töchter träumten und dehnten ihre jungen, schmiegsamen [10] Leiber der Frühlingserde nahe, mit einer Seele voll unbestimmter, heimlicher Glut. Und Herr Selle saß strengaufgerichtet, ließ es sich schmecken und trank den Kaffee, in den sich fast wunderlich ein Beigeschmack mischte, den er monieren gewollt, ehe er heiter merkte, daß es der Blütenduft des Frühlings selber war.

Freilich gab es gewöhnlich zum Schluß dann ein Ärgernis, weil Einhart zuerst zurückgeblieben in der Absicht, etwas von dem Gesehenen in sein Skizzenbuch abzuzeichnen, und weil es sich dann gewöhnlich herausstellte, daß er nicht mehr sich zur Familie herzugefunden. Herr Selle fand das unbegreiflich, machte Frau Selle für derartige Verträumtheiten durchaus verantwortlich, und man zog oft nicht ohne neuerwachten Groll in die zweite Etage des grauen Miethauses ein. Der Vater hatte nun wieder sein altes Mißtrauen. Er meinte in gedämpfter Empörung gar, Frau Selle unterstütze den Trieb. Er gab zu verstehen, daß der Junge mit Absicht den Weg verfehlt, wenn Einhart daheim sich damit zu entschuldigen suchte. Es gab eine richtige Dissonanz aus diesem Frühlingsgange, in die nur mühsam stimmend dann Johanna, Katharina und Emma ihre [11] Blicke und Worte einmischten, Einhart stumm und dumm, die Mutter stumm und ihre Augen demütig und gleichgültig machten, bis Rosa mit leiser Zärtlichkeit zugleich des Herrn Selle Augen fing und seine Wange sanft strich.

2.
[12] 2

In der Familie Selle ging offen alles nach dem Geheimrat. Der strenge Geist waltete immer, solange der alte, sehr gerade aufrechtgehende Herr im Hause war. Und nichts war zu spüren, daß von Blutswegen in des Geheimrats Hause im Grunde noch immer etwas von einem ganz fremden Geiste und Leben umging. Außenhin waren die Selles, wenn man sie auch da und dort neckend die Zigeuner nannte, eine ganz vornehme Familie. Bis auf den gelbbraunen Hautton von Frau Selle und die lässig trägen Bewegungen jeder einzigen dieser vier dunkelfarbigen Töchter, die sich in den teppichweichbelegten Zimmern am Klavier oder vor einem Malwerk halbtätig amüsiert herumdehnten, hätte man beim ersten Eintreten ins Haus an nichts anderes denken können.

Herr Selle hatte alles Phantastische durchaus fern gehalten.

Der Flur war fast zu voll gestellt. Der Eintretende, wenn er sich beim Ablegen des Mantels oder so auch nur eine Linie weiter ausrecken mußte, lief Gefahr, Leuchter oder Schirmlampen oder eine Hutschachtel oder Vase gar mit Blumen, die dort [13] im Verborgenen kümmerlich blühten, herabzureißen. Das sah durchaus nicht phantastisch aus. Eher, wie das Entree bei einem Händler, der gleich im ersten Eindruck verrät, daß nun erst drinnen in allen Räumen Schränke und Schübe mit gutem Hausrat überfüllt sind.

So schlimm war es nun innen nicht. Da brachte doch der vergilbte, blaue Plüsch im Mittelraume, der auf einem großen Sofapolster und zwei Sesseln sich ausgebreitet, ein wenig Buntheit. Und gar im Salon der Frau Selle daneben zeigte der weiche, große Teppich, der noch ziemlich neu war, eine riesige, blaue Blumenstaude mitten in den gelben Spiegel eingewoben, was man kaum hätte denken sollen, weil Herr Selle selbst diesen Teppich zum Geburtstag für Frau Selle ausgesucht und gekauft hatte.

In diesem Salon stand auch ein Schreibtisch für Frau Selle, obwohl Frau Selle selbst eigentlich nie schrieb, und so nur die Töchter, die sich sogar im Hause Briefe schrieben, um ihren Lebensdrang heimlich auszutoben, sich um den Platz davor zanken oder barsch anfahren konnten.

Alle Phantasmen waren aus diesen Räumen [14] und von diesen Menschen sichtbarlich völlig fortgetrieben, solange der strenge Blick des Herrn Selle alles zusammenhielt und beherrschte. Es kam dazu, daß in dem Arbeitszimmer des Herrn Geheimrat selbst lange Reihen Bücher in gleicher Uniform, unermeßliche Registerreihen von A bis O oder Z standen, kalt papieren gebunden in Grau, so daß nur die Rückenschilde grün oder rot zu glänzen wagten. Und an den wenigen schmalen Wandflächen, die frei geblieben, hingen kleine Medaillonbildchen, gelehrte, steife Gesichter mit Brillen auf der Nase, die aussahen, als hätten sie auch schon ewig in Registern und Buchstaben herumgesucht. Denn Herrn Selles Vater war ein berühmter Altertumsforscher gewesen, ein versunkengrabender Kenner aller ehrwürdigen Dokumente deutscher Vergangenheit. Herr Selle liebte diese Tatsache mit strengem Stolz in der Familie zu betonen. Er selbst bedauerte dabei hundertmal im Leben, sich in diesen Quellen nicht haben gründlich erquicken zu können.

»Aber bei mir zu Hause hieß es, verdiene bald! Wir waren zwölf Kinder. Bei meinem ehrwürdigen Herrn Vater gab es dann gar keine Unklarheit, keine Fata morgana. Er sah und bestimmte. Da gab [15] es kein Widerreden. Und schließlich kann ein tüchtiger Mensch sich an jedem Platze bewähren,« sagte er dann mit einer entfernten Genugtuung. So waren aus solcher Erinnerung auch die Namen der Kinder bis auf den ersten, der von Frau Selles Pflegemutter stammte, deutsch geworden. So hießen die Kinder also: Johanna, Katharina, Einhart, Rosa und Emma. Denn mit Knaben war es bei Einhart geblieben.

Und es lag unter Namen, die »aus dem deutschen Altertume« stammten, und unter dem strengen, farblos-gleichmäßigen Pflichtenleben, und in dem phantasielosen Gehäuse, darein Herr Geheimrat Selle und die ganze, dunkle Geheimratsfamilie eingefangen war, der alte, unversiegliche Quell Sehnsucht und Traum der Seele ganz verschüttet.

Sicherlich ganz verschüttet.

Denn schon Frau Selle war als Mädchen von kleinlichmahnender, innigversorgter Bürgerliebe umgeben gewesen, hatte es nur zu gut gehabt, hatte sich schmücken und einzig tun können, und hatte in solchem leichtsinnig-schwärmerischen Flitterleben die heimlichen Flammen ihres hüpfenden Blutes verflackern lassen. Schon ihre Augen und Seele [16] hätten nicht gewußt, wo für ihre Sehnsuchten groß anderes finden? Nun gar die der vier Mädchen, die eines Geheimrats Töchter waren.

Der Feuerbrand der alten, treibenden Natursehnsucht, die Atemnot in engen Räumen, die Lust ins Unbestimmte hinaus, wie Vögel ziehen nach südlichen Paradiesen, oder wie Winde ziehen, in Wipfeln zausen und mit vom Knospendufte vollgesogenen Kuß lustig weiter wirbeln über Heide und Weide und Waldtäler, in Traumfetzen regten sie sich in den Geheimratsdirnen, in den trägen Bewegungen der jungen, jachen Leiber, in einem flüchtigen Blick wie im Hasse und Streite kam daran eine Erinnerung. Aber alles wäre auch hier wie in der Mutter ohne Deutung und Sinn gewesen, ohne Drang, ohne Hoffnung, ohne Nachhall und Darstellung, solange das Jungvolk eitel der Wohlhabenheit starre Ehren genoß –: wäre nicht eben unter dem Namen Einhart ein rechter Nimmersatt von Traum und Verachtung, ein unheilbar Unbürgerlicher, einer, dem es aus langem Wandertum der Urväter mit heißen Purpurbildern im Blute umging, verborgen gewesen.

Herrn Geheimrat Selle schien dieser Bengel bald hoffnungslos. Man kann sagen, die ganze Geheimratsfamilie [17] wäre wie ein erstarrtes Idyll in Dunkelfarben erschienen: Der Herr ein grauer Kraterrand und drumherum viele stille, lockende Blumen auf der erstarrten Lava erwachsen. Wenn nicht Einhart im Grunde ein brennendes Feuer, eine ohne Absicht ungebändigte, ziellos aufquellende Lebenssucht heimlich mit sich getragen hätte, aus Ehre und Schranken der grauen, eingeschnürten, kleinen, sonnenlosen, getünchten Pflichtenwelt auf irgend eine, ihm selbst in dieser Jugend noch völlig unklare Weise zu entfliehen.

Wie dieser Junge mit seinen sechszehn Jahren schon allein aussah! Schlank, fast wie wenn er Vogelglieder hätte. Ganz gerade gewachsen. Aber auch einen schmächtigen Vogelhals. Und fettes, rabenschwarzes Schlichthaar, davon Strähne immer in die Stirn fielen. Das Gesicht sehr mager und gelb. Die Augen in Dunkelweiß so tief funkelnd, wenn er haßte oder in Abwehr aufblitzte, obwohl er meist eine fast lächerliche Gutmütigkeit und scheue Einfalt zeigte, und fast nie wußte, ob er gelebt oder nur geträumt, was er redete.

Heimlich rauchte er, wo er konnte, gleichgültig was.

[18] Die Schwestern steckten ihm allerhand zu, und die Mutter desgleichen.

Eine feine, schmale Stirn, daran eine leichte Aderschwellung in Zeiten der Freude, hatte er, eine feine, schmale Nase und gerade, schmale, frohe Lippen, aus denen die vom Rauchen leicht gelben Zähne sahen.

Wer ihn so betrachtete, war entsetzlich erstaunt, daß dieser junge Mann Einhart hieß, und noch mehr darüber, daß er eines strengen Geheimrats Sohn war.

Man konnte ihm anschaffen, was man wollte. Alles war gleich hin. Man konnte ihn mahnen, sorgfältig und auf seine Reinlichkeit achtsam zu sein. Es gäbe keinen, der in solchen Träumen leben und noch hätte wissen können, wofür man Seife und Wasser brauchte und wie die Traumdinge reiner waschen? Er selbst ging vor sich im Traume hin, und hatte nie ein Gefühl, daß er je und je Schmutz an Haaren und Halse, Nägeln und Händen, und an seinen Kleidern mit sich brachte, wo er ging und stand. Nun, daß da gerade Herr Selle nicht glücklich war über solches zuchtloses Leben, kann man begreifen. Es gab jetzt ewig Szenen um [19] Einhart. Man mußte sich allmählich schämen, wenn er einmal von den Schwestern unbemerkt unter Besuche hereingekommen. Draußen putzten und säuberten ihn dann erst die Schwestern. Und er lachte kindlich dazu.

Die Mutter hatte heimlich einen Hang zu ihm. Wenn sie ihn auch nur sah, strich sie ihm immer flüchtig die gelbgraue Wangenhaut. Der Mutter gegenüber war auch er immer geradezu wie ein demütiger Hund. Es lag in ihr für Einhart etwas, was er sinnlos und wie nichts in der Welt liebte. Und für sie schien sich in Einhart wieder herzustellen, so ins Unbestimmte, was sie immer verloren gefühlt. So sah Frau Selle mit träger Verachtung fast, wenn sie alle erst um den Tisch saßen, zu Vater, aber zu Einhart mit jäher, heimlicher Glut in den Mienen, die so graugelb waren, wie seine, nur welk und alt.

Und Frau Selle hatte es oft für sich amüsiert, wenn er das Essen verpaßt, draußen in der Sandkuhle gelegen, Igeln nachgetrachtet im Weizenfelde, mit Kindesblicken ewig einer Lerche Jubel zugestarrt bis zum Blenden, und statt des Kalbsbratens mit trüber, dünner Sauce daheim einfach Ähre um [20] Ähre vom Weizenfelde ausgekörnert und mit seinen Zähnen, unter Träumen oben im Hirn, zermahlen hatte.

Dann hatte er ihr alles umständlich erzählen müssen, daß Frau Selles Augen unaufhörlich dabei lachten. Auch wenn es schon Auftritte gegeben mit Vater. Wobei Mutter natürlich gar nicht erst hatte wagen können, gegen dessen Wünsche und Bestimmungen aufzukommen.

Aber heimlich, da hatte man beisammen gesessen, wenn der Herr Geheimrat geraden Ganges mit dem Schirm unter den Armen die Straße entlang gegangen, und man ihn um die Ecke hin endlich hatte verschwinden sehen. Da kam jede einzelne der Schwestern, um Einhart um den Hals zu nehmen. Rosa zuerst, die ihn ein Stück drollig hinzog, wobei er noch immer absichtlich ein dummes Gesicht behielt. Auch wenn der Tusch noch jetzt manchmal mit Handgreiflichkeiten geendet. Alle kamen, Johanna, Katharina, und die Jüngste, Emma, und faßten ihn um den Hals von hinten oder von vorn. Und Rosa küßte ihn phantastisch auf die Augen, die dann pfiffig lachten, als wie dem Sturmwind des Vaters und seiner Würde mit Drolligkeit nach. [21] Und Mutter, versorgt und geängstigt noch, begann, selber immer lustiger werdend, ihn auszufragen, wenn sie die schon belustigten Schalksblicke sah, mit denen Einhart seine versonnenen, Vergessen bringenden Fahrten draußen in Heide und Wildnis spürsinnig zu erzählen und Buntes und wie aus märchenschönen Dingen Erlesenes hineinzuweben wußte. Dann standen die vier Schwestern mit Staunen und sahen in Einhart etwas, wie ein unglaublich neckisches, wagsames Rätselwesen, das sie liebten, das ihnen unter die armgrauen Ereignisse des herkömmlich-bürgerlichen Geheimratlebens ein ganz neues Fühlen und neue Feste brachte. Sie lachten über den ungekämmten, ungewaschenen Jungen, dessen Augen Diebe schienen, und über die zerrissenen und verwitterten Kleider und die verwetzten, verwahrlosten Stiefeln. Und jede wußte jetzt auch, daß man ohne solche Opfer nichts dergleichen erleben könnte. Eine jede der vier dunkelfarbigen Dirnen hätte es dann am liebsten gleich auch versucht. Alle, auch Mutter, trug trotz der verborgenen Pein des Zerwürfnisses immer ein Glück fort aus diesem das Leben so wegwerfenden Jüngling.

[22] Einhart war bald ein Jüngling, so dürftig und schmächtig er auch mit seinen Jahren noch aussah. An solchem Tage sahen alle heimlich auf den Herrn Geheimrat, wie auf eine langweilige Gesetzestafel, die streng verfügte, was man längst tausendmal kannte. Und wenn er erst wieder heimgekommen, fühlte man es in allem, daß es eine jede der Damen, alt und jung, heimlich entrüstete, wie die harte Würde dem grünen Wucherreis mit dem glutäugigen Sanftblick blind und mißlaunig alles frohe Treiben knicken wollte. Da hatte Herr Selle keine seiner Töchter in seiner Arbeitsstube hocken, wie sonst gewöhnlich. Niemand empfing ihn. Er mußte am Tische stumme Münder unter den sammetnen, gesenkten Blicken sehen. Alles war da nicht, als wenn sie draußen auf der Wiese und im Walde und glückliche Menschen wären, wie es einem Fernen so erschienen. Hier saß der Herr Selle, steif und gehalten, mit strengen Blicken, nun auch sichtlich geärgert. Aber mit bestimmter Verachtung dessen und nur gewappnet, zu gebieten. Und dort saß die ganze, junge Brut, enttäuscht und voll Entsagung. Daß nur Frau Selle dann und wann, als wenn sie sich aus Träumen plötzlich besönne, dem würdigen Herrn[23] etwas an Fleisch oder den Brotkorb, wenn sie seine Augen am Tische suchen sah, hinreichte. Und Einhart saß dann unter ihnen immer mit einem verlorenen, einfältigen Lächeln.

3.
[24] 3

Rosa war die dritte der vier Geheimratstöchter. Sie kam hinter Einhart, und war nur etwa ein knappes Jahr jünger als er. Ein seltsam frommes Mädchen schien sie, jemehr sie den Kinderjahren entwuchs und in den Kämpfen um Einhart in der Familie sich zu einer Art heimlichen Schutzpatrons von Einhart entwickelte.

Rosa war dunkel, wie alle. Auch einen Anflug brauner Hautfarbe, wenn auch am unscheinbarsten, hatte sie. Ihr Haar, das jetzt, wo sie eine Jungfrau wurde, in breiten Scheiteln über den Ohren hing, war glänzend schwarz, wie Jet, und ihre Brauen feinbogig, wie schmale Rabenfedern. Aber im Dunkelglanz der großen Sammetaugen lag kein zehrendes Feuer, nur eine ferne Mildigkeit, und die schmale, leicht spitze Nase zeigte auf einen immer ein wenig geöffneten Mund, der sanft wie ein Schnitt in frisches, dunkelglühes Fruchtfleisch, weich und zärtlich schien, und nur zärtlichen, versöhnlichen, verhaltnen Worten sich schmiegte.

Herr Selle konnte Rosa in dieser Zeit nicht ansehen, ohne nicht heimlich beglückt zu sein. Die drei andern Mädchen, von denen Johanna und Katharina[25] um die Zwanzig waren und also erwachsen und sehr resolut, und die kleine Emma noch ein rechter Backfisch kaum, nur gerade in den Flegeljahren, amüsierten sich spöttisch über den frommen Hauch, der über Rosas Wesen sich ausgebreitet, und Rosa stand also in dieser Zeit in gewissem Sinne allein.

Nicht etwa, daß sie mit Frau Selle und den Schwestern in der Vergötterung Einharts uneins gewesen. Ganz im Gegenteil. Was ihre Einsamkeit schuf, war der Umstand, daß Herr Geheimrat, ebenso wie Einhart, Rosa durchaus bevorzugten. Herr Selle sah in diesem Mädchen allmählich eine besondere Lebensfreude, daß er sie rühmte vor allen in ihrer Zucht und Scheuheit. Daß er die keusche Erscheinung auch offen mit einer, seinem sonstigen strengen Blicke ungewohnten Wärme ansah, und nur ihr es schließlich allein noch gelang, eine Last rechtzeitig zu lösen, wenn es Gewitter gegeben, oder wenn der Vater in sich erregt in die Familie getreten war.

Und was Einhart betraf: die großen Mädchen waren ihm zu rücksichtslos geworden. Sie konnten auch rein nichts von seinen Heimlichkeiten für [26] sich behalten. Sie rühmten sich womöglich vor der Köchin. Sie glossierten alles behaglich laut und offen, wie es große Damen tun, und nahmen sich nicht in Acht, selbst wenn Vater in der Nähe war.

Auch Freundinnen wurde es zugetragen. Es däuchte Einhart auch so etwas, wie wenn sie vor den andern Fräulein halb gezwungen mit einstimmten in eine Art sittlichen Bedenkens, wenn es die Situation zu fordern schien. Einhart lachte auch darüber. Aber er hatte einen Halt allmählich nur an Rosa, die eine Geheimnisträgerin war und für sich genug hatte, ohne eitel nach außen zu blicken. Sie besaß eine stolze, sanfte Verschlossenheit gegen jedermann. Auch gegen Mutter. Auch Frau Selle war das Mädchen, wie sie es manchmal mild und verträumt aussprach, ein bissel entwachsen. »Das ist allzu früh begonnen,« meinte sie dann in sanfter Verzichtleistung.

Rosa hatte begonnen, Träume selbständiger Art zu gewinnen. Man sah es ihr an. Sie sah nicht nur Albernheiten in Einharts Drängen und Taten. Ernst galten sie ihr. Sie empfand, ein wenig heimlich verletzt, Abwehr gegen das zu laute Vergnügen, [27] was selbst die geliebte Mutter machmal bei Einharts seltsamen Unternehmungen zeigte. Sie hatte etwas von einer milden, überlegenen Weisheit, so dünkte es Einhart damals. Sie verstand seinen Lebenssinn vollkommen. Sie redete dagegen nie ein Wort. Nur gegen das, was im Äußeren man vermeiden konnte, mahnte sie:

»Du kannst nicht gehen, wie ein Stromer, geliebterfrère!« sagte sie von oben lustig ohne zu lachen. »Das kann Vater natürlich nicht dulden. Aber das verstehe ich ja, daß man nicht lebt hinter den Schulbüchern und auf guten Polsterstühlen.« Rosa hatte auch einmal zufällig etwas von Charlotte Corday gelesen, und hatte ins Unbestimmte ein Ideal von einer alles fürs Vaterland opfernden Frau gewonnen. Schöne, weite, drängende Gefühle ging es in ihr hin, wie Melodien ohne Gegenstand. Das gab nun Einhart eine Grundlage. Er sah sich gewissermaßen erkannt. Das Mädchen gab seinen Schalkspielen einen Sinn erst, daß er vor ihr eine drolligfrohe, verlockende Gehobenheit empfand. Das alles verband ihn der zarten Rosa und machte, daß er jetzt mehr Gewichtigkeit selber in seinem Tun zu ersehnen angefangen.

4.
[28] 4

Es waren Zigeuner auf dem Plan vor der Stadt. Draußen lag ein See, und am Ufer standen Erlen aufrecht, und Weidengebüsche hingen ins Wasser. Weil es Sommer war, konnte man lagern. Einhart hatte noch am Nachmittag gleich die Gelegenheit sich angesehen. Ein junger apollinisch-jüdischer Mann, mit einem flaumigen Barte, der Pavo hieß, spielte, als der Abend versank, im Dämmer der Sterne die schmelzende Geige, und das schöne, sonngebräunte Volk in bunten Fetzen tanzte und flog in der Wiesenfläche.

Einhart hatte gleich etwas empfunden, wie um sich selber gebracht. Er hatte das ganze Abendneigen schon erst in der Nähe gestanden, die grünen Planwagen, die im Rubinlicht ragten, umschlichen und die falben, struppigen Pferde angestaunt, die an den Wagenkästen knabberten oder das Gras am Boden nagten. Einhart hatte dann an der Böschung sich unter die Kinder der Armen und einige Arbeitsleute gemischt, die auch herumstanden und auf die seltsame Horde staunten.

Eine junge Mutter, wie ein gelbes, ägyptisches Weib, stand mit dem Kind an der Brust im Freien.[29] Während eine alte, großäugige Zigeunermutter im Wageninnern kochte, daß der Rauch unaufhörlich dick aus der kleinen Esse schlug.

Weiße Ziegen weideten am Hange.

Einhart stand – und starrte und starrte, als wenn rein nur das wäre, was sich vor seinen Blicken und Ohren begab. Wie nicht wirklich dünkte er sich und ihm diese Welt. Wie selbst verjagt hinziehend und doch in Tänzen und flüchtiger, lustiger Rast. Die Lust daran machte seine Augen wie verzehrt. Da waren auch zwei halbwüchsige Zigeunerdirnen, melancholisch und träge. Die trockenen Schwarzhaare hudelten um die Stirn, wie ihm. Die beiden kamen zu ihm nahe heran und lachten ihn gutmütig an. Sie nahmen seine Hände prüfend in ihre dünnen, harten Finger. Er mußte an sich halten, daß er nicht einen Sprung in die Lüfte tat, wie ein Bajazzo, oder wie ein junger, dummer Frühlingsfaun mit Nymphen, sich im tollen Wirbel drehend, als Pavos Geige eingesetzt.

Ein Rausch ging in ihm, eine Selbstvergessenheit ohnegleichen, eine richtige Ohnmacht. Nicht, als wenn er die Sinne verlor. Durchaus nicht. Nur allen Willen, etwas anderes noch zu sein, als was ihn jetzt erfüllte.

[30] Die dunklen, lumpigen Dirnen konnten zudem ihr Lachen nicht lassen, ihr weiches, kindliches Locken. Weil er in seiner fiebernden Unruhe doch noch einmal zurückgetreten.

Seine Blicke suchten ununterbrochen den jungen, schönen Zigeunerspieler. Die junge Mutter war unter die Arbeitsleute gekommen. Sie hatte das Kind in den Wagen zurückgetragen und drehte jetzt eine Zigarre in ihrem Munde. Ein Gesicht, wie das einer Koptin, gelbgrau, mit gebogener Nase, streng, knisterndes Zottelhaar um die Stirn, nicht voll, dürftig, und ein dürftiges Zöpfchen hinten, das ihr nachlässig, blau gebunden, im Nacken starrte. Die blaue Kattunjacke stand offen, daß man die knospenfrischen Brüste sah. Sie kam Schritt um Schritt, mit ihren Dunkelblicken lautlos und achtlos um Feuer bittend. Die Arbeiter machten ein paar gemeine Glossen und lachten. Einhart hörte es nicht. Es zog ihn und trieb ihn gleichzeitig. Der Gedanke an Rosa, und daß sie es sehen müßte, war in ihm erwacht. Der Sternenhimmel begann schon zu blinken. Immer wieder kamen die zwei stahlschlanken Dirnen, die seine Augen suchten, als hätten sie an ihm etwas Besonderes ausgefunden, und lachten über ihn kindlich schalkisch untereinander.

[31] Und die Geigentöne gingen jetzt schon im stillen Reigen. Der Mond ging auf und stieg stummgolden in den Raum, ferne über den schwarzen Wäldern. Von ferne hallte ein Kuckucksruf, unaufhörlich weich sich wiederholend. Es war eine Juninacht. Unermeßlich die silberne Blankheit des sanften Wasserspiegels, weil das Mondlicht ihn streichelte.

Einhart hatte es nicht mehr ausgehalten. Er war wie sinnlos fortgeeilt, geirrt, weil noch immer zurückgebunden, und doch wie im Wirbel. Die heißen Geigentöne des braunen Zigeuners gingen mit ihm und die weiße Dunkelnacht, und die Mädchenblicke, und es schwirrte rings, wie von Dämonen in weicher Dämmerluft. So war er in Zwängen in die Wohnung der Geheimrätlichen zurückgerannt.

Der Zufall wollte, daß nur Frau Selle und die Schwestern daheim waren. Der Herr Geheimrat selbst hatte im Amt eine Hinderung gehabt und hatte heimgeschickt, daß er auswärts äße. Er saß unterdessen in einer kleinen Weinstube mit einigen Herren seines Ressorts beim Glase, und man erzählte allerhand Postvorkommnisse, besprach auch einen Fall schwerer Defraudation genauer und ernstlich, ehe man wieder lachte und pokulierte. So [32] war Einhart gut ins Haus gekommen. Aber sein Herz, so voll tollen Spaßes es war, sank jetzt wie demütig zusammen, daß er sein Fieber plötzlich niederpreßte und nur einfältig lächelnd dastand, als Frau Selle ihm die Strähne liebevoll aus der Stirn strich. Frau Selle hatte in einem losen Sommerkleide am Fenster gestanden. Auch sie lächelte nur gütig. Johanna und Katharina verstanden nicht recht, warum Einhart heut nicht redete. Dann waren die beiden mit Mutter auf den Balkon getreten. Auch für sie alle hatte sich jetzt der Silbermond in die Welt gehoben. Auf den Dächern lagen Spiegelscheine, und es umfloß alle Dinge mit Silberfäden. Johanna redete laut, wie glänzend der Mond im Äther schwämme. Sie machte einen Witz von Liebenden im Mondenschein. Einhart mußte hell hinauslachen. Er war im Zimmerdunkel zurückgeblieben. Auch Rosa, die gleich mit der feinen Witterung der Seele zu ahnen begonnen, daß in Einhart neugesponnene Träume sich rührten und laut werden wollten – nur für sie. Sie hatte ihn jetzt unter den Arm gefaßt und legte ihre Wange sanft an die seine. Da begann Einhart auch schon erregt zu flüstern. »Komm!« sagte er ganz leise, [33] »komm!« – – – »Wohin?« sagte Rosa. Und man hatte kaum draußen eine Weinranke am Balkon im Silberlichte wanken sehen. Und dann war Einhart nach einigen bestimmten, stummen Zeichen plötzlich gegangen. Er hatte sein Bett in einer Bodenkammer.

Aber später, als alles schlief im Hause, und weil Herr Selle noch immer nicht nach Haus gekommen, huschten Einhart und Rosa in die Monddämmer hinaus und liefen hin in die brünstigen Tänze im Silberschein, unter die sich auch einige Dienstmädchen und junge Arbeitsleute mit eingelassen, daß nun, schon gegen Mitternacht, ein ewiger Reigen hin und her, von der monotonen, sehnsüchtig näselnden Weise der einsamen Geige hingeführt, im Mondlicht schwebte. Die Schatten tanzten mit unter dem wogenden und ringelnden, bleichlichten Fremdvolk auf der weißen Wiese. Eine stumme Inbrunst spann in der Nachtluft, dann und wann nur von Rufen oder einem jähen Schrei flüchtig unterbrochen. Eine lange Fackelflamme gaukelte in Rauch, die Insekten umschwirrten. Falter verflogen sich in Einharts Gesicht, daß er sie, flüchtig erweckt, dann doch achtlos nur wieder in der Hand hielt. In allen Gesichtern lag [34] ein ewiges Lächeln. Auch in Einharts. Auch in Rosas. Einhart und Rosa hielten sich aneinander, langsam und scheu, und ganz erstaunt noch immer und nichts wagend, beide nur ganz diese klingende, treibende Rätseldämmerwelt, fiebernd von losgebundnen Trieben, ganz den seltsamen Dunkelleuten hingegeben.

Und jetzt mit noch größeren Augen lachend, als der weiße Wiesenplan rein lag, alles erschöpft beiseite getreten, und nur die beiden Zigeunerdirnen herangeflogen, in der Leibesmitte sich greifend, ihre nackten Füße streckend und stampfend wie in wildem, taumelnden Einvernehmen, und sich lösten und auseinanderschwangen, stumm fast, ewig geneigt in schwebendem Gleichgewicht. Gar nicht mehr Lächeln, Feier in den heiß blickenden Mienen, dann und wann einen heiseren Schrei hinausgebend, wie ein Vogel schrillt, rasend so hin, inbrünstig, wie in Gottesdienst, daß die Menge ringsum wie im Mitleiden den Atem anhielt.

Einhart hatte dann, er wußte nicht wie, eine der Dirnen umgriffen und hatte zu springen und zu tollen begonnen, weil sich auch Rosa gar nicht mehr eingehalten, im Taumel dem jungen Zigeuner [35] im Arm gelegen und ohne Rückblicken den Geigenklängen der Nacht sich willenlos hingegeben.

Aber sie war ebenso plötzlich geflohen.

Der Zigeunerjüngling hatte sie unversehens hart um den Leib gegriffen, sie an sich gerissen und sie sinnlos zu liebkosen und ins Gesicht hinein zu küssen gewagt. Da war es wie eine Furie hinter ihr aufgesprungen, daß sie besinnungslos lief und lief, nicht mehr hinter sich sehend, und daß sie atemlos und gescheucht auch schon vor der Haustür stand, den Schlüssel im Schlosse zitternd umdrehend, und als wenn sie im nächsten Augenblicke zusammensinken und sterben gemußt.

Aber da draußen spielte Pavo noch immer seine schmelzende Weise. Die alte Zigeunermutter wiegte ihre breiten Hüften und schlug die Hände. Wie eine Grimasse hielt das Lächeln alle Gesichter. Auch auf dem Gesicht der jungen Zigeunerfrau lag ein weiches Schmerzlachen, und Franziska glühte und kreischte, indem sie den tollen Einhart mit sich herumriß.

Einhart erwachte erst, als er sich endlich nach Rosa einmal umgesehen und entdeckt hatte, daß sie nicht mehr unter den fahlen Nachtgesichtern zu finden [36] war. Der Mond ging eben am Horizonte zur Rüste. Einhart lief nach Hause, die einsamen Straßen hastend entlang und stahl sich über die Mauer des Hofes und durch die verlassene Hintertür in seine Dachkammer. Aber weil Herr Selle selbst auch spät heimgekommen und deshalb nicht am Frühstückstisch der Familie erschien, war das Geheimnis dieser Nacht verborgen geblieben und blieb einstweilen ohne Folgen für Einhart.

5.
[37] 5

Die Realschule der Stadt lag an einem im Mittel gebreiteten Geschäftsplatze. Ein dreistöckiges, rotes Gebäude, drohte sie mit mächtiger, langweiliger, fensterreicher Fassade, wenn Einhart, seinen bücherquellenden Tornister schief auf die Hüfte gestemmt, um die Ecke des kleinen Nebenweges von der Promenade her einbog. Drohen oder auch locken kann man sagen. Weil alle Dinge in der Welt, in der Einhart lebte, für ihn solchen Doppelsinn hatten. Diese breite, gespreizte, rote Hauswand machte ihn manchmal gerade so ferne lachen, als wie sein strähnhaariges, gelbgraues Gesicht ein plötzliches Lächeln nicht unterdrücken konnte, wenn der Herr Geheimrat mit ganzer Würde und Positur und mit allerlei ergründenden Abwandlungen ihm streng mahnend dieselbe Schlußzeile durch die Ohren zog wie den Putzer durch den Zylinder: »Werde etwas Tüchtiges! – Der Mensch muß etwas Tüchtiges sein! – Jeder muß ein würdiges Mitglied der Menschengesellschaft werden! – Werde meinethalben Schuster oder Schneider. Das fände ich zwar nicht übermäßig ehrend in der Stellung, die ich erklommen. Aber trotzdem! – Nur werde etwas [38] Tüchtiges! In jedem Amte und Berufe kann man seine Tüchtigkeit zeigen. Und das macht den Mann.«

Einhart mußte dann, wie gesagt, oft unversehens lächeln. Es kam ihm plötzlich manchmal der alte Herr mit dem vollen, grauen Schnurrbart und dem strengbewegten Munde, mit der befehlenden Geste, die sofort in die ganze Steifheit des gehaltenen Ernstes zurücksank, wenn er im ratlosen Gefühle auf dem weichen Teppich auf- und abwogte, derart liebevoll komisch und Mitleid erregend vor, das, was der Vater würdiges Mitglied der Menschengesellschaft und ehrend nannte, so ungreifbar ferne und matt und grau, daß Einhart in seinem plötzlichen Zwang, womöglich rund hinauszulachen mit Zärtlichkeit, eine vollkommene Einfalt in seine Züge bekam, und Herr Selle dann jedesmal dachte, daß er es mit einem unheilbaren Toren zu tun hätte.

Einhart stand dann oft ewig wie angewurzelt. Er drehte ohn' Unterlaß an seinem Jackenzipfel herum. Das gutmütige Schalkslachen drückte die dunklen Brandaugen klein und gab ihnen eine seltsame Verschlagenheit, die sich den Tag über kaum noch löste. Daß auch Frau Selle selbst, wenn sie ihn endlich [39] sanft weckte, sich flüchtig ärgern konnte über den schlauen Ausdruck, der durchaus nicht nach Reue aussah, nur mehr nach toller Laune, die unter der einfältigen Armensündergrimasse aufflammen gewollt und doch nur heimlich umgegangen war. Das machte Kopf und Auge und Ohr und das Blut und die Muskeln und die Nerven, die Einhart hießen. Zucken und Jucken tat manchmal das alles, gleichwie über sich selber hinwegzuspringen. Die Augen zudem, wenn sie sich schlossen, sanken sehend in Purpurfelder. Und in den Ohren klangen lustige Sprüche und Pfiffe. Nun gar jetzt, wo er dem flämischen Breitmaul Schule entgegenging und in die großen hundert Augen, in die Fenster, seine lustigen Blicke flüchtig hinaufwarf.

Eben war man im Begriff, die Fenster allenthalben oben und unten zu schließen, weil Einhart, wie immer, im letzten Augenblick um die Ecke stob. Im ersten Stockwerk hockte ein blonder, großer Bengel im Fenster, der sich weit hinausbog und ihm winkte und zuschrie. Man sah auch, daß sich der Blonde wohllaunig in die Klasse zurückgewendet, und hatte ein Hallo verklingen hören, als sich das Fenster vollends schloß.

[40] Einhart war immer prickelnd erwartet. Ein rechter Faxenmacher unter den durcheinander lümmelnden Knabengesichtern, und wie ein Strohhalm manchmal, der im Winde herumhupft. In der Klasse konnte man ohne ihn mit den Freipausen nicht fertig werden. Wenn er am Türpfosten nach dem Korridor lehnte, hatte er gleich allerlei Zuhörer. Er erzählte die widersinnigsten Späße in wirren Märchenformen, wo er Väter und Alte in Bären oder Steine, und Kinder in weise Könige verwandelte durch Zaubermittel, und sich selber einen Narren nannte, dem alles in der Welt auf den Kopf gestellt deuchte.

Einmal benahm er sich auch, als wenn er sich als ein richtiger Affe fühlte, langgliedrig und behende zugleich, so daß er seinen Schulgenossen dann ein ewiges Schauspiel Eines gab, der zum Klettern geboren wäre, allenthalben in hockender Stellung auf Fensterbrettern, Katheder oder gar Ofen saß und ihnen derart allerlei lockende Dinge von Urwäldern und Wanderungen an Schlingpflanzen und in den höchsten Wipfelräumen nachahmte. Dazu immer erzählend: »Etwas Tüchtiges! Nur etwas Tüchtiges!« sagte er dann. »Und wenn es ein Affe im Urwald ist, nur etwas Tüchtiges, das macht [41] den Mann!« Eine Korona Knaben sah nur schon seine pfiffigen Mienen und lachte. Einige der bedächtigeren Schüler gaben nur seine Worte weiter und erlustigten sich an seinen Einfällen. Und alle wußten, daß er daheim ganz und gar nichts lernte, und lachten schon heimlich in dem Gefühle, wie dieser dunkle Fuchs dann vor dem langen, scharfen und schneidenden Ordinarius würde in lächelnde Einfalt einsinken, als ob er schon nicht mehr wüßte, was ein weißes Schneeglöckchen im Frühling wäre oder die hellerlichte Sonne? Aber es war doch auch des Geheimrates Sohn, eines Mannes, der bedeutende Karriere gemacht und sicherlich noch weiter zu Ehren aufging. Im Grunde saß man in der ganzen Lehrerschaft wie auf Kohlen. Nur gut, daß Einhart in der äußerlichen Körperlichkeit nicht zu sehr aus seiner Klasse herausgewachsen. Alle seine Mitschüler waren um Jahre jünger als er. Er hätte müssen wenigstens in Sekunda sein, und man erwartete jetzt nur vergeblich, ihn der Tertia einzuverleiben. Die Lehrer wünschten es dringend. Der Direktor war Herrn Selles Freund. Er erkundigte sich oft bei den Lehrern nach Einhart. Aber es war durchaus nie etwas anderes zu hören, [42] als daß sie es mit einer unverbesserlichen Art Gaukelei und Trägheit, mit einer Verschlagenheit und Sanftheit gleichermaßen, die man gar nicht zu qualifizieren wußte, hier zu tun hätte.

Der Geheimrat hatte es schon erfahren, daß man auch jetzt noch wieder an eine Versetzung nicht recht glauben konnte. Er hatte sich sogar alles schon zurechtgelegt: »Wenn es jetzt nicht wird, kommt er in die Lehre. Dienen wird er nicht brauchen bei seiner Schwächlichkeit. Nun also! Da mag ihn ein strenger Handwerksmeister erziehen, wenn es in gebildeten Formen nicht gelingt,« hatte Herr Selle schon überlegt. Die Stimmung daheim war in diesen ganzen Wochen, solange Herr Geheimrat im Hause war, nicht übermäßig launig gewesen. Aber daß es so bunt kommen müßte, wie es jetzt kam, wäre niemand, weder dem Herrn Vater, noch den Lehrern je in die begriffsverblichenen, matten Sinne eingefahren.

Schon als Einhart heute in die Schule kam, hatte er etwas an sich, das die Mitschüler nicht kannten. Er sah durchaus nicht einfältig aus. Er sah aus, als wenn er aus einem langen Schlafe unversehens munter geworden. »Laßt mich in Ruh [43] mit Albernheiten!« sagte er nur bestimmt, und seine Augen hatten ein strenges Feuer. In diesem Moment hätte man geradezu an den Blick des Geheimrats denken können. Obwohl aus dessen Blicken nie Zigeunertänze und schwüler Taumel auf Mondwiesen im heimlichen Schauen aufgeblitzt. Einhart war außerdem, als er kam, außermaßen bleichgelb, richtig verzehrt.

In der Stunde, die der alte Mädchenschulrektor, der hier am Gymnasium Schreibunterricht gab, leitete, sank Einhart tief in Schlaf und sank seinem Nebenmanne, der ihn nur jedesmal lächerlich ein wenig puffte, immer wieder auf die Schulter. Der alte Walk achtete nicht genau und mochte auch keine Prozeduren. Manchmal schlief er selber auf dem Katheder ein, wenn alle fünfzig Federn leise kritzelten. Er sagte dann auch gutmütig und zu eigner und andrer Entschuldigung: »Wie es so geht manchmal im Leben, jeder ist nicht immer zu jedem aufgelegt!« So schlief mancher noch mit.

Auch Einhart schlief also heute. Aber seltsam auch, daß sein Nebenmann lange auf sein bleiches, sanftgewordenes Gesicht sehen und wie ein fernes Entzücken mit diesen schmalen, bleichen Zügen empfinden[44] mußte. Wie ein ferner, froher Traum lag drin. Eine liebliche Miene, ein Lachen, stumm und versunken, unter dunkelrandigen, geschlossenen Lidern.

Aber wie Einhart erwachte, versuchte er geschäftig zu blicken und kümmerte sich nicht um die Augen, die ihn rings komisch suchten. Eine fiebernde Unzufriedenheit regte sich in ihm. Schreiben jetzt war ihm unmöglich. Er malte Schnörkel auf die weiße Fläche, die er vor sich hatte, ohne Sinn. Aber dann drehte er den Bogen, daß der Nachbar gleich neugierig mit auf sein Blatt sah. Es war tiefe Stille in der Klassenstube, daß man nur manchmal ein einzelnes Aufatmen hörte in die Versunkenheit vor den kleinen, aus den Federn fließenden Tintenkringeln. Aber Einhart schrieb nicht. Er begann Gesichter mit Zottelhaaren hinzuzeichnen, einen ganzen, tollen Reigen, wilde, nackte Gestalten, daß der kleine Nebenmann, der ein blonder, sanfter Knabe war, wegsah und ein wenig errötete wider Willen. Einhart zeichnete mit schmutzigen Händen. Er war in die Schule gelaufen, noch ohne sich anders, als nur auf der Mutter Geheiß, eine reinliche Jacke anzuziehen. Durch die Haare war er [45] sich ein paarmal mit den Fingern gefahren. Und er kümmerte sich um nichts, was vorging.

Auch wie der Rektor dann eine lange, moralische Rede über die Schrift begann. »Daß man aus der Schrift die Seele des Menschen ablesen könnte,« meinte er, »wäre eine Fabel. Aber ein gesitteter Mensch könnte sich doch schon in der Reinlichkeit des Papiers bekunden, in der Ordnung der Zeilen, in der Klarheit der Schriftzüge. Die Achtung vor den Gesetzen und dem Herkommen zeigte sich in der Schrift nicht minder. Deshalb lehrte man die Schrift. Nicht, daß man da Sonderbarkeiten recht ausprägte, so unleserlich schriebe wie möglich. Derartiges gefiele nur eitlen Narren. Einer wie der andere müsse es aussehen. Darum nenne man das eine Schreibstunde. Und ich bin euer Schreiblehrer.« Er schrieb selbst wie gestochen, und man konnte wirklich nicht wissen, ob er oder ein Rektor in einer Seestadt oder ein Schulmeister in Kospeda es geschrieben. Einhart hörte nur mit halbem Lächeln hin und dachte an das schmutzige Gesindel auf dem Plane, daß der alte, schwerfällige Walk auf ihn sah und ihn fragte: »Nun, Herr Selle, warum so lächerlich?«

[46] »Ich freue mich über Ihre Lehren,« sagte Einhart ganz wie nebenbei, daß ein tolles Gelächter ausbrach, und der Rektor gleich mit sanfter Gebärde stillen wollte. »Nur ruhig! – nur ruhig!« sagte er selber halblaut und erschrocken, weil es der Direktor leicht hören konnte. »Selle weiß immer eine gute Antwort,« sagte er dann versöhnlich, ein wenig eitel. Dabei hielt er die Hand mit dem Lineal wie einen Palmenzweig des Friedens ausgestreckt vom Katheder, damit höchstens noch ein kleines Aufwallungslachen folgen konnte, das seiner Seele wohltat.

Aber dann, als die Schuluhr schrill die Stunde geschlagen, und Walk umständlich hinaus war, überkam es Einhart, daß er eilig aufs Katheder stieg, ins Klassenbuch sah, um welche Stunden es sich noch handelte, und dann plötzlich ein tiefleidendes Gesicht schnitt. »Laßt mich in Ruh,« sagte er. »Ich habe wahnsinniges Zahnweh. Ich kann es bei Gott nicht lange so aushalten.« Er saß in der Bank und begann sich richtig zu krümmen wie ein Wurm. Viele lachten noch immer. Andere dachten schon an Ernst. Jedenfalls machte Einharts Miene durchaus Eindruck.

[47] Der strenge Ordinarius, der die nächste Stunde gab, hatte sich beim Eintreten gar nicht umgesehen. Er begann mit dem Abhören der unregelmäßigen Verben. Dabei sah er wie zufällig, daß Einhart noch immer halb umgesunken in der Bank saß, und alle Blicke sich immer wieder dahin richteten.

»Was ist denn da los? Das ist wohl Selle? ... Selle! ... nun? was ist denn los?« Einhart antwortete noch immer nicht. Einige riefen: »Er ist krank.« Andere: »Er hat furchtbare Schmerzen.«

»Selle!« sagte der scharfe, schneidende Ton in einiger Weichheit mahnend. »Hast du mich gehört, Selle? was ist dir denn nun? du kannst doch so nicht sitzen,« sagte der gestrenge Herr fast schnarrend. »Entweder du bist fähig, dich aufrecht zu halten, oder du mußt einfach dich scheren.« Einhart versuchte gehorsam, sich eine Weile emporzurichten. Aber dann begannen wie feine Schmerzlaute neu anzuheben aus ihm. Es schien wirklich schlimm.

»Wenn du derartige Gesichtsschmerzen hast, gehe nach Hause! Das ist ja nicht auszuhalten,« sagte der Ordinarius unwillig. Aber wie dann Selle aufrecht stand, die Sachen packte und zur Türe [48] ging, sah der Lehrer auch, wie bleich und verzehrt Einhart war.

»Nun, da wünsche ich dir nur, daß du die Schmerzen bald los wirst! Ich kenne das« ... sagte er in einer mitleidigen Anwandlung. »Das ist ja wirklich nicht sehr angenehm.« Und Einhart war draußen.

6.
[49] 6

Einhart war eilig über den Platz vor der Schule gelaufen, wo einige Droschkenkutscher an der Ecke hielten, die ihm nachsahen, weil er noch immer den Kranken spielte. Er hatte den Tornister unter den Arm gekniffen und drückte ein zerknülltes, rotes Tuch an die Backe, so daß die bleichgraue Miene seines Gesichtes noch auffälliger wurde. Es lag Sonne im Wege. Es war nach elf Uhr, und die hohen Häuser warfen nur kurze Schatten. Einhart war innerlich belustigt, wie noch nie im Leben. Wie er so dahineilte, überlegte er nur, wohin sich am besten gleich wenden? Er hastete, daß er ungleiche Schritte nahm, und man einige Augenblicke immer denken konnte, er hinke. Aber das innere Leben war wie außer Rand und Band sozusagen. Als er um das große Modenmagazin herum war, sah er sich noch einmal um, wie um zu prüfen. Er war ein schmächtiger, schlanker Bursche. Die braune Jacke, die er trug, sah anständiger aus, als gewöhnlich, und der Haarsträhn war jetzt doch unter dem flachen, schwarzen Hütchen verborgen, das schief auf dem Schlichthaar saß. Wer ihn jetzt sah, als er der Schule außer Sicht entronnen, hätte [50] über die Augen und über den Mund und die feine Nase lachen müssen. Als wenn er Übles gewittert und hinter sich gelassen, lief er jetzt. Das Taschentuch war längst zu einer roten Fahne in der Hand geworden, die er nun vorwärts schwang. Seine Augen konnten vor Lust gar nicht gerade sehen. Nach allen Seiten auf und um gingen sie und hatten eine Pfiffigkeit im Blicken. Der Mund hatte Eile, sich Hoffnungen vorzumurmeln, und er stieß mitten auf dem Exerzierplatz, über den er mit springenden Schritten hupfte, einen grellen Pfiff aus, ehe er in die Promenade einbog. Er dachte gar nicht zurück. Oder wenn er zurückdachte mit zärtlicher Laune. »O du einziger, guter, dummer, scharfsichtiger Herr Oberlehrer, du dummes, einfältiges Vieh!« sagte er und lachte er. »Der junge Herr Selle sollte mir schon kommen! du ... ach, daß du auch gar nicht merktest, was diesem Herrn jetzt durch den Kopf ging!« Und nun stand er wieder. »Dieser verfluchte Ranzen!« sagte er vor sich hin. Er nahm seinen flachen Rundhut ab und warf den Ranzen samt dem Hute auf die Erde. Dann überlegte er und sah sich die ganze Welt ringsum und oben an. Eine Linde stand neben ihm, an der [51] er nur bis zur Krone sah, und an deren Stamme Ameisen krochen. Das machte einen Augenblick ganz sich vergessen. »Weißt du nur, warum die Leute noch sitzen und in die Bänke sich zwängen? – Du nettes Tierdel! da ... komm ... nur ... einmal ... und bleibe bei mir« , sagte er zu einer Ameise und versuchte sie auf der Hand zu halten, die er drehte. Aber die Ameise merkte den Raubtierhauch der Menschenhand und warf sich kopfüber in einen Abgrund unter ihr, und Einharts Gedanken flogen sofort auch weiter. »Da ... ist ein Versteck für dich,« sprach er den Ranzen an, den er schon aufgenommen, indem er auch sogleich weitersprang.

Am Wassergraben wußte er von der Eisbahn her ein Loch in der Mauer, das immer leer war. Dort hing eine volle Weide über, die sich jetzt wunderklar im Wasser spiegelte. Es lockte ihn, daß er auch hier über das eiserne Gitter lange sich bog, als wenn es ein Spiel für ihn gewesen wäre. Er sah auf den dunkelklaren Schattenspiegel und verfolgte, als wie ein Käfer, der an jedem Ästchen emporkriecht, die ganze, dunkle Verzweigung. Dann warf er erst Blättchen um Blättchen hinein, die immer in Kreisen spannen und das klare, scharfruhende, [52] stumme Baumgeäst wie einen Augenblick in ein trübes, feines, rinnendes Bewegen lösten.

Einhart! mein lieber Tagedieb! was staunst du und kannst nun alles andere vergessen! Ein Blättchen nach dem andern fiel. Und Einharts Gesicht spannte und lächelte. Dann sprang er über die Eisengitter und schob rasch seinen Tornister in das Erdloch, sprang zurück und lief nun leicht in der Richtung nach dem See.

Träumen ist eine Seligkeit und kann auch eine Krankheit sein. Träumen kann mit ewigem Enttäuschen kommen, wenn immer wieder eine graue Megäre Wirklichkeit Ohren findet, die es hören und glauben, daß wir ja nicht träumen dürfen, sondern leben müssen. Aber es kann auch ein Harnisch sein gegen all die leeren, grauen Gedanken von dem Leben, als wäre es in Stücke gerissen, dort ein Deckel, und hier die Dose. Dann ist der Ritter eines mit seinem Harnisch, und kein schales Meinen kann ihm diese seine Welt zertrümmern, die nicht leben hier und träumen dort, die auch nur Eines ist, was immer heimlich oder offen aus der Seele sich hebt und lebt wie ein einiger Brunnen, Kraft und Klarheit so ins Dasein, Sinn und Gestalt [53] schaffend. Aber das wollten die Lehrer nicht anerkennen. Deshalb eilte jetzt Einhart hin.

Dem Herrn Geheimrat hätte er jetzt auch nicht begegnen dürfen. »Dieser geliebte, steife Herr Vater,« wie Einharts Augen ihn flüchtig lächelnd sahen. Wenn Herr Selle jetzt leibhaftig erschienen wäre, wäre Einhart eine Ratlosigkeit angekommen. Nicht aus Furcht. Eine vollkommene Demutsmiene ging in dem gelbgrauen Schmalgesichte des Jungen auf, als auch nur von ferne solcher Gedanke sich regte. Durchaus nicht aus Furcht. Aus hellem Verzweifeln. Da hätte er wirklich das Leben, das er jetzt innig in Einem lebte, plötzlich wieder zersprungen gesehen, dort in farblos fahles Gesetzesbestimmen und hier in seinen entfliehenden Glanz, dort nur mürrisch grau, strenggeteilt wie ein Rübenbeet, für jeden Tag gerade nur immer eine erdige Wurzel. Und hier noch die Sonne, die über die ersten, seidigen Keime ihr Gold und ihr warmes Flimmern gegeben, und die sich nun forthebt, wie von einer kalten Husche staubigen Fegewindes verjagt. Aber Herr Selle kam nicht auf dem Wege. Er saß im Bureau und schrieb und verfügte. Und die Herren Lehrer blickten streng in die Bücher vor sich, daß nur noch [54] Einharts Mitschüler eine ferne Ahnung besaßen von lockenden Dingen draußen, die Einhart hinausgerufen.

Übrigens hatte Einhart eine ernstere Haltung angenommen. Eine Anwandlung von Würde schien ihn jetzt zu beherrschen. Nun er lose hintrieb, frei von der Last der Erinnerung, schien er ein sicheres, männliches Wesen sein zu wollen. Als er um die Straße beim Postgebäude hinschritt, sah er Mutter und die beiden ältesten Schwestern ahnungslos vornehm heranschreiten. Er konnte von einer unbegreiflichen Torheit sein. Die augenblickliche Lust machte ihn derart sorglos zuerst, daß er noch immer ruhig auf sie zuschritt. Wie er der Ameise am Baume oder auf seiner Hand nachgesonnen. Wie er seinen tastenden Blick von dem Geäst im Wasser führen ließ und nicht anders konnte, als bis er in jeden Zweig hineingeglitten und in jedem Blattbüschel gesessen und extra seinen Traum geträumt, wie ein Vogel oder eine Biene, so schritt er jetzt auf Mutter zu und sah und staunte innig vergnügt Johannas und Katharinas gemessenes Schreiten an, sich lächelnd in ihre Sittsamkeit einträumend. »Feine Damen,« dachte er nur. »Das sind feine [55] Damen und sind deine Damen,« lachte er vor sich hin. Er hatte oft einen Zwang derart, daß er Dummes reimte. »Diese Damen sind in Hülsen eingeschnürt, und ich werde einfach an ihnen vorüberschreiten« dachte er nur. »So wie ich bin, werden sie mich gar nicht erkennen. Ich bin ja jetzt nur ein Zigeuner,« dachte er so hin. »Ein toller Zigeuner entpuppt sich nicht. Und wenn ihn Damen auch ansehen, als kennten sie ihn. Pah! Das ganze, braune Gesindel wird um die hellen, feinen Damen herumschreien, und keine wird eine Ahnung haben, daß darunter auch einer Einhart heißt. Rabe wird er heißen, Habicht und dergleichen. Wie kämen solche feinen Damen in Schleier- und Federhüten, so groß wie Blätter vom Riesenlattig auch zu einem Zigeuner.« Unter solchem törichten Spiel von Gedanken in Einhart waren Frau Selle und die beiden großen Mädchen näher und näher herangekommen.

Aber die drei Damen gehörten jetzt auch wirklich nicht zu einem Zigeuner. Sie gingen vornehm, ohne sich umzusehen. Höchstens noch warf Johanna einen flüchtigen Blick einmal in eine Spiegelscheibe. Jeden Sonnenstrich auf der heißen [56] Straße überschritten sie ängstlich, nicht mit Freude, und eher wie eine Pfütze, in die man nicht hineintritt. Und hielten die Schirme steif aufrecht und die Blicke streng in die Ferne, ohne untereinander ein Wort zu sprechen.

Da schoß es in Einhart neu auf wie ein richtiger Koboldsprung. »Feierliche, dumme Puten,« dachte er nur verächtlich. »Wie auf Stelzen! Und nur Rosa hat Mut. Und auch Rosa ist feige heimgelaufen. Auch sie würde jetzt nicht mehr Kraft haben.« So bog er entschlossen in ein erstes, bestes Haus ein, noch ehe die Mutter und die beiden lichtgewandeten Fräulein sich recht ermannt und ihre von der heißen Junimittagsonne geblendeten Augen zu ihm aufgehoben. Und er lief dann, wie sie schweigend und rauschend an dem schmalen Türspalt, hinter dem er lauerte, vorüber waren, was er konnte dem Plane am See zu.

7.
[57] 7

Die Mittagssonne brannte auf den Plan. Ein paar hohe Pappeln gaben scharfe Schattenstümpfe gegen das Wasser. Der Seespiegel lag träge und schwül. Die ältere, kirschenäugige Zigeunermutter hantierte im Wagen. Die junge Frau noch mit demselben blauen Leinenkittel hing in der beschatteten Wagenkelle und schlief über dem Kinde, den Brustknopf offen, daß das Fleisch heraussah. Die beiden braunen, lumpigen Dirnen lagen an der Böschung unter Weidenschatten und hatten sich umschlungen. Einhart sah sich nach den Männern um. Sie waren nicht sichtbar. Dann, wie er näher trat und scheu äugte, fast nun auf Zehen tretend, um die schwüle Ruhe nicht zu stören, sah er, daß einer im zweiten Wagen über Lumpen ausgestreckt sich dehnte, den Blick aufwärts in die Wagenplane. Ein paar kleinere Kinder regten sich daneben. Die Pferde schliefen und die angepflöckten Ziegen schliefen. Dann sah er draußen im Weizenfelde über den im Lichte schwimmenden Sonnenhalmen den dunklen Kopf Pavos heraufragen. Den Hutrand im Nacken mußte Pavo dort etwas tun, wie die Katze vor einem Mauseloch. Er starrte [58] unverwandt auf die Erde nieder und rührte sich nicht.

Einhart war es ein wenig unangenehm. Die Lage der Dinge war am Abend vorher eine ganz andere gewesen. Es schien ihm jetzt eine unglaubliche Verwandlung. Als wenn auch hier niemand mehr den andern kennte und sich an nichts aus jenem vorigen Leben erinnerte. Es war eine ganz andere Welt. Er mußte an sich herabblicken und fürchtete fast, daß man vor ihm erschrecken würde. Er lief, nachdem er erst von ferne noch eine Weile zugesehen, jetzt doch wie absichtslos vorwärts. »Ich komme einfach zufällig hier an den See«, dachte er vor sich hin. So ging er zwischen den Wägen hindurch. Aber erschrecken tat niemand. Die alte Zigeunermutter sah sich nicht mit einem Blicke um. Der Zigeuner im Wagen erhob mit lässiger Bewegung nur ein wenig seinen Kopf, ohne mehr als die beiden Hände dann in den Nacken zu legen und gleich zurückzusinken mit geschlossenen, schweren Augen.

Einhart hatte den Hut in der Hand. Er hatte zu grüßen versucht. Aber keiner der Menschen hier, dem es eingefallen, seinen Gruß zu erwidern. Als wenn auch hier wieder alles gebunden wäre [59] von der Sonne und der Ruhe, und nur noch die Insekten auf dem Wasserspiegel ewig wippten und tanzten.

Übrigens ließ auch eine der Dirnen jetzt ihr eines Bein eine Weile sich in die Luft stellen und dann neu nieder fallen unter den Weidenbusch. Sie lag auf dem Bauche. Die andre Dirne hatte noch in deren Schatten sich gestreckt und ihr den ungekämmten Haarschwall ganz über den Rücken geworfen. Einhart konnte ein kaltes Staunen gar nicht loswerden. Wie er vom Wasserrande, von wo er immer nur wieder zu ihnen hingesehen, endlich näher an den Weidenhang trat, sah ihn auch die Dirne mit blinzelnden Augen an, die sich nur einen feinen Spalt öffneten. Ein verächtliches Lachen ging durch der Jungen achtlose Züge. »Ob sie mich denn nicht erkennen?« dachte Einhart. »Freche Dirnen die, was soll das heißen?« dachte er. Aber Lisa und Franziska dachten nicht daran, daß ein Abend gewesen, wo sie im Tanze mit Einhart gekreischt hatten und im Wirbel hingeflogen. Dachten nicht daran, daß es einen neuen Abend gäbe, wenn die Sonne erst in die ferne Welt hinabsank, einen neuen Abend und neue oder einstige [60] Gefühle, als die der süßen Traumschwere und des glühenden, schwebenden, flimmernden, unentrinnbaren Junimittagssonnennichts unter schattenkühlen Weiden. »Pa–a–a–a,« sagte Franziska nur wie gehässig, als Einhart näher gekommen. Und Einhart sah nur immer, wie das nackte Bein, eins ums andre sich in die Luft hob und fiel in lässigem Takte, und hörte, wie wenn ein Lied in dem ganzen lumpenarmen, schlanken Leibe verächtlich hinsummte.

Er hatte ewig gestanden. Er hatte es um sich wie ein Gewebe von feinen Fäden allmählich, die ihn einwoben. Wie er so hinträumte, daß eine Spinne eine Fliege einfange, um sie zu töten. Er mußte jetzt lächelnd auch an den grausigen Laokoon denken, der daheim unter mancherlei Kleinkram irgendwo auf einem Schranke stand, und der ihm immer ein wenig mißfallen, weil er sich so laut und aufdringlich, so klagend nur im Kampfe mit den Schlangen gebärdet. So etwas kann man nicht mit Klage und Mundverziehen lösen, mußte er jetzt wieder flüchtig denken. Wie er sich einen Sprung weiter ebenfalls unter ein Weidengebüsch niederließ, weil die beiden Zigeunerdirnen die verächtlichen [61] Augen längst vollends geschlossen hatten, ohne ihn noch groß anzusehen, gingen die Schlangenbilder wieder nur in der sanften Gebundenheit unter.

Es waren wirklich schwüle Zwänge, langsam. Wie eine Fliege im Netz däuchte es neu. Das kam auch, weil seine blinzelnden Augen, die immer noch einmal sehnsüchtig über die grünen Grashalme hin nach den jungen Körpern und den wippenden Beinen sahen, über tausend blinke Fäden nun wirklich blickten, die auch im Blattwerk und unter den Ästen des Weidenbusches hingen und überall zitterten. Die rauhe, junge Stimme der einen Dirne sang und summte ohn Unterlaß verächtlich vor sich hin. Man hörte keine Worte, lange. Nur das dumpfe Gesumm. Ein Fisch schnalzte im Wasser. Einhart sah, daß am Ufer die Wellen sich in feinen Linien belebten. Ein großer Karpfen versuchte ein paarmal ins Licht zu springen. Und von unter Wasser her schienen die Rückenflossen in Phalanx geordnet und vorwärts ziehend sich in die Oberfläche des Spiegels sanft einzuritzen. Goldene Stäubchen und Flitter rieselten und rannen in seltsamen Kreisen und Garben unaufhörlich lautlos hin. [62] Die leiseste Bewegung gab ein ewiges Erzittern. Wer begreift das schweigende Lichtleben, der es geblendet so hinträumt. Es war nur Wonne und Frieden. Die trägen Dirnen lagen und schliefen. Immer klang nur die feine, schwermütige, rauhe Weise, die hinpsalmodierte. Worte waren es nicht. Einhart hatte die Augen geschlossen. Zuerst geblendet, dann im Einsinken. Aber er lauschte tief auf den Sinn. Er hörte jetzt noch feiner. Er lag gar nicht mehr er, nur eine müde, süße, schlaftrunkene, rauhe Weise. Auch die Flüsterlaute vom See waren ganz scharf hörbar geworden. Die Wellen schienen sich zuzulächeln. Die Fische begannen in Einharts Augen zu spielen und einen Zirkus zu machen im Sommerwasser. Der große Karpfen, der Akrobat, hatte eine Korona von Fischaugen um sich. Alle sahen ihm zu. Er war einfach viele Meter in die Luft gesprungen. Und wie sie alle, die Fische, mit ihren Leibern aneinander schnellten und schlugen und lachten wie von metallenen Becken! Und immer klang auch der rauhe, träge Sang, und immer fiel jetzt das nackte Bein nieder, eintönig genau, in die weichen Gräser. Auch die Worte formten sich jetzt:


[63]
Die Sonne blinkt.
Die Stille klingt.
Was geht's mich an?
Die Sonne blinkt,
und mein totes Herz
kaum träumen kann – –
kaum träumen kann.
Geh fort, du Tor!
Ein Bienlein zuckt.
Was Hab ich dir getan?
Die Sonne blinkt.
Mein Herz ist tot – oder schläft's?
Was geht's mich an?

Franziska hatte die Worte wirklich gesungen. Und Einhart war fest und immer fester eingeschlafen. Und er erwachte nicht. Erst am Abend hatte er ein lautes Geplätscher in seinem Traum gehört und wie ein freches Hohnlachen. Aber er hatte es lange nicht erklären können. Er hatte im Traume vor seinem Vater gestanden. Und sah, wie er die Augen endlich auftat, noch immer nicht die Welt, nur das Wasser im Abendglühlicht und den glühen Himmel. Aber dann erkannte er doch gleich, daß er allein war und der Plan völlig leer.

8.
[64] 8

Einhart lag noch immer an der Böschung am See neben ein paar Weidenbüschen, die jetzt blendend durchglüht waren, daß sie in rätselhafter Körperlichkeit aufragten. Er begriff nicht, wie er alles hatte verschlafen können. Der Plan war tatsächlich leer. Das Lachen, das ihn geweckt hatte, mußte draußen vom See gekommen sein. Ein Kahn in samtschwarzer Silhouette schwamm in dem Funkelgewässer, in den blutroten Tinten und düsteren Schattenflecken oft fast unkenntlich aufgelöst, daß der Blick ihn eine Weile geblendet nicht ausfand.

Die Zigeuner waren fort.

Einhart war in einer seltsam schmerzlichen Erregung, die ihn wie im Bann an der Erde hielt. Bis er endlich auf die Beine gesprungen. Er sah sich nach allen Seiten um. Der Plan war tieferglühend, wie von innen, auch alle die alten Reste Stroh und Lumpen, die noch herumlagen. Aber es war totenstill. Einhart hatte seinen Hut im Schlafe vom Kopfe gestoßen, und er sah ihn jetzt nur ein wenig tiefer am Ufer liegen. »Mein Gott,« sagte er vor sich in. Er war zuerst richtig kummervoll. Alles, was er erträumt hatte, ging ihm noch einmal im Auge [65] vorüber wie ein ganzer, langer Festzug. Er hatte den Hut aufgenommen, in dem Ameisen herumkrochen, und begann ihn, den Blick in die Weite gerichtet und in sich sinnend, achtlos auszustöbern. Dann fühlte er auch, daß er sein Frühstücksbrot noch in der Jackentasche mit sich trug. Nun also konnte er ins Unbestimmte vorwärtsgehen. Daß er eine Heimat und Eltern hatte, kam ihm jetzt nicht mehr in den Sinn. »Da hinaus!« dachte er nur, indem er der Chaussee zulief.

Er hatte gleich wie eine Witterung. Das Frühstücksbrot vom Morgen hatte er aufgeklappt und flüchtig gesehen, daß ein Stück Käse dazwischen lag. Aber er nahm sich nicht die Zeit, zu essen. Ein alter Bauersmann im Rundhut kam die Straße her, als Einhart versuchte, im Erlengesträuch am Wege einen Wanderstecken abzureißen. »Ach, entschuldigen Sie!« rief er dem Bauern zu. »Wissen Sie vielleicht?« Aber der Bauer hielt sich gar nicht daran. Er lief weiter, als wenn kein Laut an sein Ohr gedrungen. Dann sah Einhart deutlich die Spuren, wohin vom Plan aus die Wagen der Zigeuner sich gewandt hatten. So lief er.

In Einhart war mit dem Hantieren schon in [66] den Erlenbüschen ein fröhliches Erregen aufgewacht.

»Vielleicht wird die Horde überhaupt noch nicht lange wieder auf dem Wanderwege sein,« dachte er nur.

»Sie sind sicherlich erst in der Abendkühle aufgebrochen,« dachte er bei sich und nahm immer bestimmtere Schritte.

Einharts Schreiten war wie das jedes Menschen eine Besonderheit. Wer viel träumt, lebt viel in sich tief geborgen und abgekehrt. Die Beine gewöhnen sich dann so lässig und gerade nur zum Halte hinzupendeln. Auch wenn da einmal Sehnsucht und brennender Vorwärtsdrang aufflammt und sie zu treiben beginnt. Wünsche und Triebe, die alle hinaus sich wenden, verlieren nicht lange doch wieder in neuen Visionen alle Macht, und die Beine beginnen bald ihr altes Spiel. So war es auch hier, daß Einhart durchaus nicht schnell und eilig vorwärtskam. Außerdem lagen die Felder fast im Dämmergold, weil der Abend erblichen. Die roten Mohnblumen glühten noch für sich heraus wie heiße Flammen, und der Frieden der Welt summte in Mücken und allerlei grauem Getier um seine Wege.

[67] So wiegte und schwankte er nur lässig unter den niedrigen Kirschenästen hin, ohne daß groß mehr als eine drollige Wißbegierde aus Sinn und Augen in die Dunkel der Ferne dann und wann voraussprang, und eine Freiheit und unerkanntes Erschauern ihn im Blute erfüllte. Aber er kam doch vorwärts. Die niedrigen Birn- und Kirschbäume an der Chaussee begannen ihren glühenden Schein an Stamm und Blattwerk ganz zu vergessen und kühl auszusehen. Es gingen wie leise Geflüster hindurch und strichen wie weiche Genien die fernen Felder. So von Schemen umhaucht und hingezogen im friedsamen Dämmerluftkreis, gingen die Stunden wie Minuten ungehört und wie in vollem Traume.

Daß es längst Nacht geworden. Daß er endlich in der tiefen, einsamen Nachtstille fern den Dunkelwald sah, der unter einem bleichenden Mitternachtschein ragte.

Daß er Feuer am Waldsaum aufflammen sah und Gestalten im Schattenkreise sich bewegen.

Einhart weckte fast plötzlich ein Schreckgefühl. Er begriff einen Augenblick jetzt seine ganze Lage. Er war erst jetzt einmal wieder noch ganz der Einhart Selle, [68] des Herrn Geheimrat Selle Sohn. Außerdem dachte er flüchtig liebend an die Mutter und an Rosa. Er war stehengeblieben und zögerte, indem er jetzt auch in die Welt oben sah und mit dem Blick in den Sternen hing. »Ach, diese Welt!« dachte er und staunte er, und ging ihm tröstend durch den Sinn, flüchtig froh, so daß Vater und Mutter und Rosa gleich auch wieder mit versunken waren. Daß er dann sich sehr ruhig am Chausseegraben niederließ, jetzt sein Brot gelassen aus der Tasche nahm und hineinbiß. Seine Gedanken sprangen jetzt an allen Helligkeiten der Nachtwelt um wie belebt. Schon wie diese Kornfelder bis zum Walde hin bleich aussahen, wogende, blaßgoldne Vließe. Stets hatte er in seinen Träumen auch immer wie ein Skizzenbuch vor sich. Jetzt in der Nacht konnte man natürlich nichts aufzeichnen, dachte er. Dann hatte er ja auch gar nichts bei sich dergleichen. Er mußte geradezu laut auflachen. »Ich würde sonst nicht zu ihnen finden, mich einfach verträumen, wie dort verschlafen! so ein Dummkopf wie ich!« dachte er vor sich hin.

Dann hörte er eine Stimme vom Walde her. Noch einmal. Der Frieden der Nacht trug sie [69] herüber. Das machte ihn heiter auffahren, daß er große Bissen aß, unterdessen er schon dem Walde zulief. Die Feuer waren nahe, wie gelbe Wunderblumen in dem blauen Tiefdunkel der nächtigen Waldschatten. Als wenn große Blütenblätter, nur aus Schein gewoben, hastig eilten und flüsterten, dann und wann goldne Funken himmelan wehend.

Einhart schlich am Waldsaume im Grase hin. Leise kam es von den träumenden Nachtwipfeln wie Atemzüge und fernes Verrauschen. Dann stand er ganz nahe und konnte den jungen, schönen Zigeuner betrachten, der gestern im Taumel der ärgste war. Hingelümmelt, in einem Strauchschatten halb geborgen und das Gesicht von Lichttupfen sanft überflackert, schien er vor sich zu träumen. Oder er hatte die Augen ganz zugetan?

Einhart traute sich nicht heran. Alle schienen zu schlafen. Ein schwarzer Topf hing über dem Feuer. Die Kinder waren wohl in den Wagen geblieben. Oder nein! – Einhart schlich, daß der Waldgrund kaum knisterte, näher. Man lag wie Dunkelflecken herum. Um die Ecke am zweiten Feuer lagen zwei Männer, die im Scheine mit Karten schlugen und nicht [70] sprachen, nur dann und wann murrten. Das Feuer brannte ihnen helle Farben an, daß die Köpfe aus der Dunkelnacht glüh herausragten, sinngebunden und achtlos.

Die beiden Zigeunerdirnen schritten behutsam aus einer Schattenecke. Oh! es war nur Franziska, die Ältere, und ihr Luftbild, das vom Feuerschein geweckt in den nächtigen Wiesennebeln mitging. »Du!« sagte sie ganz leise und zärtlich, »ach, du!« – »Nein – nein – nein!« sagte sie ganz verhalten, offenbar von dem Wunsche getrieben, dem rätselhaften Nachtgetümmel der Träume um Stamm und in den Kronen, in den Silberflächen der weiten Nachtfluren und Felder, in dem bleichblauen Sternengrund und dem schlafenden Lager rings nichts zu rauben. Und sie drängte Einhart ohne Hast, ganz kindlich gelaunt, tiefer in den Wald hinein.

Einhart begann das Herz lauter zu schlagen. Er hatte noch nie ein fremdes Mädchen so nahe gefühlt.

»Da mußt du nur nicht dich rühren!« sagte sie. »Ganz nur stille sein, du kleiner Herr!« sagte sie eilfertig und mußte lachen.

Aber niemand im weiten Walde hörte ihr Lachen,[71] als nur der Silberschein, der ihnen zu Füßen in das Nachtgras glitt.

Einhart sah das dunkle Mädchengesicht, das jetzt auch ganz silbern umflossen war, nahe vor sich. Er fühlte den weichen, schmiegsamen Leib ganz nahe, daß ihm das Herz bis zum Springen schlug, rätselhaft und froh. Die lachende Dirne hing an seinem Halse und preßte ihn. Sie küßte ihn leise auf den Mund. Sie atmete nicht. Wie zu einem unbegreiflichen Zauber sog sie sich lieblich und zärtlich nur immer fester und fester an seine Lippen. Einhart hatte nie begriffen, was küssen ist. Niemals hätte er seine Schwestern küssen mögen. Da hätte er einfach lachen gemußt. Er hatte höchstens einmal die Backe drollig hingehalten, wie wenn er rasiert werden sollte, daß dann Frau Selle der Backe einen Klaps und einen Kuß zusammen darauf gab. Nun erregte es ihn unglaublich froh, wie sich die kleine Lacherin inniger und inniger ansog. Es schmeckte wie Walderde und Harz. Und wie er stumm lächelte, sog auch er.

Daß er den Atem nicht atmete. Daß er das Leben nicht lebte. Daß die Stunden der Nacht ungehört und unbegreiflich gingen.

[72] Ein Geschrei störte sie. Einhart war, als die Lippen auseinander sich lösten, eine kleine Böschung er schreckt hinabgeglitten, gerade als der Schrei sich neu wiederholte. Das Mädchen sprang fort. Die Alte hatte nach ihr gerufen.

Dann lag Einhart einsam die Nacht in einem Leben und in einem Lieben ohne Ende, und flog in Träumen, und sah, wenn er die Augen rätselhaft auftat, die Sterne im Räume schweben und hörte nicht Menschenlaut rings, nur die Tannenkronen ziehen und leise raunen, und eine fremde Nachtstimme schrillen, gleich neu aufgesogen, weil ein Sturmstoß in den Wipfeln sich verfangen und wer weiß welchen Vogel geweckt hatte, der sich aufhob.

Am Waldrande verglühten die Feuer kaum noch in der Asche. Die Pferde lagen hingestreckt. Die Menschen lagen hingestreckt. Alles schlief.

9.
[73] 9

Einhart war nicht zur Salzsäule bestimmt. Zurückblicken war gar nicht seine Sache. Er war wie ein Kind vor reichen Tafeln. So lange er Augen und Sinne reichlich voll hatte all der schönen Dinge, wenn braune Zigeunermänner verächtlich und hart aus den Wagenkellen und unter den halberhobenen Planen der Wagen schreiend sich streiten, und die kleinen bissigen Pferde nach Fliegen oder sonst um sich schlagen, die halbnackten, verwahrlosten Weiber gleichgültig geschäftig und die lumpigen Dirnen sanft ohne Maß neben einem schlendern mit Ziegen am Stricke, da war Einhart heimlich zum Jauchzen sogar, zum in die Lüfte springen zu Mute, und er gab seiner Laune auch durch allerlei Drolligkeiten Ausdruck. Schon daß er noch viel toller wahrsagen konnte, wie die Dirnen, nicht nur aus den schwieligen, dünnen Händen, aus den Wärzchen am Halse, aus den knisternden Haarsträhnen, in denen Strohhalme hingen, und aus den langen Zehen von Lisa, die ihm wie feine Finger schienen, und aus dem Finken- und Starenflug über den Ebereschkronen der staubigen Landstraße, auf der sie Stunden schon hingezogen, [74] das amüsierte die Zigeunerkinder und scharte sie um ihn.

Und Einhart konnte nicht satt werden, sich umzublicken in die Lande, wo die reifenden Felder in Sonne gebreitet lagen, die fernen Kirchdörfer mit roten Dächern und Türmen und Kreuzen darauf im Baumwerk glänzten und leuchteten. Konnte nicht satt werden, dienstwillig einher zu eilen, wenn man am Straßenrande im Baumschatten ruhte, und es galt die struppigen Pferde zu tränken, Wasser herbeizuholen oder sonst Handreichungen zu tun.

Man hatte an einer Windmühle auf einsamer Höhe Rast gemacht. Der Wind hier oben hatte das Gefühl der Schwüle, das Einhart ein paarmal unterwegs wie flüchtig den Atem genommen, trotzdem sein Gesicht frisch und feucht und vergnügt immer vor sich hin gelächelt, längst genommen. Und es konnte für ihn jetzt nach getaner Arbeit nichts Schöneres geben, als so unter Glockenblumen und Schierling und allerlei gelbem Blühwerk hingestreckt liegen, während Käfer und Spinnen an Halmen herumkrochen, und die Sonnenstrahlen sich unter das kleine Grasgeräume stahlen, so alles nacheinander gespannt anzustaunen, auch den blaßblendenden [75] Himmel oben, und das faule, braunäugige Dirnenvolk mit seinen losen Heimlichkeiten daneben, die sich achtlos enthüllten.

Wie im Himmel kam sich Einhart vor. So hatte er sich das Leben gedacht, so und nicht anders. Durchaus nicht faul. Müde wurde man. Zu tun gab es genug unter dem Wandervolke. Auch Kinder und Dirnen hatten genug zu tun gehabt, ehe sie dem alten, weißen, geizigen Griesgram von Müller den Eimer Mehl abgebettelt, der jetzt von den Müttern zu Brei zusammengerührt und mit Kräutern verspeist werden sollte. Hier gab es doch wirklich einmal ein seliges, Einsaugen der Welt. Hier lag man einmal ohne allen Anspruch. Hier stampften die Pferdehufe eintönig in die tiefe Sommerstille, und auch die Männer, die aus den halberhobenen Planen den ganzen Weg hinausgeschrieen und sich zugelärmt, waren hier still und träge hingelagert. Und man genoß wirklich, wie wenn man die Welt unter den Füßen in erhabener Höhe lebte.

Einhart dachte jetzt auch, als er so dalag, daß das Geschrei und die Stimmen, die hart und unbarmherzig in die Lüfte gehallt, nur aus Gewohnheit kämen, [76] weil sie immer das Gerassel der Wagen übertönen müßten. Er liebte die Leute. Freilich hatte er sich schon am Vormittag ein wenig erschrocken mit einfältigem Lachen im Gesicht, weil der eine alte Zigeuner, der ihn übrigens, wie die Männer alle, wie Luft behandelt, frech und rücksichtslos unter die Dirnen mit der Peitsche hineingeschlagen, immer wieder neu, bis sie sich trotz deren anfänglicher Bosheit und Störrigkeit aus Einharts Nähe eine Weile zurückgezogen. Es hatte ein Aufheulen der Kinder und ein Gekreisch unter den Müttern gegeben. Franziska hatte einen Hieb mitten über die Backe unversehens aufgefangen. Und das Gesicht war sogleich blau angeschwollen. »Ein Vieh!« hatte Einhart plötzlich auch in diesem Augenblicke ausgestoßen. Nichts sonst. Denn beim Weiterfahren in das nächste Dorf hinein hatte man davon schon nichts mehr gewußt. Da war es nur hurtig weiter gegangen, alles nur mögliche in die Wagen geborgen, Vieh und Menschen. Da waren die Wagen hart den Berg hinabgerasselt, die kleinen, grauen, schwitzigen Falbratten davor galoppierten, und man saß untereinander und lachte und trieb tausend Kurzweil im Dehnen und sich lässig Gedanken machen.

[77] Nie hätte Einhart jetzt daran denken können, daß der seltsame Traum, den er so hinlebte, einmal könnte ein Ende nehmen. Er stand schon wieder und kühlte am Wassertroge im Hofe des Dorfkretschams, wo man untergekommen, Franziska die blaue Schwiele, als ihn ein Gendarm unsanft am Arme riß und ihn auch gleich ohne rechtes Besinnen seinerseits mit fortgenommen.

Und damit war Einhart ebenso unversehens bald wieder daheim. Denn es hatte gar keine Reden gegeben, auf die der Gendarm nicht mit aller Strenge und höhnisch herabgesehen. Und etwa zu leugnen, daß er Einhart Selle war, war Einhart bei dieser Überrumpelung gar nicht richtig in den Sinn gekommen. Man hatte ihn anfangs sogar gebunden. Aber Einhart hatte dem Gendarm einfach erklärt, daß er durchaus nicht entweichen und ruhig mitkommen würde. Er fühlte sein Gewissen ganz rein und fand es sogar in seiner Art nicht ohne Reiz, einmal die Welt auf diesem Rückwege der Enttäuschung anzusehen. »Her als Freier, hin als Gefangener,« so phantasierte und lächelte er vor sich hin und belustigte sich heimlich noch gar über den grünen Laubfrosch von Gendarm, der in ganzer [78] Würde neben ihm schritt. Nicht groß Rückschauen gab es und nicht groß Vorschau. Daran nur einstweilen ganz noch ins Unbestimmte beteiligt. Er mußte an Rosa denken, der er alles erzählen wollte, und vor allem der Mutter. Das machte sogar eine flüchtige Neugier, wie ihn die daheim ansehen würden. Wenn Herr Selle graue Miene machte, war das nichts Neues. Daß da etwas sonst geschehen könnte, ahnte Einhart mit keiner Silbe.

Aber die Sache war als Wirklichkeit doch sehr unangenehm. Erstens einmal war eine ganz fremde Kälte schon in den Schwestern, die zufällig im Korridor standen, als man ihn heimbrachte. Keine hatte gewagt, ihn zu begrüßen. Nur mit Kopfnicken von ferne, nur ganz steif, und als wenn jede ganz beschämt wäre. Er hatte ihnen zugelächelt, da er ja doch noch immer derselbe Einhart war. Aber da hatten ihn Johanna und Katharina und Emma noch seltsamer und steifer angesehen, ohne zu erwidern.

Rosa war nicht dabei. Frau Selle war auch nicht daheim.

Und drinnen erst bei Herrn Geheimrat Selle war die Sache dann bald zum Entscheid gekommen. Einhart hatte beim Eintreten jetzt wirklich [79] gesehen, daß er dem Vater ein Unheil zugefügt. Herr Selle war geradezu gealtert. Das sah Einhart gleich, als ihn der Gendarm hineinbrachte. Einhart war auch in seiner Güte entsetzlich unvermittelt. Wie er sah, was hier geschehen, hätte er sich am liebsten gleich dem Alten, den er heimlich liebte, vor die Füße geworfen. Aber Herr Selle hatte zuerst seiner gar nicht geachtet, nur mit dem Gendarm lange noch im Flüsterton gesprochen, ehe er auf Einhart zukam. Aber wie Einhart neu das vergrämte, alte, graubärtige Gesicht ansah, und es ihm wieder ankam, wie auf die Knie zu fallen, gleich, und den lieben, strengen Herrn tausendmal anzuflehen in Güte und Liebe, hatte ihn der Vater auch schon ins Gesicht geschlagen. Denn Einhart hatte auch dabei ein Lächeln trotzdem im Gesicht gehabt, was durchaus nur Liebe und Güte war, und was Herr Selle jetzt nur mißverstand.

Dann hatte er, der alte Herr, Frau Selle, die in ratloser Aufregung hereinstürmen gewollt, nur streng hinausgewiesen, sie mit Bestimmtheit und Härte dann einfach selber hinausgeführt, und seine Erklärungen, nachdem er die Tür hinter ihr verschlossen, hart abgegeben.

[80] »Mach dich sauber, Saukerl! Bade dich, Strolch! Deines Bleibens ist nicht weiter unter einer anständigen Familie. Du besudelst die Ehre deiner Eltern und Geschwister. Morgen früh zeitig wird dich jemand nach K. bringen.« Wohin hörte Einhart gar nicht, dem nur die Backe rechts und links brannte, und die Seele in Asche sank. Und es war auch gar kein Versuch Einharts geglückt, sich trotz des Schmachgefühls neu liebend zu nahen, immer wieder in einfältiger Demut. Herr Selle blieb hart, wie ein Stein. Einhart hörte gar nicht, was der Vater alles redete.

»Du zeichnest ja gern,« hatte Herr Selle dazwischen endlich auch gesagt. Das war wohl der einzige mildere Ton.

»Ja, ja – gewiß, geliebter Vater, ich zeichne gern, das tue ich ja furchtbar gern,« hatte Einhart fast in Ekstase gerufen.

Aber ein Blick voll Verachtung über diesen Laut, der Herrn Selle wie Frechheit klang, drängte Einhart zur Ruhe. Und dann war er mit harter Gebärde hinausgewiesen, hatte im Zimmer zu bleiben, niemand durfte zu ihm, er bekam Wasser und Brot zu essen, wie ein Sträfling, und hatte nur seine Sachen zu packen.

[81] Aber Rosa kam trotz des Vaters Rede und Zorn. Auch Mutter hatte gar nichts zu reden gewagt, als sie ihm beim Packen doch helfen mußte. Sie hatte Einhart nur mit schmerzvoller Liebe angesehen, und Rosa ausdrücklich vor Vater gewarnt. Aber Rosa war kühn. »Du, das vergessen die alle bald,« sagte sie zärtlich zu Einhart. »Mach dir nichts draus. Es ist ja Unsinn, so ein Wesen zu machen. Was ist denn passiert? Du, das muß furchtbar interessant gewesen sein!« sagte sie lachend. Da lachte Einhart auch. »Nu ob!« sagte er drollig. Und dann mußte sie ihm erzählen, was sie wußte, wohin er käme? und was man eigentlich mit ihm vorhätte? Und am andern Tage befand sich Einhart schon bei einem Steindruckmeister in der Lehre, einige Stunden Bahnfahrt entfernt in einer kleinen Stadt.

[82]
Zweites Buch
1.
1

Es ist eine Gefahr, wenn Menschen ein Leben vertun mit Dingen, die ihnen und ihren Erinnerungen ewig entweichen, und die nichts zurücklassen, als müde Arme und ein müdes Entsagen. Und die so in den Abgrund ihrer eigenen Zeit, der ihres Sehnens einziges Gefäß sein kann – den vollen Lebenstrank einzubrauen, nur Nieten um Nieten werfen, und auf ihrem Herzen beim letzten Atemhauche gellt es aus der tiefen Leere eines weggeworfenen Lebens nach. Da kommt es wohl auch schon mitten in der Zeit, daß der Verarmte, der nicht mehr seine Arme oder auch seine Sinne regen kann, nach Troste greift und hingeht in Trunk und Taumel, seine Leere auszulöschen, und vollends zu vergessen, was er an Wünschen und Begehrungen emporblühen gesehen, einmal als noch das natürliche Drängen mit Jugendgefühlen ihn hinaustrug ins Leben zu Tat und Traum.

Es ist weit und breit ein solches ödes Land. Ein Großes, Ganzes, Gewaltiges in der Zeit, und doch nur ein Zusammenklingen aus zerpflückten, zerstückten Sehnsuchten des Menschen, gebaut wie aus heiligen Steinen. Und die daran schufen, gehen seelenlos [85] einher, das große, steingeschaffene Bauwerk anzustaunen, aber offen oder heimlich möchten sie sich in den Staub werfen und weinen nach ihrer verlorenen Seele. Aus solchen tiefen Erkennungen gehen schon Kinder und Jünglinge in freie Wildnisse, wenn sie die Öde wittern, und suchen sich mit Leidenschaft und Inbrunst anzuklammern an die Verheißungen, die in eigenen Träumen leben. Wie sie immer sein mögen, solche, die mit Inbrunst und wie heilig wandeln, zärtliche Schwärmer mit Augen, wie fromme Engel, oder solche, die die Einfalt ewig lächeln macht, sanft und voll üppigen Vergnügens, über die Torheiten, mit denen sich die Welt von Anbeginn betrog.

So war es auch mit Einhart.

Seitdem er in der kleinen Bergstadt lebte, hatte er die Einfalt zum Schutze und das Lächeln zum Troste.

Die Steindruckerei lag in einer engen Straße mitten in der Stadt. Die Arbeitsräume dehnten sich nach hinten aus, und die großen Fenster gingen auf den Hofweg und auf Schuppen. Er stand nun hier und griff zu und sah Lehrlinge gleich ihm in blauen Schürzen, und Gesellen vor der großen Steintafel [86] hantieren und hörte auf die sorglichen Worte des Meisters.

Der Geist des ganzen Hauses ging von der Meisterin aus. Sie war aus einer pietistischen Familie vom Rhein, und schon ihr Aussehen, wenn sie ging mit ihrem Rundhut und immer in dunklen Farben der grau in grauen Welt der Mühsal, obwohl sie jung und drall und die Augen frisch und fast zu sicher schienen, und der Kindersegen nicht gering war, zeigte einen ganz eigenen Schlag Verzicht auf äußeres Tun und Glänzen.

Die Frau war, was man zu sagen pflegt, ein frommer Dämon. Sie hatte alles im Banne. Sie sah wie ein Habicht und hörte, wie ein scheues Wild. Es entging ihr keine Untüchtigkeit. Sie sah keine verstohlene Miene und heimliche Glosse, die sie nicht dann hinter Schloß und Riegel vor dem Meister allein erwähnte und zur Abstellung empfahl. Wenn sie ins Werk hinein flüchtig vorbeigehend zusah, konnte man denken, daß sie allen nur zulächeln wollte. Der Meister selber, der von unerhörter Umständlichkeit zu jedem Worte ein Besinnen und zu jedem Besinnen soviel Minuten Zeit, wie zur Tat brauchte, also daß man in Geduld[87] harren mußte, bis eine Meisterweisheit endlich von seinem Herzen sich gelöst und salbend aus dem rot-bebärteten Munde und sanft aus den grünen Augen ausgegangen, der Meister selber bekam fast Eile, wenn Frau Kallinich gerade durch die Werkstatt schritt und dort ihre frischen, grauen Augen herumwarf.

Einhart hatte es gut. Der Meister war nicht nur fromm. »Ein Geheimrat«, das hatte ihn gleich niedergeschlagen. Die Gesellen waren frech. Die ließen Einhart springen, wie die andern blauschürzigen Jungen. Aber der Meister sah in Einhart etwas Besonderes. Einhart konnte da anfangs nicht klagen.

Klagen war Einharts Sache überhaupt nicht. Nach außen gab er jetzt nichts. In gewissem Sinne amüsierte ihn die Arbeit. Weil er auch noch viel zusah. Und man sah auf den Tafeln allerhand Dinge aus der Welt. Nicht nur ewig Buchstaben. Auch Bilder. Manches davon bewegte Einhart. Das alte Kloster am Sinai war das erste, was er im Bilde in Steindruck sah. Der Geselle, der es bearbeitete, kümmerte sich nicht weiter darum. Aber Einhart fragte und fragte. Und weil der Geselle ihn angefahren: »halts [88] Maul!« fragte er geradehin den Meister, der ihn belehrte.

Der Meister kannte alles, besonders was um die heilige Geschichte herum war. Er erzählte also gleich umständlich und mit viel Aufmachen der Augen, groß und weit, ehe auch nur immer wieder ein Wort voll Tiefklang kam, von der Stätte des Mosesbrunnens, wo jetzt zum Andenken eine Platte reinen Silbers gebreitet wäre, und die Tropfen ewig flössen seit Jahrtausenden. Er erzählte auch, daß sein schönster Wunsch gewesen, einmal nur einen Trunk aus jener heiligen Quelle zu tun, in demselben Tonfall wehmütigen Sich-besinnens, wie Einhart sich erinnerte, daß Herr Geheimrat Selle immer von den lauteren Quellen der deutschen Altertümer gesprochen hatte, nach denen er eine ungestillte Sehnsucht trüge. Herr Kallinich rühmte dann auch laut Einharts Wißbegierde. Obwohl die Gesellen heimlich empört waren, und sobald er ihnen den Rücken gekehrt, untereinander ausfielen, daß sie viel zu tun hätten, wenn sie auf all den »heiligen Zimt« eingehen sollten. »Stumm und dumm« , sagte der Kurzbärtige, »muß der Geist sein, wenn man zu Gelde kommen will.«

[89] Natürlich hielt sich Einhart nur an die Meisterleute.

Und es dünkte ihm auch gut, mitzutun, wie es im Hause ging. Der Herr Geheimrat hatte ausdrücklich Familienaufsieht verlangt. Einhart mußte deshalb in der Familie wohnen. Die übrigen Lehrlinge wohnten neben der Werkstatt. Einharts kleine Stube lag gegenüber der Wohnstube, neben der Küche. So konnte er auch oft fromme Gesänge hören, und morgens und abends mußte er es mitmachen.

Der Meister sang dabei selber vor, saß mit Würde und hatte ein richtiges Lehr- und Lesepult vor sich, darauf Bibel und Gesangbuch ruhte. Sein großer Mund öffnete sich weit, daß Einhart jedesmal heimlich auf den Moment spannte und dann über die Weite des Mundes heimlich lachen mußte. Aber noch mehr über die gesenkten Mienen der Frau Meisterin, die nur dann und wann seitlichen Blickes im Kreise herum und auf ihre beiden Töchter sah.

Eine war noch klein, etwa vier. Die andere ging eben ins Fünfzehnte und sah frisch und frech aus, wie die stülpnasige Mutter. Fromm waren alle. Die Münder aller standen dann im [90] Gesange offen, und es klangen feierliche, laute Betgesänge.

Einhart fand es ganz angenehm, so den Tag einzuleiten und auch zu beenden. Er hatte es an sich gern zu summen und zu singen mit vergnügten Augen, und manchmal in die Augen der frechen, jungen Dirne hinein. Im Grunde war er den Ereignissen immer ziemlich fern. Aber was kann das Mühlrad tun, als sich umzudrehen? Man konnte zunächst nichts weiter erwarten. Ganz allmählich erst begann die junge Seele wieder hinein zu trachten irgendwo in Dinge, die sein würden, wie sie es sich träumte. Ganz allmählich bekam alles das, was da aus der Vergangenheit heilig erstarrend heraufkam, für Einhart einen grauen Hauch drollig trostloser Würde. Ganz allmählich konnte Einhart den Meister und die Frau Meisterin gar nicht anders mehr sehen, als wären sie rückgewendet und hätten ihr Gesicht eigentlich hinten. Er litt manchmal heimlich geradezu wie an einem Narrenzwange und mußte sich richtig besinnen, daß er sich solche Tollheiten nur eingebildet. Aber alles, was der Meister so hinstellte, als müßte man nicht leben, sondern erst[91] sterben, um es zu erlangen, machte ihn rundweg übermütig.

So standen sich hier zwei Welten stumm und fern gegenüber. So einfältig die Kohlenaugen Einharts noch immer auch herausblickten auf den frommen Meister und die nußharte Frau Meisterin hin, so kindlich auch und mit Begehren die kleine Berta Einhart zulachte und die erwachsenere Helene schon mit kecker Lockung.

Helene war in Einhart gleich verliebt gewesen. Sie kam häufig in seine Stube, vornehmlich Sonntags, und hockte sich zusehend nahe, wenn er dann dasaß und für sich etwas zu zeichnen oder zu malen versuchte. Einhart fand sie immer nur sehr albern. Schon weil sie ein Gesicht hatte, das nie ein Lächeln richtig sanft zeigen konnte und gleich nur wie ein Altes ausbrach. Wobei ihm immer wie Lieblichkeit durchs Träumen das Lächeln ging, mit dem Zigeunerdirnen aus stummen Glutaugen lächeln, »wie wenn Blumen oder Birkenbüsche lachen und flüstern im Winde«, dachte dann Einhart so hin. Diese Helene war jung und derb entwickelt, blond ohne goldnen Schein, blauäugig und doch nichts vom Himmel drin. Wie ein blauer, kalter Kattun war [92] das Auge, leer nur und lüstern. Wenn sie ihn preßte oder seine Hände in die ihren nahm: Nichts tat er, gleichgültig lächelnd war er. Er knipste sie mit dem Finger an die Nase. Er dachte und träumte wahrhaftig andere Dinge, als nur so graues Handwerksleben. Er lebte die Woche mit sich und lief dann irgendwo hinaus, am Sonntagnachmittage, und lag über der Stadt hoch oben am Walde.

2.
[93] 2

Es waren mehr als dreiviertel Jahre vergangen, seit Einhart beim Meister Kallinich eingezogen war. Die daheim hatten immer gute Nachrichten erhalten. Der Meister selber rühmte Einharts Anlagen für den Beruf und vor allem, daß er ausgezeichnete Entwürfe lieferte, Ideen selbständiger Art und viel Lust zu derlei reger Phantasiearbeit hätte. Meister Kallinich gab sich alle Mühe, sich Herrn Geheimrat gegenüber mit vollendeter Sachkenntnis auszudrücken. Herr Selle war es jedesmal sehr zufrieden. Aber Einhart hatte auch geschrieben an Mutter und an Rosa. Wie Einhart war. An Vater wohl nur einmal gleich im Anfang und noch unter dem Gefühl der Schuld, die er an ihm begangen. Dann immer nur allerlei drollige Dinge an Rosa hauptsächlich.

»Weiße Ziegen weiden hier nicht an dem See. Aber schwarze Bergleute laufen Tausende auf der Straße. Und dann, was das Weiden anlangt, das tun hier so recht sanft und fromm nur die hellen Augen der Frau Meisterin, die jede Ungehörigkeit von Lehrling und Gesellen öffentlich gleich mit Strunk und Stiel abbeißt, und jede Ungehörigkeit [94] des frommen Meisters heimlich. Ich selber weiß von solcherlei, was nicht paßt, schon kein Wort mehr, und wenn ihr mich sehen würdet, dächtet ihr einfach, ich wäre Einhart Kallinich, so renne ich herum zwischen Presse und Tisch und zu allen Kunden und blicke auf, wie ein richtiger Apportierhund. Ich glaube, ich habe auch so helle Augen bekommen, wie die feste Helene, der frommen Meisterin freches Ebenbild. Ach woher nur, eben sehe ich in den Spiegel, und erkenne, daß ich das nur muß geträumt haben. So leicht verfärbt man sich nicht. Aber lachen kann ich garnicht mehr. Eben versuche ich es im Spiegel. Die Augen glotzen mich an, dunkel wie Rosas sanfte, schwarze Kirschenblicke, aber lachen – nichts davon. Es gibt hier nichts zu lachen. Zum Lachen muß ich Sonntags allein auf den Berg gehen. Es ist ein Eichengehölz. Da liege ich manchmal, und auch jetzt im Frühling, wenn die Sonne noch durch das lose, lustige Knospenwerk fällt und nicht vollen Schatten, nur feine Schattennetze auf den Boden wirft. Da merke ich überhaupt immer erst wieder, daß die Welt den Himmel, nicht die niedrige Stubendecke über sich hat, und man nicht nur Steindrucktafeln machen [95] braucht zum Zeitvertreib, auch aus den Stubenwänden hinausfliehen und die ferne, weite Welt ringsum anstaunen kann und Leben fühlen.«

Der Brief war, wie ihn nur Einhart schreiben konnte. Er ging aus dem Hundertsten ins Tausendste und nahm kein Ende. Und hatte am Eingang ausgelassene Neckereien und am Ende Einfälle. Und ein Denken an daheim kam nur noch wie eine leere Formel nachgehinkt. Denn Einhart war gesunden Blutes. Daß die daheim krank seien, daß es ihnen nicht wohl sein könnte, daran dachte er mit keiner Silbe. Und daß er Grüße wirklich anfügte, hatten nur die Lehrer verschuldet. Und Einhart tat es mit dem Gefühle, daß er sich am Schlusse des Briefes doch auch einmal vor Vater verneigen müßte, wenn der Vater den Brief oder einiges daraus zufällig zu hören wünschte.

Aber Herr Selle bekam dann auch plötzlich wieder einen Brief von Einhart, der zunächst einige Aufregung ins Haus trug. Man hatte erwartet, man könnte nun Jahre ruhig sein, und Einhart würde so, ein gutmütiger Lehrling, allmählich zum Gesellen erwachsen und ein ehrlich-frommer Steindruckmeister werden. Wenn Rosa alle Briefe gezeigt, hätte von [96] solchen Erwartungen nicht die Rede sein können. In einem hatte gestanden: nein, nicht im Briefe – in einem Zettel, der danebensteckte, und auf den er geschrieben:

»Ich schreibe das nur auf das Zettelchen, denn das darfst Du einstweilen niemand sagen, auch der geliebten Mutter nicht, die sich nur ängstigt.« Da hatte er geschrieben:

»In die Welt gehen muß man, und wenn einem Väter und Gensdarme nachstellen. Das mit den Zigeunern war nur dumm angefangen. Außerdem nur so wandern, das ginge auch nicht. Sowas ist nur ein Kindertraum. Man muß was ausfindig machen. Es muß sich lohnen und einen Sinn haben. Den Mittelpunkt der Welt finden, oder eine schöne Prinzessin, oder den Zauberwald, wo in der Dunkelnacht alle Blätter zu Golde werden. Alle Felsen staune ich hier auf meinem Berge an und denke mir dahinter Säle und Gänge voll bunter Edelsteine. Und einmal finde ich doch noch einen richtigen Schatz!«

Das war alles nur Lust zu fabulieren. Er hätte nicht gewußt, wie und wo? Aber in seinem Briefe an Vater war der Ton ganz anders. Denn da [97] wußte er zunächst ganz deutlich, daß er es bei Meister Kallinich nicht zu finden dachte.

»Geliebter Vater!« schrieb er, »ich muß Dir ein Geständnis machen, daß es mir immer noch sehr auf dem Herzen liegt, daß ich Dir viel Kummer gemacht habe. Ich bin aber jetzt ein Anderer geworden. Und habe viel über mich nachdenken und so zur Besinnung mich bringen können. Vielleicht hat Dir Herr Kallinich geschrieben. Er ist immer mit mir zufrieden. Die Kunstarbeit hat mir immer Freude gemacht. Wirst Du nicht böse sein? Es kommt mir vor, als ob ich es weiter bringen könnte, als nur solche Steindruckerei. Erlaube mir doch, daß ich mich zum Maler ausbilden darf. Vielleicht glaubst Du mir. Ich will mich gewiß zusammennehmen und nicht abirren.«

Dieser Brief machte daheim Aufregung. Herr Selle traute nicht und war unwillig. »Er ist kaum in Ruhe gekommen, nun fangen die Treibereien neu an. Er bleibt in der Lehre.« Aber Frau Selle wußte auf die drolligen Talente hinzuweisen. Sie brachte die kleine Katzenfamilie aus dem Glasschrank, die Einhart aus Wachs geknetet, eine ganz erstaunliche Leistung voll beobachteten, spielerischen Lebens. [98] Die Schwestern redeten zu. Rosa sagte unverhohlen: »Wenn er Maler wäre, Papa, das wäre doch ganz was anderes!« Woraus Herrn Selle ein eigenes Gefühl der Beschämung durch seine Seele huschte, daß sein einziger Sohn es nur gerade bis zu einem Handwerksgesellen oder Handwerksmeister bringen sollte.

Das alles kam zusammen, daß Einhart sein Plan gelang, und gründlich gelang. Gründlich, wie Herr Selle in solchen Dingen war, und doch mit einem Zuge noch, daß man diesem Menschen durchaus die Wege nicht zu sehr ebnen und dem eignen Sichzusammenraffen und Weiterhelfen und Sichbesinnen nicht mit törichter Sorglichkeit vorgreifen dürfte. Er hatte erst Rücksprache mit dem Lehrerfreunde genommen, der Einhart kannte. Der Direktor riet ganz und garnicht ab. Dem Direktor fiel sogar eine Last von der Seele, daß nun Einhart sich zu Besserem durchzufinden angefangen.

Er wußte, daß Herr Selle in der ganzen Zeit wegen Einhart noch immer heimlich litt. Nun sagte er sogar: »Ja – das habe ich mir immer schon gewünscht, daß er solche Wendung nehmen möchte. Ich bin sicher, so kann er noch ein ganz tüchtiger [99] Mensch werden.« »Nun gut!« sagte Herr Selle einigermaßen zufrieden. »Ich will ihn nicht stören. Mag er den Schritt versuchen.«

Man setzte ihm ein kleines Monatsgeld sicher aus und erlaubte ihm, nach der Akademiestadt zu fahren, nachdem noch mit Meister Kallinich in aller Zufriedenheit die Dinge alle geordnet wären. Meister Kallinich setzte den Erwägungen des Herrn Selle die Krone auf, indem er in seiner frommen Bescheidenheit schrieb, daß er es schon vorher, »gleich wie er die Talente Einharts gesehen, gewußt hätte, daß Einhart durchaus zu etwas Höherem berufen wäre.« Und man ging in die Neuordnung der Lage in ganzer Harmonie.

3.
[100] 3

Einhart war zum ersten Male in der großen Stadt. Er kam an mit einer ganz einzigen Spannung in den gelbgrauen Mienen und ging vom Bahnhof gleich in die Hauptstraße, um sich in der Menge umzusehen. Wer ihn so sah in seinem braunen Röckel und dem dunklen Rundhut, wußte nicht, ob er einen dürftigen Photographen oder einen von einer fliegenden Theatertruppe vor sich hatte. Man konnte auch an einen Gaukler denken, der auf dem Seile tanzen, oder mit goldnen Kugeln vor den Augen seiner Zuschauer spielen und sie in die Luft werfen könnte, daß dann gleich, wie im Märchen die schöne Quellfrau es tat, die goldnen Bälle wieder mit Donner und Blitz herniederführen unter die strömende Menge. Einhart hatte eine ganz besondere Art, sich hin zu bewegen, mit einer spitzen Miene manches zu umgehen, daß er recht auch aussah, als wäre er auf Diebeswegen, beschliche etwas, und täte heimliche Erwägungen, wie an Menschen und Dinge und Schauauslagen geschicklich heranzukommen.

Er war am Nachmittag angekommen. Auch an die Akademie ging er. Er sah das Gebäude lange [101] an. Es kamen einige Jünglinge mit Mappen heraus, auch ein wenig wie er, weil sie gleich ihm die Strähne der Haare unter dem Hute hatten hervorquellen lassen. Nur gleichgültig jetzt und gewohnt an die Anblicke des treibenden Lebens, an den breiten Strom voll Sonne unten tief an dem Mauerwerk, und an die ragenden Gebäude und blühenden Gärten, die sich jenseits des glatten, quirlenden Stromwassers, das um die Brückenpfeiler sich staute, angesiedelt.

Und dann war des Besinnens nicht lange gewesen. Einhart wußte immer zu finden, wenn es ihn selber vorwärts trieb. Er hatte die Nacht in einem kleinen Gasthause zugebracht. Und am folgenden Tage hatte er es nicht erwarten können, seinen Platz in dem Atelier des Meisters Teodor zu erobern, seine Handwerkszeuge zusammenzukaufen und dann sich in einer kleinen Bude hoch oben in einem Mietshause im vierten Stock einzurichten.

Schon am dritten Tage war Einhart unter denen, die morgens in die Akademie eingingen. Und man kann sagen, er ging mit einem wahren Hunger ein. Er dachte an Wunderdinge. Er dachte, nun müßte sich eine ganze Welt auftun. Hier war einer der [102] berühmten Männer, die es besaßen, wonach sich viele Jünger zeitlebens sehnten.

Das Atelier Meister Teodors war hoch und hell. Ein Tisch stand neben der Wendeltreppe, die einen aus dem Meisteratelier emporführte. Eine große Chaiselongue stand mitten, davor ein Eisbärfell mit offnem Rachen sich gelagert, während Kopf und Rachen eines andern über das Keilende des Lagers herunterhing. Die Skizzen an den Wänden waren reichlich. Ein paar Staffeleien standen herum. Der Meister war ein Mann voll heiterer Miene, dabei sehr geradezu. Einhart kam, wie er seine Farbskizzen kritisierte, nicht aus dem Lachen heraus. Zu sagen, was nicht stimmte, wußte Meister Teodor. Er hatte einen Knebelbart und einen Schnurrbart, die er abwechselnd zupfte, wenn er Witze machte. Und er machte immer Witze. Auch wenn er sein Modell zu Änderungen seiner Stellung mit dem Malstabe anrührte, oder wenn seine großen, grauen Augen noch weiter wurden, und er zurückgelehnt scharf eine Linie des nackten Leibes beäugte, sie scharf gesehen hinzubringen.

Der Meister malte ewig Frauen in allerhand idyllischen Lagen. Im Atelier standen mehrere große [103] Bilder. Eines stellte die Hoffnung dar. Ein nacktes Mädchen im Walde, mit Augen, die ebenso groß, wie leer schienen, und hoffnungslos in die Ferne blickten. Einhart sah die Tafel lange stumm an. Es fiel ihm jetzt ein, daß er unter Hoffnung sich eigentlich niemals etwas Rechtes gedacht. Die Sache war ihm neu. Er wußte garnicht, ob es ihm gefiele. Er hatte einstweilen nur auch ein großes Staunen, wie das alles sicher gemacht schien.

Einhart mußte mit dem Einfachsten beginnen. In der oberen Klasse saßen die Schüler zusammen, von Porträtbüsten abzuzeichnen. Der Zeichnenlehrer tadelte gleich seine Blätter und rühmte nur anfangs einmal etwas wie Stilisierung. »Aber Stilisierung, mein Lieber! Sie fangen die Kirche mit dem Turm an,« sagte der alte, graubärtige Murrkopf in sehr bekannter Wendung, die Einhart doch originell dünkte. »Erst müssen Sie was können, dann können Sie stilisieren.« Das alles däuchte jetzt Einhart zuerst durchaus richtig.

Auch in den kommenden Monaten noch war er eingeschüchtert. Er begann erst allmählich ein Gefühl zurück zu gewinnen, was aus ihm selber kam.

Die Jungen in der Schule waren sehr verschiedenen [104] Gelichters. Einige waren unsäglich peinlich. Das Zeichnen zeigte es: unglaublich geordnet und sicher und reinlich – und die Dinge recht, wie sie Gevatter Akademiediener oder der Barbier sah, der zum Direktor durch das Treppenhaus ging. Man wußte im voraus, was sich Großes enthüllen würde.

Dann waren einige, die immer nur auf die Blätter der andern sahen, Glossen machten und selber nichts konnten. Die machten freche Bemerkungen an allen Ecken über Dinge und Lehrer und freche Witze über die Reize der Modelle, die Einhart tatsächlich unangenehm waren, so daß ihm einmal über die gefühllose Art, wie man ein junges, halbwüchsiges Mädchen sich hatte entkleiden lassen, ein Ekel angekommen.

Und Einhart war garnicht gesprächig. Er ließ alle reden. Und je mehr er schwieg, desto mehr buhlte alles allmählich nach seiner Teilnahme. Allen erschien Einhart rätselhaft. Seine Augen sahen beim Arbeiten herrisch aus, so einfältig und gutmütig er sonst auch schien.

Und Einhart zeichnete sonderbar. Garnicht, wie man es sich dachte. »Lächerlich,« sagte der Direktor,[105] der herzukam und durchging. »Was zeichnet der Mensch? Haben Sie denn so etwas hier schon gesehen? Wollen Sie denn nicht sich daran halten, welche Aufgabe gestellt ist!« Und er wies auf die Tafel des Nebenmannes, die den Leib der Jungen trocken und nahe wiedergab. Einhart hielt sich auch dabei ganz verschlossen.

Die Mitschüler sahen sich dann alle die Tafel an, die der Direktor mißliebig angesehen. Und das ging so weiter. Denn auch der berühmte Meister Teodor sagte: »Was uns dieser Herr Selle alles an Kunst vormacht!« Und er mußte rundweg lachen, wie ein voller Bauch lacht, daß es ganz bis zu den Beinen geht, und der Kopf sich beugen, und die Kniee knicken müssen.

Einhart dachte dann nicht daran, ernst zu sein. Er lachte mit.

So ging es bald, daß man Einhart in der Akademie kannte. Schon weil man über seine Zeichnungen und Malereien jetzt immer lachen mußte, die Meister mit den Schülern, und weil ein jeder die Werke Einharts kannte, als gingen sie mit einem jeden.

Niemand trug heim, was der Meister selber auf die[106] Tafel gebracht. Das schien allen eine rechte Arbeit. Und wer nur so auf die Dinge hinblickt, wie ein Mäher auf die Blumen, dem es auf das Gras ankommt, der konnte wohl über die sogenannte Natürlichkeit staunen. Aber einen Witz hatte man nicht im Ohr, eine einzige Weise nicht in der Seele, eine seltsame Fügung und einen Anklang eigenen Schicksals durchaus nicht. Das schien aus Einharts Zeichnungen heraus, und wie er mit der Malerei erst begonnen, gar aus seinen Entwürfen.

Toll sahen sie aus. Dünn gemalt. Er liebte nichts Rohes. »Das dicke Gepatze« ließ ihn lachen. Er nannte es »mauern«. »Pfui Teufel,« sagte er. »Fein wie ein Ton!« So malte er. Aber tolle Töne manchmal, wie schrilles Geigen. Meister Teodor hielt sich Augen und Ohren zu. Nicht Waldidylle mit Blumen, Vergißmeinnicht und allerlei Kraut, wie bei einem Botaniker, bei Einhart sollte man Studien machen, wie in einer Schemen- und Lichtwelt, die nicht im grob Körperlichen, die nur in feinen Traumvisionen ihre Zauber spinnt. So etwas regte alle auf. Und Einhart war an der Akademie bald bekannt wie ein böses Gewissen oder wie ein verkappter Narr.

4.
[107] 4

Professor Soukoup lehrte an der Akademie Kunstgeschichte. Ein finsterer, abwehrender Mensch, der einen weichen Glanz erst dann in sein großes, ernstes Grauauge bekam, wenn er vor einem Kunstwerke stand und die Reize der einzelnen Gestaltung vor den harrenden Jüngern nachlebte. Dann konnte man ihm anmerken, daß er es ganz ereignismäßig empfand, wie da im Werke der gestaltende Mensch sich aus eigenen, unbekannten Tiefen genuggetan und Feingefühle und Erkennungen der Dinge ans Licht gebracht, die man nur vergeblich noch anders als in der Einheit seiner geistigen Schöpfung selbst greifen kann. Professor Soukoup stand dann mit wahrer Andacht. In solchen Momenten war er eine volle Hingabe. Die junge Kunstschar hörte dann aus Bild oder Stein Sinn und Harmonie heraus. Und niemals, daß nicht Einhart in solcher Stunde innig aufgewühlt die Fülle und Tiefe ermaß, die ihm dann ein wahrer Abgrund Leben schien, aus der allezeit Kunst der Menschenseele entströmte.

Einhart konnte Professor Soukoup nicht ohne Bewegung ansehen. Wenn er ihn auf der Straße [108] zufällig traf, war er in seinen Anblick meist schon von ferne so versunken, daß er eine lange Weile seinen Hut in der Hand hielt, weit ehe der Professor heran war.

Professor Soukoup hatte einmal in seiner Vorlesung dargelegt: »Wir sind zu indisch, zu duldsam, zu versöhnlich. Es gibt für uns nur noch leidende, nicht mehr verschuldete Menschenkinder, womöglich nur noch von der Not um den Pfennig Geplagte. Die sozialen Leiden haben es uns angetan. Das gibt keine ehernen Schicksale. Das gibt keine wahre Tragödie. – Meine jungen Freunde: Wir alle tragen zuerst die Last des Erdenkörpers und die heißen Geschenke seiner Triebe und seiner Freiheit. Wir sind nicht zuerst soziale, sondern kosmische Wesen. Wir alle tragen, verkettet wie wir sind in diese Triebe und in diese Freiheit, unsre Verantwortung vor uns selber, und also nicht nur Leiden, sondern Sünden. Das große Lied der Kunst ist nie den Leiden eines dürftigen Gesellschaftslebens, es ist den ewigen, tiefen Gebresten der Menschenseele, ihrer tragischen Naturveranlagung und Schicksalsverkettung gesungen. Vielleicht nur zu flüchtiger Stillung, vielleicht auch zu einer fernen Verheißung. [109] Ermessen Sie die ganze Kraft der Antike, die in ihrer Mythe Orpheus um Euridike, um die Unschuld der Menschenseele, im Lande der grausen Schatten so süß und verheißend spielen ließ, nicht, daß der sehr allgemeine, vom Gesellschaftsleben zersorgte und geplagte Mensch erheitert oder beruhigt werde, sondern daß der ewig Schicksalsgebundene einen Augenblick wirklich Erlösung spüre von seinen ehernen Zwängen, daß Jxions Rad, daran er aus seinen Lüsten heraus angeschmiedet liegt, wirklich einen Augenblick stille stehe, daß Tantalus, von seiner heißen Gier abgelenkt, eine Weile lausche, daß die aus ihren Taten heraus verfluchten belischen Jungfrauen aufhorchen, und die steinernen Schicksalsführerinnen selber aus ihrer ewigen Erstarrung einen Augenblick wirklich erweichen und ihre ersten Tränen vergießen.«

Nun, wenn Einhart solche Verkündigung seiner Mission hörte, konnte er gar nirgends bleiben. Er konnte auch unmöglich darnach reden mit jemand. Er hatte solche Dinge nie gehört. Weder daheim, wenn er seine Skizzen gemalt, noch irgendwo sonst hatte er derartige Blöcke gewälzt. Er begriff es auch durchaus nicht voll. Er ahnte es nur. Aber [110] er ahnte es so drängend und so tief, jetzt, wenn er hastig durch die Menge lief, straßauf, straßab, daß ihm das Herz aufschwoll und er nicht wußte, wo er in seiner inneren Erglühung eigentlich gelaufen war.

Einhart sah jetzt wieder ziemlich verwahrlost aus. Er vernachlässigte sich, je stärker ihm die Fülle der Gesichte anwuchs. Er lebte auch in diesen Zeiten ein sehr unregelmäßiges und zerrüttendes Leben. Nach einem Tage bei Professor Soukoup konnte er schon ganz und gar nicht Ruhe finden. Dann saß er bleich und mager und vergraben am späten Nachmittage jetzt in den Wintertagen in der Ecke des Sofas in der kleinen Konditorei, wo sich auch andere Malschüler und Bildhauer um tausend Methoden des Bildens im allgemeinen grob und hart zankten, sah verhärmt und scharf vor sich hin und rauchte und trank, bis der Abend kam und die Nacht.

Er ließ sich auf nichts ein zuerst. Er wies alle Meinungen einfach als Verrücktheiten schroff von sich, empfand nur die Flucht seiner Ahnungen wie ein Meer und stammelte dann in der Betrunkenheit schließlich die tollsten Projekte, malte im [111] Geiste die ganze Unterwelt der modernen Menschenseele in grausigen Schicksalsgestalten hin vor die Augen seiner staunenden Kameraden, höhnte über Professor Teodor, der lieber ein modernes Café oder einen Prunksaal niedriger Schwelger ausmale, als wirkliche, große, stillende, ewig junge Künste erhärme. »Dieses großen Meisters Seele ist mit billigen Nacktheiten vollgehangen,« stieß er dann hart und hohnlachend hervor. »Und der andere große Mann läd die Krüppel und Lahmen herein,« schrie er, »weil zu der Hochzeit die Erlesenen sich nicht finden wollen. Jämmerlinge, denen besser mit Gelde aufgeholfen als mit einem Leben auf der Leinwand!« »Aber Schicksale – Mächte!« – – schrie er dann, »die ewigen Mächte in uns und in unserem Menschengeschäft!« – – »Ihr Schuster und Schneider!« stammelte er erregt unter die Kameraden. »Ein Genie blickt nicht aus euern Augen heraus, ihr Handwerker und Sklaven, die ihr nur an der Erde hinkriecht wie Kröten, anstatt euch hochzuheben und eure Schönheit zu gebieten!« – – »Solche Schöpse!« lächelte er dann vor sich hin, wenn er in die Sofaecke zurückgefallen und hastig ein Glas nach dem andern hinuntergetrunken. [112] »Statt Genies Schöpse!« schrie er neu. Daß es ein furchtbares Gezänk gab am Ende und ein niedriges Durcheinander. Daß der Kellner kam und um Ruhe bat. Und daß Einhart wie eine Katze plötzlich dem Kellner an den Hals sprang und ihn würgte. »So ein Hausknecht will Heilbringer belehren!« schrie Einhart dann rasend. »Wir bringen euch das Heil, ihr armes Erdengesindel! Wir werden uns nicht einschüchtern lassen, weder von Meister Teodors zahmen Idyllen, noch von einem Schwalbenschwanze von Kellnertroddel!« »Genies sind hier!« brüllte er durch den Raum, daß man es bis auf die Straße hörte, und das Gestöhn des gewürgten Kellners einen Augenblick darnach unheimlich im Raume schwoll. Daß andere zuspringen mußten, und daß schließlich die betrunkenen Jünger aus St. Lukas' Gilde alle unerwartet von der Faust des Wirtes und Hausdieners und einiger Gäste gepackt auf der nächtlich stillen Straße lagen oder saßen.

5.
[113] 5

Es war erstaunlich, wie schnell Einhart jetzt, wo er in Freiheit vor innere Bestimmungen gestellt war, das Jungenhafte und stark Unreife, was er daheim immer besessen, abstreifte und zu großer Selbständigkeit und Sonderlichkeit gleich erwuchs. Ganz und gar mit völliger Beibehaltung seiner unglaublichen Vielgestaltigkeit noch immer, und der seltsam verträumten, finsteren Einfalt seiner Art nach außen.

Denn auch nach den tollen Auftritten in den nächtlichen Gelagen, nach harten Zänken mit Grottfuß, dem einzigen Malschüler, dem Einhart außer sich Genie zutraute, und der dem Meister Teodor und dem Meister Zeichner und noch manchem mit derselben Nichtachtung und stummem Lächeln begegnete wie er, kam Einhart immer nur wieder demütig und narrenhaft dürftig unter die Kameraden und ins Meisteratelier zurück. Geradezu einfältig konnte er noch wieder scheinen, wie vor Mutter und Rosa einst, und so recht wie der Fuchs, den der Bär auf dem Rücken trägt. Deshalb konnten auch die Professoren bei solchem Eindruck gütigen Lächelns seines schwarzblitzenden Funkenauges [114] noch immer nicht begreifen, wie gerade dieser junge, bleichgraue, hagere Mensch eine ewige Revolution unter den Schülern konnte lebendig halten?

Aber man empfand schließlich allenthalben große Unzufriedenheit. Es war nicht bloß allmählich an den Tag gekommen, daß Einhart in der Trunkenheit Tollheiten beging. Auch seine Meinungen über die Kunst der ersten und maßgebenden Meister der Zeit kamen in allerlei hochmütigen Wendungen an den Tag und wurden in den Ateliers laut oder heimlich unter den Schülern, viel überstürzter noch, wie er sie geäußert, herumgeredet. Vor allem die quälerischen, verrückten Versuche, nach alten oder ersonnenen Stilweisen seine Bilder hervorzubringen, waren es, die Einhart ewig zum Gegenstande einer prickelnden Spannung unter den Schülern machten. Daß viele seine Art und Sondertümer mit Lachen oder Neid glossierten, und die meisten sie heimlich doch nachahmten. So daß die Lehrer sich nicht genug tun konnten, darüber kritisch und verächtlich zu spotten und davor zu warnen. Nun gar die großen Worte, die Einhart in der Trunkenheit oder sonst hingezürnt, und die alle nur eigentlich Flammen waren, wozu ihm Professor Soukoup die mächtigen [115] Scheite aufgeschichtet, gingen in den Schülern von Mund zu Mund und von Blut zu Blut, und unter den Lehrern gingen sie um zu Trotz und Hohn.

Besonders der Direktor der Anstalt war höchst ungehalten über Einhart. Der Direktor war ein friedlicher, alter Herr, der gar nicht nach Genies sich sehnte. Sanft, wie er aussah, mit einem Christusbarte in Grau, der ehemals blond gewesen, das Auge hell, kannte er alle Dinge bei Namen. Er war mit Tüchtigem, Hausbackenem zufrieden. Er bedurfte nicht der Nebel, noch Visionen. Er zog oft Goethe heran: »Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm!« Er malte Ziegen und Schweine auf Wiesen. Wie man sie so findet. Es ist ein altes Hirtenlied. Man begegnet ihm in jeder Ausstellung wieder und kennt seinen Klang.

Der Direktor, wie gesagt, mußte endlich wider Einhart einschreiten. Er mußte Einhart zitieren. Einhart hatte Schaden angerichtet. Erst hatte er in der Konditorei wüst Geld verschwendet. Dann weiter geliehen. Dann nach Unfug und Geschrei allerhand Geschirr zerschmissen, was er nicht bezahlen gewollt. Der Direktor ließ Einhart also [116] kommen. Aber Einhart war eingeschüchtert und gab ihm gegenüber sogleich alles zu, daß es keinen Auftritt weiter gab. Der Direktor hatte nur an Herrn Selle appellieren brauchen. Da war Einhart sofort gerührt und überwältigt gewesen, hatte an daheim gedacht, sein Gewissen belastet gefühlt und hatte am Monatsbeginn alles sofort klar gemacht.

Aber bald fanden sich allerhand neue, frechere Ausbündereien. Was ihm Meister Teodor schon einmal sehr übelgenommen, war, daß Einhart auch ihn direkt offen zu glossieren gewagt. Nun kam gar, daß er in seiner Malklasse vor allen Schülern plötzlich eine Korrektur sich verbat. Wie es angefangen, ist nicht recht erfindlich. Einhart war in der Klasse sonst immer tief versunken. Er hatte eine Tanzende auf seiner Leinwand. Seltsam dünn gemalt und der fliegende Schleier wie feine, graue Seidenspitzen auf rotem Grunde. Meister Teodor war mit seinem Pinsel rücksichtslos darübergefahren und hatte eine schwere Kontur um die fliegenden Gewebe gemacht, weil er behauptete, man müßte die Sache körperlicher sehen. Einhart mußte in Gedanken sich vergessen haben, daß er plötzlich auffuhr [117] und den Meister Teodor anschrie: »Laß dein Geschmier!«

Die sämtlichen Malschüler waren wie erstarrt. Meister Teodor war blaßgrau geworden. Einhart war an sich schon so. Aber in demselben Moment mußte er erwacht sein. Vielleicht war er noch ein wenig benommen gewesen. Die Gewohnheit, Schnaps zu trinken, benahm manchem Schüler dieser Periode auf Zeiten die Sinne. Wer nichts mehr zu essen und kein Geld mehr hatte, hielt sich mit Schnaps und Rauchen aufrecht. So mochte es gekommen sein, daß auch Einhart nicht ganz bei sich war. Er hatte die Hand des Meister Teodor einfach fortgestoßen. Meister Teodor war der Atem weggewesen. Dann sagte er nur: »Nun, mein Lieber, damit hat Ihr Gang wohl ein Ende hier!« – – Und nach einer Weile: »Man wird dir dein Handwerk legen.« Er duzte ihn plötzlich in seiner Verachtung.

Einhart war gleich im Kampfe mit sich. Es war ihm sehr unangenehm. Der Meister Teodor hatte seinen Malkittel sofort abgelegt und die Stunde geschlossen erklärt. Er begann sich offenbar für den Gang zum Direktor herzurichten. Einhart überlegte [118] noch immer einfältig lächelnd, aber für sich. Auch draußen noch, nachdem er gar nicht Adieu gesagt. Er begriff natürlich, daß in Meister Teodor diese Beleidigung unversöhnlich arbeiten müßte. Die Mitschüler waren langsam auseinandergegangen. Grottfuß blieb bei ihm. »Du bringst es noch so weit, daß sie dich wimmeln,« hatte Grottfuß gesagt. Einhart konnte trotz Lächelns sehr bekümmert aussehen. »Was könnte man denn tun?« sagte er zu Grottfuß, der ein blonder, schmaler, ruhiger Mensch war. »Soll ich zu Meister Teodor gehn und ihn bitten?« sagte er.

»Nicht Ahnung! Gehe gleich zu Soukoup.«

Grottfuß' Vorschlag war es, der die Sache noch einmal ins Geleis brachte. Einhart ging zu Professor Soukoup in die Wohnung. Er fand den finsteren, versunkenen Mann vor einigen Blättern sitzen und mit der Lupe das Linienwerk feiner Federzeichnungen betrachten.

»Sehen Sie, lieber Selle ... eine wunderbare Kunst!« sagte er ohne viel Umschauen bei Einharts Eintritt. »Kennen Sie Beardsley? Eine völlig eigene Weise! Eine ganz außermaßen innige Linienwelt. Alles so köstlich und so klar scheint's! Und [119] ist doch krank, vom Uebel heimlich angefressen jedes Ding und jede Gestalt! Allenthalben Wundheit, heimlich Schwelendes! Nicht? Man kann nicht froh werden trotz der Schönheit, trotz dieser einzigen Kristallisationen. Ja – es ist immer eine Melodie: das heiße Uebel der niederen Triebe – – mit den allerfeinsten Sinnen ausgespürt. So etwas gibt es in der Welt. Das liegt irgendwo im Grunde unseres Blutes. Dagegen muß Orpheus immer wieder Euridike aus der Schattenwelt herauflocken ... unsere Unschuld im Blute – unsere Morgenahnungen! Verstehen Sie, Selle?«

Einhart vergaß ganz in Ehrfurcht, was er eigentlich wollte. Er sah nur gespannt und entzückt hin.

Aber dann sah ihn Soukoup fragend an. »Nun, ich freue mich, lieber Selle,« sagte er, unvermittelt auf ihn eingehend, »daß Sie einmal kommen!« Immer noch wieder gemeinsamen Blicks bei den Beardsleys. »Man ärgert sich oft über Sie!«

»Ach verzeihen Sie nur, Herr Professor!«

»Nun, weswegen kommen Sie?«

»Es ist entsetzlich unangenehm.«

»Oh, oh, oh, lieber Selle, Sie sollten auf der Hut sein!«

[120] Und Professor Soukoup sah den dunklen, gelbgrauen, schmächtigen Menschen, der in seiner Hautfarbe und mit dem fettglänzenden Haarsträhn über der Knabenstirn und mit seinen bekümmerten, verzehrten Blicken ihn sehr fesselte, genau an und lächelte ihm zu.

»Nun erzählen Sie mir erst!« sagte er bestimmt.

So erzählte Einhart ganz offen alles.

»Ja, ja, ja, ja,« sann jetzt Professor Soukoup für sich. »Meister Teodor ist Ihr Freund ohnehin nicht! Sehen Sie! Und der Direktor weiß auch schon, daß Sie zu leichtsinnig in den Tag leben. Möchten Sie nicht doch am besten – –? Jh! – gleich jetzt gehen Sie hin! Ich habe dann guten Grund, wenn ich für Sie rede. Hören Sie einmal, lieber Selle! Ich hoffe, Sie nehmen es mit dem Leben in der Kunst so ernst wie mit dem Leichtsinn! Wie? Selle? Mein Lieber? Ich kann mir schon denken,« sagte er dann mit zutraulichem Blick, »daß Sie jetzt noch träumen, andere Himmel zu malen, als Meister Teodors Tafeln sie Ihnen vorführen. Pah, pah, pah! was träumt man nicht alles, wenn man jung ist!« sagte er versunken. »Und ein Schüler, der weiter blicken möchte, der [121] sich auch nur weiter sehnt, wie der Meister, das gibt keine Freundschaft, mein Lieber!«

»Oder denken Sie anders?« fragte er Einhart mit eindringlichem Blick. »Wie, Selle?«

Worauf Einhart doch nur stumm blieb, daß auch Professor Soukoup eine Weile ganz für sich erschien.

»Der rechte Harm ist in der Tat Meister Teodors Sache nicht!« sagte er dann nur in seiner finsteren Art ganz gefangen.

Vor jedem andern hätte Einhart in diesem Moment zugestimmt. Aber hier vermied er es, weil er fühlte, daß er auch nur stumm zu Boden blicken müßte. Und er ließ sich auch gleich von Professor Soukoup wie ein sanfter, gelehriger Schüler bestimmen, hinzugehen zu beiden, zum Direktor und zu Meister Teodor, und beiden die Erklärung abzugeben, die ihm Professor Soukoup sorglich vorgesprochen.

»Ich will mir alle Mühe geben, meine Kollegen umzustimmen, lieber Selle!« hatte Soukoup am Ende gesagt. »Vielleicht gelingt es noch einmal! Sagen Sie auch nur ja, was Sie so durchaus plausibel erzählten,« legte er Einhart noch besonders in den Mund, »daß Ihnen das Wort gar nicht [122] zum Meister, nur zu einem Kameraden entfahren ist. Sie wären so versunken gewesen! Verstehen Sie mich!«

»Wissen Sie, daß mir das wirklich passierte? Ich habe einmal eine Exzellenz mit Du angeredet bei einer Demonstration im Institut, weil ich, versunken in den Gegenstand, immerfort nur auf den großen Hut der Dame gesehen hatte, und dieser Hut dem Hute meiner Frau auf ein Haar glich. Dieselbe Feder an derselben Stelle, daß ich in die Idee gekommen war, ich hätte meine Frau vor mir,« sagte er freundlich und verschmitzt ein wenig.

Es ging noch einmal alles gut vorüber. Professor Soukoup hatte in der Tat zum Frieden geraten. Der Direktor nahm das verzehrte Gesicht Einharts als Ausdruck der Reue, und das einfältige Lächeln, das durchaus weder vor Meister Teodor, noch vor dem Direktor ohne Erbitterung gewesen war, tat beruhigende Wirkung.

6.
[123] 6

Einhart war in den Monaten jetzt, wo wieder der Winter kam, viel daheim. Er gab sich ehrlich Mühe, kein Ärgernis zu erregen und vermied auch mit Meister Teodor jede Mißhelligkeit. In die Meisterateliers kam er auf Stunden, aber er gab vor, in der Galerie zu kopieren, und malte und zeichnete in seiner kleinen Giebelstube.

Wenn er so an dem Fenster des einsamen Dachgelasses saß, konnte er ewig untätig nur hinüberträumen über die tausend Dächer, die sich unter seinen Blicken dehnten und die tausend Kanäle von Straßen mit ihren Menschenscharen in drängendem Strome. Seine Gedanken hatten jetzt oft nicht Halt. Es kamen sonderbare Gefühle von Unstetheit in Einhart auf, die ihn hintreiben ließen und suchen und nicht haften.

»Woher drängt die Menge neu und neu hervor? – mit ihren hastigen Begehrungen? und wohin will der Geist uns lehren einzuziehen?«

Es kam jetzt oft eine lächerliche Entwertung des Lebens in Einhart auf. Er dachte an daheim. Mutter kam ihm ins Auge, die mit ihren Demutsblicken auch noch immer nur so in die Ferne sah wie er, noch immer so schaute und schaute.

[124] »Nun also,« dachte Einhart so hin. »Wohin denn mit alle denen, die sich narren lassen, hinzueilen, und sich mühen?« dachte er dann.

Es war jetzt Weihnachtsmarkt in der Stadt. »Alles ist ein Jahrmarkt. Wer viel in der Tasche hat, kann viel kaufen. Und wer viel in der Seele hat, kann viel hinausgeben.«

»Ich werde einfach auch nur ein Jahrmarktsschreier. Ich muß meine Illusionen auf Leinwand bringen, wie der Bänkelsänger seine Geschichten.«

»Es ist alles nur Jahrmarktsvolk, Jämmerlinge, die amüsiert sein wollen, zu Haufen, und dazu einige Bajazzi! Nun also: ich bin Bajazzo!«

Grottfuß war außer sich über solche Reden. Der nahm sich sehr ernst und wichtig. Wenn er, und andere auch, kamen – denn um Einhart war jetzt immer ein kleines Gedränge, dann hörten sie seine Auslassungen mit Lachen oder Entrüstung.

»Ach, was braucht es zur heutigen Kunst noch eines Menschen von Fleisch und Blut, mit Sehnsuchten noch Erlösung und Überraschung? Das alles weiß man, das kennt man!« rief Einhart dann verächtlich, »diese ganze akademische Kunst! Original, das heißt, aus dem Ursprünglichen, Drängenden, [125] Schauenden neugeboren. Alles andere ist Handlangerei.« »Diese modernen Künstler sind Modeherren, die aus allen Weltgegenden den Wind fangen möchten,« rief er dann.

»Natürlich können sie malen. Man weiß es seit Alters, wie man Eisen weich macht, oder Farben reibt. Ich werfe den Krempel hin. Ich finde es, was mir selber wirklich heiß macht, ein neues Lied, eine neue Weise, eine neue Offenbarung – aus meiner eigenen Tragikomödie! Ich finde es selber, was mich hält, und was sich lohnt, daß ich es tue. Oder ich werfe es hin – alles! das Leben vielleicht!«

»Professor Soukoup, der einzige, der einen hohen Begriff hat von Kunst,« sagte er viele Male, »weiß es nicht zu tun. Und die es tun, haben keinen Begriff, als nur die ungeoffenbarte Offenbarung des ewig Offenbaren,« höhnte er.

Er begann sich jetzt alles hochmütig zu verleiden, versuchte zu Hause Malereien mit allerhand sonderbaren Mischungen, die den Bildern neue Helligkeiten und Kontraste geben sollten, und vor allem, er maltesich, nur immer sich, in tausenderlei Grimassen und den drolligsten Auffassungen. Als Mörder mit dem Dolch. Als Grandseigneur im schwarzen Würdenkleide. [126] Als Verächter. Als Gehässigen mit einem Klumpfuß. Als allerhand. Auch einmal als einen Teufel mit Glühaugen, aus dessen Herzstelle ein Feuerherd heimlich hindurchsah, aus dem allerlei Gestalten, wie Zunder verbrannt, emporloderten und durch die Augen gewissermaßen wie letzte, verzehrte Reste hinausglühten. Er war in ewiger Unruhe, war gleichgültig gegen alles und hatte, wenn er seinen Lebensgroll im Trunke begraben, in der Ecke der Konditorei den Morgen erreicht hatte und das Sichvergessen, wider Willen eine Miene, die scharf lächelte.

Einhart begann wirklich einen ganz eigenen Harm zu empfinden. Das törichte Geschwätz allenthalben begann er zu hassen. Er wollte große Gefühle, neue Wege, mutige Darstellung. Er hohnlachte nur noch, wenn die Kameraden sich stritten, ob Meister Teodor oder Meister Zeichner größer wäre. »Ein tausendstel Millimeter,« sagte er, »man kann es nur mit einem ganz feinen Instrumente messen und kann auch dann nicht sagen, welchen der beiden dieses Flöhchen noch beißt.« So ungefähr.

»Größe kann man nur unter Leuten bemerken,« schrie er dann herrisch mitten hinein, »die ihre Köpfe aufragen lassen – aus dem Erdenstaub und [127] der eklen Masse in die freien Himmel, meine Herren Kameraden, wozu wir alle berufen, aber nur sehr wenige von uns auserwählt sind.«

»Die Größe! Ihr versteht doch! Das ist eine Fähigkeit, sich zu erheben, daß ein jeder, der daneben steht, den andern wirklich oben sieht.«

Viele ärgerten sich. Manche fanden es großartig.

In solcher Laune warf Einhart auch alles weg und sprach selbst von seinem Vater mit Hohn. »Mich wollten sie auf eine Ehrenstelle bringen,« sagte er dann. »Lieber in Lumpen gehen, ehe ich meine Feuer verlöschen lasse auf meinem Herzflecke! versteht ihr! Solcher Herzbrand frißt Kleider und Ehren,« lachte er dann.

»Mein Alter,« konnte er ganz despektierlich sagen, »hat an seinem Herzfleck nur kalte Asche. Und wenn man es nicht bestimmt wüßte, daß er einmal im Leben einen Traum gehabt, früher, dann könnte man denken, es wäre ein steinerner Gast.«

So ungefähr ging es dann aus ihm, daß alle Kameraden für oder widerredeten durcheinander – aber ein jeder auch einen Hauch davon gewann, daß Einhart suchte und sehnte, daß er das Bestehende [128] und das billig Erworbene und nur Gekonnte einfach verachtete. In dem Kleinsten ging dann heimlich ein drängender Brand aus den Funken aus Einhart. Und heimlich hatten die Lehrer so eine ganze Herde Zwerge um sich. In der Seele eines jeden, auch des willfährigsten Schülers saß heimlich ein solcher kleiner Dämon von Einharts Gnaden, der sich nach dem verheißenen, wahren Eigentum zu sehnen angefangen, und der nur widerwillig noch dem mühsamen Erwerbe des wirklichen Könnens sich hingab.

7.
[129] 7

Übrigens war Einhart jetzt merkwürdig abgeschieden von aller Natur und von allem Leben. Es war wie eine Revolution nur aus ihm. Es war, als wenn in dieser Zeit die heiße Glutflüssigkeit seines heimlichen Wesens hervorgebrochen, und die Lavamassen müßten erst einen Krater emporwerfen, und den Glutkreis abgrenzen. Dem Zeitvertreiben der andern Jünglinge, das sie mit den kleinen Modells und vor allem in den niederen Frauenkneipen fanden, hatte er nur achtlos gegenüber gestanden. Die Erinnerung an die kleinen Zigeunermädchen war wohl aufgekommen nicht anders, wie eine flüchtige Neckerei. Die feuchten Münder konnten ihm im Traume aufwachen und verwandelten sich jedesmal in sonderbare Späße. Das war, weil der junge, schöne, geigende Zigeuner und dessen träger Hochmut Einhart vor allem wirklich begeistert hatte. Auch jetzt war ihm noch immer nicht zu Mute gewesen, als wenn er eine feuchte Lippe begehrte.

Außerdem war, was er an Frauen so um sich hatte, grob und gemein. Die Mädchen in der Konditorei waren frech. Einer sah man gleich das [130] gewohnte Verkehren mit Männern an. Sie ließ alles zu, was der Dreisteste ihr antat, lachte geschäftig und stieß ihn mit halblauten, einvernehmlichen Worten weg. Dann war eine, die eine harte, heisere Stimme hatte. Und der einer der lässigsten Schüler der Akademie immer auf den Fersen saß. Alles das langweilte Einhart. Er sah es mit Unacht. Am meisten zuwider waren ihm die hochgetürmten Frauenzimmer, die ihn auf der Straße ansprachen und ihn fangen wollten mit geilem Geflüster. So saß der zernagte Mensch meist in der Sofaecke der Konditorei, sogar von den bedienenden Mädchen als etwas Besonderes angestaunt, weil er sich um sie nicht kümmerte.

Aber der Zufall wollte es, daß er über einem Bilde brütete, und daß er verwunderliche Vorstellungen gewann. Der junge Zigeuner »seines ersten Ausflugs ins Freie«, wie er jetzt seine Zigeunerepisode nannte, war ihm im Sinn gelegen, und er sah ihn als Geigenspieler in jener Wundernacht voll Rausch. Er sah ihn deutlicher wieder vor sich auf einem Kissen sitzen, wie deren in den Wagen gelegen, den heißen Glutblick inbrünstig sehnend und verzehrend in die Weite. Einhart hatte viele Male [131] eine Frage in sich, wohin das Rabenauge jenes Verächters und Träumers gerichtet wäre? In solcher Stimmung, verdrossen und verächtlich, immer die Sehnsucht des Zigeuners, die ungestillt war, selber im Herzen, und unzufrieden mit den Kameraden, und recht gelangweilt, kam er von Grottfuß geführt in ein kleines Restaurant, wo er noch nie gewesen.

Es war Nachtzeit, gegen elf, im Winter. Man hatte sich von den übrigen Kunstschülern getrennt, weil Einhart die Gespräche und Streite »um die großen Kartoffeln des Königs Nebukadnezar,« wie er sich ausdrückte, unmöglich weiter anhören konnte, und er ohne ein Wort des Abschieds aufgebrochen war.

Grottfuß war gleich auch aufgestanden und hatte wenigstens die Fingerspitzen einigen Kameraden hingehalten, und Selma, die Kellnerin, in den Arm gekniffen zum Abschied. So waren die beiden mit den hochgekrempten Kragen verschneit in das Bierhaus eingetreten.

Es war ein rauchiges Lokal, und nur die einzige Ecke in der Nähe des Büffets hatte einen freien, kleinen Rundtisch zum Plaudern. Da war Einhart plötzlich ein Gesicht aufgegangen. Der Zigeuner [132] in seinem Innern voll Sehnsucht sah aus ihm heraus. In dem Lokal eilte eine Bedienende geschäftig hin und her – ein engellichtes, goldhaariges Mädchen, jung wie der Frühling und sanft von Mienen und scheu von Art. Sie war zu den beiden sofort herangetreten. Nun brachte sie ihnen die hellen, vollen Gläser.

Einhart war ganz stumm gleich. Grottfuß wollte reden. Aber Einhart sah nur in sein Glas und hundertmal hinüber. Grottfuß wollte das Mädchen rühmen. Auch er war von dem Jugendglanz betroffen, und fand es gemein, ein solches Bild von Reine hier im Rauche.

»Ach was,« sagte Einhart, »vielleicht ist es gut so. Vielleicht ist es eine Bestimmung.« Eigentlich hatte es nicht recht Sinn, was Einhart so redete. Oder es war sein Gefühl nicht klar zum Ausdruck gekommen. Jedenfalls ließ er nicht ab hinzublicken, und die Wege der goldblonden Jungen im Lokal hin und her zu verfolgen.

Er redete an dem Abend gar nichts weiter. Er verriet mit keiner Silbe seine Bewegung. Einem jungen, schnurrbärtigen Herrn, offenbar einem Referendar, der es plump versuchte, dem Mädchen [133] näher zu kommen und sie anzurühren, entwich sie sanft mit klingendem Lachen.

»Draußen und drinnen ist nämlich immer dasselbe,« sagte Einhart einmal unvermittelt. Das war auch so eine Philosophie, wie er sie jetzt gebildet hatte.

»Gott sei Dank, daß da und dort noch immer eine Macht ist,« sagte er wie für sich, als er sah, daß den Männern im Rauch der Bierstube eine Ahnung von Weihe gegen das Kind im Blute saß.

Einhart war einmal plötzlich aufgestanden, und kämpfte lange, ob er gehen oder bleiben sollte? Grottfuß blieb stumm sitzen und rührte sich nicht. Er war auf die Akademie zu sprechen gekommen. Einhart stand und paffte den Rauch seiner Zigarette und strich den Aschenknopf auf den Bierdeckel. Seine Augen hatten etwas Versunkenes, Hartes, Begehrliches. Er hätte in diesem Augenblick denen zu Hause wie ein ganz Fremder geschienen. Er war schon jetzt in den richtigen Kämpfen um ein Leben. Er ging mit Hunger und Durst anzueignen, was aufbaut.

So drängen Keime in der Erde mit Hunger und Durst, sich und ihre Triebe aufzuheben, und die [134] junge Pflanze mit Hunger und Durst, wenn erst der Licht-und Luftkreis erreicht ist, aus Visionen und Atem es zu ersinnen, was zur Blüte, und was zur Frucht führt.

Einhart sog jetzt ein, sozusagen. Grottfuß konnte es ahnen. Er sah an Einhart heimlich auf. In ihm war eine Abhängigkeit von Einhart. In Einhart war keinerlei Abhängigkeit, außer von den Dingen, nach denen er Hunger und Durst empfand.

Aber Einhart blieb dann doch noch wieder sitzen. Er hatte lange gestanden. Nun entschied er sich zu einem neuen Glase. Er klopfte auf den Tisch und redete sanft zu der Blonden, seltsam gespreizt jetzt. »Was trägt so eine Goldhaarige für einen Namen?« sagte er einfältig lächelnd plötzlich zum ersten Male.

»Ach Gott, eine Goldhaarige nennen Sie mich. Nun ja! Und wie ich heiße, wollen Sie wissen? Das können Sie wissen! Dorothea!« sagte sie ganz sanften Tones, ganz rot werdend. Daß Einhart und Grottfuß ein Staunen nicht los wurden, wie flaumig die Haut der Jungen schien, wie mit den sanftesten Farben das Blut in Milchweiße einfuhr, das Gesicht so zart wie Blumenfleisch. Sanft außermaßen klang der Jungen Ton. Einhart gegenüber [135] gar nicht weiter scheu, mehr so lieb hin, wie das Lächeln und die Röte verraten hatte.

Einhart war vollends für sich geworden, als er den Ton im Ohr und das Bild im Auge dasaß. Er sah ganz kindlich aus – – – unerwartet. Grottfuß sah ihn ein paarmal von der Seite an.

»Ja – also na ... Dorothea .. Dorothea ...! also – –,« lächelte Einhart nur vor sich hin.

So saßen sie noch ewig.

Einhart kam nun jeden Abend hier in die Ecke, und hatte noch am dritten Abend nichts weiter mit Dorothea geredet. Nur daheim hatte er versucht, seine Vision auf die Leinwand zu bringen.

8.
[136] 8

In einer kleinen Wohnung unter Dach, Einhart gegenüber wohnte ein altes Fräulein mit einem Kropf vorn am Halse, der welk und runzelig ein wenig aus der schwarzseidenen Mantille heraussah. Einhart mußte oft an dem Fräulein vorbei, wenn er aus seinem Stübel trat, um die Treppen hinabzusteigen, und machte sich dabei jedesmal eigene Gedanken. Er wohnte in seiner Dachwohnung jetzt schon fast zwei Jahre. Und es war an die hundertmal gewesen, daß er aus dem bleichen, langnasigen, großzügigen Parzengesicht der hutzeligen Dame eine sonderliche Frage halb achtlos mit fortgenommen.

»Fräulein Reseda« hatte sie Einhart für sich genannt, weil sie stets einen ganz feinen Geruch von Blumen um sich ausbreitete, und aus dem Geruch ihm Bilder von einem altertümlich eingefriedeten Garten hinter hohem Heckenzaune, darin große Herbstblumen mit verlockenden, welken Aromen im Abendschein blühten, aufgestiegen. Das kam Einhart und entschwand kaum geachtet, jedesmal dann, sobald er im Gewühle der Menschen seinen Weg in die Bierstube genommen, wo Dorothea bediente.

Wie der Frühling kam, lebte Einhart ein sehr [137] zerfahrenes Leben, blieb die Nächte außer Hause und kam gewöhnlich erst heim, wenn durch sein Dachfenster die blaue Stunde schien. Weder Hunger noch Durst achtete er recht. Die alte Wirtin, wenn sie sah, daß der hagere, zigeunerische Mensch den ganzen Tag, schlafend oder arbeitend, so zwischendurch ein jedes, daheim zubrachte, begriff durchaus nicht, wovon solcher Sonderling lebte. Die Dachwohnungsnachbarn erfuhren das heimlich. So wie es auch nicht verborgen geblieben, daß in Einharts Zimmer Skizzen und Bilder von nackten Frauen reichlich herumlagen und standen.

Da fand Einhart von einer Zeit an in seinem Zimmer zunächst stets, wenn er im Morgengrauen heimkehrte, eßbare Dinge. Einen Topf Milch und ein paar Semmeln. Oder Früchte mit einigen Kuchenstücken. Auch einmal eine ganze Wurst und ein neues Brot. Wenn Einhart, vernagt und besinnungslos von seinen Nachtsitzungen heimkam, dachte er mit keinem Wort an jemand, der so etwas ihm könnte bereitet haben. Er aß und trank, dankte ins Ungewisse, schlief und begann den Tag spät, wenn die Sonne schon im hellsten Mittag schwamm, sich mit seinen Visionen neu abzuplagen.

[138] Freund Grottfuß war der Sohn einer einsam lebenden, alten Tänzerin, und eine ganz seltsame, feine, helle Person. Sein sehr scharfes, schmales Gesicht hatte immer einen sanften Ernst. Im Lachen konnte das Gesicht altmodisch steif aussehen, weil die Gesichtshaut um die Mundwinkel und Nasenflügel sich dabei zu spannen schien, und kaum eine rechte Verziehung zu Stande kam. Etwas Verhaltenes nur, daß man an ihm in solchen Momenten fühlte, wie spitz die Seelenbewegung ihn durchfuhr. Wozu man die Augen sehen mußte, die blau waren, und dann groß glänzten, obwohl nur die Fülle Glanz sie so scheinen machte, die Augenlider wie bei allem Lachen sich sanft zusammenschoben.

Wenn Grottfuß, auch verächtlich gestimmt, und meist sehr geärgert, weil Einhart alle seine Leinwanden hinter Bettstatt und Vorhang vergraben, sobald er Grottfuß' Tritte auf der Bodenstiege erhört hatte, bei Einhart saß, kamen sie jetzt gewöhnlich auf Naturnachahmung zu reden.

»Natur,« sagte dann Grottfuß in allerlei Wiederholungen, »ich begreife nicht, wohin solches Nachahmen führen soll? Natur! Jede beliebige Beigabe ist immer noch besser, als die natürliche Langeweile![139] Man sieht es ja. Sie möchten auch alle die Beigabe!« Man regt »Symbole«. Man hüllt ins »Märchenhafte« ein. Oder macht einen »Hinblick auf das Leben«. Aber »Mitleiden«, »Herr Jesus! Kunst und so ein Hinweis!« sagte er dann gewichtig: »als ob nicht Kunst immer eine Festfreude aus der großen Seele sein müßte!« sagte er wie ein Könner.

Einhart war dieses Gerede jetzt durchaus zuwider. Und weil es sein innerstes Evangelium war, was der andere rein als Wort und Phrase jeden Augenblick neu vortrug, nannte er Grottfuß ins Blaue hinein einen verrückten Menschen. »Ich würde durchaus zufrieden sein,« sagte dann Einhart lächelnd, »auch nur die Nase eines Menschen so malen zu können, wie sie Seelenhaftes zum Ausdruck bringt.« Er dachte an Dorothea. Er hatte auch Dorotheas Nase genannt und geschildert, wie ihre feinen, pfirsichweichen Nasenflügel bebten und zuckten, und daß man allein aus diesem Leben der Nasenflügel ohne Symbolik und Märchen und Mitleiden sein Wunder sehen und malen könnte.

»Deine ganze Kunsttheorie ist einfach Verliebtheit,« rief dann Grottfuß gewöhnlich, »und du [140] wirst auch deinen anmaßlichen Traum auf der Erde endigen, wie wir alle.« Weil Grottfuß wie Einhart in Dorothea verliebt war.

Auch im Restaurant saßen sie so und stritten sich. Und manchmal schon hatte Grottfuß oder Einhart, wer dann zuerst den Augenblick für gekommen hielt, das Lokal im Hohn oder stummen Widerstreit verlassen. Aber wenn Einhart es gewesen, kam er gewöhnlich nach zwei Minuten wieder. Und in einer Nacht, als er Grottfuß nicht mehr vorfand, war er allein an seinem Tische sitzen geblieben, bis sich das Restaurant völlig leerte. Da hatte er Dorotheas Arm ergriffen, und die beiden waren durch die Nachtstraßen lustig in seine Wohnung geschwenkt.

Seltsam erregtes Ereignis in Einhart zum ersten Male. Leise schließend war er mit Dorothea ins dunkle Haus eingetreten, worein nur der Lichtschein durchs Stirnfenster der Haustür fiel. Einhart war zum ersten Male heimlich gestochen von der Glut. Er konnte vor Erregung nicht reden. Dorothea war stumm und hingebend. Er hatte ein Wachslicht zum Brennen gebracht. Man sah die grauen Stufen, die man hinaufschlich. Und war bald unter [141] seine Leinwanden und zwischen Bettstatt und Sofa und Staffelei eingetreten.

Dorothea hatte sich gleich zurecht gefunden, als Einhart die kleine Lampe entzündete. Liebliche, blonde, flaumige Junge noch immer, saß sie im Scheine auf seinem Sofa, indem sie sich lächelnd umsah, immer Einhart ins Auge sehend, indes sie ihn streichelte, und seinen Kopf herzuzog. Aber sie stand auch wieder auf und besah sich die Skizzen an der Wand, trug die Lampe selber herzu und hielt den Schein auf die Bilder.

»Solche unanständige Sachen machst du, kleiner Verliebter,« sagte sie plötzlich lüstern und pfiffig.

Einhart sah sie an, wie sie herumging, gleichgültig ihr aufgebundenes Goldhaar hinter sich fallen ließ, und dann die Knöpfe des Kleides aufzunesteln versuchte. Er sah jetzt auch, daß Dorothea mit übermüdeten Augen auf die Bilder blinzelte, welk und herzlos.

»O du! Solche tolle Sachen machst du. Also du bist wirklich Maler!« rief sie dazwischen. »Ich habe immer gedacht, du hättest mich beschwindelt,« klang es ziemlich ordinär plötzlich in Einharts Ohren.

Einhart mußte furchtbar lachen.

[142] »Du dachtest wohl, ich wäre ein Bierbrauer oder so,« sagte er, auch aus der Rolle gefallen.

»Laß das Bild stehen!« rief er ein wenig gereizt.

Aber Dorothea gab ihm einen Klaps ins Gesicht, zog sich Anderes hervor, indem sie sich ganz achtlos weiter entkleidete und lachte.

»Ist das nur verrückt, mein Junge! wie? so sollte ich aussehen?« sagte sie jetzt frech, indem sie nun dem Zigeunerbild aufs neugierigste naheging. »Erstens einmal habe ich einen ganz anderen Blick, eine ganz reine Haut und dann« – – sie hatte ihre weiße Bluse vollends beiseite geworfen und zeigte ihm ihr weißes, volles Busenfleisch ganz leichthin, hielt die Fülle mit Behagen in ihren kindlichen Händen fest und sagte: »Da sieh! solchen Busen wie meiner – – und der da! – – nicht?!«

Einhart starrte wie ein Ängstlicher auf seine Leinwand, wo eine keusche, zarte, blonde Frau voll zärtlicher Inbrunst zum Geliebten sah, und sein Lachen, als es jetzt neu ausbrach, war noch sinnloser geworden, daß Dorothea empfindlich wurde. »Worüber lachst du denn so frech?« fragte sie.

»Nicht doch!« sagte Einhart, zur Besinnung kommend.

[143] »Ach Schatz!« redete Dorothea schmollend. Aber sie begann sich an ihn anzupressen.

Einhart war die ganze Lage seltsam unangenehm. Er war ziemlich ernst geworden. Er sah sich das Mädchen jetzt nur scharf an. Seine Augen waren unentschlossen und spitz.

»Was soll denn nun werden? mich friert!« sagte Dorothea unzufrieden, weil sie halb nackt dastand.

»Kleinchen!« sagte sie und bettelte ihn, schlug ihre nackten Arme um ihn und wollte ihn zu sich ziehen.

Aber Einhart war völlig erkaltet. Daß er sie jetzt bestimmt zurückhielt. Und dann stand er auf und ging mit sich im Widerstreite hin und her.

»Iß nur!« sagte er ablenkend und schob Dorothea zwei Apfelsinen und den Kuchen über den Tisch hin, die unerwartet wieder dagestanden. Dorothea lachte höhnisch. Dann begann sie zu essen.

Einhart kam sich richtig lächerlich vor. Er begann plötzlich in seinen Taschen alles Geld zusammenzusuchen, was er bei sich trug. Es war ihm unsäglich drückend zu Mute.

»Du bist ein guter Kerl!« sagte Dorothea fein, als[144] er ihr reichlich Geld hinhielt, das sie sogleich geschäftig in die Tasche ihres Rockes barg, der noch über die Sofakante herunterhing. Dann begann sich Dorothea zögernd anzukleiden.

»Also ein Künstler bist du? Ich könnte dir doch wenigstens einmal Modell stehen – richtig!« sagte sie ernst, ein wenig kleinmütig. »So feine Sachen wie du malst! – – aber ein andermal! – – du! – nicht? – Was hat dich denn verdrossen, Liebchen?« fragte sie zärtlich. »Ich begreife dich gar nicht. Ein Sonderling bist du!« sagte sie ein wenig beleidigt. »Ein richtiger Sonderling bist du!« wiederholte sie dann ein paar Mal, als wenn ihr der Einfall sehr gefiele. »Nämlich am Tage, mußt du wissen, bin ich doch immer im Dienst gebunden. Aber nachts muß ich ein bissel verliebt sein!« – – »Ach du, Schatz! – nein!« indem sie sich noch einmal an ihn zu drängen versuchte. »Ein richtiger Sonderling bist du wirklich!«

»Gewiß, Thea!« sagte Einhart. Dann hatte Einhart die junge Blonde mit einem kleinen Lichtstumpf die vier Stiegen stumm hinunter begleitet und sie in den grauen Morgen hinaus verschwinden sehen.

9.
[145] 9

An der Akademie ging das Leben seinen Gang. Der Frühling hatte neue Werke hervorgebracht. Draußen auf der Wiese die Anemonen und Schneeglöckchen zuerst, und die Wiesenschaumkräuter, die Bäche und Raine säumten, und den goldgelben Schmirgel, der aus blauen Sumpfwassern kroch, und manches, das im Luftkreise Süße hauchte.

Und drinnen, in den Meisterateliers, auch allerlei. Das war alles in den Frühlingssalon gewandert, wo es an der Wand hing, und von dem Ruhm und Können der Meister Zeugnis schuf. Wie neuer Schmirgel und neues Vergißmeinnicht.

»Aber eine Wunderblume ist nicht darunter,« meinte Einhart trocken, als er auf die Stufen vor die große Ausstellung wieder herausgetreten. Einhart sagte nur das. Grottfuß lehnte sich an den Gedanken an und ereiferte sich noch immer, daß die Leute zu sklavisch wären, und daß es nur gelingen könnte, wirklich zu überraschen, wenn man auf eine neuerfundene Weise etwas sagte, und das heißt, stilisierte. Einhart fand all das Gerede lächerlich. Er hatte sein Wort gesagt und sagte nichts weiter. Vor den Kunstwerken in [146] den weiten Ausstellungsräumen hatte er gar nichts geredet. Nein nichts. Grottfuß war es, der sich über tausenderlei aufregte. »Die Malweise ist roh,« hatte Einhart bei einem Bilde gedacht, ins Schauen und Suchen versunken, und war weiter gegangen.

Seit er Dorothea in seinem Dachzimmer gehabt und seinen Zigeuner mit der Geige daneben gesehen, den Traum neben dem Leben, war ein Riß in ihm, wie eine Wunde. Wie Einhart, den ganzen, großen Kreis von Bildern hinter sich, mit Grottfuß wieder auf die Straße getreten, war er gleich vorwärtsgegangen, als wenn er allein wäre. Grottfuß, über diesen Hochmut heimlich empört, war auch abgebogen, ohne mehr als seinen Knopfstock mit dem blauen Lasurstein ein wenig von der Schulter gegen Einhart zu neigen.

So waren sie auseinandergegangen.

Einhart war unsäglich ermattet und unzufrieden. Rein in der Idee. Rein nur im Sohinträumen von etwas, das er nicht kannte. Er war wie ein rechter Zigeuner jetzt wieder. Auch recht verwahrlost äußerlich, kann man sagen. Wenn auch seine runde Wirtin, die dick war wie ein Faß, und die immer weinte über allerlei Eigenes und Fremdes, [147] dafür sorgte, daß wenigstens der Rock gebürstet und die niedergetretenen Stiefel geputzt waren. Hände und Gesicht konnte sie doch dem zwanzigjährigen, dunkelsträhnigen Menschen nicht mehr waschen. Die Haut blieb grau und die Nägel schmutzig und alles hing achtlos an ihm, wie die fetten, glänzenden Strähne um seine Stirn.

Einhart lief jetzt allein und sehr aufgewühlt. Er war es zufrieden, Grottfuß, der ewig theoretisierte, los zu sein. Er lief nach Hause, und nachdem er eine Leinwand nach der andern hervorgeholt und genau betrachtet, überkam ihn ein langes Sichvergessen.

Was in ihm hinging, ist nicht leicht zu sagen.

Er hatte ein sehr liebendes Anschauen in allem. Worte und Namen standen nicht zwischen ihm und seiner Welt. Es war gegen ein Uhr gewesen, als er sich so noch im Hut, und den Krückstock in der Linken, auf einen Stuhl am Bette niedergelassen. Nun saß er die Augen manchmal geschlossen. Was ihm vorüberging, war eine lange, graue Reihe von Menschen und Dingen, wie in einer Stadtstraße. Auch die von daheim – und schwüle Nächte. Ein eigentümlicher Reigen von Gefühlen, darin [148] kein Drang ihn weckte, aufzustehen, und sich zu rühren. Er hatte wie ein hartes Leid auch. Irgendwo mußte es zu finden sein. Er hätte nicht gewußt, wie sich hinbewegen? Eine Angst war es, ein einziger, physischer Druck, daß die Adern an seiner Stirn manchmal heftig pulsten. Auch an die Landstraße hatte er denken müssen, wo er einmal hinausgewandert in der seligen Ahnung nach Wunderdingen.

Seltsame Verschlafenheit fast, in der alles Begehren untergesunken, wie auch Hunger jetzt und Durst.

Er hatte da allerhand gemalt, das er starr ansah: Geigenspieler, nacktes Gesindel mit bronzenen Leibern, sehnsüchtigen Blickes. Aber auch das alles hatte jetzt Klang und Glanz verloren. Daß er es verabscheute, wie die graue Leere. Er fühlte sich ganz hoffnungslos. Er begriff nicht, wie das alles so schnell schal geworden. Er nahm eine Schere und stieß eine Leinwand nach der andern durch und schnitt ein Bild nach dem andern aus dem Rahmen, ohne aus seinem Sinnen aufzuwachen. Alles war glanzlos und sinnlos und nüchtern, dünkte es ihm, wie einem, der plötzlich nicht mehr Musik – [149] nur noch den Lärm daraus im Ohr behält. Er konnte nichts finden, das ihn jetzt hätte halten können. Nicht er selber, noch irgend ein Heilbringer. Auch Herr Soukoup nicht, mit seinen großen Kunstforderungen, noch gar Meister Teodor mit seinen Idyllen. Alles war grau in grau, kleinlich-wirklich, nichtig, bekannt, gut und tüchtig und sonst nicht viel, ein rechtes Herkommen der Seele von langeher, immer wieder wie Blumen kommen –: »nur keine Wunderblume darunter!«

In diesem Augenblick trat jemand ein. Die Wahrheit zu sagen, Einhart sah heut durch die Wände. Wie er so geträumt mit offenen Augen, es mußten Stunden vergangen sein, es war gegen vier Uhr jetzt, und er war noch von früh an ungegessen und ungetrunken, hatte er ein Spüren in allen Fasern. So hatte er feine Tritte schleichen hören, und hatte schon am Anklopfen gemerkt, daß hinter der Tür Fräulein Reseda Einlaß begehrte. Es ist ein wahres Wunder, daß sie gerade an seiner Tür pochte, wo er, ein rechter, vogelfreier Zigeuner, vielleicht schon morgen diese ganze Welt voll Herkommen würde verlassen haben, vielleicht schon heute, vielleicht schon im nächsten Augenblick, weil ihn der Drang nach [150] etwas Wunderbarem von neuem angepackt und hingenommen. Aber jetzt stand Fräulein Reseda in aller Sanftheit vor ihm.

Einhart war nicht einmal aufgestanden, so erstaunt war er. Er sah sehr verlassen aus und lächelte. Fräulein Reseda erkannte an seinen Augen, daß er erst allmählich in diese wirkliche Welt sich nach Hause fand. Seine Augen sahen herum, wie einer, der von etwas zu viel Licht geblendet sieht. Fräulein Reseda ging freundlich näher.

»Werden Sie böse sein, wenn ich einmal zu Ihnen eintrete?« sagte sie sehr fein.

Einhart sah, daß es ein vornehmes Fräulein war. Obwohl der Kropf leicht aus der Mantille heraussah, hatte sie eine ganz erwählte, stille Rede, die Hände fein und schmal voll blauen Aderwerkes. Einhart konnte wirklich jetzt nur lächeln. Schon weil auch Fräulein Reseda aus Güte lächelte.

»Oh oh, was Sie da haben!« sagte sie wie mit flüchtigem Blick in leichtem Vorwurf, auf die bunten Leinwandfetzen am Boden weisend, halb verlegen. Übrigens war, wie Einhart jetzt noch genauer sah, Fräulein Reseda bucklig. Aber ihr Auge war tief und braun, ihr Gesicht blaß und schmal, mit einem [151] behaarten Wärzchen am Unterkinn, und ihre Bewegung in allem fast fromm und verhalten.

»Ich wollte schon immer einmal kommen,« sagte sie »weil ich dachte, daß ich Ihnen etwas nützen könnte. Sie leben allein und sind gewiß noch jung und unerfahren,« sagte sie.

Einhart war in solchem Falle recht wie ein Mann, der gar keine Acht hat, auf keine Forderung und Höflichkeit. Nur ganz voll Zutrauen. »Ach Gott –« sagte er, »allein – ja – allein – lebe ich – oder auch nicht allein. Wie man es nimmt. In Gesellschaft genug! Ich komme eben aus dem Ausstellungstrubel, da war die ganze Stadt –« sagte er.

»Wissen Sie, weswegen ich komme?« fragte Fräulein Reseda. »Aber erst erlauben Sie mir zu sitzen,« sagte sie gleich darnach, »ich habe immerfort Wäsche gelegt. Sehen Sie! Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mich nicht auch einmal besuchen wollen? Sie leben so sehr unregelmäßig und gewiß nicht immer in der besten Gesellschaft!«

Einhart fand diese Rede wunderlich. »In der besten Gesellschaft?« wiederholte er und ging zum ersten Male auf und ab, als wenn nun jemand gekommen wäre, der ihn zur Rede stellen und mit Mahnungen[152] versehen wollte. Er mußte an die Nacht mit Dorothea zurückdenken. »Nein, Sie haben durchaus recht,« sagte Einhart dann zustimmend. »Begreifen Sie doch: man weiß eigentlich überhaupt nicht recht. Die Eltern schicken einen an so eine Akademie und sagen nur: ›Tue Gutes!‹ Nun müht man sich. Und greift ins Unbestimmte. Ich habe Sie doch nie gestört mit meinem Wohnen hier? Oder doch? Wollen Sie mir etwa deshalb die Leviten lesen?« – sagte er verlegen lächelnd.

»I Gott! lieber Herr Selle! Ich werde – – – nein nein – – – Glauben Sie doch das nicht! Nichts dergleichen. Nur ganz allgemein: nämlich – ich wollte Ihnen immer sagen: ich glaube, die Künste hat der Teufel erfunden,« stieß Fräulein Reseda dann hervor. »Das ist nichts Gutes! Da wird alles veräußerlicht. Und äußere Maße sind nicht immer die inneren! O Gott!«

Beide waren eine Weile verlegen lächelnd still für sich.

»Und nicht nur das,« sagte Fräulein Reseda hastig weiter, als Einhart dann lebendiger sie anzusehen angefangen. »Die jungen Künstler leben ein gottloses Leben. Sie taumeln herum, wie die Schmetterlinge [153] auf allen Blumen, wo sie etwas Süßes finden. Und haben nicht Halt.« Und ehe sich Einhart besann, brachte sie vor, daß sie manchmal bei sich junge Leute hätte, Leute in Einharts Alter, gute, strebsame, fromme Jünglinge. Und wenn er sie besuchen und so manchmal auch bei ihr ein Mahl mit denen einnehmen wollte, möchte er kommen. »Nicht um meinetwillen komme ich,« sagte Fräulein Reseda am Ende ausdrücklich. »Ich dachte mir, daß ein Leben gewonnen wäre, wenn der Geist der Jünglinge nur rechtzeitig auf die wahren Güter und Halte gerichtet würde.«

Fräulein Reseda sprach sanfte Ideen, daß Einhart sein Lächeln gar nicht wieder los wurde. Als er sein Hin- und Herwandeln einstellte, worin er jetzt ganz dem alten Herrn Selle glich, war er froh, daß eine Stimme aus einer ganz anderen Welt plötzlich zu rufen angefangen.

»Gewiß werde ich kommen. Warum denn nicht?« sagte er bestimmt. »Einmal schon, weil ein Künstler allerlei Menschen kennen lernen muß, und sich aus tausend Zügen etwas erlesen. Und dann, weil Sie mich gewiß nicht einladen, um mich drüben zu vergiften,« sagte er drollig, »weil ich [154] Ihnen nicht mißtraue.« Fräulein Reseda lachte hell auf. Ihr Lachen war ein feiner, gefälliger Klang. Einhart mußte dabei unwillkürlich an etwas Schönes und Freies denken. Aus dem Lachen kam ein Hauch voller Hoffnung wie aus einer fernen Jugend.

Wie dann Fräulein Reseda hinaus war, war Einhart noch immer erregt, wie wenn er etwas erlebt hätte. »Eine Wunderblume ist nicht darunter,« hatte er auf den Stufen vor der Ausstellung gesagt, als er am Morgen mit Grottfuß heraustrat. »Ob denn hier im heimlichen Bodengelaß etwas Wunderbares blüht?« dachte er jetzt. Er hatte alle Dränge vergessen, hinauszuwandern, seine Mattigkeit und sein Widerstreben gegen sich selber, seine Begierde, die Gegenwart hinter sich zu lassen. Fräulein Reseda hatte gleichsam, wie eine Schale noch in lauter Hüllen, ihr seltsam gütiges Leben vor ihn getragen. Einhart begann neu erfaßt, aufzulachen. »Man muß solcher Menschenliebe mit Kropf und Buckel nachspüren,« sagte er vor sich hin.

10.
[155] 10

Fräulein Reseda hatte ihre Wohnung im vierten Stockwerk, wie Einhart seine Giebelstube. Und Einhart war wirklich zum ersten Male im Leben entzückt, wie es in einer menschlichen Wohnung aussehen konnte.

Einhart kannte jetzt manche Wohnstätte von Menschen. Nicht nur die Behausung, in der Herr Geheimrat Selle nebst Frau und den Töchtern saß. Man lebte darin noch immer so recht ein Leben der Gewohnheit. Und alle Möbelstücke und die Blume auf dem Teppich schienen eine steife Würde für sich zu tragen, so etwa, als wenn jedes für sich sagen wollte, gedungen und ausgenützt stehe ich und diene hier einem gleichmäßigen, eintönigen Leben. Das Sofa mit den großen Lehnen und der Tisch mit dem Silberteller voller Karten mit noblen Namen und Würden, ein jedes vergriffene Stück schien heimlich zu stöhnen und zu raunen, daß es sich wie verschlafen und steif fühle und wie hoffnungslos eingeschlossen, als ein freudeleeres Glied in dieser nichtgeachteten, verschlafenen Runde. Da gab es nur ein eintöniges, heimliches Widereinanderklingen wie in den Seelen. Und der Herr Geheimrat [156] tat der blauen Blume im gelben Spiegelfelde sogar jetzt noch öfter die Ehre an, einmal mit Sammetschuhen geärgert darüberhinzugehen und ringsum weder den Sklaven »Tisch«, noch den willigen Sekretär oder den Diener Schreibtisch groß zu achten.

Das war so Dienervolk.

Das stand da oben in der Wohnung des Geheimrats wie unten im Hause in der Wohnung des Herrn Ipsilon und wo nicht noch alles! Und allenthalben hatte man da an den Wänden auch Bilder und Stiche angebracht, ohne groß zu achten, welche Seelen hier ihr Lied gesungen, oder aus welchem Grunde man da und dort in Ecken und Winkeln Einladungen zum Sitzen in Holz und Kissen hingepflanzt. Das war Dienervolk, Tische und Stühle, Bilder und Schränke, was man aus Herkommen und Notdurft zusammengedungen auf Markt und Gassen, und was man schlecht und recht eine bürgerliche Wohnung nannte.

Dann hatte Einhart auch eine Wohnung gesehen, die ihn seltsam genug dünkte. Als er zum ersten Male bei Professor Soukoup eingetreten. Tische und Stühle darin waren alle aus feinen Hölzern, [157] funkelnagelneu, alles feine Prunkstücke, ein jedes wie ein Muster einer feinen Idee, die sich darin ausprägte, ganz rein und in einfachsten Linien, wie Professor Soukoup ausdrücklich erklärt hatte. Es saß sich wirklich sehr bequem auf den großen Stühlen. Keinerlei fremde Zierrate. Die Ornamente der Teppiche mit denen der Gardinen eingestimmt. Wenn das eine Zimmer einen blau empfing, sah man weiter in gelbe Räume. Allenthalben klangen die Farben der Wände mit den großen Dunkelornamenten der Vorhänge und Möbelflächen zusammen. Es war wie ein extraarrangiertes Orchester, das jedem, der hereinkam, sofort ein Lied oder einen Siegesgesang oder ein sanftes Adagio aufspielen konnte, wozu dann der Dirigent viele Male auf den Eintretenden die Augen richtete und zu sagen schien: »Nun, ist das nicht eine feine Musik? wohne ich nicht unter reinen Harmonien?«

Einhart wußte es gar nicht, daß man solche Orchester allenthalben jetzt in reichen Häusern spielen ließ. Daß, wenn der reiche Herr Ysop sich von den Wandflächen und Teppichen und aus Möbel und Gefäß so eine stumme Musik von einem [158] Künstler ersinnen ließ, auch die Möbelstücke und Bowlen und Teller des Herrn Ypsilanti nicht ganz tonlos bleiben durften. Daß man eigentlich jetzt sozusagen in allen vermögenden Hausern denselben Musikanten begegnete.

Aber Fräulein Resedas Wohnung, der begegnete man nirgends. Man kann ohne weiteres sagen, daß Einhart einfach vergaß, daß Fräulein Reseda einen Buckel hatte, sofort, als er eingetreten. Daß Fräulein Reseda einen Kropf hatte, der aus der Mantille heraussah. Er sah nur noch das lange, hagere, feine Gesicht mit der Nase, die ihm nicht mehr lang, nur sehr ausdrucksvoll sanft auf alles zu weisen schien, was die schönen Dunkelaugen sprachen. Gewiß war die Haut von Fräulein Reseda welk. Aber das Gesicht hatte einen Rahmen schwarzer, voller Scheitel unter dem Chenillenetz, und das schlichte, fromme Kleid, das sie trug, erinnerte ihn an ein altes Stammbuchblatt, das Frau Selle einmal früher, als sie in alten Sachen kramte, von der Großmutter gefunden und sogleich zerrissen hatte, weil sie damals gemeint, das wären auch solche Dummheiten gewesen, die man früher betrieben.

[159] Nun, zu allernächst muß von der Wohnung geredet werden. Daß sie im vierten Stock lag, hatte der Seele der Wohnung gar nichts anzuhaben vermocht. Um so wunderbarer kam es jedem vor, der aus dem dunklen Bodenraum hineintrat. Man hätte hier gedacht, nicht einmal niederen Dienern, stumm und devot und unzugehörig, geschweige gut bezahlten Stadtmusikanten zu begegnen, nur etwa müdem, abgenutzten Gesindel, wie es in Einharts Stube dürftig zusammengelesen. Und nun sah man es gleich, daß darin nur wirkliche, stille, liebe, alte Vertraute zusammenstanden, wirklich Vertraute, mit langen, tiefen Schicksalen.

Allein die eine Wand gegen die beiden Fenster war schon rein wie ein Altar der Liebe, so däuchte es Einhart, wie er eintrat. Da stand ein bauchiger Schub mit goldnen Griffen und einer Decke von Mutterhänden mit Blumen durchwirkt, bunte, farbighelle Sterne, einer anders als alle, und in stillen Stunden, wenn Fräulein Reseda in der Dämmerung noch ohne Licht saß, begannen diese Blumensterne sich zu einem Bilde voll liebenden Lebens zu ergänzen, erwachten auch die Hände mit der dünnen Haut und den blauen Adern – und den [160] großen Nadeln und die Augen voll Bläue und die ganze, liebe, haubenumrahmte Muttergestalt neu. Und Fräulein Reseda konnte allein aus dieser Decke eine ganze, lange Geschichte voll beseligender Erinnerung, wie die Biene aus einer Blume Honig ziehen.

Und auf der bunten Blumendecke stand eine Uhr, das seltsamste Stück, aus schwarzem Holze, mit einem großen Auge von Zifferblatt mitten wie eine Sonne in einem Tempelgiebel, der von Säulen getragen war. Und der Perpendikel schwang dazwischen und pendelte auch noch in einem prismatischen Spiegel, daß er zur rechten und linken Seite immer sich auch noch einmal entgegenkam. Das alles wäre nur fesselnd gewesen. Auch, daß diese Uhr sauber mit Goldblumen besetzt war und überhaupt ebenso gut in einem Schloß auf einem marmornen Kamin wie in dieser stillen Heimstätte einer frommen Menschenfreundin hätte ihr Stundenlied pendeln und pinken können. Wenn nicht auch hier noch außerdem eine alte Schicksalsmelodie daneben geklungen.

»Diese Uhr gefällt Ihnen?« hatte Fräulein Reseda gleich, auf den erstaunten Einhart blickend, gesagt.[161] »Ja, das ist nämlich ein kleines Wunder. Soll ich Ihnen die Geschichte erzählen?«

»Erzählen Sie gleich,« hatte Einhart nur neugierig erwidert.

»Mein guter Vater hätte alles in der Welt, nur dieses Stück nicht hergegeben,« sagte da Fräulein Reseda. »Was daran wahr ist, weiß ich nicht. Dergleichen Sagen gibt es ja wohl manche in alten Familien. Sie sind nur ein Phantasiespiel der Liebe um unser Herkommen, um unsere Vergangenheit sozusagen,« erklärte sie. »Aber es ging die Sage, daß ein Elf meiner Urmutter, die eine alte Adelsherrin auf einem Herrschaftssitz war, diese Uhr, eine Kette und einen Becher zutrug.« Und nun hatte sie ausführlich alles erzählen müssen, was Einhart unsäglich berückend schien, und ohne Farbentafel ein eitel vorüberwehendes, beglückendes Traumbild.

»Erzählen Sie mir alles,« hatte er sie mit verzehrtem Blicke angesehen mit seinen Glutaugen und mit einem Lächeln tiefster Erregung, gar nicht einfältig, obwohl in ganz innigversunkener Hingabe, wie sie ihm in dieser ganzen Akademiezeit nie aus Seele und Auge aufgeblitzt. Denn hier [162] auf einmal begannen sich Sehnsuchten zu stillen. Hier duftete etwas gar nicht nur wie Reseda. Hier schien wirklich von lange her ein einsames Glücksland.

»Also einen Becher und diese Uhr und eine Kette brachte der Elf?« Einhart war ganz im Wunder.

»Meine Urgroßmutter hatte nämlich gerade einen Knaben geboren und lag im schweren Himmelbett im Schlosse in den Wochen,« erzählte Fräulein Reseda. »Innig verpflegt, brachte sie ihre Zeit in Halbträumen zu. Und manchmal, wenn sie die Augen auftat, schien in dem Dämmerraum eine kleine, feine Flamme von einem Öllämpchen her, das auf einem Ecktische stand.«

»Und in einer Nacht hatte sie eine Erscheinung. Ein kleiner, bärtiger, wetterfester Kerl, der kaum zum Bett aufragte, steht gegen den Schein. Zuerst hatte sie ihn für einen Kleiderzipfel gehalten, der vom Bettstuhl ragte. Dann erkennt sie ihn, weil er ganz dienstwillig sein Zipfelhütchen lupfte und sie flüsternd anspricht: ›Du birgst ein Kind hier im Schutz. Und das ist gut. Aber mein Weib hat auch ein Kindlein geboren und sie kann es nicht schützen vor deinem Öle‹, sagte der kleine Mann ganz voll [163] Kummer. ›Hätten wir hier nicht rasten gemußt, weil zu gleicher Zeit wie deine auch meines Weibes Stunde kam, wir wären nicht hier. Oh, Herrin, sieh nur hin! Deine Öllampe sickert Tropfen um Tropfen durch die Tischspalte, und die Tropfen fallen gerade auf mein Weib und Kind. Gebiete doch, daß man die Lampe auf einen anderen Platz stelle.‹«

»Am Morgen dachte meine Urmutter hin und her über den Traum. – Aber der Traum wiederholte sich die folgenden Nächte. Und endlich nach dem dritten Male befahl die bleiche Wöchnerin, die Öllampe auf einen andern Platz zu tragen.«

»Und was geschah?« fragte Einhart eifrig, dem der feine Mund im graubleichen Gesicht offen blieb, daß man seine gelben Zähne sah.

»Ja, nun raten Sie einmal!« sagte Fräulein Reseda drollig gewichtig.

»Um aller Welt Wunder willen, wer kann solche Entzückungen aus der Luft greifen?« gab Einhart ganz ernst zurück und schwieg.

Da lud ihn Fräulein Reseda vor einen gläsernen Schrank, der von vier Mohren gehalten dastand, [164] und öffnete lange nicht, weil sie selber ins Träumen geraten, nur lächelte. So daß nun beide von dem kleinen Öllämpchen träumten, und wie Tropfen um Tropfen auf das winzige Elfenbett niederfiel als wie der Schlag der Stunde.

»Oh die Sache löste sich wunderbar,« rief dann Fräulein Reseda. »Denn in der vierten Nacht erschien das Männlein wieder und sagte, indem er einige schwere Dinge heranschleppte: ›Ihr habt mein Prinzeßlein gerettet. Mein Weib ist schwach und bleich noch wie Ihr, aber sie sieht mit leisem Lachen auf das Kind. Die Tropfen fallen nicht mehr, sie zu bekümmern. Habt Dank und nehmt, was ich Euch bringe! Solange Euch die Uhr schlägt, wird Euer Haus eine glückliche Wohnstätte sein! Solange Ihr aus dem Becher trinkt, werdet Ihr süße Träume haben! Solange die Kette am Halse der Schloßfrau blinkt, werdet Ihr in Menschenliebe wandeln!«

Fräulein Reseda öffnete jetzt und zeigte Einhart alles, den Becher aus einem Stück Bergkristall, die feine Kette aus grünen Steinen, die sie gleich unter ihrem Halskräuschen hervorzog. »Man muß seine wahren Güter heimlich tragen, weil sie mehr [165] wert sein müssen, als nur zu prunken,« sagte sie neckisch, als sie sie vom Halse abzog und ihm hinhielt.

Nun, weiß Gott, Einhart war das alles, daß ihm die Augen weiter wurden.

Die Geschichte hatte Fräulein Reseda nur so anspruchslos hinerzählt. So kam und ging es aber an allen Enden, vor Bildern seltsamer Ahnfrauen und vor Tischen und Schüben. Aus jeder Ecke ragte eine Geschichte, eine Fülle von Ereignissen, wovon in dem Glasschrank voller kleiner Spielgeschmeide schon allein an die Tausende saßen. Nicht etwa aufbewahrt, damit es andere hören oder sehen sollten. Ganz und gar nur zur Liebe für die Eine, wie überhaupt die ganze, feine, duftige Wohnstätte des einen, einsamen Fräulein Reseda.

Sogar an den Fenstern besah Einhart lange Zeit versunken weiße, schattende Lichtbilder aus einer alten Zeit, wie Schäferspiele holde Dinge. Und Einhart achtete gar nicht, daß er vor dem Nähtisch des Fräulein Reseda versunken saß, vor den drolligen Gesichtern der elfenbeinernen Stopfkugeln im bunten Nähkorbe und den Nußknackern, die Nadelhalter darstellten. Alles hier atmete und hauchte feinen Sinn und liebes Leben. Er wußte [166] gar nicht, daß er tatsächlich neugierig wie ein Dieb herumschlich und dann ohne Erlaubnis den Nähschub aufgetan, um tausenderlei Ringwerk, feine, bunte Kinderkettchen auch, lustiges Schnitzwerk und metallnes Knöpfelzeug, und dem Auge insgesamt so recht lüsterne Dinge auszukramen.

Alles das gehörte zu Fräulein Resedas ganzem Leben. Und es däuchte ihm, daß er jetzt Fräulein Reseda gut kannte. Und es däuchte ihm auch, als ob er schon einmal im Traume auch vor diesem Nähtisch gesessen, mit den bunten Blinkeflittern gespielt, die Lichtbilder gegen die abendgeröteten Fenster in Vision gesehen, den ganzen, vielgestaltigen, winzigen Nippkram des Glasschrankes angestaunt, den feinen, spitzen, fremden, kühlen Ton der Tempeluhr hätte pinken hören, fast wohl gar in einer andern Welt.

Und wie dann Fräulein Reseda, als Einhart noch immer versunken gesessen in allerlei Traumspielereien, gar ihr ein wenig gläsern klingendes Klavier geöffnet und weich anschlagend fromme Töne voll fremden Wohlklangs hineinschlang in die Stille, war Einhart zum ersten Male ganz und gar in einem neuen Wunder.

11.
[167] 11

Wie Einhart nun einmal war, Sinn und Leben begann eine andere Richtung zu nehmen, seitdem er den steinkristallenen Zauberbecher und die Tempeluhr in Fräulein Resedas Wohnung angestaunt, und seitdem er wußte, daß das grüne Steinkettlein heimlich unter dem weißen Spitzenkräuschen an Fräulein Resedas Halse verborgen blinkte. Seit der Zeit wußte er eigentlich gar nicht, daß ihn etwas wie eine Akademie noch mit tausend Forderungen drückte, und daß es in der Stadt ein Haus gab, wo die sieben Sachen der Kunst des Jahres aufgestapelt bunt herumhingen. Er führte jetzt ein richtiges Müßiggängerleben.

Wenn Grottfuß kam, fand er meistens Einhart noch schlafen. Die kleine Lampe war heruntergebrannt. Malutensilien und Skizzen lagen seit Wochen schon umhergestreut. Gewöhnlich lag auch das Buch, worin Einhart gelesen, auf der Diele, weil er es beim Einschlafen hatte fallen lassen, und seine dünnen Decken hingen aus dem Bett heraus.

Einhart schlief in dieser Zeit sehr unruhig, weil er die seltsamsten Träume hatte. Nie im Leben hatte man sich um sein »Seelenheil« bekümmert. [168] Dieses Wort gefiel ihm außermaßen. Gerade so empfand er jetzt die Seele und Art von Fräulein Reseda. Gerade so empfand er es, als wenn er von irgendeinem Zwange ein Lebenlang umsponnen, plötzlich genesen wäre. Er begriff es gar nicht. Er hielt sich nur fest, mit allen Sinnen und Wünschen ganz versunken.

Sobald Grottfuß ihn geweckt hatte, begann er zu erzählen. Er hatte gewöhnlich den Abend mit Fräulein Reseda zusammen zugebracht. Oft war sie mit ihm vor der Stadt gewesen, irgendwo im Grünen, irgendwo auf einer weiten Wiese wieder unter hohen Eichen, die mächtig im Abendsonnengold umflossen geragt. Sie hatte einen Strauß Frühlingsblumen in Händen gehabt, und er war neben ihr gegangen, ganz beglückt im Sinnen und Staunen, aber nicht nur so im Allerweltswesen der Dinge, gar nicht – – fest umschlossen von den feinen Gefühlen dieser kleinen, vornehmen Person, die in jedem Worte etwas herzutrug von lange her gesammelt und gesichtet, und die jeder Blume sogar mit ihrem Namen eine kleine, süße Sage umband wie eine weiße, durchbrochene Halskrause.

Tatsächlich saß Einhart den ganzen Tag womöglich [169] jetzt drüben bei Fräulein Reseda, die natürlich einen ganz anderen Namen hatte, obwohl der süße Duft immer um sie schwebte, und auch ihre ganze Wohnung immer nach Blumen roch.

Grottfuß ging einmal mit Einhart hinüber. Fräulein Reseda hatte es gewünscht, Einharts Freund kennen zu lernen. Aber Grottfuß war sehr ernüchtert. Schon weil er eine junge, blonde Sängerin zufällig kennen gelernt hatte, in die er verliebt war. Er nannte es mit Rücksicht auf dieses junge, blonde, verliebte Ding von Elevin, die an einer Musikschule studierte, und die er nun seinerseits besuchte, so oft er konnte, im Grunde lächerlich, mit dieser alten, buckligen, moralischen Person sich abzugeben. Hauptsächlich aber, weil sich Grottfuß bei Fräulein Reseda ganz aus dem steifen, theoretischen Gleichgewicht gebracht sah.

Aber Einhart war um so lieber bei Fräulein Reseda. Sie hatte ihm zum ersten Male allerle, Ideen entschleiert. Sie besaß eine Fülle Bücher. Er las alles nur Erdenkliche. Man kann sagen, Dinge, die er nie gehört, Philosophen und Dichter und Kunstbücher und Kunstlehren aus alter Zeit. Immer so, daß er gar nicht zu sagen wußte, was [170] er alles gelesen, so versunken in die Dinge war er gewesen. Er hatte eine umständliche Art und Weise, zu lesen. Er mußte sich alles genau ansehen, wie wenn hinter jedem Worte ein Gleichnis stünde, und das Wort nur ein Wink wäre, anzusehen, was irgendwo wirklich war. Nicht immer fand er es gleich aus, wo und was? So sah er die wunderbarsten Sachen und merkte gar nicht das Leben um sich, und kam aus der Lektüre, wie man aus Träumen erwacht, die dann entschwinden und vielleicht einmal von ferne wiederkommen.

Und in allem war er jetzt vertraulich mit Fräulein Reseda. Sie kümmerte sich um ihn wie eine Mutter. Auch die Jünglinge lernte er kennen, die Fräulein Reseda aus dem Seminar zu sich lud, sehr eingeschüchterte Jungen, ein wenig zurückgeblieben in ihrem Fortkommen in der Schule, wie ehedem Einhart selber. Aber gar keine Träumer. Die sich bei Fräulein Reseda nur satt aßen. Die sie auch allerlei abhörte. Es war Einhart allmählich ganz aufgegangen, daß das Kettchen an ihrem Halse es wahr gemacht, daß das alte Fräulein wirklich in Menschenliebe wandelte.

[171] Die kleine, alte Dame fühlte sich am Tische unter den Burschen wie eine gute Mutter und gab unter Lachen nicht nur gute, gesunde, reichliche Kost, auch ihre guten, feinen, sinnigen Worte banden manche Gefühle zusammen im Geiste jedes, daß er nun, ohne recht zu wissen, sicherer vorwärts lief.

Aber Einhart fand die gedrillte Devotion sich ein wenig zuwider. Er wußte mit diesen Jünglingen nichts Rechtes zu machen. Daß er, wenn er genug gegessen und getrunken hatte, zumeist aus dem Lächeln nicht herauskam, sobald die Seminaristen fade Späße von den Lehrern zu erzählen und ein wenig einfältig zu werden begannen.

Er gestand es Fräulein Reseda auch ruhig ein, daß er mit diesen Menschen ohne Träume nichts anfangen könnte. Fräulein Reseda nannte ihn dann hochmütig, sagte, man müßte die Menschen nehmen, wie sie Gott geschaffen, daß ein jeder eine unsterbliche Seele hätte, daß die Seelen vor Gott alle gleich wären und manches freundliche Wort ausgleichender Gerechtigkeit. Worüber Einhart, indes er sich schon etwa in Sakuntala versenkte, nur nebenbei einmal hell auflachte, unter verzeihendem Zulachen von Fräulein Reseda, die den Seminaristen nichts dergleichen [172] zugelassen, aber Einhart all das eigene, selbständige und freie Wesen nachsah.

So war es einige Monate hingegangen.

Einhart hatte Akademie und Malen einfach in der ganzen Zeit vergessen, hatte sozusagen sich an Hab und Gut von Fräulein Reseda, an Seele und Sinn und alle die Ideen und Schätze und Bücher von Fräulein Reseda angesogen, als er erfuhr, daß seine Mutter ernstlich daheim erkrankt wäre und er kommen sollte.

12.
[173] 12

Im Hause von Herrn Selle ging man auf Zehen. Die Kranke war so erregbar und schmerzempfindlich, daß die leiseste Erschütterung sie aus Wachträumen weckte und jammern machte. Geheimrat Selle sah aus wie Kreide so fahl. Die großen Mädchen waren bleich und überwacht, weil sie halbe Nächte, auch wer nicht an der Reihe war, halbausgezogen aufsaßen, mit den Händen oft stillgestellt beim Knöpfen oder Nesteln, oder in sonstigen, achtlosen Hantierungen, wenn sie dem Stöhnen im Krankenzimmer lauschten.

Rosa ging kindlich zart um, sehr gütig, sehr tätig. Nur Emma war garnicht still zu machen mit ihren dringlichen Fragen, weil sie immerwährend die Angst fühlte, und bei jedem, der da war, eine Zuflucht oder einen Trost suchte.

Frau Selle war unerwartet erkrankt. Man hatte es zuerst, als die empfindlichen Darmschmerzen kamen, nicht recht beachtet. Bis schlimmere Symptome sichtbar geworden. Dann hatte man als letztes Mittel einen operativen Eingriff noch gewagt.

Einhart war am Nachmittag angekommen. Niemand aus der Familie erschien in der Bahnhofshalle,[174] ihn abzuholen. Obgleich es zum ersten Male war, daß er die Heimat nach Jahren wiedersah. Er lief gleich auf den Bahnhofsplatz, wo einige ihm bekannte, zerschläterte Droschken mit eingedeckten, müden Pferden harrten. Als er sich allenthalben hier wieder umsah, ging es in Einhart hin, wie wenn wahrlich Lieder klängen. Nun kam es wieder, was er vergessen. Er ging ganz heiteren, erhobenen Hauptes. Der Eindruck der alten Heimat, die ihm jetzt neu wirklich schien, daß er wie einen einstigen Einhart um alle Ecken mit Knabentollheiten in der pfiffigen Seele antreiben und heranstieben sah, war so stark, daß er ganz sonst vergaß, daß keine Schwester ihm auf seinem Wege entgegenkam. Und daß keine Menschenseele ihn hier mehr kannte.

Der weiße Schnauzbart des Klassenlehrers leuchtete ihm entgegen, als er um die Ecke bei der Promenade einbog. Einhart, plötzlich erschreckt, hatte seinen Hut ehrerbietig aufgehoben und glitt vom Bürgersteige unversehens herab.

Aber der Klassenlehrer grüßte gleichgültig. Er sah sich nicht weiter um.

Und Einhart trieb, die Augen wie immer, wenn ihn Erstaunliches lockte, ganz weit und unerwecklich [175] aufgemacht, vorwärts, um die Promenaden rund herum, ohne noch einstweilen an zu Hause zu denken.

Kein Wunder. Einhart hatte im Leben nie Krankheit gefühlt. Er hatte höchstens eine dicke Backe bei Rosa oder Mutter drollig angesehen und das vermummende, weiße Battisttuch darüber. Oder so unbestimmt gehört, daß Vater an Gichtschmerzen litte. Nichts wie wirkliche Krankheit war ihm bisher achtsam vorgekommen. Nun gar der Tod! Einmal im Bilde ging er von ferne an ihm vorüber. Er sah jetzt nur die alte, graue Stadtmauer wieder, die alten Bastionen, den gelben Strom, Dom und Kirchen, die er früher nicht einmal bis zum Kapitäl der Torsäulen oder dem Giebelfelde sich angesehen, daß er jetzt erstaunt war, wie schattig und hoch das alles schon damals mußte gewesen sein. Er schritt auch der Brücke entgegen, dort, wo er seinen Tornister manch liebes Mal heimlich geborgen, und an den Lieblingsplätzen seiner jungenhaften, verträumten Spiele. Bis zu Geheimrat Selles war er noch garnicht durchgedrungen.

Aber dann stand Einhart doch in der bekannten, engen Straße davor, vor dem alten, gelben Hause, [176] und hatte plötzlich wie eine Schwäche im Blute rinnen. Als wenn er die Treppen mühsam nur ersteigen könnte. Garnicht etwa ein Gefühl von Ahnung, daß ihn da etwas Furchtbares anfassen würde. Garnicht eine Vorbedeutung von erschrecklichen Dingen. Nur als wenn dieses ganze, große, dreistöckige Haus hart durchsetzt wäre von der steifen, strengen Vatergestalt, an der er nun wie gelähmt aufstieg. Denn das war es, daß er jetzt fühlte, dem Herrn Geheimrat Selle bald gegenüberzustehen, und weil er recht eigentlich plötzlich hart empfand, daß er jetzt noch weniger etwas gelten könnte wie je. Nicht vom Gendarm wie ehedem, von einem heimlichen Einsiedler geführt, wurde hier Einer heimgebracht, der erwachsen war. Zur Besinnung und zur Sehnsucht nach sich und seinem Werte war er durchgedrungen. Nicht so zur Wegeerkennung, wie ein anderer, als ein richtiger Traumgänger aus ihm je hervorgehen sollte?

Einhart war mit solchen Empfindungen die zwei Stiegen langsam emporgeklettert und war in einer Erregung, die ihm fast den Atem nahm. Daß er noch immer nicht zu klingeln wagte und lange stand.

Da merkte er, daß an der Tür sich ein Schild befand, [177] worauf Herr Selle mit eigner, großer Handschrift das Klingeln durchaus verbat.

Das machte ihn entschlossen, daß er klopfte.

Johanna kam, versorgt, ganz leise. Katharina auch, die schön und groß geworden. Alle bleich und ganz leise, ihn nebenher küssend, und ihn wie tröstend gleich. Und Emma kam, die völlig verstört aussah und verängstigt. Die ganz vergaß, guten Tag zu sagen. Die ihn gleich flehentlich bat, daß Mutter nicht sterben sollte! Und Rosa zuletzt, sorgend, gütig und schön in ihrer Tatkraft, nur einen Schluchzer plötzlich herausweinend, dann wieder sanft die leise fließenden Tränen nicht achtend, als sie klar zu Einhart redete: »Mutter ist so unendlich schwach,« sagte sie.

»Wärst Du doch einen Tag früher gekommen!«

»Ach mein Gott im Himmel!« sagte sie und klagte sie.

»Sie hat sich gesehnt nach dir! Nun wird es zu spät sein! Nun wird es zu spät sein!« begann sie jetzt zu weinen.

Einhart sah das Leid und die grauen Mienen. Aber daß es zu spät wäre? »Was ist zu spät?« sagte er verzehrt, als Herr Selle selber kam, um [178] Einhart stumm die Hand zu reichen. Einhart nahm Vaters Hand und küßte sie inbrünstig. »Vater? Um Gotteswillen? Was ist zu spät? Was ist zu spät?« sagte er in Leidenschaft und lief, was er nur konnte hin, wo die Mutter im Bette lag.

Aber da richtete sich Einhart auf, als wenn er ein Raubtier zum Sprunge wäre, lang machte er sich. Denn es lag da eine weiße Gestalt. Es lag da etwas in den Kissen, was er nicht mehr kannte. Ärzte standen daneben, ganz unbeweglich. Die lebten. Aber die weiße, fremde Gestalt war wie eine Marmorgestalt, steinern. Die Mutter konnte es unmöglich sein? Einhart schlich ganz nahe. Er streckte auch gleich seine Arme nach dem Bette aus. Er bebte bis zu den Füßen. Die Tränen sprangen aus seinen Augen heraus. Während Vater und die vier Schwestern ihn halten wollten. Weil er zum ersten Male im Leben jetzt einen furchtbaren Schrei plötzlich ausstieß, flehend nach der bleichen, entfremdeten Muttergestalt die Arme reckend in zerreißender Sehnsucht – und ebenso plötzlich auch schon in Ohnmacht hingesunken war.

Der Tod hatte im Raume gestanden.

Einhart hatte den Tod noch nicht mit Augen gesehen.

[179]
Drittes Buch
1.
1

Oben im Gebirge wehte der Südwind über Felsen und Knieholz nieder ins Tal, und der Himmel war wie eine helle, blaue Glocke, rein in seinem Glanze. In den Talgeländen, die sich bis zum Waldgürtel erstreckten, lagen Kirche und Haus und Hütte in friedsamer Stille, und es schwammen Krähenscharen von der letzten Wiesenfläche oben auf und zogen mit Gekreisch ferner und ferner. Man hatte Grummet eingebracht in mächtigen Hocken. Vater Sender, der alte Bauer, und seine große Tochter, waren beide vielemale Schritt um Schritt gegangen, so breit und hoch war die Last, die sie immer neu auf den Rücken genommen, und der einsame Feldweg bis zum Gehöft an der Lehne lag voll Heu, weil der Windstoß mit unsichtbaren Händen den Tragelasten Büschel entriß und sie hinwarf und umtrieb und verwehte.

Vater Sender war ein gebeugter Mann. Sein Rücken hatte das Leben lang Lasten getragen, Schritt um Schritt, aber ohne zu wanken, auch wenn es Zentnerlasten gewesen. Sein Gesicht war lang und glatt rasiert, daß man nur die großen Furchen sah, die Sorge und Sinnen eingegraben. [183] Sein Grauauge sanft und innerlich, und sein großer Schädel blank, wenn er die vergilbte Mütze einmal in die große Schwielenhand nahm, um sich den Schweiß mit der andern Hand zu wischen.

Vater Sender war ein Träumer, so in seiner Weise. Als er heute mit seiner großen Tochter zusammen, die Ella hieß, sich am Grashange unter dem Wildrosenbusch sorglich niedergelassen, um seine Brotstücke mühsam hinunterzukauen, während Ellas junger Mund hineinbiß wie eine Schlange, die gleich ganze Bissen einfach glatt hinunterschlingt, hatte ihn bald eine tiefe Müdigkeit ergriffen, daß der alte Blankschädel, mit den weißen Haarfransen unregelmäßig im Nacken, in dem Schattengemuster des Rosenbusches hingestreckt wundersam friedlich lange dagelegen, wie ein Toter, still und ergeben. Und wie er dann von neuem sich erhoben, um mit leichtem Geseufz und sehr für sich, wie immer, mit Ella zusammen zu rechen, und Schritt um Schritt mit seiner markigen Kummergestalt die Gurten für die neuen Hocken auszubreiten, da mußte er es Ella doch erzählen, daß er wieder die liebe, heilige Jungfrau gesehen, leibhaftiger als je im Leben. Des alten Sender Augen waren groß und grau und [184] demütig und schüchtern, wie die eines Knaben, der von der ersten Liebe einen Glanz verbirgt, wenn er davon redete. Diese Träume gehörten zu ihm und beseligten ihn manchmal.

»Gesehen – so wie ich dich sehe – Tochter,« sagte der alte Mann. »Und wie gesehen,« sagte er nach langer Weile sinnend. »Früher habe ich die heilige Jungfrau manchmal mit Augen gesehen. Als ganz alte Frau einmal, alt wie unsere Mutter. Nur ganz und gar nicht geschäftig, wie die, die sich gar nicht Ruhe gönnt.« »Und das zu Geschäftige ist auch nicht immer das einzige,« fügte er sorglich hinzu, als er wieder nur zugesehen, wie Ella sich mit dem Rücken in den gehäuften Schober warf, bis er ihr selbst die Gurte über die Schultern legte, und sie den Packen zusammenriß.

»Ja – so wird es gut sein,« sagte er dann nur und griff die überhängenden Büschel Heu heraus und warf sie auf die Wiese zurück.

Ella war so verloren in ihre Tätigkeit, während ihr das Bunttüchel um Kinn und Nacken flatterte, daß sie gar nicht weiter fragte, noch sonst sprach. Der Vater konnte erzählen oder innehalten, gleichviel.

[185] »Also die heilige Jungfrau wars heute wieder,« sagte er jetzt mehr für sich. »Aber ganz jung diesmal. Und viel Kinder waren um sie. Man hätte denken mögen, daß es unsere Schulkinder waren, weil sie geradezu Lärm machten.« »Was mich ordentlich ärgerte,« fügte er lässig hinzu.

Als Ella mit der Heulast längst fern den Hang hinab sich mühte, mußte der Alte aus irgendeinem Grunde über sich oder über das Bild innen lachen. Und er lachte dann noch ein paarmal so einsam in die lose Sommerluft, als er die Wiese höher hinauf die breiten Schwaden, die jetzt gegen den Abend getrocknet waren, zusammenwarf. Er murmelte und murrte, nahm die Mütze ab und sah vor sich hin.

Oben vom Walde her kam Einhart. Er sah dürftig aus wie immer, braungebrannt und dunklen, losen Blickes. Das kurze Jackett abgeschabt. Er wohnte jetzt in den Bergen. Nach der Mutter Tode hatte er nicht lange daheim ausgehalten. Und in die Stadt zurück war Einhart plötzlich ein Ekel gekommen. Der Kummer »Tod« stand in diesen ganzen Zeiten heimlich vor seinem Auge, wie eine schwarze Rätselwolke.

[186] Wer Einhart jetzt sah, und es war schon ein Winter vergangen, den Frau Selle unter Schnee gebettet gelegen, der sah eine seltsame Verwandlung. Aus ihrem Grabe waren längst neue Blumen aufgesprossen, und der Junimond hatte seine hellste Sternenweise licht und weich über ihr Grab geleuchtet.

Wer Einhart jetzt sah, mußte an dem Dunkelstrahl seiner Augen erkennen, daß er die Welt neu und neu inniger ansah, saugender, verzehrender, so wie die Mutter einst. Sein Blick hätte noch traurig gelten können, wenn nicht der Schein Güte darumgeschwebt, wie kindliches, lächelndes Staunen jetzt in diese Heumahd und zu dem alten Grauschädel hinüber.

Der alte Sender kannte Einhart gut. Einhart hatte im Giebel des Senderschen Hauses sein Bett und seine wenigen Malgeräte und sonstigen Bedürftigkeiten. Allerlei Skizzen waren lose an die getünchten Brettwände angezweckt. Beim Lichtspan in der dämpfigen, großen Wohnstube des Häuslers unten hatten sie beieinander gesessen, der alte Bauer ewig mit der Pfeife im Munde und Einhart nicht weniger wie er, in die Dämpfe des Kartoffeltopfes vom Herde her, den die alte, krumme [187] Mutter geschäftig versah, seinen Tabaksqualm hinzublasend.

Nun ließ sich der alte Sender auch nicht ein Jota stören. Nicht ein Mal sah er hinüber aus seiner Hantierung. Bis Einhart zwischen den Schwaden schreitend und die Büschel Heu Fuß um Fuß vor sich werfend, heran war. Aber auch, wie Einhart jetzt schon am Raine stand, ganz nahe, lachte Vater Sender nur zu ihm hin, und Einhart ließ sich ins Gras nieder und sah lange stumm zu.

Einhart hatte weder Stock noch Malkasten. Ein kleines Bibelbuch hatte er aus der Tasche gezogen, das er ins Gras warf, streckte sich auf den Rücken und hielt das goldne Büchel gen Himmel dann.

Es war wundersam, daß Einhart jetzt immer die Bibel las. Das war seit Frau Selles Tod gekommen. »Ich muß es ergründen,« sprach es damals plötzlich in ihm. So hatte er seither tatsächlich eine wahre Lust und Neugier gewonnen. »Und Weisheit viele,« sagte er immer, »und nicht Ruhe.« Jetzt gingen tausend Bilder der fernen Frühzeit des Hebräervolkes in der Wüste mit ihm. Und die [188] großen Gewaltmenschen auch, die Propheten, die zu dem sicher verderbenden Jahvevolke die Sprache von Vulkanen und Feuerherzen redeten, es zu mahnen. Er hatte eine ganze Ruhmeshalle solcher unerschrockener Menschenmahner in sich aufgerichtet. Es schauerte ihn, wenn er ihre Worte hörte. Und er hörte sie mit dem leibhaftigen Stimmton, den nicht Bücher, den nur Menschen selber haben.

Das war schon den Winter über gewesen, daß er die Propheten las und las.

Jetzt wandelte er die Friedenswege vom sanften, bleichen Jesusmanne und seinen gütigen Wundern, und war nur herangekommen, weil ihm die inneren Gesichte nicht oben bei den Waldwipfeln Ruhe gelassen. Weil ihn das Rauschen erregt. Weil er in dem Frieden am freien Sonnenhange nun besser den blauen, heiligen See vor sich sehen und den in seinen weißen Mantel gehüllten Heiland, von Kindern umringt, erkennen konnte. Er begriff und umfaßte mit Inbrunst, was da stand in ewigen Zeichen: »Selig sind, die geistig arm sind.« Er las auf dem Rücken liegend neu und neu diese lachenden Seligpreisungen.

[189] Der alte Bauer ragte neben ihm ins Licht. Sein Schatten lag lang über die Wiese, von Einhart ungesehen.

»Na, schön guten Abend, Herr Selle!« sagte endlich der Bauer, als er einmal ruhte.

»Gott! Guten Abend, Vater Sender!« ermannte sich Einhart.

»Man muß Sie preisen,« sagte der Alte, mit dem Rechen Heu herzustreichend und hielt dann wieder inne. »Sie raffen Weisheit zusammen, immer und immer, und ich Heu. Aber Menschen und Tiere müssen leben.«

»Wißt Ihr, Vater Sender, was ich eben gelesen?« sagte Einhart lächelnd.

»Woher nur das wissen? Nicht einmal gesehen hab' ich, ob die Wolken gingen und Krähen flogen. Wo soll ich her wissen, was Sie in Ihren Gedanken hatten?«

Da wollte ihm Einhart das Goldbüchel hinhalten. Aber Vater Sender konnte ohne Brille nicht lesen.

»Nein nein, ich werde es Euch lesen,« sagte Einhart gleich und las laut, daß die lauen Abendhuschen Heubüschel und Worte gleichzeitig den Hang hinabtrieben, eindringlich die Seligpreisungen.

[190] Vater Sender sann lange vor sich hin, wiederholte die Worte und begriff sie kaum: »Selig sind, die geistig arm sind, denn sie werden das Himmelreich gewinnen.«

Danach war es lange still zwischen ihnen, daß Einhart neu weiterlas, und der Bauer wieder geschäftig fortrechte und zusammentrug.

Dann kam Ella. Sie war ein blondes, großes Mädchen, lange Dunkelwimpern im hellen Gesicht. Sie hatte den Traum des alten Sender nicht loswerden können, daß ihm neu die heilige Jungfrau erschienen. Sie begann jetzt davon Einhart in heiterem, unheiligen Tone zu erzählen.

So ging der Gottessohn und die junge Gottesmutter mit über die Heuwiese.

Aus dem kleinen goldenen Buche war der Gottessohn herausgekommen, und aus dem Blute des Alten die holdselige Maria.

Daß dann, als der alte Sender mit dem Rechen über der Schulter und Ella noch mit einer vollen Hocke Heu auf dem Rücken, trotzdem hoch aufgerichtet, und Einhart, den Hut in der Hand, ein Zigeuner, so dunkel und so schmächtig noch immer, mit dem fetten Haarsträhn über der Stirn und den langen, [191] dürren Fingern, die das Bibelbuch umspannten, als alle die drei heimschritten im Abendglast und umflogen von Fliegen und Mücken, ein jeder mit schönen Geistern ferner Zeiten in seiner Seele, aus seinen Augen ein Lachen hatte.

2.
[192] 2

Man kann nicht denken, wie Einhart seit der Mutter Tode wieder versunken und achtlos leben konnte. Nichts draußen, als nur die Dinge, die über seiner inneren Augen Helle gingen und sein eigenes Licht gewannen, sah er jetzt. Nichts konnte ihn kümmern, weder Nacht noch Sonne. Nichts konnte ihm klingen, als was er selber aus der Ferne hervorgerufen im eignen Ersehnen oder Hinausträumen. Er aß wie ein Derwisch das Brot, das man ihm reichte, und trank wie ein dunkler Landstreicher die klare Quelle, die irgendwo am Wege rann.

Das Einzige, was Einhart aus den Bergen mit fortnahm, war ein richtiger Tatmut aus neuer Ahnung und ein kleines, sonderliches Buch voll an sich geringer, aber bezeichnender Notizen.


Das Büchel


Gleich im Eingang, vor anderthalb Jahren geschrieben, stand:


»Berge und Sonne! Daß so etwas ragt und so etwas leuchtet! – – – und daß meine Mutter zu kaltem Marmor wurde, zu Erde!??«

Dann stand:

[193] »Die Stille hier unter der Linde, wo die Knospen jetzt golden gesprungen, und die Schattennetze im Grase tändeln, ist unerhört.« Wer begreift, daß es andere Würden gibt, als diese ferne, einsame Seligkeit, »man selber zu sein, ganz nur man selber zu sein!«

Dann:

»Johanna ist eine Dame mit schwarzem Ausschnitt und feinen Spitzen am vollen Halse und einem Seidenhut mit großer, schwarzer Feder. Als ich neben ihr ging, fielen meine kurzen Hosen zu sehr auf, und ich däuchte mir überhaupt wie von wo anders her. Katharina ist eine Dame mit einem nicht geringeren Hutumfange. Ich werde kaum noch solcher Damen Wege kreuzen. Rosa ist wie eine Lilie sanft. Voll Schwermut in ihrem sammetnen Dunkel. Sie merkt noch, daß etwas verloren ist. Sie denkt viel an Mutter und weint. Ich kann über Tote nicht weinen. Ich gehe jetzt mit den Jüngern Jesu. Aber ernst wie sie nicht! ausgelassen! ausgelassen! Das ist auch lange her, daß sie über Steine wandelten und an Steinen sich stießen. Und ein richtiger Fehler dieser Begleiter des Liebe strahlenden [194] Menschenfreundes war es, daß sie nie lachten. Das machte, daß Christus sich nie recht erholen konnte von seiner Herkulesmission.«

Dann:

»Hatte Jesus nie Augenblicke, wo er lachte! Wie wäre es anders möglich bei einem Menschen von so viel Schau und Wärme. Wenn er sonst nicht lachte, dann heimlich. Jede Würde wird lächerlich, über die nicht der Gewürdigte lachen kann. Nun gar ein Prophet! Oh! Ich müßte mich heimlich halb tot lachen, weil ich doch die Menschen kenne und den ganzen, ewigen Höllenbreugel von Neid und Dünkel und tausend Süchten.«

Dann:

»Wie Christus sich entschloß, auf den Markt in die Großstadt zu ziehen, mußte er sicherlich noch einmal tüchtig lachen erst. Er wußte sehr genau, daß jetzt das Theater begann. Wie er sich Palmen wedeln ließ, wie er großartig unter Jauchzen und Geschrei des Volkes auf einer Eselin in Jerusalems Tore einritt, da war das Theater fertig. Noch heute reiten die Kunstreiter auf Pferden mit ihren großen Trommeln auf die [195] Straßen und Märkte und locken das Volk zusammen. Da mußte dieser ganz Innerliche, der sein Herz vom Himmelreich der Güte und Menschenliebe übervoll auf den Markt unter den Pöbel trug, heimlich blutig lachen.«

Dann:

Sommer. Heumahd.


»Heute kommt Ella und blickt mich lange an, unten hinter dem Heuschober in der Sonne, umarmt mich, und wirft mich in die weichen Schwaden. Ein kräftiges, schlankes, schmiegsames Ding. Ich habe mit Entzücken ihre weichen Brüste gefühlt und habe sie auch geküßt, weil sie nicht locker ließ. Eigentlich sind ihre Augen wie lustige Blumen, so blau, und so nichts, wie Spaß und Leichtsinn. Sie wird nun denken, das müßte immer so gehen, wenn niemand uns sieht. Eigentlich ist sie doch nur ein dummes, einfältiges Ding!«

Dann:

»Die Bäuerin fragte ich einmal, wie sie sich Christus denke?«

»Christus – ach mein Gott! ein Gottessohn, ich hab wohl Zeit, mir zu denken, wie er war?« [196] »Wie er ausgesehen hat,« meinte ich?

»Ja, wie er ausgesehen hat?« sagte die Bäuerin.

»Wie ein Gottessohn aussieht!« Und sie wies mich auf das Bild hin, das an der Wand hing. »Man hat nicht viel Zeit, über so was zu sinnen. So wird er wohl ausgesehen haben,« sagte sie noch einmal, unterdes ich mir das Bild ansah. »Es ist ein Holzschnitt: Christus in Gethsemane von Dürer. Man kann da nur sehen, daß er ein Volksmann und in einer Verzweiflung ist. Nebenhin gab die Bäuerin einen Wink, daß man zum Essen riefe, hatte Christus vergessen und sprach mit Ella über das Schweinefutter.«

Dann:

»Der Bauer träumt allerlei fromme Dinge, aber nur die Jungfrau Maria ist seine Göttin. Von Gotte weiß er den Namen, und von Christus die Geschichte von der Hochzeit zu Kana. Da liebt er nämlich sehr zu denken, daß man das viele Wasser, das immerwährend von den Bergen her in seinen Trog perlt und plaudert, einmal könnte in Wein verwandeln. Wenn er so neben dem Steintrog steht und dies Wunder erwägt, möchte er wohl gern, daß einmal zu diesem [197] Zwecke Christus auf seiner Schwelle erschiene. Aber von der Jungfrau träumt er leibhaftig vielerlei klare Bilder und erzählt davon selig versunken.«

Dann:

»Wenn man nicht die Pharisäer immer in kalter Spannung und gehobener Würde fühlte, wäre es nicht ein solches wahres Vergnügen, die Menschlichkeit im natürlichen Leben Christi zu fühlen. Besser noch, als nur immer seine unerschöpfliche Mildigkeit, der Schalksnarr und Verächter wäre einmal aus ihm herausgesprungen, all das Würdengesindel mit der Narrenpritsche auf die Köpfe zu schlagen.«

»Wird es Christus je gelingen, das Menschenvolk in wahre Menschlichkeit hinein zu treiben?«

Dann:

»Ella ist ein tolles Ding. Ich könnte sie malen, wenn sie nur nicht immer nachts käme. Sie kommt im Hemde auf den Boden geschlichen, und ist schlank wie ein Blumenstengel, wenn sie ihre letzten Hüllen im Mondlicht abwirft. Unsagbar, so ein Licht auf dem frischen Fleisch, und die Silhouette in scharfen Schatten auf der Diele. [198] Sie erwürgt mich halb im Spiel ihrer nackten Glieder. Da ist sie nicht einfältig und auch gar nicht jung, dünkt mich. Da ist sie wie ein heißer Dämon, hart fordernd, ohne ein Wort. Das ist Leib und Leben, die es machen. Ihre Augen blitzen, und ihre Augen schwärmen, und ihre Rufe sind wie Vogelrufe oder wie Raubtierrufe. Man begreift ein Unbegreifliches, was uns alle narrt dann und zusammen zwingt. Ich mußte sie schließlich hinaustreiben. Sonst vergißt sie Bauer und Bäuerin, und daß der alte Bauer sie mit der Peitsche schlüge, wenn er es wüßte.«

Dann:

»Nun merken die Alten, daß ich kein Geld mehr bekomme.« Sie schimpfen heimlich. »Und Du bist nur ein Müßiggänger,« schreibt mein Vater.

Dann:

»Ella findet immer noch den Weg zu mir, auch wenn der Alte hinterdrein ist. Ein paar Skizzen hab ich von ihr doch gemalt. Aber ich hab sie wieder zerrissen.«

Dann:

»Die Alten reden kein Wort weiter, und Ella hastet und wirft Kessel und Wanne, und zankt [199] ewig mit der Mutter. Es ist nicht gut sein mehr. Zumal wirklich nicht Geld kommt. Auch das verfängt nicht, wenn ich versuche, von der Bibel zu reden. Geld müßte ich bringen. Wo soll ich es aber hernehmen?«

Dann:

»Meine Skizzen von Christus am See Genezareth, da lachen die Bauern. Sie sehen gar nicht, daß da See, Menschen und Kinder gemalt sein sollen. Außerdem sind es wirklich nur Versuche. Der Lehrer am Orte sieht mich auch nur verlegen an, wenn er von meinen Leinwanden wegsieht. Und mir ist das nun eine Malerei! Wie kommt es, daß ich mir das einbilde, wenn die andern es nicht sehen?«

Dann:

»Übrigens ist es wild und lustig, wie Ella nie Ruhe läßt und immer die Nächte in den dünnen Hüllen kommt, sobald die Alten schlafen. Derb und toll wie ein Wirbel! Jetzt erscheint sie mir auch am Tage ganz anders, nun ich sehe, daß die Arbeitshast nur einen Vulkan Sinnenlust verbirgt. Es blühen keine Blumen unter ihren Füßen. Es ist alles hart. Am Tage lacht sie jetzt viel, [200] und wirft mir Blicke, daß ich mich bis zur Nacht trösten soll. Ist das nicht ein tolles Spiel?«

Dann:

»Ab nach Constanza! es muß ein ander Leben gelebt sein! Nicht zum Vergangenen und nicht zu dem stracken Mädchen! Zu mir zurück! Außerdem muß ich Vater zeigen, daß ich kein Müßiggänger bin! Außerdem reiße ich aus. Der Bauer mag sich an Vater wenden, wegen der geringen Schulden um die Notdurft. Also: nun, meine traumlose Schöne, ist das Spiel am Ende! Nun können deine Träume beginnen nach mir! Da kannst du auch einmal eine Träne weinen. Da werden deine Begierden Augen und Ohren gewinnen und ausblicken und aushorchen lernen –: einmal in die ferne Welt. Adieu!«

3.
[201] 3

An einem breiten, dämmernden Hause unten dicht an der Landstraße blinkte ein großer Steintrog voll klaren Wassers, und der Strahl, der unaufhörlich hineingurgelte, glänzte silbern. Es war eine Mondnacht. Einhart war auf seiner Wanderung hier angekommen. Denn Einhart war den ganzen Tag schon auf Wanderschaft.

Er war jetzt noch gerade so wach, wie ihn seine Notlage gestern Nacht auf einmal gemacht hatte. Er hatte auch diesen ganzen Wandertag nicht Träume noch Visionen. Weder mit den Propheten, noch mit Jesus und seinen Wundertaten waren ihm Augen und Seele voll gewesen, nur mit dem staubigen, steinigen Wege, mit den glühendroten Ebereschtrauben manchmal gegen den hellen Himmel, und mit zurück springen in Gedanken zu allerlei Fragen und Zweifeln und Ermessen.

Es war Einhart durchaus nicht leicht angekommen, als es Mittag gewesen, der Weg müde gemacht, und die Sonne reichlich brannte, in das Haus eines Dorfarztes am Wege einzubiegen, und ein Stück Brot für seinen Hunger einfach zu erbetteln. Man hatte nur einen Spalt geöffnet, als man gesehen, [202] daß ein Vagabond davorstand, und hatte ihm dann eine harte Semmel und ein Stück alten Käse herausgereicht.

Einhart hatte vor der Glastür gestanden, den Hut in der Hand, sich selber so recht zum Gelächter.

Der Name des Arztes glänzte im Leben unverwischlich in goldnen Lettern auf weißer Tafel vor Einharts Augen, wie er ihn dort abwartend und heimlich gefaßt, Schimpfworte zu hören, lange hatte anstarren müssen. Es verbanden sich noch spät mit diesem Namen sonderliche Frohgefühle von einem im Staube ziellos hinstreichenden Landfahrer, der abgehetzt und zernagt, wie Einhart jetzt war, innen und außen, plötzlich eine darreichende Menschenhand sich hatte zu seiner Stillung ausrecken sehen.

Ein rechter Unwürdiger am hellen Tage vor sich selber war jetzt Einhart, und ein recht Bedürftiger. Der junge Arzt, auf den Einhart stieß, als er das Haus wieder verlassen wollte und noch auf den Treppenstufen stand, hatte ihn zuerst nur streng angeredet, daß ihm Einhart gleich ganz menschlich erklärte, welche Bewandtnis es um sein Vagantentum hätte.

[203] »Ein junger Kunstmaler bin ich, der sich verträumt und nicht ans Leben gedacht. Ich muß infolgedessen einmal wie Bettelleute vorwärts finden, wenn nicht durchs Leben, so doch bis zur nächsten Großstadt,« hatte Einhart lustig verlegen gesagt. Denn das stand Einhart vor Augen, zur Stadt und zur Arbeit zurück. Da hatte ihm der junge Arzt Zehrung gegeben und ihn auch mit Abnehmen des Hutes freundlich verabschiedet.

Einhart gingen jetzt tausend Lebensgefühle um. Er verleugnete nie seine Art, Drangsal zu empfinden mit der Neugier und mit dem Behagen des Suchenden. Wie es Höllenfahrten gibt und selige Leiden der Gesteinigten. Auch eine wahre, hastige Besinnung auf sein Leben war lebendig, ihn in einen tätigen Zustand endlich zurückzutreiben.

So stand Einhart jetzt im Mondenschein am Wassertroge der Dorfschenke, sah die perlenden Silbertropfen und bedachte sich lange, nachdem er sich an dem hellen Glanzstrahle satt getrunken.

Die großen Fenster warfen warmen Schein auf die Dorfstraße. Es war lautes Leben drinnen. Einige Blicke streiften Einhart, als er den Hut in der Hand mit dem Stabe zusammen, ganz und gar nicht scheu [204] eintrat. Man hielt gerade eine Sitzung. In der Ecke des Zimmers um einen langen, kahlen Tisch saß ein Kreis würdiger Bauersleute mit dem Ortsgeistlichen zusammen, einem kleinen, kahlköpfigen Herrn, der soeben die Gemeindearmenpflege umständlich besprach.

»Armut, meine Herren,« sagte er gerade, als Einhart eingetreten, »ist meist verdorbenes Blut. Armut ist meist Sünde der Väter bis ins vierte oder zehnte oder bis ins tausendste Glied. Man muß die Armut nicht pflegen. Man muß sie bekämpfen, wie einen Feind. Es gibt solche, die nur immer mitleidig sind. Das ist eitel Schwäche. Das fördert nur das Übel, dem wir steuern sollen. Überlassen Sie ein jeder der Zentralstelle – usw.«

Aller Augen hatten auf den Geistlichen gesehen. Aber sie richteten sich auch schon heimlich dann und wann auf Einhart. Denn Einharts Dunkelblicke begannen sich jetzt zu füllen mit seiner Art Hoffart. Daß er, wie er in der andern Ecke der weiten Gaststube unter der Hängelampe Platz genommen, die nebenbei fragenden Blicke der Großbauern und des Pastors streng erwiderte.

Der Wirt kam gleich zu Einhart heran, ein Gewaltmensch, [205] der eine Posaune des jüngsten Gerichtes hätte laut blasen können. Der Wirt sah Einhart jetzt ziemlich umständlich und unerschrocken an. Auch er hatte Zweifel an Einhart. Dürftig und zerfetzt wie Einhart jetzt aussah, und dunkel und gelbgebrannt wie immer. Aber wie der Wirt Einhart genauer in die Augen gesehen und seinen sanften Tonfall gehört, bediente er ihn doch in allen Ehren.

Und die Sitzung ging eine lange Weile ruhig weiter. Einhart achtete nicht groß weder auf Wort noch Widerwort. Er war sehr hungrig. Als er Brot und Wurst und Bier vor sich hatte, begann er eifrig zu schmecken und zu kauen und mußte nur in Summa ein einziges Mal noch plötzlich hinauslachen über den Berg Hochmut gegen das Tal Armut so ins Gesamt.

Aber wie Einhart sich dann gestärkt fühlte, kam ihm auch gleich eine leise Tollheit an, sich noch vollends als Schalk zu stellen.

Die Gemeindekirchensitzung war zu Ende. Der Geistliche hatte sie in aller Form geschlossen erklärt.

Da saß Einhart noch immer, sah in sein Glas, überlegte und begann dann wie ein Einfältiger zu lächeln.

[206] »Ich werde Ihnen ein Rätsel aufgeben, meine Herren,« rief er über den Tisch, mit einer gewandten Geste der Hand, recht wie ein Zauberkünstler. »Erlauben Sie es, ehrwürdiger Herr Geistlicher?«

Einhart war so unerfahren, daß er tatsächlich nicht die gewöhnlichen Titulaturen wußte. Aber man kann sagen, daß Bauern und Pastor sich durch die Anrede ohne alles Herkommen besonders betroffen fühlten. Es brachte unter alle ein richtiges Verwundern, weil Einhart jetzt auch die Bauern Ackerer nannte mit sonderlicher Absicht. Aller Blicke in der Gaststube betrachteten Einhart gespannt, als er an den Würdentisch näher herantrat.

»Es ist ein Ringelreigen und kommt nie zu Ende,« sagte Einhart bedächtig.

»Ihr wollt Euch einen Spaß machen mit uns. Rätselraten ist nicht jedermanns Sache,« sagte der Geistliche sehr ablehnend. Aber die Bauern lachten sich an. Ein jeder wäre gern der Kluge gewesen. Einer versuchte auch.

»Na! Das wär' doch!« sagte er, ein junger Bauer mit vollen, roten Lippen und einem unbekümmerten Lachen um die blauen Augen sehr nachdenklich. »Ich errate manchmal was.«

[207] Aber weil alle andern schwiegen, tat auch er nur, wie wenn er es aus seines Nachbars Augen lesen könnte, und sah dann unverrichteter Sache auf Einhart.

»Aber meine Herren Ackerer,« rief Einhart recht mit Aufwand, »ob wir arm oder reich sind, ein jeder muß mittanzen. Keiner bleibt auf seiner Stelle. Und keiner auch weiß, wohin er in dem Reigen noch hingeraten wird.«

Aber Einhart ließ jetzt nicht lange Zeit sich zu besinnen. »Was ist das?« rief er vergnügt lachend: »wenn's oben ist, fällt es, wenn es unten ist, steigt es.«

Es war noch immer große Zurückhaltung. Die Bauern begannen gedämpft zu reden, einer zum andern. Es machte ihnen Spaß zu denken, wenn es auch nicht zum Ziele führte. Keiner wagte sich mit einer Meinung hervor.

»Ein jedes Ding ist so in der Welt. Und ein jedes Ding sind wir selber. Alles Geheime macht sich offenbar in uns. Nach oben steigen wir, nach unten fallen wir, wie das Wasser und der Stein. Es ist der alte Ringelreigen, von oben nach unten, von unten nach oben, und immer und überall. Es [208] wird es keiner anders erleben, als daß er herumkreist. Ich glaube nicht, daß einmal einer stille steht.«

Der Pastor wurde immer ernster und schweigsamer am Tische. Die Bauern auch. Einhart wußte nicht, ob er nicht nur eitel Torheit geredet. Er war lange ganz still. Und er lächelte jetzt in sein Glas hinein, weil er sich auch einstweilen auf nichts weiter besann.

»Es steht ein Alter hinter einem Jungen und reißt ihn am Ohre. Und ein Uralter reißt ihn am Herzen. Nur daß man die Hände beider nicht sieht und die Stelle nicht kennt, wo sie angreifen. Was ist das?«

Aber auch das konnte niemand raten.

Da sagte Einhart ganz überlegen: »Mein Gott, Euch allen geht es so. Die Not läßt euch säen mit rastlosen Händen, und ihr möchtet doch von Herzen gern das Himmelreich ernten, seit Ewigkeit. Fragt doch den Herrn, der euch zur Sonntagsfeier zuredet, ob euch nicht alle die Not am Ohre reißt und das Gesicht vom Himmelreich abwendet?«

So ging es weiter. Daß die Bauern gemütlich wurden und fragten, wer es wäre? Auch Einhart [209] dann direkt fragten. Aber Einhart blieb dabei, daß er nur ewig umgeackert hätte wie sie, und daß sein Acker nichts trüge. Die Körner, die er säete, wären von Golde, aber nur im Traume – und gingen vor ihm nur als Nebelschemen auf. Er hätte keine Macht sie zu greifen. Da kam in alle wieder die Stummheit. Alle waren neu ins Nachdenken versunken.

Und dann erhoben sich alle endlich, weil der große Seeger Mitternacht schnarrte und schlug. Der Wirt gähnte noch einmal flüchtig, ehe er sich rückte, um die Zeche bezahlt zu nehmen.

Nur der Pastor blieb dann doch allein im Hause zurück, als die Bauern auf die nächtige Dorfstraße hinausgetreten. Ihm kam eine heimliche Erregung an. Er wollte mit dem seltsamen Gesellen noch Auge in Auge zusammen sein. Er nahm die Sache sehr ernst. Er dachte an einen richtigen Leugner und Antichrist. »Auch der Satan war ein schwarzer Engel und hat Weisheit genug, uns zu lehren,« dachte er für sich.

Einhart konnte in solcher Trübsalslaune, wie er war, wirklich in allen Farben schillern.

So kam der Geistliche in die Wirtsstube zurück [210] gerade, als Einhart sich rührte, in das enge Nebengelaß, wo er schlafen sollte, einzutreten.

»Wir müssen noch einiges besprechen. Denn Sie scheinen ein sonderbarer Mensch,« sagte der Geistliche ganz freundlich noch, aber voller Würde.

»Ach Gott! Herr Pastor!« sagte Einhart sanft. »Sonderbar! nun ja! wie man es so nimmt, wenn man zwischen Himmel und Erde pendelt.«

Aber der Pastor wollte jetzt allerlei heilige Fragen gleich mit Einhart lösen, um ihn in die Enge zu bringen. Denn daß da ein Heide vor ihnen saß, war gleich allen, auch den Bauern und dem Wirte, geschweige dem Kenner des Evangeliums, von Anfang an klar gewesen.

»Wir haben vier Fragen, die wir uns bestimmt beantworten müssen,« sagte der Geistliche sehr hingenommen von der Sache. »Die Menschenseele – – –?«

»Ja, die Menschenseele! – ist wie eine Luftblase, an die ein Leichnam gebunden ist. Die Luftblase zergeht, und der Leichnam fällt zu Boden. Oh mein Gott! gut, wenn man noch wandern kann!« sagte Einhart heiter lächelnd.

»Die Menschenseele ist unsterblich,« sagte der[211] Geistliche mit Ruhe und sah Einhart durchdringend an.

»Nun gewiß!« sagte Einhart, »alles, was der Mensch sich träumt, stimmt!«

»Und die Seele ist auch frei!« sagte der Geistliche.

»So lange sie sich nicht ausreckt und in den Obstkorb der Hökerin auf dem Markte langfingerig hineingreift, Herr Pastor. Denn sonst kommt der Gendarm,« lachte Einhart übermütig.

Aber der Pastor blieb ernst und voll Würde und war heimlich im Zorn.

»Und Gott – – –?«

»Einer, der einen Kopf hat, wie Sonne, Mond und Sterne zusammen, wie eine blaue Glaskuppel, oder eine mitternächtige Himmelsgrube, wer kann noch sagen, wohin der sieht mit seinen Augen, und wie er heißen soll? Der Glieder hat, wie große Weltenkörper, aus eitel Fels gefügt, der erglänzt in alle Weiten mit schnellem Strahle, schneller wie Wind, schneller wie das Schnellste, wohin hat der Mühe endlich zu dringen? und wie kann man seine Ziele wissen?«

»Gott ist unser Vater!« sagte der Geistliche.

[212] »Auch unsere Väter können zum Rätsel werden, Herr Geistlicher,« sagte Einhart.

»Und Ihr glaubt auch nicht an Jesus, seinen eingeborenen Sohn!« rief der Geistliche erregt.

Da kam Einhart lange kein Wort. Da stand das Jesusland plötzlich klar und nahe vor seinen Augen. Einen Jesus kannte er in sich. Einen, der in Menschenliebe an einem schönen See aufrecht saß, und Liebe sein Wort und Liebe seine Tat, sanft Erkennen und Gewährenlassen und sich dargeben ohne Groll Kindern und Sündern.

»Wenn ich an nichts glaube, an den glaube ich,« sagte Einhart leise fast. Daß es dann stumm blieb unter den Beiden. Daß dann endlich der Geistliche zufrieden war. Daß endlich der Geistliche aufsprang und rief: »Glück auf den Weg!« Daß Einhart sagte: »Ich bin ein Künstler, Herr Pastor.« Er sagte es sogar heiter wieder. Er sagte auch: »Ich werde Euch einmal einen Jesus malen! ach Gott!«

»Segne der Himmel Ihren Entschluß!« sagte der Geistliche, als er ihm die Hand reichte und ging.

4.
[213] 4

Einhart kam mit Vorsätzen in die Stadt zurück. Er hatte gleich den Weg nach der kleinen Konditorei gemacht und war mit einer heimlichen Neugier mit der Klinke in der Hand noch eine Weile erst unschlüssig dagestanden. Er zögerte, weil er sehr verwahrlost aussah. Aber er besann sich auch gleich auf seine besseren Träume und mußte lachen, was und wen er hier alles noch finden würde?

Alles war hier beim Alten. Schon in den Straßen fuhren hin und her die Tramwaywagen und dieselben Karren und Omnibusse. An den Ecken standen wie immer die blaukitteligen Männer und warteten auf Aufträge, die sie von irgend wem zufällig erhalten könnten.

Die Akademie ragte noch. Der Portier hatte vor der Tür gestanden und Einhart groß angesehen. Meister Teodors lachendes Gesicht hatte gerade aus einer Fensterung über den Vorhang hinweg nach der Straße geblickt. Schüler kamen über die Treppe herab.

In Summa alles wirbelte und drängte hervor ganz in Trott und Melodie, die er kannte. Sodaß das heimliche Verlangen, Neues zu hören, wozu [214] man durchgedrungen, ihn jetzt noch mehr aufregte, als die Tage, die er einsam mit sich in Luft und Raum, im Blätterwirbel der Landstraße, seinen Weg herangekommen.

Einhart war wirklich bewegt, wie er endlich die Tür der alten Konditorei aufgetan. Der alte Lampenputzerstab lehnte noch immer in der Ecke im Vorzimmer. In der Mitte des Hauptzimmers an einem Rundtisch saß noch immer ein junger, vornehmer Krüppel mit verbildeten Händen und Füßen und starrte unverwandt, die wulstigen, glühen Lippen hängend, auf die Beinfiguren des Brettes. Einhart hatte diesen Menschen in seiner Akademiezeit Tag um Tag so beim Schachspiel gesehen. Wie die Punschtorte, die je und je täglich neu, von welchen Händen immer, an die alte Stelle geschoben wurde, so humpelte dieses junge Dreibein stets zur bestimmten Stunde an seine Statt.

Auch derselbe Alte war es noch, der ihm gegenüber vertieft auf das gefelderte Brett herniedersah.

In der Künstlerstube waren einige fremde Gesichter. Alle sahen Einhart mit Rückhaltung an. Einmal schon, weil er selber jetzt heimlich Fragen tat für sich um all des seltsamen Eines mit früher, [215] und um dessen, was hier sich damals zum Höheren verwandeln gewollt. Kam er denn noch als Einhart Selle? Als einer dieser jungen Prahlhänse, die jetzt wieder im Kreise um ihn saßen? Kam er denn noch, um es mit Worten zu erstreiten? Kam er denn noch um den hellen Tag mühselig vor irgend einem Modell in der Obhut Meister Teodors zu sitzen? Oder sich Professor Soukoups Kunstabsichten zur vermeintlichen Erlösung der ganzen Menschheit anzuhören zum hundertsten und wieder hundertsten Male? Kam er denn überhaupt noch als einer, der sich um irgend etwas draußen, um etwas Fremdes und Herzugetragenes an Kunst mühen wollte, um dann im Cafee und auf der Straße oder im engen Stubenschlitze zu lumpen und zu leben, was man so leben nennt? War er nicht erfüllt jetzt neu von verheißenden, beglückenden Bildern? War er nicht gekommen gerade nur, um jetzt zu versuchen mit aller Strenge, endlich ein Bild d.h. ein Abbild zu malen dessen, was sein Sinnen und Leben gewesen, und was nicht anders volle Gestalt gewann, als indem er es vor aller Leute Blicke hinschreiben würde mit ganzer leibhaftiger Allgewalt?

[216] Fragwürdig sah er aus? Nun gewiß. Die Stiefel waren vom Wege mehr als abgetreten. Das alles fühlte er wohl in achtloser Empfindung.

Er war sehr freundwillig in den Kreis an den Rundtisch herangetreten, sanft grüßend und mit verlegener Scheu. Neue Gesichter machten ihn immer schüchtern. Obwohl ihm alle die Hand hin streckten.

Auch die Fremden kannten ihn längst.

Man hatte bei seinem Eintreten gleich heimlich Selles Namen herumgegeben. Alle sahen mit innerem Prüfen das eigengeartete Zigeunerwesen Einharts und sein jetzt wirklich ob all des neuen Alten einfältiges, zurückhaltendes Lächeln.

Einhart war auch geradezu überwältigt. Er hatte eine unglaublich fein ausschwingende Seele. Nicht nur sehr matt hatte ihn das lange Wandern gemacht, daß er erschöpft in den Lehnstuhl sank, den man ihm instinktiv frei gemacht, gerade ein Unbekannter, der garnicht gewußt, daß Einhart dort immer zu thronen gepflegt. Einhart war durchkreuzt von Erinnerungen und garnicht fähig, etwas zu sagen. Es war also richtig eine Stille entstanden.

Natürlich besann man sich allmählich und redete [217] in dem Abgebrochenen zögernd weiter. Da hörte Einhart, wie auch der alte Geist von einst noch immer umging. Es kamen dieselben Worte aus dem Blute auf, wie ehedem. Ganz als ob in diesem engen Halbdunkel mit der dumpfen Luft, die mit Vanillensüße und Staub und Rauchgeruch geschwängert, derselbe unsichtbare Geist eingesperrt säße, jede Lippe neu zu bewegen in derselben Melodie. Und der Kampf um Topf und Teller der Kunst begann zu Einharts Staunen wie einst scharf zu werden, ohne daß die erhitzten Großsprecher je merkten, was Einhart jetzt wußte, daß noch immer der Braten vergessen oder manchem auch unversehens heruntergefallen.

Einhart lachte dann nicht mehr. Er sagte nur, daß er weit her käme und zu Fuß. Die fremden Gesichter behielten ihn immer heimlich im Auge. Erst wie Grottfuß kam, in vollendeter Vornehmheit mit Gamaschen über den Stiefeln, mit einem Zylinder auf dem blonden Haupte, mit künstlicher Achtlosigkeit im Blick, gab es ein lautes Lärmen und ein freies Großtun der Freundschaft aus ihm, daß die andern stummer und stummer wurden, je mehr Grottfuß mit Einhart vertraulich redete.

[218] Grottfuß sah stets sehr geistig und fein aus, gegen Einharts alte, dunkle Verwahrlosung wirklich recht abstechend. Außerdem war Grottfuß schon mit Erfolgen tätig gewesen. Er hatte einige Bilder verkauft und wußte, daß er im Frühling sich würde an einer Wand der Ausstellung breitmachen können. Er hatte eine reiche Familie gefunden, deren eine halbreife Tochter sich in ihn verliebt hatte, die er malte und in Ton bildete. Er war ganz von oben ein sehr gewandter Mann geworden.

In der Konditorei behandelte man ihn mit mehr als gewöhnlicher Achtung. Wie er hörte, daß Einhart mittellos ankäme, gab er ihm gleich ein Goldstück aus der Westentasche. Er tat kaum, als wenn er es groß bemerkte. Er erzählte dabei auch, weil sie jetzt ganz allein beieinander saßen, daß er der glücklichste Mensch von der Welt wäre. Er hätte sich mit Margit verlobt, sagte er.

»Verlobt«, das klang Einhart unglaublich unbekannt. Er hatte immer nur so unbestimmt gedacht, daß seine Mutter sich einst verlobt hätte mit Herrn Geheimrat. Und daß wohl auch die Geheimratstöchter sich verloben würden. Gewissermaßen, als wenn man ein Zensurbuch da erst unterbreiten oder [219] ein Dokument, das man abgab, vorher müßte stempeln lassen.

Daß ein Künstler sich je an so etwas entzücken könnte, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen.

Außerdem war Einhart wie ein spröder Stein noch immer zu den Feingefühlen der Liebe. Es war noch immer, wie wenn er ergriffe, ohne zu begehren. Die Dirnen liefen ihm zu. Gewöhnlich mehr amüsiert und belustigt war er, als in jäher Erregung. Das mußte sein Blut sein.

Aber Grottfuß war in hellem Enthusiasmus. Margit hieß sie also. Öffentlich sollte es erst werden. Ein ganz feines, blondes Mädchen. Er brachte Photographien. Und allerlei, was er von ihr bei sich trug, zeigte er. Einen breiten Ring trug er von ihr. Er war gleich in einer sinnlosen Anpreisung all ihrer Tugenden und Schönheiten.

»Du hast sie also schon einmal gemalt?« sagte Einhart.

»Natürlich, in allen Façons,« sagte Grottfuß.

»Ich brauche auch ein nacktes Weib, die ich gern als Sünderin malte gegen Christus«, sagte Einhart.

»Nein, bitte, Selle!« sagte Grottfuß ganz piquiert,[220] »bitte, werde nicht zynisch! entweihe mir nicht meine heiligsten Gefühle!« sagte Grottfuß mit Vollklang, der das profane Modellsitzen mit Einharts Ernst und Drange verwechselte.

Einhart tat es gleich leid, daß Grottfuß gekränkt war, weil Grottfuß ihm dann auch Nachtquartier anbot in seinem Atelier und ihm überhaupt für das erste in allem wollte behilflich sein.

So ging der Abend hin, in einer gewissen Neugier heimlich in Einhart, und offen in einer recht freien Hingabe vonseiten Grottfußes, der immer nur wieder auf das Glück zurücklenkte, das er in der Liebe gefunden. Bis sie betrunken heimschwankten in Halbgedanken und lustigen Bildern.

Einhart hatte sich völlig übernommen. Er hatte ewig sein Glas Sekt erhoben, auf die blonde Braut zu trinken. Er hatte den allertollsten Philosophien Ausdruck gegeben, mit seinen spitzen Augen blitzend, wo der Mund schon kaum reden konnte, und mit Weisetun und Einfältigaussehen. Arm in Arm mit Grottfuß ging Einhart durch die Straßen und stieß seine Worte heraus.

»Nämlich die Kunst – – nämlich die Kunst – – Grottfuß! komm einmal her! bleib einmal stille [221] stehn im Lichte dieser Laterne!« sagte er, sich gewichtig zusammenraffend, »ich werde jetzt eine tiefe Weisheit reden: nämlich die Kunst,« sagte Einhart, »ist nichts, als die Liebe des Menschen. Und du hast sie gefunden. Aber ich hab sie auch gefunden. Wir beide haben das Kleinod gefunden, Grottfuß! Aber du wirst zeitig genug damit fertig werden. Und ich werde euch allen erst zeigen, wie und was Kunst ist! – Grottfuß!« – – »Grottfuß!« rief er immer von neuem: »Ich werde deine Braut als Sünderin malen vor Christus!«

Einhart lag in Grottfuß' Atelier einsam im Dunkel halbentkleidet auf einem Liegesofa und murrte es immer noch vor sich hin. Grottfuß war längst heimgeschwankt in die Wohnung der Mutter, wo er jetzt noch wohnte.

5.
[222] 5

Das Leben in der Stadt begann wieder, aber doch mit ganz anderer Art und Aussicht, als es früher gewesen. Schon weil Einhart jetzt die Akademiekneipe fast ganz mied. Es war ihm einfach zuwider, sich leeres Geschwätz anzuhören, jenen verdünnten Widerhall der weisen Akademielehren, die ihm noch dazu in der Erinnerung mit dem faden Geruch alter Süßigkeiten gemischt erschienen.

Einhart dachte auch gar nicht daran einen seiner alten Lehrer zu besuchen. Auch Professor Soukoup nicht. Gelehrtes, nur mit Worten ergreifendes Wissen und Wesen der Kunst lag ganz hinter ihm. Er war darüber klar geworden, daß die Hochmomente des wirklichen Erlebens sich anfangs wie kleine, feine Sterne vor die Schau und Sinne stellen, genau und genauer besehen Keime Licht, die zu einigen Bildern und vollen Gleichnissen des eigenen Ganges und Schicksals aufwachsen. Daß es schließlich in Klängen oder Farben oder Ideen dann und wann etwas gibt, was wie ein Glück, wie ein Geschenk aus der Seele springt, geeint wie ein geschliffener Stein, unmittelbar und klar dem schauenden Wesen, ein Unvergeßliches an Gestalt und Gehalt.

[223] Wer könnte es greifen, als der Träumer, der ganz dem Wachstum jener heimlichen Funken ergeben hin starrt und hinstaunt? und wer könnte es weiter geben, als nur der in Klang oder Farbe die Weise findet, die dann draußen klingt, was innen und ungeboren und verhüllt war.

Einhart war den Jahren nach jetzt ein junger Mann. Er war gegen vierundzwanzig Jahr und machte sich jetzt ziemlich bestimmte Verheißung dessen, was er aus seiner Seele als der einzigen Lebensquelle schöpfen wollte.

Am ersten Morgen, als Einhart in Grottfuß' Atelier aufgewacht war, hatte er sich nicht lange umgeblickt. Er hätte am liebsten gleich das Tintenfaß vom Tische genommen, um es nach diesem ganzen Unvermögen auszuspritzen. Grottfuß war offenbar völlig bergab gegangen. Er hatte allerlei kopiert. Aber wo er versuchte, einen eigenen Fischzug aus dem Meere des noch Ungedeuteten selber zu tun, geriet es ins Meister Teodorische, wurden es blöde Zusammenstellungen von sehr bekannten Dingen in sehr bekanntem Singen.

Einhart war gleich an dem Tage neben Grottfuß hergegangen wie ein heimlich Anfragender. Einen[224] Witz hatte Einhart gemacht, wie Grottfuß eintrat, aber ins Ungewisse nur. Er hatte sonst nichts geredet weiter. Er glaubte im Punkte der ersehnten Lebensverkündigung aus Grottfuß etwas wie einen spöttischen Wehmutston von Verzicht gleich heraus zu hören.

»Nun bin ich nur begierig,« hatte Grottfuß gesagt, »wohin du geraten bist? ob du zum blühen bringst, was du uns immer verheißen?« lachte er ein wenig sonderlich.

»Was?« fragte Einhart.

»Ja, mein lieber Freund Selle, in den Jahren damals machten wir alle große Worte. Du suchtest immer nach der Wunderblume.«

»Ja, du! Ich habe seit lange mit niemand groß davon reden können und hab also keinen Namen für die Sache mehr gebraucht. Aber den Drang, den kenne ich noch besser, wie damals. Mir ist überhaupt ganz klar geworden, worauf es ankommt. Daß es nur darauf ankommt, etwas zu malen, was nur ich malen kann, was meine eigenen, persönlichsten Sehnsuchten stillt. Freilich muß man eigene, höchst eigene Sehnsuchten wirklich haben. Ich habe sie. Ich bin jetzt dahinter gekommen,« sagte Einhart mit aller Strenge.

[225] Einhart war dahinter. Das sah Grottfuß bald, als er Einhart vor seinen Leinwanden sah. Die Malweisen allein regten Grottfuß auf. Die ganze Zeit, die er bei Einhart stand, grübelte er. Was hatte Einhart nicht alles entworfen gleich in den ersten Tagen: Tänzerinnen, eine Hochzeit zu Kana, Jesus im Tempel, die Ehebrecherin. Und alles sonderlich. Einstweilen nur gezeichnet, aber streng auf Wesen und Ereignis drängend. Wenn auch Einhart dann mit der Farbe und seinem Experimentieren in Leim und allerhand manchmal nicht weiter kam, und es mit manchem dieser Entwürfe eines Tages zu hapern anfing.

Jedesmal wenn Grottfuß bei Einhart gewesen, ging er mit zernagter Miene von dannen, weil er aus Einharts Arbeitsraum den Atem von etwas mit forttrug, das wie Blumen oder Bäume mit starkem Eigensinn aus sich aufwuchs.

Denn wo Einhart ging und stand, sann er sich jetzt in die Typen der Menschen hinein. An Ecken und Enden der Straßen und Plätze und in den Lokalen kannte er Mienen und Geberden und all die Stimmungen und Ereignisse. Sein Blick war fremdartig und sicher, weil er etwas darin jetzt besaß, was wie [226] Härte von Steinen stach. Er hatte etwas Blinzelndes und Souveränes, wenn er so innerlich suchte. Er sah jeden Menschen darauf an, ob er ihm zu einem Bilde dienen könnte, zu einem Jünger aus Emmaus oder zu einem Fischer am See oder zu Jairi Töchterlein oder gar zu dem bleichen, sanften Gottessohne selber?

Und Einhart saß jetzt wieder bald wirklich fest und zeichnete und malte. Er brachte dazu eine Achtlosigkeit des Lebens, daß man einfach nicht begriff, wie es möglich war so auszukommen. Er rührte sich buchstäblich Tage und Wochen nicht aus seinen Wänden. Er aß ein Stück Brotrinde und trank Kaffee tagelang. Er mühte sich. Er zeichnete mit peinlicher Sorgfalt seine Entwürfe und begann dann mit neuartigen Grundierungen, versuchte allerlei Mittel der Alten und rang zu dem leuchtensten Ausdruck in Farben durchzudringen.

6.
[227] 6

In einer Vorstadt unter alten, mächtigen Kastanien, die jetzt kahl standen, und die der Westwind mit nassen Flocken bestrich, lag eine Villa wie ein großer, marmorner Würfel mit weißen Fächertreppen in den Garten nieder und mit weißen Statuen oben an den Zinnen gegen den Himmel. Rings schlief ein fein gepflegter Garten, der im Sommer wie ein erlesenes Bukett erblühte, in dessen Schattengängen dann eine melancholische, sehnsüchtige, bleiche Dame wandelte, oder zwei Kinder von etwa zehn Jahren, ein blonder Knabe und ein rotbraunes Mädchen sich jagten, oder wo Fräulein Margit, die älteste Tochter des Hauses, in einer Laube, von blauen Glycinen umsponnen, manchmal saß und schrieb.

An dem hohen, eisenblumigen Gittertor, das jetzt von Naßschnee triefte und einsam lag, las man in goldnen Buchstaben den Namen: »Rehorst«.

Herr Rehorst war einer der größten Fabrikanten der Stadt. Sein Vermögen galt als ungeheuer und war in diesen Jahren derart im Wachsen, daß er nichts scheute, was den Träumen seiner leidenschaftlichen und tiefsinnigen Frau irgend konnte zu Licht und Leben verhelfen.

[228] Frau Rehorst kannte in dieser Welt keinerlei Dinge mehr, an die sich ihr Fuß hätte stoßen können. Nichts, was je ihr Auge beleidigte oder ihren Sinn verletzte, oder von dem sie auch nur von Ferne erwogen, daß es unerfüllbare Wünsche wären.

Wenn man eintrat, auch jetzt in der naßkalten Zeit, duftete die warme, teppichweiche Vorhalle nach fremden, wunderbaren Blumen. In die Dämmerung des Raumes, der von oben seitlich ringsum Licht erhielt, fielen bunte Scheine durch die blauen Lünetten der Wölbung, und die Wandflächen hielten in kühlen, blauen Tönen schimmernde Gemälde. Die Innenräume waren weit wie Säle, tief einsilbig, da und dort in Nische oder Erker mit einer Statue versehen. Der Hauptton von dem einzigen, großen Meistergemälde der Mittelwand gleich im ersten Zimmer stimmte ein in die blaßorangenen Seidenbezüge der Wandflächen, und gegen ein mächtiges Mittelfenster stand eine reiche, helle Marmorgruppe als wundersames Schattenspiel.

Man wandelte hin in Duft und Stille. Man sah auf Ecktischen einsame Blumenkelche in Vasen, und in der Ferne durch hohe Türen leuchteten von den Wänden neue Farbenakkorde mit stillen Seen [229] in Buschwerk, wo Liebende wandeln. Alles lud wie eine Traumstätte ein, weil aus halberschlossenen Räumen ohne rechte Begrenzung Träume einen grüßten.

Hier ging Frau Rehorst um, eine schlanke, schöne Frau, still und verhärmt, mit tausend Träumen zur Beglückung der vielen, die Gott nicht beglücken konnte, und sie war oft achtlos gegen Margit und gegen ihre beiden jüngeren Kinder.

Alle drei Kinder hingen an der Mutter außermaßen. Alle sahen sie mit Entzücken in ihren wallenden, langen Falbelkleidern herschweben in Hoheit. Alle hörten mit Hingabe den weichen Schattenklang ihrer Rede. Alle wußten, daß sie der Geist des Hauses war mit ihrer ungestillten Sehnsucht nach hohen Dingen.

Sie war großen, dunklen Gesichts, voll feiner Schmäle, langsam und sicher in ihrer beseelten Bewegung, heftig, aber ganz verhalten. Immer beschäftigt, den Wohlfahrtseinrichtungen der großen Rehorstschen Unternehmungen einen edlen Sinn und eine wahrhaft menschliche Belebung zu geben, kamen die Kinder ihr nicht immer zu passe, vornehmlich, weil in einem jeden auch der Vatergeist mit tätiger [230] Achtlosigkeit lebte, der im Tun ganz Freude sah, ohne immer gleich nach der Höhe und nach letzten Zielen zu fragen.

Nun in Margit ganz und gar. Margit war sehr nach dem Vater.

Deshalb hatte es Frau Rehorst auch gern gesehen, daß Grottfuß sich Margit gewählt. Denn außer ihren inbrünstig ausfüllenden, sozialen Pflichten kannte Frau Rehorst nichts Lieberes, als die Künste. Mit sehnsüchtig feiner Sammlung trat sie meist allein unter die neuen Bilder der Frühlingsausstellung und sann sich in die Seele einer Landschaft, wie in eigene, dumpfe, oder lachende Akkorde, und ermaß aufs Kennerischste Tongebung und Pinselstrich, verhaltenes Hoffen und Drängen oder rohe, kalte Erkenntnis der Dinge, die aus Farben zu ihr sprechen konnte. Sie war es gewesen, die an einem Grottfußschen Bilde, das im Frühling mit zur Schau kam, ein besonderes Gefallen gefunden, und die Grottfuß deshalb persönlich zu sehen und zu sprechen gewünscht.

Einhart war nun auch in den Bannkreis von Frau Rehorst eingetreten. Grottfuß hatte es veranlaßt. Margit hatte ihn ausdrücklich aufgefordert. [231] Ein paarmal äußerst launig und lustig, wie sie es konnte. Und Einhart war in der schlichten Ärmlichkeit gekommen, die er selber kaum beachtete. Es war ihm alles ein sehr neuer Eindruck. Schon das Eintreten ins Haus machte ihn zögern und um sich blicken. Er erinnerte sich dunkel ein solches Gefühl der Stille und Abgeschiedenheit einmal empfunden zu haben, als er in eine leere Kirche hineingesprungen, die gerade offen war, um jemandes Blicken auszuweichen. Den Diener, der das Eisentor geöffnet hatte, hatte Einhart feierlich mit Hutabnehmen gegrüßt und war schüchtern, wie ein Knabe.

Und wie dann ein ganzer Kreis Menschen unter den vielen Kronen aus Glitzern und Flammen schwankte, und Margit ihn zu Frau Rehorst geführt, hatte Einhart in vollendeter Einfalt gelächelt.

Es war eine richtige, große Gesellschaft. Grottfuß benahm sich wie ein Herr. Grottfuß hatte sich wie ein Weltmann in Smoking geworfen und ging im Hause herum, als wenn er der Gastgeber wäre. Frau Rehorst behandelte ihn mit aller Bestimmtheit als einen der Ihren. Aber sie war mit ihren sanften, traurigen Augen auch so lieb und gütig gleich zu [232] Einhart, daß Einhart lange bei ihr stehen blieb, obwohl er gar nichts zu sagen wußte. Er wußte in diesem Augenblick wirklich nicht sich zu bewegen. Frau Rehorst mußte es ihm sehr zutraulich selber erst angeben, daß er den jungen Leuten eine Freude machen würde, zu ihnen zurückzutreten.

Einhart tat in einiger Verlegenheit, was sie ihm geheißen. Er hatte den Ton dieser dumpfen Stimme im Ohr und lächelte zu Fräulein Margit hinüber.

»War das ihre Mutter?« sagte er ganz im Banne und behielt dann Frau Rehorst immerwährend in seinen Augen.

»Ach Gott, meine gute Mutter,« sagte Margit mit einem Ton Resignation.

»Oh!« sagte Einhart nur und lächelte wieder hin.

Einhart war so einfältig und scheu, wie er seit Jahren nicht gewesen. Und so bekam er auch eine ganz eigene Empfindsamkeit. Als wenn er auf den heimlichen Zusammenklang aller derer, die allmählich hier versammelt waren, hören könnte, und es erhören könnte zu Eins. Allenthalben schwebten und schwirrten die jungen Gesichter. Es waren Freundinnen von Margit geladen. Die heiteren Köpfe der Mädchen regten sich lustig schwatzend und abwehrend [233] im Geplauder hin und her. Die Gestalten fein in Spitzen und Seiden und Mousselinen und zartem Fleisch und vollen Haarzierden leuchtend, die schlanken, jungen Arme in langen Handschuhen.

Alles erschien Einhart durchaus merkenswert. Die jungen Männer waren meist im Frack. Sie schwänzten sehr dienstfertig herum, noch ehe getanzt wurde. Einhart kannte einige.

Auch Professor Soukoup und Meister Theodor kamen. Beides war Einhart sehr unangenehm plötzlich. Er glaubte schließlich gar, er hätte etwas versehen. Ein jeder würde sich mit Leidenschaft an früher erinnern. Von Meister Teodor war das anzunehmen. Besuchen konnte Einhart den in keinem Falle. Aber daß er Professor Soukoup nicht besucht hatte, fiel ihm jetzt auf die Seele.

»Wie ein Freund ist er zu mir gewesen,« dachte Einhart, »und es ist unverantwortlich von mir ...«

Aber wie er dann neben Professor Soukoup zu stehen kam, daß der ihn sehen mußte, und neben Meister Teodor, war es ein gleichgültiges, fliehendes Erkennen, und nichts. Als wenn er den Herren verhallt wäre, wie sie ihm, dachte er und lachte er.

[234] Einhart begriff zum ersten Male, was ihm beim Gruß seines Klassenlehrers bei seiner ersten Heimkehr schon hätte in den Sinn kommen müssen, daß es eine Zutraulichkeit gibt, die die Seele zu jedem Dinge hat, also daß sie der persönlichen Seele, die sie sich gern zugute schriebe, gar nicht gegolten. Solche Zutraulichkeit hat keine Erinnerung. Die persönliche Seele, die gern nach der alten Stätte fragt, findet dort keine Spur. In Einhart ging solch stilles Sinnen vorüber, wie ein heiteres Gefühl.

Und er fand in diesem Gefühle einen Halt, daß er sich ein wenig freier unter den Anwesenden zu bewegen begann.

Man machte eine Zeitlang Musik. Eine junge Frau sang Lieder. Ein alter, beweglicher Herr mit weißem, vollen Haarschopf und mehreren Orden spielte einige verwickelte Klavierstücke. Einhart, der sich von den Tönen ganz umspinnen gelassen, hatte sich in eine Ecke gesetzt und kam sich in dem Trubel der Töne wirklich lange wie ertrunken vor. Er erwachte rein neu, als wenn er in eine sonderbare Art gegenstandslosen Kampfes hineingefallen, darin gebannt und gerüttelt worden und nun wieder zu sich käme.

[235] Alles war ihm neu.

Die großartigen Darbietungen rühmte er in übertriebenen Worten zu Margit. Und zu Grottfuß, der ihm gegenüber bei allem immer so tat, als wenn er diesen ganzen Hochton in den Darbietungen eitel selber hervorgebracht.

Grottfuß stand den ganzen Abend mit selbstsicherer Geste. Margit war kindlich beglückt, sinnlich und lustig. Sie wendete sich oft zu Einhart. Auch die anderen Freundinnen versuchten mit Einhart zu sprechen. Auch einige der geladenen Künstler. Alle hatten schließlich nach ihm gefragt. Er, der wie ein dürftiger Jüngling, so alt er nun schon war, in der Ecke sich hielt, und den fetten Haarsträhn in der späteren Stunde längst in der Stirn hatte, wie ein richtiger Zigeuner.

Und dessen Augen nun noch schärferblickend und suchend geworden, wenn ihn nicht eine Anrede zu einfältiger Freundlichkeit zurückrief.

Die Erscheinung von Frau Rehorst begann Einhart zu quälen und nicht loszulassen. Er überraschte sich selber viele Male am Abend, wie seine Augen ganz in der schlanken, still und bestimmt belebenden Rätselgestalt dieser Herrin ruhten und suchten.

[236] Er hatte auch Herrn Rehorst gesehen. Herr Rehorst war fast so scheu, wie er. Ein kleiner Mann mit einfacher Rede. Ein ganz schlichter Mensch, der in die Räume voll Bilder, Duft, Statuen, Mädchen- und Künstlerköpfen, in den Rausch und Zusammenklang der Künste schüchtern eintrat und sich zurückhaltend bewegte. Von ihm hörte er keinen Grundton ausgehen. »Dieser Herr wird draußen in seinen lärmenden Werken unter seinen tausend Arbeitsmännern ein sicherer Brot- und Ordnunggeber sein, und hier weiß er nichts zu tun, als sich nicht zu fühlen,« so dachte es Einhart.

Aber wie ein starker, voller Akkord klang ihm allmählig durch alles durch diese seltsame, melancholisch bleiche, dunkle, hoheitsvolle Frau, die in dem Durchfluten und Durchbluten der Räume und der Menschen mit Zutraulichkeit zueinander den Sinn und Atem zu geben schien, also daß es Einhart fast jetzt mit Zwange dünkte, als wenn heimlich nur von ihr das Leben, Lachen, Bewegen und Umwirbeln, aber auch ein geheimes Wehen von Nichtigem und von Trauer und vom Verhall und Verfall und Nichtsein der Dinge in aller Augenglanz ausginge.

Einhart war jetzt angefüllt mit fast schmerzhafter[237] Gier, nur Frau Rehorst zuzusehen und zuzuhorchen, ganz nur von ferne, und ohne daß es jemand bemerken konnte, weil er jedem Zuspruch immer mit kindlichem Lächeln begegnete.

Wie Einhart auf dem Heimwege mit Grottfuß ging, und der immer nur in die Sterne schwärmte nach Margit, weil er auch genug Bowle hinuntergegossen, redete Einhart dunkles Gerede von Schicksalsfrauen, die ein Leben geben und Lebensfäden in Paradiese spinnen, und die auch Lebensfäden abschneiden.

7.
[238] 7

Der Wind blies eine Husche Schnee eiskalt zum Fenster herein, als Einhart in sein Atelier trat, wo hinter einem Wandschirm sein Bett stand. Die Aufwärterin hatte es aus Vergeßlichkeit offen gelassen. Obwohl Einhart es im Unwillen zuwarf und die Gardinenlumpen noch zu Seiten einklemmte, war die Luft nicht zu atmen, und der Dampf ging aus seinem Munde wie den Stieren des Jason der Feueratem.

Einhart war in einer ihm fremden Erregung. Der ganze Abend bei Rehorsts ging ihm im Blute um. Die Lieder, die er gehört, kamen in Fetzen wieder und leierten sich ab. Er ertappte sich immer auf einer Melodie, die er sich dann erinnerte, ewig im Geiste gesummt zu haben. Und fortwährend sah er Gesichter huschen. Wen nicht alles? Er hatte sich eine Zigarette angebrannt und das kleine Kerzenflämmchen flackerte im einsamen Dunkelraume und beleuchtete schemenhaft einige Lackflaschen und die Dachsparren und den Fensterschlitz. Einhart hatte sich in Hut und Mantel, wie er war, in einen Stuhl geworfen und sann dem Abend bei Rehorsts nach, indessen in neckischen Prozessionen bald das, [239] bald jenes, bunt oder wie aussetzende Weisen, deren Takt allein übrig bleibt, in ihm hineilten. Es war ein Spiel der inneren Traumgeberden, müde und übermäßig erregt, wie ihn die guten Speisen und der feine Wein, und zum Schluß viele Tassen des in kleinen Schalen präsentierten Kaffees zurückgelassen.

Einhart war bleich im Gesicht, und die Augen lagen glänzend und groß und wie geisterhaft erfüllt in den mageren, fast geschwundenen Zügen. Die Kälte des Dachraumes war so arg, daß die Balken knackten und Einharts Sinnen ein paarmal zerrissen.

Aber Einhart konnte nicht von der Stelle. Er mochte keine Hand rühren. Er war wie gelähmt. Das war ganz Einhart. Er trug seine ganze Seele und sein lächerliches Sein und Wesen jetzt wie auf einer heimlichen Tafel vor sich hin.

Da kamen Einhart Selle und Grottfuß gerade ins Haus. »Diese beiden komischen Knaben,« dachte Einhart und sah sie eben im Hausflur bei Rehorsts vom Diener bedient. Und er hörte gar nicht auf zu knicksen, dieser ergebene Herr Einhart, der sogar vor einem Diener fortwährend seinen Hut bis auf die Erde riß ... wie ein Hampelmann.

[240] Wie ein Narrenspiel taumelte und hüpfte er vor sich selber.

Er lachte in sich so heftig, bis fast zum Weinen, und konnte sich gar nicht zur Ruhe bringen. Er hätte am liebsten vor Unbehagen plötzlich um sich geschlagen. Da besann er sich, weil eine unerhörte Stille im Raume herrschte, und seine Gedanken bekamen eine andere Richtung.

Eine heiße Welle ging in ihm vom Herzen aus. Sein Gesicht begann zu glühen. Er saß mit geschlossenen Augen jetzt. Er hatte die ganze Welt um sich vergessen, obwohl er wach war, und neue Erinnerungen in seinem Kopfe ihr Wesen trieben. Das, was ihn jetzt anwandelte, gewann für ihn selbst keine Klarheit. Es war eine hohe Dame zu ihm getreten. Er mußte ewig hinlauschen. Der Mund dieser Dame war feinbogig mit einem kleinen Spitzchen, und die Oberlippe war wie ein Flaum. Dieser Mund däuchte ihm zart, wie ein Blatt. Auf diesen Mund mußte er fortwährend hinstarren. Es gingen Worte und ging sanftes Zutrauen aus diesem Munde. Aber es kamen gar keine Töne. Er hungerte fast. Es quälte ihn. Der ganze, schöne, volle Kopf schwamm allein wie in einer fernen [241] Welt. Der Kopf sah traurig aus. Er hatte etwas Erhabenes. Dunkle Scheitel umhingen ihn. Dunkle Agraffen lagen auf den Scheiteln. Es hingen Perlen über den Agraffen und blitzende Tropfen. Und auch die Augen schienen Tränen zu weinen, die blinkten. Ganze Kettchen Tränen oder Perlen hingen irgendwo. Der Kopf war ihm, wie das Gesicht auf dem Schweißtüchlein der heiligen Veronika. Die Augen sahen ihn mit einer Frage an. Wie ein Dolchstoß ein Strahl daraus.

Und Einharts Seele lag offen wie in Blut und Flammen. Er empfand ein seltsames Gefühl, als wenn seine Pulse jagten und jagten. Der Kopf im Raume ragte immer kleiner und immer ferner. Wie eine ferne, süße Weise schien er hinzuschweben. Wie eine nie erhörte Sehnsucht schien er zu rufen. Und Einharts Herz lag wie ein Blutschwall, den er empfand, als wäre er von einem Dolche getroffen, und das Leben ginge aus.

Einhart fühlte jetzt deutlicher, daß das Herz ihm in sinnloser Unruhe pochte bis in Hals und Hirn.

Aber er konnte sich gar nicht ermannen.

Es geriet immer sinnloser. Die Traumgrimassen[242] spielten toller und toller. Wie im Jagen kamen ganze Reihen Männer und Weiber. Grottfuß im Frack und mit dem Zylinder im Nacken im Ringelreigen mit Margit. Die Schöße flogen. Die Hände verschlangen sich. Alle nickten und warfen die Beine wie eine Bachantenschar, Frau Rehorst umrasend, die wie ratlos in der Mitte stand: in langen, fließenden Gewändern priesterlich opfernd.

Und Flammen schlugen empor und schlugen empor, immer höher und immer rasender umtollt. Meister Teodor lachte und schrie in die Welt mit großem, offenen Munde. Und Meister Soukoup schrie in die Welt. Die Münder waren Höhlen geworden. Die Flammen erfüllten alles. Die Menschen waren in Rauch und Flammen. In der Ferne schwand, wie eine Seele hinter Flammen und lohenden Bränden, die weiße, stille Priesterin und lächelte zu Einhart und lächelte und regte die sanfte Hand mit zärtlicher Geberde. Und ging dann hin in Rauch und Nebel, sausend, stumm – leise – schwebend – einzig-fern – ahnend – wie Flammen singen – schmerzlich – zerwehend die Jagd und den Wirbel, der gegenstandslos wurde. Daß nur eine quälende, nagende [243] Empfindung wie ein brennender Durst Einhart endlich aus seinen Träumen auftrieb.

Er nahm die Lippen zusammen. Er nahm die Mantelfalten zusammen. Er öffnete endlich die Augen. Er sah, daß der Morgen zum Fenster hereinschien, blaudunkel und kalt. Daß der Himmel sich gelichtet. Da besann er sich, trank Wasser aus dem Waschkrug, der halbvoll am Boden stand und suchte nach Holzspänen, um Feuer im Eisenofen anzuzünden. Dann brannte es und krachte es bald. Die Nacht war mit ihrem sinnlosen Gespensterreigen im Nüchternen ertrunken. Einhart ging ohne sich zu besinnen an seine Arbeit.

8.
[244] 8

Einhart hatte sich tagelang eingeschlossen und allen Versuchen, an seiner Tür zu rütteln und Einlaß zu gewinnen, hatte er ein unaufweckbares Schweigen entgegengesetzt, daß es ihm gelungen war, leidenschaftlich in die Arbeit zu versinken. Auch Grottfuß hatte vor Einharts Tür gestanden. Aber gerade Grottfuß wäre er am wenigsten geneigt gewesen, Einlaß zu gewähren. Auch wenn er mit Margit gekommen. Einhart hatte sich hinter seiner Tür nicht geregt. Er hatte nicht daran gedacht, zu öffnen. Grottfuß hatte schließlich mit ein paar sinnlos derben Schlägen an die Täfelung der Tür geschlagen und war mit Flüchen die Treppe hinuntergegangen, im Zorn die Beine nicht hebend und recht achtlos hinabpolternd.

Einhart stand und malte. Er hatte die Tafeln zur heiligen Geschichte einfach an dem Morgen nach der Gesellschaft bei Rehorsts beiseite geschoben. Ihn beherrschten jetzt andere Dinge. Der Abend hatte ihn in einer unbestimmten Aufregung zurückgelassen. Die Aufregung war noch nach Tagen nicht gewichen. Er hatte gleich am Morgen Skizzen zu einem großen Bilde zu machen versucht.

[245] Wie in allem bei Einhart, lief Traum und Wirklichkeit zusammen im Werke. Und seltsam auch, daß sich die Träume, die sich in langen Verwebungen immer um irgendein Frauenbild gesponnen gleich in der ersten Nacht, sich in den Nächten nach der Arbeit in allerlei sinnlosen Varianten wiederholten. Es war Einhart klar geworden, daß es immer Frau Rehorst war. Etwas wie die freie, schwermütige, edle Hüterin im Reigen stand überall auch in seinen Skizzen auf. Wachen und Traum ging durchaus ineinander.

In Einhart waren auch allerlei Gefühle wie Peinigungen aufgewacht. Das war, weil er nie im Leben bisher in solche festliche Schönheit eingetreten, wie sie ihn bei Rehorsts umgeben. Auch nie unter eine solche Fülle eigentümlicher Unterschiede und Gegensätze der Menschen. Er mußte aus der widerstreitenden, chaotischen Menge, die man eine Gesellschaft hieß, den Faden finden, um endlich wieder zu sich zu kommen. So malte er.

Und er hatte nach seinen Skizzen eine große Tafel gleich begonnen. Es wäre ihm einfach wie der Tod seiner Ideen erschienen, wenn jetzt ein profanes Auge Aufklärung über das verlangt, was [246] auf seine Leinwand kam. Der Gedanke, daß er auch nur einem dieser Köpfe sollte ein Etikette ankleben, war ihm wie ein Schmerz. Aber seltsamer noch, wie Einhart beim Malen erst sozusagen hinter das Leben kam, was sich dort im reichen Hause und unter all den gleichgültigen oder jungheiteren Menschen abgespielt.

Da begriff er immer neu, daß man über das Leben viel träumen müsse, um es ganz zu umfassen und aufzusaugen. Da ging es wie eine Ahnung in ihm, daß Träume oft das Licht der Tiefe sind, das sich sanft scheinend über Dinge und Taten breitet, wie Deutungen, wenn die Anspannungen und Vergewaltigungen der Notdurft und der Oberfläche schweigen, die wie ein irrer Wind nur zu leicht die Leuchte wahrer Erkennung verlöschen.

Da kamen auf die Tafel nun aller Augen mit einem Sonderglanze aus dieser Erkennung. Jedem Kopfe wußte er seine Laune und heimliche Leidenschaft einzuhauchen, die ihn in dieser buntbeflitterten Festmenge gebunden hielt. Auf jeder Lippe schwebte wie ein Lässiges oder Verächtliches oder ein Neidwort oder ein Wort der Sehnsucht. Auf jeder Gebärde lag eine Müdigkeit oder ein Sichhinwegheben. [247] Oder man erkannte auch unter den Jungen, wie sie einander heimlich mit ihren Armen suchten, als wenn sie sich entgegenwüchsen in jugendlichen Begehrungen.

Und manche auch, die zuhörten, ohne daß das Fest ihre Seele erhellte, nur dabei wie von der Straße geladen, Leute, die kein festlich Gewand der Seele kannten. Und solche, die Feste nicht begreifen, als nur von ferne, wie einen schönen Vorklang, der einmal ein wahres Fest einleiten könnte. Weshalb sie jetzt den einsamen Klang nur voller erlauschen möchten mit ungläubigen Augen.

Inmitten all dieser standen ihre Augen und standihre Sehnsucht und Trauer.

Ihre Augen waren wie eine große, einzige Melodie über den durcheinanderirrenden Gestalten und Launen, die rings im Festkleide hinwallten. Diese einzige Melodie einte das ganze große Bild, das nun von Einharts Pinselstrichen aufwachte.

Und aus der Menge dieser Gestalten und Launen blickte er selber, Einhart Selle, hin nach jener, die seine Tage und Nächte jetzt in eine heiße Kunstbegierde erweckte, daß er nicht Ruhe fand.

Er hatte Tage gemalt und hatte weder recht gegessen, [248] noch getrunken. Außer Kaffee, und was er an Resten noch in seinem Schube gefunden. Er sah bleich und von heiterer Hast verzehrt aus mitten in solcher Leidenschaft des Tuns und der gänzlichen Versunkenheit.

Eines Tages wurden Tritte draußen auf der Treppe hörbar, die ihm unbekannt schienen. Was er sonst nie tat, daß er den Pinsel beiseite legte, und wie in einer unbestimmten Empfindung von Klarheit lauschend an die Tür trat, das tat er jetzt. Draußen stand jemand, der sich nicht bekannt hier zu fühlen schien. Die Bewegungen draußen schienen unentschlossen. Jemand las erst die Karten, die an einigen Türen der Bodenräume prangten, ehe er an Einharts Tür sich regte.

Einhart erwachte gleich.

Es kam ihm jetzt auch gleich so vor, als wenn er diese ganzen Tage nur darauf gewartet. Der wahnwitzigste Gedanke. Es kam ihm so vor, als wenn er überhaupt nur um dieses Besuches willen seine Bilder gemalt. Er lauschte. Er hörte jetzt bestimmt, daß Frauenkleider rauschten und an seiner Tür strichen. Er dachte auch gar nicht daran, irgendetwas von seinen Malereien und Skizzen beiseite [249] zu bringen. Auch nicht daran, etwa ewig hinter der Tür zu stehen, zu schweigen und sich zu verleugnen. Eine wahre Freude, wie in einem Kinde, ging in Einhart. Es kam ihm plötzlich wie eine Erfüllung vor. Als wenn ihm irgendwo ein Weihnachtsglück angezündet. Die Augen Einharts hatten hinter der Tür schon sein zärtlichstes Lächeln. Weil er jetzt auch die Stimme noch hörte. »Also! gut!« sagte er vor sich hin, als er gar nicht Zeit ließ, um nur gleich weit aufzutun. So daß Frau Rehorst endlich vor ihm stand.

Wer Einhart kannte, mußte wissen, daß er jetzt wie ein sanftes Kind sein würde. Er nahm Frau Rehorst richtig an der Hand und führte sie in seinen Arbeitsraum. Frau Rehorst sagte nicht viel mehr, als einen Gruß mit Lächeln und mit hastigem Atem noch, weil Einhart hoch wohnte. Sie sah wie eine große Dame aus. Das Gesicht hatte dieselbe welke Trauer, die unter dem Lächeln sehr lieblich dünkte. Der große Hut war ähnlich denen, wie er sie von den Schwestern daheim noch im Sinne hatte. Aber er machte sich jetzt gar nicht lustig.

»Ich habe hier einmal ein Gruppenbild versucht,« sagte er hastig.

[250] »Oh ja,« sagte Frau Rehorst und ließ sich auf den einzigen Stuhl nieder, der im ärmlichen Raume stand.

»Es ist eine Tollheit, die mir durch den Sinn fuhr. Sonst malte ich immer nur jetzt aus der heiligen Geschichte. Aber mich dünkt aus dem Füllhorn der Zeit – – –« sagte er etwas gedunsen.

Frau Rehorst sah alles sehr genau.

»Ich wollte Sie einmal wieder sehen, und sehen, wie es in Ihrem Herzen aussieht,« sagte Frau Rehorst, mit den Augen auf dem Bilde.

Aber sie war dann doch ein wenig still. Daß beide lange auf die Tafel sahen.

Frau Rehorst trug einen grauen, vollen Pelz in schlanker Façon. Sie saß auf dem Stuhle in der Mitte des Ateliers, dem großen Bilde gegenüber. Sie hatte ihren Hut abgelegt und saß mit den vollen Scheiteln und dem sanften, langen Oval ihrer bleichen Züge. Ihre Augen schwammen.

Einhart geriet derart ins Bodenlose, als er sie im Spiegel angesehen, daß er fast nicht fühlte, wie Minuten hinrasten. Auch Frau Rehorst war in einer seltsamen Dämmerempfindung.

[251] »Sie müssen nicht denken, daß ich erschrecke,« sagte sie nur.

Sie war durch den Anblick nicht ruhiger geworden. Sie erkannte sich sehr genau und sah in dem Bilde eine ganz eigentümliche Erklärung, wie aus einem tieferen Leben genommen. Und eine rechte Verklärung. Einhart versuchte einiges dazu zu sagen. Alles geriet nur wenig. Aber Frau Rehorst begann sich aufzurichten, warf ihre Stummheit ab, sah Einhart lange bestimmt und freundlich an und sagte: »Es ist zu viel Hoheit drin. In mir sieht ein wenig anders aus, was Ihnen so scheinen mag,« sagte sie.

»Es kommt mir so vor, als wenn Sie mir vielerlei Dinge zu sagen hätten. Vielerlei Dinge aus meiner Welt und aus Ihrer.«

»Dünkt es Sie so?« sagte Einhart beglückt lächelnd.

»Ja, nämlich lachen Sie nur nicht! Aber alle Dinge sind so stumm, und nur ein Deuter kann sie zum Reden zwingen,« sagte Frau Rehorst, in den Anblick des Bildes neu versunken.

»Dann kann es manchmal eine wundervolle Melodie sein, das Leben,« sagte Einhart, indes [252] er Frau Rehorst verstohlen von der Seite ansah.

»Und es gibt Menschen, die brauchen nur da zu sein, da sieht man mit ihren Augen und hört mit ihren Ohren,« sagte Frau Rehorst und sah Einhart mit ein wenig Schwermut an, vollendete nicht und sah auf die Skizzen, die Einhart aus Ecken und Winkeln nun vor sie trug, und dann und wann immer wieder auf das große Bild zurück.

So waren sie lange stumm, Zeichnungen und Entwürfe betrachtend, dann und wann einmal mit dem Finger hinweisend und dazu lächelnd, oder, wie es Frau Rehorst tat, ein flüchtiges Urteilswort hinmurmelnd.

»Seit Sie bei uns waren,« sagte sie endlich. Aber sie vollendete wieder nicht. Sie lachte Einhart jetzt nur freundlich an. Danach nahm sie ihren Hut, den sie sich sorgfältig vor dem Spiegel auf ihr volles Scheitelhaar steckte, und sagte dabei in ganz anderem Tone:

»Ja, ja! darüber können wir dann reden, wenn wir einmal vertrauter geworden sind und uns die Worte, die ein jeder redet, noch deutlicher und [253] persönlicher auf uns selber hinweisen. Einstweilen genügt, daß Sie es wissen.«

»Was wissen?« fragte Einhart, »meine verehrte Frau Rehorst?« Einhart war fast wie eingeschüchtert vor ihr.

»Nun nichts, als daß ich Sie oft bei uns erwarte.«

Einhart machte ein glückliches Gesicht.

»Kommen Sie in der Dämmerung, wenn Sie nicht malen können. Kommen Sie, wenn es Ihnen paßt, Herr Selle!« – – – »Herr Einhart Selle!« – – – »Herr Einhart Selle« sagte sie noch einmal vor sich hin, als wenn sie den Namen schmecken wollte.

»Ich habe eben erst Ihren Vornamen gelesen. Also muß ich ihn mir zweimal sagen,« redete sie launig.

»Was für eine sehr, sehr feine Anschauung, und ist doch gar nicht unrichtig gesehen. Also aus unsrer Gesellschaft brachten Sie das mit heim?« sagte sie noch einmal sinnend auf das Bild gewandt. »Und hatten also eine Erinnerung. Wie schön mir das däucht!« sagte sie hastig. »Also Sie kommen, Herr Einhart Selle! nicht?«

[254] Einhart war ganz müde plötzlich, wie sie draußen seine Hand genommen in ihre weiche, weiße Hand, die noch ohne Handschuh war, und er dann diese zarte Hand heiß in der seinen gefühlt und sie geküßt hatte, was er noch nie im Leben getan.

9.
[255] 9

Frau Rehorst lebte ein Leben voll Entsagung. Das kam, weil sie eine Jugend voller Träume in großem Reichtum genossen, und nun die Dinge um und um, über die sie Macht hatte, sich nicht tiefer enthüllen wollten, als bis zu ihren herkömmlichen Zwecken.

Und dann kam es daher, daß sie jung war, und daß ihre Kinder, insonderheit Margit, sie vor sich selber alt machten, weil sie mit völlig eigenen Begehrungen herangewachsen waren, und das Gefühl ihrer Mütterlichkeit immer mehr zu Würde und Bürde erhoben.

Aber noch mehr: Frau Rehorst hatte lange im Leben nur so hingelebt, Erfüllungen hingenommen, und Preise des Lebens genossen, und nirgends war doch bisher ein Sieg und ein Erringen aus der Fülle und Tiefe gewesen, nirgend auch aus der eigenen Seele die Feuerflut der wahren Beglückung hervorgebrochen. Nirgend. Denn weder als Jungkind, noch wie sie ihres Mannes Geliebte gewesen, hatten sich die Wunder des Lebens ihrem Auge aufgetan. Liebe war ein Rätsel geblieben. Die Kinder, die diesem Rätsel entreiften, sah sie mit der pflegenden Sucht der [256] fast leidenden Mutter zu Menschen werden oder in Margit schon geworden, die von der Mutter Lebensträumen gar nichts wußten.

Alles umgab sie, daß ihr Fuß sich nie an einen Stein stoße.

Herr Rehorst war Güte und Rücksicht und liebte die rastlosen Taten ihrer Fürsorge. Er empfand, als wenn sein Reichtum erst in ihr einen Sinn gewonnen. Als wenn die großen Werke seiner Unternehmungen erst gewissermaßen unter ihren Händen die einzige, wahre Blüte trieben, jene große, menschliche Wohltätigkeit, die die Unzahl Menschenseelen liebend und pflegend einte, deren Leiber man in dem rastlosen Tun der Maschinen nicht ruhen ließ. Herr Rehorst konnte nicht die schlanke Erscheinung Frau Rehorsts und ihre sanfte, schwermutsvolle Stimme oder ihren versunkenen Trauerblick bemerken, ohne nicht heimlich wie eine Weihe zu fühlen über sein Tun. Und er ging durch seine Arbeiterhäuser und die Badeanstalten und Unterhaltungs- und Leseräume nicht anders, als daß er den Genius der Liebe pries, der hier zu inniger Menschlichkeit zusammenband, was die Industrie ohne Acht auf das hohe Gesetz des persönlichen Lebens in tausend kleinliche Erniedrigungen zerriß.

[257] Herr Rehorst war in dem Sinne geradezu ein Schüler dieser Frau.

Er sagte viele Male, daß, wenn die Industrie auch unsäglich unbarmherzig vorwärts ginge, sie eben nur mit solcher Grausamkeit ihr Werk erzwänge, daß in den Wohlfahrtseinrichtungen die ersten Knospenkeime sozialer Menschlichkeit aufblühten. Diese Einrichtungen für den Menschen im Arbeiter wären der ganze Sinn.

Frau Rehorst hatte das gleich gesagt, wie sie in die Ehe getreten. Und hatte Mittel genug gefunden, darnach zu tun. Mitleiden und Güte kann auch die Trauer ausströmen. Frau Rehorst hatte sie ausgeströmt nach allen Seiten. In den Fabrikhöfen sah man in ihr eine Trösterin des Leidens. Sie kam, wo auf der ärmlichen Schwelle nur noch Engel helfen konnten. Aber die sanfte Anbetung und der Kuß auf den Saum ihres Kleides machte sie für sich manchmal nach den heimlichen Geschenken des eigenen Lebens weinen. In den langen Jahren rastlosen Tuns war das nicht seltener geworden. Und Herr Rehorst hatte nicht trösten können, als nur mit mehr Darreichungen zu neuem Liebeswerk. Und die Kinder lebten und lachten, und wußten [258] nicht groß, warum in Mutters Gesicht sich ein stiller, hoheitsvoller Gram zeichnete.

Im Grunde war jetzt Frau Rehorst völlig ruhelos. Auch die Künste hatte sie immer gesucht. Aber recht eigentlich können auch Künste nur der Seele eine wahre Lebensflamme sein, deren eigene, heiße Flamme sie lodern machen. Die Künste sind auch nur ein Ding draußen, das seinen Zauber in der eigenen Tiefe erweisen muß. Und niemand hatte noch zu hoher, heller Flamme die Brände dieser einsamen, verschlossenen, tätigen Frau angeschlagen. Das war es auch, warum Frau Rehorst in ihren weiten, durchdufteten, der stummen Schönheit geweihten Räumen immer stand, wie eine, die es sehnsüchtig erlauschen möchte, die eigentliche Herrin der reichen, äußeren Dinge, die ihr dienten, und die sie nur achtlos wie tote Dinge empfand.

Das war es, daß sie in dem Rehorstschen Hause über der heiteren Lust der Jungen wie eine stille Hoheit thronte ohne Absicht, wie ein Rätsel, wie eine ewige Erwartung, wie eine weite, grenzenlose Seele, in der alles gesellige, volle Treiben in eine heimliche Klage und einen wesenlosen Ruf verhallte.

[259] Aber auch die Seele, die krank an der Äußerlichkeit des Lebens, sich das Wesenhafte aller Dinge, auchdes Dinges, das sie selber ist, erhören und erschauen will, hat eine heimliche Macht. Wer könnte das Mysterium begreifen, worum auch Einhart jetzt seine Träume gesponnen?

Frau Rehorst fand zum ersten Male in Einharts Augen und Bilde ein Lied ihrer Seele. Wer Frau Rehorst hätte sehen können, als sie aus Einharts Atelier und dann aus dem Hause auf die Straße trat, hätte am Gange und an der Haltung allein erkennen müssen, daß sie dieses Lied zum ersten Male im Ohre hatte. Sie summte eine glückliche Melodie auf ihren feinen Lippen. Ihre Augen unter schwermutsvollen, langen Lidern mit dem reichen Dunkelsaume lagen lachend, ohne daß sie es wußte. Sie hatte den Kutscher sofort angewiesen, heimzufahren, weil sie Lust hatte, allein in den Straßen zu wandern, und war dann auf Umwegen erst heimgelaufen.

Und es war eine große Freude in Rehorsts Hause gewesen. Tage noch immer tat Frau Rehorst alle ihre Arbeiten und Verfügungen mit einer ihr fremden Heiterkeit, als wenn eine Last von ihr genommen. [260] Sie ließ ihre Schneiderin kommen, und ordnete seltsame Jugendlichkeiten an ihren neuen Kostümen an.

»Wir werden einen Fastnachtsball im Hause arrangieren,« sagte sie schon vor Weihnacht lachend zu Margit, die über Mutter wahrhaft ausgelassen war.

»Nun, einer Braut zu Liebe muß ich wohl eine festliche Seele haben,« sagte Frau Rehorst.

Herr Rehorst lachte immer, wenn Frau Rehorst es tun konnte. Wie er gleich ernst war, und heimlich die Kinder mahnte, wenn Mama in stillen Schmerzen saß. Jetzt kam er und preßte die Hand seines Weibes mit lachender Inbrunst. Eine volle Verwandlung war im Hause, ohne daß es jemand hätte sagen können, in welcher Region Leben da plötzlich ein neuer Quell ergraben.

Und Grottfuß genoß es mit. Ihm lag Lebenslust. Den Harm spottete er schon früher weg. »Es lohnt sich nicht,« sagte er damals. Jetzt hatte er keinen Grund mehr dazu, weil es ihm nur zu wohl ging. Jetzt war er ein noch vornehmerer Herr geworden, und wußte alles im voraus, was sonst der Harm erhärmen will. Und Margit war in dem Alter der frischen Sinne und hatte die [261] nüchternen Triebe des Vaters geerbt, jung und voll Anmut, wie sie war. Sie genoß jetzt das Glück der heimlichen, brünstigen Küsse, und däuchte sich ewig mit einem Blumenkranze geschmückt und als das Sonntagskind im Hause, das die reine Lust hereingetragen.

Alles war in der Tat im schönen Marmorhause, das sonst unter Frau Rehorsts Wesen, wie eine Frühlingswiese unter einer Regenwolke stand, heller geworden. Und Frau Rehorst konnte manchmal jetzt in ihrem Wintergarten heimlich in einen Blumenkelch hineinstarren und glücklich lachen.

10.
[262] 10

Einhart war unglaublich neugierig auf seine Zustände, auch wenn es Schmerzen waren, oder er sie sich nicht gleich zu deuten wußte. Und er ging allem, was ihn angriff, mit Leidenschaft nach. Zumal wenn, wie es oft war, seine Malweisen ihn ins Stocken brachten, weil er in gewissen Stadien zu experimentieren begann und dann seinen Wünschen von Duft und Vision nicht endgültig nahe kam.

Einhart ging jetzt oft zu Frau Rehorst und war im Hause bald so vertraut, wie Grottfuß. Er mußte jedesmal lachen, wenn er die Diener nun schon mit ganzer Gleichgültigkeit grüßte, ein wenig von oben. Und wenn er Frau Rehorst die Hand küßte, genau wie ein Kavalier. Auch darüber, daß er jetzt in einem Gehrock ging, den er sich einfach aus Zwang hatte anschaffen müssen, weil Grottfuß ausdrücklich dazu ihm einiges Geld gegeben hatte. Auch hatte ihm Frau Rehorst eins seiner Bilder abgekauft.

Und Einhart kam sich manchmal garnicht, wie er selber vor, wenn er in lässiger Lümmelei auf einem Lehnstuhl in Frau Rehorsts Boudoir saß, wohin man ihn jedesmal führte, auch wenn Frau Rehorst zufällig noch nicht daheim war.

[263] Frau Rehorst war in Einharts Gesellschaft jetzt ganz ruhig. Dieser eigene, dunkle Zigeuner, wie er war – ein rechter Jungmann geworden, mit sanftem Haarflaum auf der feinen Lippe, das gelbgraue, schmale Gesicht geistig erfüllt im Sinnen, mit den schmächtigen, aber sanft bewegten Gliedern – brachte Frau Rehorst wie in eine Stillung, solange sie ihn auch nur in ihrem Hause und in ihrem Zimmer wußte.

Und wenn sie daheim war, konnte sie jetzt scheinbar ganz achtlos mit ihm lachen und plaudern.

Einharts Meinungen gingen in sie ein wie Gleichnisse, die mancherlei Dingen einen eigenen Sinn verliehen. »Einhart« nannte sie ihn immer, wenn sie allein waren, mit lachender Zärtlichkeit. Und »Herr Einhart Selle« war es, wenn es sich um Menschen sonst handelte, die mit dabei waren.

Frau Rehorst tat bald fast nichts mehr, wenn es nicht Einhart gut geheißen. Sie konnte fast gar nichts mehr denken, wenn sie sich nicht Einharts scharfe Dunkelblicke dazu gedacht. Und sein Lächeln über Ärgernisse brachte sie sofort über jeden Groll.

Wenn sie allein beieinander am Kaminfeuer saßen und plauderten, sahen sie sich oft in die Augen. [264] Und Frau Rehorst war in seiner kindlichen Ausdrucksweise wie gefangen, ging dann auf und ab mit Einhart, indem sie achtlos die Fugen der Diele mit ihren Schritten einhielten, beide, und so eine Art Parade machten, unterdessen das Lachen über die früheren Zustände, in denen Einhart zum ersten Male jetzt sich vor ihr besann, gelebt zu haben, sie innerlich voll erfüllte.

Einhart hatte dann eine heitere Sicherheit, viel männliches Rückblicken ging aus ihm. In der Nähe dieser hohen, losen, jetzt ebenso kindlich gestillten Frau begannen sich in ihm Meinungen und Überzeugungen zu kristallisieren, über die er selbst sich wunderte. Daß in ihm das Gefühl aufwuchs, eine Kraft zu gewinnen und seinem Verlangen einen klaren und starken Ausdruck. Nie noch hatte er im Leben mit jemand so heiter und so überlegen, so ins Große vorgewendet in Laune, und so ohne Acht der Unterschiede geredet.

Es ging auch manches Schalkswort in Frau Rehorst über, wie ein Funke. Es war eine richtige Ausgelassenheit. Einhart hatte wie eine Haut der Schüchternheit noch vollends abgestreift und war in diesen Stunden ein kräftig Lachender geworden, der [265] sich hoch hielt. Frau Rehorst hing mit großen Blicken an ihm und an dem Erdigwarhaftigen seiner ganzen Erschauung, das nirgend mit aalglatten Worten kam, das nur Sachen und Erlebnisse stammelte, stammelte mit der ganzen echten Sinnenkraft, die beglücken kann aus jedem Dinge.

Einhart hatte Frau Rehorst die Hand geküßt jedesmal, wenn er gegangen. Aber er zog die Hand jetzt zu sich empor, so sanft gab sie sie ihm und streckte sie seinen Lippen entgegen. Und je öfter sich die Abende wiederholten, desto inniger war eine Kameradschaft zwischen Einhart und Frau Rehorst erwachsen.

11.
[266] 11

Es war um die Weihnachtszeit. Und Einhart hatte sich oben in seinem Atelier im Bodenraum lange abgemüht. Denn seine Ideen waren jetzt ins Große gewachsen. Und seine Zerfahrenheit infolge aller möglichen Vergnügungen und Inanspruchnahmen auch. Er hatte sich nun zum vierten Male entschlossen, das große Bild, was er Reigen nennen wollte, beiseite zu stellen, und noch einmal völlig neu, wie aus ganz freiem, neuem Schauen einzusetzen.

Im Atelier kroch die Dämmerung aus der Vorhangsfalte, und draußen lag ein grauschmutziger Luftton über viel Weihnachtsgefunkel in den Straßen. Einhart war ziemlich müde vom Abend vorher in Rehorsts Hause. Er war lange in allerlei flüchtigem, zerrissenem Treiben seiner inneren Gesichte gefangen auf dem Bettrand sitzen geblieben, unterdessen das Feuer im Eisenofen auf die in Dunkel einsinkende Stube ein lebendiges Farbenzucken malte und vernehmlich dazu seine Deutungen hinplauderte.

Da war ihm auf einmal, als wenn sein Zimmer in hellen Flammen stünde und er von einem tollen [267] Spiel züngelnder Lohe umgeben dasäße, oder auch schon schwebte wie in Flammen und Feuergarben. Und als wenn er in ganz ungebundener Uebertreibung diese Gewalten aus sich selber herausgerufen, war er dem Himmelan dieses geistwehen Treibens mit versunkener Haltung derart hingegeben, daß er selber an Haaren und Fingern und an allen Kleidern Flammenzungen mit sich emportrug.

Es war nur ein Augenblick.

Er erwachte gleich. Er sah, daß in der Tat auf dem Stuhle neben ihm ein Tuch lichterloh brannte. Und er sprang auch sofort auf, um den Brand noch rechtzeitig zu löschen. Sein Herz schlug ihm. Er war sehr erschrocken. Und er untersuchte noch einmal aufs genaueste alles, ehe er sich zum Ausgehen plötzlich entschloß.

Aber auch wie er draußen auf der Straße, im Zuge der vielen Menschen, im Scheine der Weihnachtserstrahlungen in den Straßen ging, war er nicht ruhig geworden. Es war durchaus seine Weise, daß er sich noch immer wie an Ecken und Enden entzündet vorkam und ein paarmal in sich zurückkehrte mit dem Gefühl des Wunderbaren dieses Emporbrennens der Dinge.

[268] Dann schien ihm das Feuer nur noch ein Spiel zu geben.

Das Feuer brannte aus seinen Erinnerungen auf.

Er dachte an manches Feuer, das er mit irgend einem ergebenen Helfer aus der Schule einst in der Haide gemacht. Er dachte auch an die Zigeunerfeuer. Flüchtige Schatten flogen in seinem Auge hin, wie sonderliche Gesichte, die er kaum noch zu nennen wußte.

Einhart war heut durchaus nicht auf dieser Welt. Auch jetzt nicht, wo er, in seinen langen Mantel gehüllt, in den Straßen die Schnarrteufel hörte, die Kinder an ihn herantrugen, um sie zu verkaufen. Auch ganz und gar nicht, als er nun unter die hellen Lampen am Markte kam, wo das Menschengetümmel sich staute und der Lärm wie ein Meer voll Unruhe ebbte und wogte.

Einhart lebte schon lange lauschend und staunend ein ganz eigenes, neues Leben voll neugieriger Erwartungen, und kindlicher Wärme, und Abgekehrtheit gegen Menschen und Dinge. Wie es immer Menschen leben, die wie Bienen den Duft des Lebens trachten zu süßem Honig zu gewinnen.

Und Einharts Blut geriet an dem Abend in [269] immer tiefere Begehrungen. Er kam sich durchaus jetzt so vor, als ob er um jeden Preis irgendeine Seele brauchte, der er von einem großen Glücke erzählen könnte. Er fühlte sich plötzlich sehr allein. Wie er an einer der Würstelbuden stehen blieb, erinnerte er sich, daß er sich für einen Besuch gar nicht angetan. Er trat heran, sich Abendbrot zu kaufen, und begann sofort in der Winternacht auf der Straße aus der Hand zu essen. Sein Blick suchte am Nachthimmel noch immer einen Feuerschein. Geräusche, die wie ein Ruf klangen, weckten ihn jedesmal wie ein Hilferuf. Es war Einhart durchaus nicht unangenehm. Das war nur so neben dem irdischen Tun sein ungeberdiges Sinnenspiel.

Das rastlose Treiben um und um führte ihn dann auf einem unbestimmten Wege heim zu sich. Dort drängte es ihn, gleich an Rosa zu schreiben. Er saß wieder oben in seinem Dachraume, der von einem winzigen Lampenscheine rötlich erhellt war. Daß die Gegenstände an den Wänden wie ferne Scheine glänzten. Er schrieb und träumte:


»Meine geliebte Schwester!«


Was ist nicht alles, was einem Träumer durch den Sinn geht, wenn er einsam lebt. Zum [270] Beispiel, daß alles Ding um uns und wir selber im Feuer verbrennen können, und gar nichts bleibt als eine Hand voll Staub.

Und dann, daß doch auch Licht in der Weihnachtsnacht gar nicht wie Feuer ist, sondern wie eitel Sternenglanz in Tiefdunkel, nach dem die Menschen sich ewig emporsehnen. Ich habe heute so etwas empfunden. Jedesmal hat mir das Herz heftiger geschlagen.

Du mußt nämlich wissen, daß ich in sehr seltsamen Wegen hingehe. Das Sehnen hört in keinem Blute auf, wenn es mit rechten Dingen zugeht. In meinem nun schon gar nicht. Und gar noch, wenn man Menschen nahe kommt wie nie zuvor, und man doch wieder die tiefen Abgründe sieht, die uns alle voneinander trennen.

Wenn Du hier wärst!

Ich würde Dir in manchen Stunden doch zu sagen vermögen, was in mir hintreibt und nicht halten will in Entzückungen.

Und was mich ganz schwach zurückläßt.

Wirklich: ich habe niemals solche eigene Trauer empfunden. Trauer, das ist dasselbe wie die Nacht. Wenn dann die Sonne wieder nahe ist, jauchzt die[271] Seele. Und ich nehme die Trauer gar nicht etwa mit traurigem Gesicht. Das sind eitel Schöpfe, die nur Tag wollen oder nur immer große Feste.

Und auf jedes Fest muß man sich vorbereiten und hineinwallen sozusagen mit erfüllter Seele.

Aber was ich nie gekonnt habe, kann ich jetzt. Kannst Du Dir denken, daß ich jetzt eine ganze Woge Trauer in mir habe, und ich habe doch nicht einmal je das Meer gesehen. Ich fühle nur, was ein Meer voll Trauer ist.

Ich trauere manchmal auch über Euch zu Hause.

Um Mutter nicht. Die geliebte Mutter hatte Glutaugen, und jetzt bilde ich mir immer ein, daß sie mir in dem hellen Sterne zublinkt, der am Abend vom Balkon aus durch die kahlen Baumäste blinkt, als wäre er ein Demant auf dem Baume.

Ach Du weißt ja gar nicht, wo der Balkon ist! Du – ein Haus aus Marmor und darin eine hohe, liebliche Frau! Meine neue Mutter. Oder vielleicht ist es das garnicht ...? Eine so schöne, strenge und traurige Frau. Die [272] doch lacht, wenn ich mit ihr plaudere. Und das alles ist ein Lied in meiner Seele, das ich nie aussingen kann. Auch Dir nicht. Niemandem. Das sich die Seele so hinsummt in ihrer Einsamkeit, so an ihren stillen Nachtgewässern in der Tiefe, darinnen Menschen und Dinge in kristallner Stillung sich spiegeln.

Ach Du, mein Lieb, Du, die mir allein noch daheim ein Andenken bewahrt. Wir alle sind Toren, wenn wir nicht wider die Engel streiten die Paradiese bewachen.

Und der arme Mann verfällt, der nicht sich die Tränen der Reue mit mitleidiger Hand selber aus den Augen wischt und hingeht und lieber einen Weihnachtsteufel in seinen Händen schnarren macht.

Siehst Du, aller Rede kurzer Sinn: ich lache jetzt meine ganzen, dummen Todgedanken weg, kaufe mir einen Weihnachtsteufel, schnarre den ganzen Weg bis hin in die Marmorvilla und schnarre treppauf und vor den scheuen Augen der hoheitsvollen Frau drinnen. Und wenn sie auch mit geängstigten Blicken zu mir sagt: »Einhart, – ach nicht doch!«

[273] Dann werde ich wenigstens noch die Schnarre im Ohre haben eine Woche lang, um mich ganz wie ein Ausgelassener zu geberden, mich herumzulümmeln in Seidensesseln und zu tun, als wenn mir die ganze Welt ein Rauch wäre, wie nichts.

Lebe wohl, kleine, sanfte Blickerin! Hast Du noch die Augen wie frische Kirschen im Julimonat? Denkst Du noch manchmal, daß es einen Einhart Selle gibt, der aus den stillen Nachtseen die Dinge und Menschen fischen will, die doch nur Träume sind? Denkst Du Dir auch manchmal, daß ich Leiden fühle? Und daß ich doch immer und immer nur lache und lache. Und wenn sie mich ans Kreuz nageln, die gesunden Esser und Trinker, und alle, die es mit der harten Erde tun?

Wenn ich bei Dir wäre!

Du wärst eine, der ich auch noch die Hand küßte, mein Liebchen. Dir und keiner sonst außer Frau Rehorst, meiner Göttin, vor der ich mich ewig im Staube fühle.

Und nun: den Blick in den Weihnachtsglanz, mein Liebchen, und wo es etwas Verheißendes gibt!

Dein Einhart.

12.
[274] 12

Das war kurz vor Weihnacht gewesen. Weihnacht war im Hause von Rehorsts ein glänzendes Leuchten auf Treppen und in den weiten Räumen. Frau Rehorst war in einer unsagbaren Fülle bunter Dinge allzeit jetzt mitten inne. Rings lagen Schachteln und standen Spielsachen, und Stoffe lagen herum, kleine köstliche Etuis standen halboffen, einiges auf ihrem Tisch und auf den Borduren. Allenthalben lag das Glitzerwerk der Weihnachtsbäume, die sie selber mit Margit und den beiden Kleinen und Grottfuß geputzt hatte. Zwei Bäume, die fast bis zur Decke reichten, hatte man aufgerichtet. Es war ein Herzutragen und Kommen und Gehen allenthalben.

Am Morgen waren schon die Armen erschienen. An mehr als hundert hatte Frau Rehorst selber, wie eine Mutter Anna, auf der Küchentreppe ausgeteilt. Dann war Frau Rehorst sanften Ganges durch den Fabrikhof zu ein paar kranken Frauen ans Bett getreten, bewegt selber heimlich zu Tränen von dem Dank aus den scheuen Augen der Armseligkeit. Unterdessen einer nach dem andern von den Geladenen in dem erleuchteten Hause die [275] breiten Treppen emporstieg und in die von Tannenduft erfüllten Räume eingetreten.

Unter allen im Hause war es wie eine Art Opfer fest. Das Gefühl wußte Frau Rehorst mit einem leidenschaftlichen Sinne zu wecken. Sie hatte dafür eine reine Inbrunst. Sie selber ging stumm und wie beschwörend mit einer silbernen Schaufel, die sie für diesen Zweck sich extra hatte von Einhart zeichnen und bilden lassen, einsam am Nachmittag ein paarmal durch die Räume und trug das heilige Räucherwerk hindurch, sich dünkend wie eine alte Prophetenfrau, die dem Feste ihre Seelenflammen einhauchte.

Stark fühlte sie sich, frei noch immer, sie selber aus ihrer Atemfülle, eine, die garnicht trauerte. Weil sie jetzt alles aus einem unausgesprochenen, unbekannten Glücke tat, das ihre Seele sich niemals eingestand. Sie selber in der wahrsten Festfreude, so in sich wartend und alles auch rings noch einmal prüfend, ob es Einharts Augen sehen und mit feinem Anfühlen der heimlichen Begehrung ebenso als eine Sprache und Rede zu sich empfinden würde.

Alles hatte sie hergerichtet, wie er es geheißen. [276] Er hatte eine ganz erlesene Art, eine Festweihe zu ersinnen und einzuteilen. Er hatte ausdrücklich gewünscht, daß es mit einem vollen, schönen Hochklange aus aller Mündern müßte begonnen sein.

Das Feierliche lag im allgemeinen Herrn Rehorst nicht. Und die Kinder drängten gewöhnlich gleich ins Licht und sahen nur die Geschenke. Das kritisierte Einhart in der Idee, obwohl er garnicht je gesehen, daß es hier oft so gewesen. Frau Rehorst hatte sich stets sanft darein gefügt. Sie hatte dann nur heimlich für sich eine Viertelstunde versunkner Besinnung ins Heilige gefunden. Jetzt hatte es Einhart bestimmt gesagt: »die Münder müßten sich alle einmal auftun, das Licht zu loben.« »Und ich sage Ihnen,« hatte er ausführlich erklärt, »nur wenn es eine Weile in den Atemstrom sich sammeln muß, einig zum Hinaustönen, wenn der Atemstrom so aus der Brust ein preisender Ton wird, und der Mund sich dann öffnet, die innige Sammlung hinauszugeben, dann ist der Mensch einen Augenblick eingefangen in seine Tempel und geht dann darnach lange einher mit froher Seele und frohen Augen.« So redete Einhart. Er war schon ein rechter Kenner. [277] Und Frau Rehorst hatte alles angeordnet, wie es Einhart geheißen.

Jetzt begannen sich also die Gäste allmählich zu sammeln. Grottfuß war schon am Nachmittag gekommen. Er saß, weil die Damen helle Toiletten antaten, in feierlicher Salonkleidung in einem Winkel des Mittelzimmers unter einer glühenden Glasblume und las die Zeitung. Einige Beamte der Fabrik waren die Ersten. Dann kam ein junges Paar, ein Musiker mit seiner sehr musikalischen, jungen, runden Frau. Beide sahen sich lachend um, als sie Grottfuß kurz begrüßt hatten. Der Duft und die Stille der hellen Räume machten sie stumm. Dann kam als hauptsächlich er wartet ein junger, blonder Doktor, mit seiner ebenso rätselhaften, spröden, schönen, dunklen Frau.

Alles wartete.

Alle schienen festlich zu lächeln. Alles war in köstlichen Roben. Auch Frau Rehorst und Margit. Wie in Wolken von weißem Glanze schwebten sie herein.

Und es begann auch gleich ein Leben. Es begann draußen eine Glocke zu rufen. Auch der Hausherr erschien sanft und fast mit leisen Worten einen jeden Gast noch einmal willkommen heißend. Man [278] begann einen regen, wenn auch noch gedämpften Ton anzuschlagen. Man stand beieinander.

Frau Rehorst hatte sich hastig gleich im Nebenzimmer umgesehen. Sie konnte es nicht begreifen. Sie lief noch einmal in ihr Boudoir zurück.

»Ach Gott nein,« sagte sie geschäftig zu Margit gewandt, »wir möchten doch noch eine Weile warten. Es sind gewiß noch nicht alle beisammen.«

»Wer fehlt denn noch, Mutter?« sagte Margit arglos. Sie hatte es garnicht bemerkt, daß Einhart noch nicht unter den Anwesenden war.

Aber schließlich begann die Glocke wieder zu rufen, weil Herr Rehorst jetzt bestimmt Anordnung gegeben, um einer Bescherung seiner Beamten willen. Die Türen taten sich weit auf. Man ging in das geöffnete Weihnachtszimmer, wo die Tische mit Geschenken in Fülle, wie die herrlichsten, bunten Auslagen hingebreitet, unter der blendenden Lichterfülle sich häuften.

Frau Rehorst war außer sich heimlich. Sie war ohne Acht in die Zimmer zurückgelaufen noch einmal. Herr Rehorst und Margit kamen Mutter entgegen, weil sie sie beide bei der Bescherung plötzlich gesucht hatten.

[279] »Nein, nein,« sagte Frau Rehorst, die nun so tat, als wenn sie nur nach dem Programm gesucht, was sie jetzt auch wie eine gewichtige Verfügung in der Hand hielt. »Nein, das ist wider die Verabredung,« sagte sie bestimmt auf den Zettel blickend. »Erst wollen wir jetzt doch das Weihnachtslied singen.«

Man sang stehend, in dem hellerlichten Raum um die Weihnachtsbäume geschart, das alte, frohe Kinderlied: »Oh du selige – oh du fröhliche.. gnadenbringende Weihnachtszeit!«..

Es klang im Chore. Frau Rehorst weinte gleich dabei. Aller Augen waren in Lachen sonst.

Frau Rehorst war außer sich. Auch wie das Lied verklungen, war niemand weiter eingetreten. Sie hatte sich wieder umgesehen. Und war dann innerlich beschäftigt pflichtmäßig unter die Gaben getreten. Herr Rehorst hatte sie gütig am Arme an den schönsten Tisch geführt, den er ihr im letzten Augenblick selbst bereitet.

»Oh mein Gott ... nein.. nur solche Sachen nicht!« sagte sie fast hart. Aber küßte dann Herrn Rehorst mit Liebe. Einen herrlichen Schmuck brachte er. Seltsame, persische Opale mit schwarzen Brillanten.[280] Etwas ganz Fernes, Seltenes. Und seidene Stoffe und echte Gewebe aus dem Orient, Handwirkerarbeit. Es war auch für Frau Rehorst zum Entzücken. Sie sah es an noch mit der Träne im Auge.

Dann kamen die Kinder, beglückt die schönsten Dinge ihrer Weihnacht hinhaltend und der Mama die Hand und das Kleid küssend. Wie es besonders der liebebedürftige Junge tat. Margit kam und reckte sich auf und küßte der Mutter die Stirn viele, viele Male und lange. Und Grottfuß küßte ihr die Hand. Alles war ein Durcheinanderwogen von Licht und Duft und Lachen und frohen Gesichtern und Plaudern in die Luft hinein. Man bewegte sich durcheinander. Es war, wie wenn in allen ein Gesang der Freude noch ginge, eine Sucht sich immer wieder hinauszuwenden zu jedem ersten, der seine Augen hergewandt. Frau Rehorst war dann wieder, wie nun ein wenig beruhigt, hinausgeeilt. Fast unsicher jetzt. Sie war hinausgeeilt, weil sie noch einiges in der Küche anzuordnen vorgab. In Wahrheit lief sie doch, wie sie war, in einem ersten, besten Mantel, den sie ergriffen, auf die Straße und hatte nichts Törichteres tun wollen, als zu Einhart hinzuhasten. Draußen begriff sie die ganze Lage und[281] kehrte zurück. Sie hatte sich in ihr Zimmer aufs Sofa geworfen, um plötzlich in ein hastiges, unstillbares Weinen auszubrechen. Herr Rehorst kam sie dort suchen, und Margit kam und küßte die Mutter.

»Ach liebes Kind ... lieber Rehorst,« sagte sie gleich ganz ermannt, »sei nur nicht besorgt. Es kamen mir Gedanken, die mich ein wenig erregen. Das macht die viele Unruhe der letzten Tage.« »Ja, Geliebte,« sagte Herr Rehorst ganz bekümmert und küßte ihre Hände. »Ich habe es dir ja voraus gesagt, daß diese ganze Arbeit um all die Menschen für dich zuviel sein mußte. Aber hörst du denn, Kind? Willst du niemals hören? Sei nicht böse, wenn ich so schelte. Aber ich wußte es ja doch! Es mußte ja so kommen!«

Frau Rehorst ermannte sich vollends und war an dem Abend dann heiter, daß alle dachten, sie lachte auch zu dem Weihnachtsfeste. Auch wie man an der langen Tafel saß, war sie wie mitten hineingehoben in den Festtrubel, ragte hoch, sah sich achtlos und sicher um und machte alle Trauer vergessen.

13.
[282] 13

Einhart wußte jetzt genug in der Fülle seiner einsamen Aufwallungen, als daß er nicht hätte allmählich mit sich in Uneinigkeit kommen und in den Tagen vor Weihnacht sollen unentschlossen und unter mahnenden Stimmen innen an dem großen Gittertor des Rehorstschen Parkes stehen, ohne doch einzutreten.

Auch am Weihnachtsabend war es nicht anders gewesen.

Schon am Tage war er von der ruhelosen Geschäftigkeit, die in dem Mietshause bis in die Dachkammern herrschte, in sich tiefer als sonst aufgejagt, und hatte vergeblich versucht zu malen und dann zu lesen. Übrigens kannte er längst die Evangelien gut, und dachte, daß es ihm eine rechte Stimmung wecken könnte und ihn versinken machen, sich unter die schlafenden Hirten auf dem finsteren Nachtfelde neben den Herden zu mischen und den Stern im Tiefdunkel anzustarren, der über der Hütte mit dem heilbringenden Kinde schwebte. Aber was unter den Bauersleuten das Jahr vorher seine Seele in eine freie Weihnachtsfreude emporgehoben, das zerfloß jetzt in der Unrast seiner Begierden, die [283] ihn schon am Nachmittag des heiligen Abends zu plagen angefangen. Angesichts des gescheitelten Grottfuß, der ihn am Nachmittag schon ins Rehorstsche Haus hatte mitnehmen wollen, und der sich jetzt nur im Vollgefühl der prunkenden Absichten fühlte, die man dort für den Abend hegte, und inmitten der Einigkeit der Menge, die er unten auf den Straßen, mit frohen Gesichtern eilen sah, faßte ihn ein solches Gefühl von Fremde und eigener Einsamkeit und flügelfreier Sehnsucht hinauszuziehen, daß er in der Menge gestoßen und gehalten hin und her irrte, ziellos keine Stätte fand, und völlig ermüdet um die eigentliche Bescherungsstunde bei Rehorsts sich, statt dort hin, nur wieder bis an seines Hauses Eingang zurückgefunden.

»Es ist eine Rätselwelt,« dachte er, wie er aufstieg Stufe um Stufe, unentschlossen und nicht aufgelegt.

»Um Christ geht's,« sagte er, »und sie machen einen großen Markt. Und draußen gar werden sich die Damen in Roben von Seidentüll und mit flaumigem Halse zeigen – ganz wie Joseph und Maria in dem Eselstalle.«

»Meine Bodenklause ist mir heute gut genug,« dachte [284] er fast trotzig. Er wußte selbst dann nicht, wie lange er in dem Arbeitsraume im tiefen Dunkel versunken gesessen. Also daß nur die Sterne aus der Höhe darüber leuchteten, wohin er den Blick ewig hinausgewandt. Daß er noch immer sich nicht zu sich fand, von dem Zauber des Silberlichtes sanft getroffen, und von dem Gefühle, in einer tiefen, undeutbaren Enge und Kluft der Menschenwelt eingeschlossen, selbst nichts zu sein, als ein sehendes Auge, das sich emporhob bis in die weiten, schweigenden, reinen Gewölbe der hellen Nacht.

Aber dann ermannte er sich. Der Nachtschein hatte eine Helle auch auf seinen Tisch geworfen, und hatte dort etwas enthüllt, was seine Neugier erregte. In seiner Abwesenheit war ein Packet gekommen. Er machte sogleich Licht und sah, daß es von Rosas Hand adressiert war. Die Schwestern sandten allerhand Dinge, Sorgliches zum Anziehen, und Süßigkeiten auch, und Grüße lagen von allen drinnen. Auch mit schöner Handschrift ein Festgruß des Herrn Geheimrat, und vor allem ein Brief von Rosa. Aber er kam nicht dazu, die Briefe genauer anzusehen. Die Weihnachtsglocken begannen draußen über die Dächer der Stadt zu dröhnen, und Erinnerungen [285] waren heute genug wach, daß sich Einhart nach mehr Aufwühlen nicht sehnte. Etwas wie Unruhe ging gleich aus dem Glockengewoge neu in ihn ein, daß er wie in Unzufriedenheit aufsprang.

Im Grunde waren es jetzt nur Gedanken und Bilder von Frau Rehorst, die er verscheuchen wollte, vor denen er floh, und die er suchte, wenn er geflohen war, und die ihm sich in seltsamen Spielen verwoben zu grotesker Belachung seiner Sehnsuchten und sich zusammenfanden zu den zärtlichsten Friedensbildern von Liebenden in der einsamen Weihnachtsnacht. Er war wie gefangen. Langsam verdröhnten die Glockentöne wieder über der sternenbeschienenen Weihnachtstadt, als er seinen Blick durchs Fenster noch einmal hinauswandte, und sich entschloß, doch zu Rehorsts noch verspätet hinzugehen. Er warf seinen Mantel um und lief in den Straßen, was er konnte. Aber in der Nähe des marmornen Würfels kam ihm eine harte Lust an, in die Hölle zu fahren, statt in die geschmückten Prunksäle eines reichen Hauses.

»Mögen sie mich erwarten,« dachte er ... »Ich werde zu den Zöllnern und Sündern gehen. Ich [286] werde gerade heute in einer Spelunke essen,« nahm er sich vor mit einer spitzen Anwandlung. »Und meine neue Mutter wird den guten Sohn vergeblich unter den Ihren suchen. Ich werde einmal ein Fest für mich feiern, statt mit Fabrikbeamten und Dichtern und Musikern und Schwätzern und schönen Frauen.« Unterwegs hatte sich ein junges, lächelndes Ding von Dirne an ihn gedrängt.

»Bist du auch so allein, wie ich?«

Das gefiel Einhart. Solche Frage kam gerade recht.

»Komm nur mit,« sagte er, »wir werden zwei sein.« So nahm sie seinen Arm, und Einhart lief mit ihr in das Kellerlokal, aus dem immer ein verstimmtes Orchestrion herausklang, wenn er am frühen Abend manchmal vorbeikam.

»Ich werde dich einmal alles fragen, was ich wissen will!« sagte Einhart lächelnd zu ihr.

»Frage nur zu, Herr,« sagte das Mädchen.

So saßen sie bald in einem Winkel des kleinen Lokals, in dem etwa sechs Frauen in seidenen Ballroben mit entblößten Busen um einen Christbaum lachten.

»Überall ist heute Weihnacht. Auch diese Weiber[287] narrt der Stern aus Bethlehem,« sagte Einharrt trocken.

Aber er sah, daß das Mädchen vor ihm sanfte, helle Augen hatte und beglückt in den brennenden Schein sich verlor.

»Es ist schön,« sagte sie nur.

»Also du bist es doch zufrieden auf der Welt,« fragte Einhart lachend.

»Nun, es ist ja entzückend hier,« sagte die kleine blonde Person, »und wenn die Damen uns Weihnachtslieder singen, und du uns was Gutes zu essen geben läßt!«

Einhart sah sich mit vollkommenem Feuer um.

»Ja, also die Damen aus der Hölle singen uns Weihnachtslieder, und wir wollen wirklich etwas Gutes essen!«

»Ich habe meine Schlafstelle bei Frau Kern,« erzählte die Blonde einfach, »aber die ist heute Aufwartung im Rehorstschen Hause. Da kommt sie erst spät, und es ist alles dunkel oben.«

»Und Eltern und Geschwister und sonst Leute, die sich um dich kümmern?« redete Einhart.

»Hab ich nicht.«

»Nun gut,« sagte Einhart, »wir beide werden [288] jetzt in der Hölle sitzen, wo die Teufel selbst Weihnachtslieder singen, und werden uns Eins fühlen. Auch die Teufel sind alles nur Engel, die fielen. Das ist mir ein richtiges Weihnachtsfest. Weißt du, so sind wir recht, wie wir sein müssen, ganz ohne Namen in dieser Welt, ohne Erinnerung und ohne Vorschau.«

Einhart strich der Blonden die goldnen Haare aus der Stirn und sah, daß sie leuchtende Augen gewann. Und sie aßen und lachten miteinander und plauderten und tranken. Unterdessen das Leben der losen, frechen Weiber am Tische in der Ecke mit Weihnachtsliedern, lautem Geschwätz und schrillem Gelächter unter dem Lichterbaume fortging.

Einhart versank immer mehr in Stummheit.

Er begann das Mädchen neben sich, die arglos alles wie ein Fest hinnahm, anzusehen und anzulächeln. Und er vergaß, wie er mit der Jungen in seinen Bodenraum zärtlich heimgekommen, und sie ihn im Halblicht seiner kleinen Lampe geküßt und gestreichelt hatte, bald in der Wärme ihrer weichen Umarmungen den Sinn aller Feierstunden und aller ihrer herkömmlichen Deutung.

[289] 14

Frau Rehorsts Traum war in ganz jäher Weise im Herzen ausgeträumt. Als Tag und Stunde kam, wo Einhart sie in der Dämmerung gewöhnlich besuchen kam, sah sie bleich und erschöpft aus, weil sie einen Kampf gekämpft und alles heiße, heftige Drängen ihres Blutes in einem bestimmten Entschluß zur Ruhe gebracht.

Der Feiertagsfrieden lag im Hause. Das rührige Fest des Bescherungsabends war verklungen.

Frau Rehorst hatte ausdrücklich gewünscht, daß der eigentliche Feiertag zu einer stillen Freude der Zurückgezogenheit werden möchte, und zu einem Sichbesinnen oder auch Sichverlieren in fernen, fremden, schönen Dingen. In Frau Rehorsts Zimmer lagen tausenderlei Kunstmappen und neue Literatur jetzt herum. Sie las mit großer Leidenschaft noch, und hatte auch Herrn Rehorst und den Kindern heute ausdrücklich gesagt, daß sie nach all der Einkaufshast und den Beschenkungsunruhen endlich wieder einmal in die Gefilde der Träume eingehen wollte, ungestört.

Herr Rehorst ängstigte sich im geheimen noch ein wenig. Die melancholische Erregung von Frau Rehorst [290] am Weihnachtsabend hatte ihn erschreckt, zumal in der Familie von Frau Rehorst einige an der artigen Anwandlungen nervöser Gebrechlichkeit krankten. So hatte er Frau Rehorst nur am Nachmittag auf die Stirn geküßt, und ehe er sich selber in seine Arbeitsräume zurückzog, den Kindern leise und ausdrücklich gesagt, daß im Hause jeder Laut vermieden werden müßte. Die Kinder waren im Schlitten aufs Land gefahren. So saß Frau Rehorst bleich und in der eigentümlichen Schwäche, in der große Herzensentschließungen das Gemüt zurücklassen, und versuchte vergeblich in einem der Eindrücke zu haften, die sie dem Auge jetzt darbot.

»Es ist wunderlich,« dachte sie, »daß wir nur Stärke und Ruhe gewinnen, wenn wir entsagen. Dann gewinnen wir uns selbst wieder. Sonst verbrennen wir unsre Kerze und verzehren unsre Hoffnung.«

Sie hatte allerhand Bücher, köstliche, in Pergamentbänden mit goldnen Leisten und Blumen aufgeschlagen, und in jedes mit äußerem Blick hineingelesen. Und nichts hatte sie wirklich auch nur mit einem Hauche in ihre verzehrte Seele genommen. Alles trieb nur ein leeres Spiel draußen in den Vorhöfen des Lebens, wo die Eindrücke noch nicht wiedergeboren[291] sind, keine Seele haben und keine Sprache reden.

Auch Bilder besah sie.

Den Millet'schen Reiter im fliegenden Mantel am einsamen, sturmumschrieenen Heideteiche hatte sie angesehen und flüchtig eine Tröstung empfunden und eine selige Ausschau, daß da auch einer nun Heimat und das Geliebte verlassen in eigener Bestimmung und mit sicheren Blicken, von Gewalten umheult und umrissen neu ins Ungewisse sich verlierend. So war auch ihr jetzt zu Mute. Sie saß bleich und verloren lange in ihrem Lehnsessel zurückgebogen und lauschte heimlich in die tiefe Feiertagsstille, die draußen und drinnen herrschte.

Dann beschloß sie an dem Tage niemand mehr bei sich einzulassen.

»Wer auch kommen möge. Ich bin nicht zu Haus,« sagte sie dem Diener, der auf ihr Klingeln eingetreten.

Sie hatte sich am Schreibtisch niedergelassen und begann jetzt in ein Tagebuch einige Notizen zu machen. Sie hatte sich ein dunkles, glattfließendes Sammetkleid angetan, das in weichem Schwunge um sie lag, und trug einen breiten Silberschmuck mit feinen Gehängen um die Spitzen am Halse. Ihre Arme lagen[292] weiß in dem Dunkel der Seidenbehänge, die durchbrochen waren. Sie sann. Sie versuchte einiges aufzuschreiben, von dem, was vorgegangen und noch vorging.

»Rehorst ist die Himmelsgüte selber. Und ein Mensch ohne Mißtrauen. Wie war er geduldig! Und wie sinnlos kann mein Herz sich gebärden!« schrieb sie. Dann horchte sie. Es schienen durch den Garten Schritte zu stapfen. Sie war gleich aufgesprungen und hatte hinausgesehen. Aber es war auf dem Trottoir drüben außerhalb der Gitter. Sodaß sich Frau Rehorst zurück zum Schreibtisch niedersetzte. Das Bild ihres Vaters, der auch ein reicher Fabrikant gewesen, stand vor ihr in einer feinen Miniature, und das Bild ihrer Mutter, das sie lange anstarrte. Sie dachte an ihre Mädchenzeit.

»Ach ja,« schrieb sie dann, »es gibt Menschen, die sehr, sehr lange herumirren und immer mit heiterem Gesicht, und die erst finden mit Leiden. Ich mußte längst eine Mutter sein, ehe ich begreifen lernte – und verstehen – und heiß begehren und verschweigen und verstummen und weinen und doch leben.«

Sie weinte eine helle Träne, erhob sich, überwand sich, schloß das Buch in ein Geheimfach zurück und[293] sah in den Silberspiegel, um sich die Träne zu nehmen und sorglich mit der feinen Spitze Kühlung ins Auge zu wehen.

Aber sie lief dann wie hochgerichtet sogleich an die Tür. Jetzt war Einhart draußen. Ein Ton hatte sie erreicht, unbegreiflich, durch alle möglichen Räume. Sie klingelte. Sie riß die Tür ein wenig hastig auf und rief hinaus:

»Nein ... nein nein nein! nicht etwa wegschicken!« rief sie hinaus. Daß man Einhart zurückrief, den man schon abgewiesen, und daß er im nächsten Augenblick auch schon in der Tür erschien.

Frau Rehorst hatte sich in ihrem Lehnsessel zurückgeworfen, und ehe er in ihr Zimmer eintrat, die Arme ausgereckt und den Kopf krampfhaft nach hinten geworfen, nur um noch einmal sich zu fühlen und sich zu erraffen.

Einhart war es ziemlich unangenehm. Er kam in großem Zwiespalt. Er sah in dem Augenblick, als er eintrat, durchaus wie jemand aus, der sich nach allen möglichen Gefahren umsieht, die ihn hier umdrohten, und dem die tiefe Ruhe rings wie Unheil verkündete. Er wagte auch garnicht laut zu reden. Er versuchte »Guten Abend« zu sagen. Aber das [294] Wort war ganz in der Kehle sitzen geblieben, daß es nur wie ein heiseres Geräusch klang.

Frau Rehorst saß ewig und hatte sich nur jetzt die Augen mit den Händen bedeckt, ohne zu erwidern.

Und Einhart stand noch immer im Türrahmen.

Aber er schloß dann leise die Tür hinter sich.

Es war eine dumpfe Stille, in die eine kleine, feine Uhr leise ein Schnarren trug und dann ein scharfes, verhallendes Pinken.

Frau Rehorst mußte einfach hinauslachen.

Einhart kam sich unglaublich dumm vor. Er fühlte, daß sich etwas in seinem Blute zusammenkrampfte, was mit diesem Raum, mit dieser Stille, mit dieser Frau in ihn hineinwuchs. Er sah so demütig aus, daß er an sich halten mußte, um nicht Frau Rehorst vor die Füße zu knieen, und ihr Ungeheuerliches an Worten und Preisungen einfach leidenschaftlich jetzt erregt zuzuflüstern.

Es war eine solche heiße Luft um ihn, wie in einem Brande.

Er sah diese sanfte, hoheitsvolle, brütende Schwermut aus den tiefen Frageaugen sich zu ihm stehlen, und begriff nicht, daß er noch stand und stand, wie[295] gebunden und in unsagbarer Erniedrigung. Er hatte alles vergessen, was sonst und gestern und ehegestern gewesen. Das Lachen von Frau Rehorst hatte ihn geschlagen, wie eine Peitsche. Das Lachen schien ihm ein Weinen zu sein.

»Nicht doch,« sagte er zu ihr mit fast stechenden Augen und ging wie ein Schlafwandler näher.

»Nein, nein, nein, nein! bleiben Sie, Einhart! bleiben Sie, Einhart!« Fast in Angst geschrieen von Frau Rehorst, fast in furchtbarer Angstwallung.

Einhart war innerlich durch diese Abwehr und den Schrei so matt, er fühlte sich so zusammenbrechend, daß er an sich halten mußte, um nicht einfach zusammenzusinken.

Aber Frau Rehorst war in ihrer Haltung geblieben. Sie saß im Lehnstuhl und hielt die Hände wieder vor die Augen.

Da überkam es Einhart wie ein Wahnsinn. Daß er nicht mehr an sich hielt. Und Schwäche und Leidenschaft in gleichem Sinne rissen ihn nieder zu Frau Rehorsts Füßen, Schwäche und Leidenschaft griffen bittend nach ihren schönen, weißen Händen. Schwäche barg sich mit seinen schwarzen Haarsträhnen in ihrem [296] Schoß, und machte ihre Hände in seinen Haaren wühlen. Und Einhart zog ihre Arme nieder und ihren Mund an seine Lippen und redete nicht und versank in ewiges stummes Leuchten und Blicken von Auge zu Auge. Zwei Augenpaare voll scheuen, seligen Feuers in sanftschwarzen Lichtern glommen, unausgesungenen Glanzes. Die Stunde war stumm. Ihr Sinn war unendlich. Die Lippen brannten aufeinander und sprachen die stumme Sprache unerhörter Wonnen, die auch Einhart jetzt zum ersten Male eintrank, längst begreifend, längst lächelnd, und nach keinem Sinne begehrend.

Es war ruhig geblieben. Es war der Feiertagsfriede im Hause.

Als die Kinder mit Grottfuß heimkamen und über Einhart herfielen, wegen gestern, tat er wie ein Einfältiger und gab lächelnd Erklärungen, ohne zurückzudenken. Er sah nur Frau Rehorst manchmal sorglich an.

Und Frau Rehorst war seltsam fern und fremd mit den Ihrigen, als man sich zum Abendbrot zusammenfand. Wie wenn sie erhaben aufgerichtet wäre in strenger Bleiche, tonlos und wortlos, und im Raume für sich, und immer erst sich besinnen [297] müßte, daß Herr Rehorst, ihr Mann, und die Kinder und Grottfuß um sie wären.

Einhart saß in seinem Festrocke. Er fand sich zu einem blitzenden Blicke manchmal nur zufällig.

Grottfuß hatte sich mit den Kindern und Margit im Schnee draußen in der Heide vergnügt. Die Kinder beschrieben mit eiliger Aufregung ihrer Atemgänge das große Schneeballen, das sie draußen getrieben. So verging der Abend, indem Margit heimlich verliebte Blicke auf Grottfuß warf und die Stelle am Busen fühlte, wo seine Hand lange bei der Fahrt gelegen, und Einhart und alle, auch Herr Rehorst sahen manchmal heimlich auf Frau Rehorst, die wie eine Königin dasaß, bleich und von der Gewißheit gezeichnet.

15.
[298] 15

Frau Rehorst lebte nun ein völlig verwandeltes Leben. Sie empfand sich und war erfüllt und konnte die Stunden nicht erwarten, die Einhart kam, oder die nicht, die sie in die enge Dachwohnung eintreten und in Betrachtung von Kunst und Leben versunken in Einharts liebender Hingabe verleben würde. Sie liebte Einhart bis zum Wahnsinn. Die Welt um sie war ihr zu einer gänzlich anderen geworden. Alles, was sie bisher umgeben hatte mit Liebe, begann schnell alle Kraft zu verlieren, derart, daß sie viele Male wie ratlos nach den einstigen Schätzen suchte, die sich in dürre Blätter verwandelt, die sie allein noch in der Hand hielt. Ihre Familie konnte gar nicht mehr an ihr Herz. Sie war sehr verschlossen und förmlich. Herr Rehorst, der ihre seltsamen Schwankungen von früher kannte, trug es in sanftem Gewährenlassen. Auch daß sie alle ihre Wohlfahrtsstiftungen auf einmal gänzlich beiseite ließ. Sie dachte in Wochen und Monaten nicht mehr daran, sich persönlich um derlei noch zu kümmern. Alles war versunken vor dem einen seligen Gefühl, von diesem dunklen, fremdartig rücksichtslosen, schlanken, jungen, lächelnden Träumer [299] und Künstler geliebt zu sein, der sie auch heimlich nicht aus Herz und Auge ließ.

Ja noch mehr: was für Frau Rehorst wie eine selige Insel schien voller verjüngender Quellbrunnen, aus denen sie die Jugend und das Vergessen schöpfte und schöpfte mit berauschenden Blicken, also daß sie einstweilen nichts wußte von einem einstigen Leben, rückkehrend zu dem alten, öden Strande, an dem sie weinend gesessen, und nach den fernen Wundern ausgeschaut, das war für Einhart ein lichterloh flammender Feuerberg, so alle Sehnsucht und Aussicht beschattend, daß seine wunderliche Neugier, aller Eindrücke Herr zu bleiben, sich ganz verlor und er allenthalben nur als Beglückter sich fühlte.

Das waren rechte Träume voll seliger Berauschung. In diese Träume klang ein schriller Weckruf.

Der Frühling war langsam im Herzug. Frau Rehorst hatte noch gegen Fastnacht einen Ball veranstaltet. Eine eigentümliche Gehobenheit hatte darüber gelegen, wie ein Rauch über einer goldnen Morgenfrühe. In den hellen Räumen bei Frau Rehorst hatte sich die Jugend in bunten Prunklumpen zusammengefunden. Frau Rehorst hatte [300] die Parole ausgegeben, einen orientalischen Bazar darzustellen. So war Jung und Alt gekommen in tausenderlei leuchtenden Gewanden der Aufgangsländer. Die lockenden Houries hinter ihren Seidenschleiern lachten mit funkelnden Augen hervor, und alte, mantelumhüllte, breite Patriarchen wandelten in den eingestimmten Räumen.

Frau Rehorst war als Zigeunerin erschienen. Sie sah wunderlich und unglaublich prächtig aus. Das machte auch, daß sie gleich wie losgebunden war. Eine wahre Verzehrung erfüllte an dem Abend ihre Blicke. Es war ein Auf- und Abwogen in den eigenartigsten Maskierungen. Auch Einhart kam, ein Zigeuner durch und durch. Er hatte eine Geige, die er strich. Ein paar Liedchen mit dem gleichen, schmelzenden Singeton. Frau Rehorst hing an ihm, wie eine junge Mutter an ihrem Kinde. Ihre Blicke versengten ihn.

Alle Hoheit war aus Frau Rehorst gewichen an dem Abend. Nur wie ein volles Leiden der Liebe. Es ging wie ein Fieber in ihr, und wie ein brennendes Fieber kam aus ihr in alle. Es war, als wenn mit allen diesen buntgekleideten, zahmen Menschen ein Dämon allmählich sein Wesen triebe. [301] Auch die jungen Künstler, die da waren, merkten nicht, wie sie ergriffen wurden, und die jungen Fräuleins, die längst schon mit Lockungen herumgingen, die sie sonst nicht gekannt hätten. Es war bald wie außer Rand und Band alles. Man tanzte in tollen Gebahrungen. Man lachte schrill und trieb Kurzweil mit Küssen und Umarmungen und sich herumjagen und widerstreben.

In diese Taumel drang ein jäher Schrei. Alles das Treiben war plötzlich verstummt. Man hatte Frau Rehorst in ihrem Hinrasen im wilden Zigeunertanze mit Einhart noch gesehen eben, wie sie sich an ihn krampfte bis zum Sterben, und plötzlich ihn losließ, und mit jähem Aufschrei das Haus erfüllte. Man mußte sie auch sogleich im Arme hinaustragen. Sie hörte erst eine lange Weile nicht auf zu schreien. Das Schreien klang, wie ein Reh klagt, allmählich. Wie ein entsetzlicher Herzensjammer, wie zu Tode getroffen.

Es war eine fürchterliche Überspannung, die zerriß.

Die Gesellschaft stand herum, wie wenn Gift plötzlich in aller Blut geflossen. Man kann sagen, die Mienen dieser sämtlichen Orientalen waren einfach [302] wie im Grausen. Einige hatten geholfen. Man war stumm, wie wenn man eine Tote hinaustrüge aus den hellen Freudensälen. Herr Rehorst hatte mit einem anwesenden Arzte zugegriffen. Margit saß in einer Sofaecke zusammengebrochen vor Schreck und zitterte.

Dann harrte ein jeder wie gebannt, zu hören, daß die erste Nachricht der Beruhigung käme.

Alles blieb ewig starr.

Weder der Arzt noch Herr Rehorst erschien. Es war eine entsetzliche, lautlos bebende Erregung, als wenn man die Pulse aller hörte im Lichterglanze. Die bunte Schar stand, als wie eine Herde nach der Richtung scheu aufgerichtet, wo der Wolf oder das Raubtier »Leid« sich plötzlich zum Angriff herangeschlichen.

Und Einhart war längst hinausgeeilt mit verzerrtem Lachen. Denn der Schrei ging in ihm wie eine wehe, unbegreifliche Zerklüftung. Es schrie in ihm noch immer mit derselben Stimme, mit der Frau Rehorst sich in seinem Arm aufgerichtet hatte und zusammengesunken und ohne Macht nur dem Dämon hingegeben gewesen war.

Er lief in die kalte, graue Morgenluft. Er hatte [303] sich einen Mantel um die Schultern zu werfen vergessen. Er merkte draußen im Dämmer, daß er in seinem fremden Kostüm ohne Mütze einherlief. Er war auch bis in seine Dachwohnung heimgekommen.

Was er träumte und ansah, zerrann in Schemen, als er daheim in seinem Bodenraum im Morgengrauen auf der Erde lag und sich nicht zu sich fand in Schreck und Schauer und zerbrochener Sehnsucht und jachem Verfluchen alles Lebensatems. In der Sucht seiner unentrinnbaren Zwänge Gewalt von sich zu werfen, seiner Zwänge Gewalt und jener Frau eiserne Gebundenheit, die eben noch wie eine beflügelte Jugend in losem Erraffen der seligen Stunde hingeeilt war in seinen Armen.

Die Bilder und Prunklichter in rasender, drängender Fülle führten in seinen Augen einen Reigen, wie tote Narren im Leichenhemde, die in starrem Klappergebein hintollten. Aus allen Gesichtern ertönte der Tod wie eine schrille Tanzweise. Alle die Rhythmen des Abends klangen wie ein toller Lärm aus grinsendem Grabgelichter, ewig neu aufgeweckt, und ewig ihn neu stöhnen machend und stöhnen, und sich nicht[304] finden können, weder zu sich, noch zu dem, was ihn sonst im Leben in Ordnung umgeben hatte. Einhart war dann, als der Morgen kam, in seiner Zigeunertracht, wie er war, an der kalten Erde tiefverzehrten Blickes eingeschlafen.

16.
[305] 16

In Einharts Leben war damit etwas verklungen, jäh und schaurig, und hatte ihn ganz verhärmt und stumm und scheu zurückgelassen. Es war eine Zeit, in der er sich kaum anders noch blicken ließ, als daß er ungesehen in einer kleinen Spelunke saß, wo Arbeitsleute aßen und weder Künstler, noch Menschen der guten Gesellschaft ihn ansprechen konnten.

Frau Rehorst hatte zwischen Tod und Leben Tage und Wochen hingebracht. Man hatte völlig eine Weile verzweifelt, daß man sie könnte zurückgewinnen. Die schöne, stille Frau, die sie gewesen, war in weißen Spitzenkissen eingebettet, von Visionen und Verängstigungen geplagt, in wilden Fieberträumen hingejagt. Und hatte ein Leben von Tagen wie in Hölle und Fegefeuer gelebt. Um dann in das Nichts unergründlicher Erschöpfung eine Weile einzusinken, aus dem sie mit ebensolcher Flugkraft wieder in die Abgründe ihrer sinnlosen Peinigungen hinflog.

Endlich erschienen Anzeichen der Besserung. Und man kam an einem Tage zu der bestimmten Hoffnung, daß Frau Rehorst die schwere Krankheit doch überstehen würde.

[306] Einhart war zu Herrn Rehorst hingegangen und hatte es aus seinem Munde selber gehört, der es in einem heimlichen Beben und Zittern der Freude ausgesprochen.

»Sie wird uns wiedergegeben,« hatte Herr Rehorst nur gesagt und war dann verstummt, und war leise zurückgegangen, wie Einhart ebenfalls zum Gehen sich anschickte.

»Sie wird uns wiedergegeben,« das begriff Einhart gar nicht. Er wußte es ja wohl, ohne es sich vorzuhalten, daß das wirklich eine Wahrheit war. Aber seinem Gemüte war es ein tiefes Rätsel. Er konnte nicht einmal darüber sinnen, weil er merkte, daß er dann ins Grenzenlose und ganz Unhaltbare fortgetrieben wurde. So lief er nur in Halbgedanken, von denen er keine Aengste und Enttäuschung zu befürchten brauchte, und malte und zeichnete dann daheim, so gut er eben konnte in der dunklen Trauer seiner Seele, als Vorhang um Vorhang sich um die Gefilde einer erlebten Traumseligkeit zog, und die einsame, schöne Insel Liebe in Tiefdunkel und Gram immer tiefer einsank.

Einhart kannte das Menschengemüt. Es gibt Kinder und Junge, die Weise sind. Das Blut ist [307] von lange her und fließt wie ein ewiger, roter Strom mit allen Geheimnissen und ihrem Sinn beladen durch die Lebensgefilde. Es braucht nicht erst von Auge und Ohr ins Blut. Das Blut enthüllt es aus der Tiefe hinaus ins Leben. So werden allein auch Weisheitsbringer und Schönheitsbringer, wenn sie aus der Ewigkeit jenes roten Stromes schöpfen, und die dunklen Blumen des Schicksals brechen, die an dessen Ufern blühen.

Einhart wußte, was jener Schrei der Frau Rehorst gewesen, ein Hilferuf der armen Seele, die, aus ihrem engen Käfig vertrieben, nun in der grenzenlosen Oede und Wildnis der Seele sich nicht mehr ausfand. Er wußte, daß die großen Dämonen jetzt gewichen. Daß der sanfte Vatergeist sie wie eine weiße, verflogene Taube in seine warme Hand nun gebettet. Und daß, wenn sie aus den Fieberschrecken des Leidenschaftenkampfes genesen sich wiederfinden und sich mit ihrem eigenen Namen neu nennen würde, ihre Augen schamhaft lächeln würden über die verhallten Lärmschrecken der Seele. Sie sich erkennen würde mit sanfter, allzu schwacher Gebärde nur geborgen in ihren Kissen, von Liebe und [308] kindlichen, gestillten Sehnsuchten umgeben, und nichts mehr wissen würde, als nur wie ein fernes, fremdes Geläut, dessen Melodie das Herz vergeblich sucht noch zu finden, und das einmal wie eine Freiheit und eine Erlösung geklungen.

Einhart gewann Kraft in solchen Versunkenheiten. Daß er im Leide allmählich zu schaffen vermochte, das war sein Glück. Er tat allerhand Arbeit in Skizzen und Malweisen. Sein Atelier gewann ein buntes Aussehen. Er ließ niemand ein. Er war mit seinen Gesichten allein, die immer mehr leibhaftig wurden. Das hielt ihn immer neu aufrecht, wenn die Anfechtungen der Sehnsucht in ihm aufschrien. Daß er schließlich vor dem entstehenden Bilderwerk zu lächeln vermochte. Und ihn nur manchmal noch der Gedanke hin und her peinigte, wann er wohl endlich einmal das Glück haben würde, Frau Rehorst wieder zu sehen?

Denn ihr malte er jetzt in diesen Frühlingsmonaten, wo er wußte, daß sie genas. Ihr – auch wenn sie hingestorben wäre, hätte er es getan. Ihr, auch wenn sie ihn nicht erkennen würde jetzt – wenn sie ihn nur ansehen sollte, rein und unschuldig geworden wieder, wie ein schöner Engel, und von [309] allen Dämonen rein geworden durch ihre schwere Zeit.

Aber allen diesen Gefühlen kam dann auch an einem schönen, warmen, blütenduftigen Frühlingstage eine letzte Erlösung. Einhart war gerade im Begriff gewesen, in Herrn Rehorsts Vorhalle zu fragen. Da übergab man ihm einen Brief, der mit feinen, zärtlichen Zeichen geschrieben war. Frau Rehorst war jetzt zum ersten Male im Lichte des Tages und in den Duft des Flieders hingebettet gewesen. Da hatte sie den Brief geschrieben. Eine einzige Träne war still aus ihrem Auge geronnen – und ganz sanft schrieb sie dann, wie wenn sie Dinge und Ereignisse nicht mehr einstweilen fühlen könnte, nur noch ahnen:


»Mein lieber Einhart! Genesen! Ja ...! Es war eine unsägliche Zeit. Eine unsäglich-unbegreifliche Leidenszeit! Aber der Hall im Ohre muß erst ganz verstummt sein. Ich werde immer mich trösten, daß Sie ein Künstler sind, und ich werde mit Stolz Ihren Namen hören, und Ihr Name wird mir immer klingen wie die unbegreiflichste Weise eines unbegreiflichen Liedes. Die Krankheit hat mich schwach zurückgelassen. Ich [310] muß das Lied und seine Melodie ganz vergessen. Feiern Sie die Gefühle, weil sie Feuer sind, wie aus Vulkanen, und das Licht der Sonne. Ich kann Sie nicht mehr sehen. Ich will ganz gesunden.«


Als Einhart den Brief bekam, entschloß er sich gleich, die Stadt zu verlassen.

[311]

Zweiter Band

Viertes Buch
1.
1

Draußen fern schwammen Krähen im Sommerhimmel unter weißen Lämmerwolken. Das Auge des Schläfers hatte sich blinzelnd ein wenig aufgetan und sah in den blendenden Raum. Die blühende Heide rings glänzte Blättchen an Blättchen, und der zerschlitzte Schatten der dunklen Eichenkrone fiel um Einen, der noch immer träumen wollte.

»Im Auge muß unser Glück wohnen, wenn wir malen, unser ganzes Lebenswunder.«

Das schauende Auge des Schläfers öffnete sich nun ganz im tändelnden Eichenschatten auf der weiten Heide. Drüben hinter dem hohen Korn stand ein rotglühendes, schlankes Mädchen und stach Torfziegel um Torfziegel. Weißleuchtend in der großen, hellen Sonnenkiepe, die das junge Gesicht bis zur Nasenspitze in Schatten legte, ragte es auf und sah nicht herüber.

»Im Auge muß unser Glück wohnen, wenn wir malen, unser ganzes Lebenswunder.«

Das schauende Auge des Träumers sah über die goldnen Weizenhalme ins goldene Licht, staunte in die fernen, stillen, schlanken Bewegungen der blendenden Gestalt, sah und staunte und begriff nicht [3] die Welt. Das schauende Auge sah hoch die blauen Räume und fern, fern niedertauchen die schneereine Herde der Wolkenflocken, denen es ins Unbegrenzte nachsann, sah dicht am Raine die schwebenden Halme der tausend Zittergräser und rote Köpfe Klee, Glockenblumen und die weißen Sonnen der Kamille.

Und im Ohre klang dazu ein wunderbares Summen und Singen. Bienen tauchten von Blume zu Blume. Die schlanken Blumenstengel bogen sich. Es gab einen Hall aus vielen Seelen. Der Träumende hatte die Augen neu zugetan. Er lauschte innig diesem eigenen Surren und Hallen, das ihm ein Erntesang däuchte, sich in einen feinen, fernen Chor zerlösend, und breiter und voller einherrauschend, neu tiefe Brummtöne zugemischt, die der Wind in Eile herübertrieb. Der Wind selber sang verloren für sich in Heidekraut und Gräsern und Blumen. Er sang oben freiziehend im Luftgeräume. Im Blätterbusche der Eiche rieselte er, rauschte seine Stimme eilig. Und die ferne Lerche schluchzte heiter näherkommend eine verträumte Sonnenjubelweise.

Der Schläfer schlief nicht. Er lauschte in sich und erlauschte die Welt. Jetzt, wo er hier lag im [4] Eichenschatten, war er sich zurückgegeben, ganz nur er, mit einer Seele ohne Verlangen.

Es waren Jahre vergangen, daß er ohne Halt und Sinn gesessen oder gewandert oder sich ganz vergessen hatte.

Er hatte damals gelächelt, als der Brief von Frau Rehorst ihm alle Seligkeit gleich auf einmal ausgeblasen. So ist die Welt und geht der Frühling vorüber. Er war es schon ein paarmal jetzt gewahr geworden, daß die Seligkeiten im Blute hinrinnen, wie Lieder mit Anfang und Ende.

»Jedes Ding hat eine lebendige Grenze. Und jedes Glück. So ist es,« sagte er. Er hatte nur gelächelt, als es ihn damals hinausgetrieben, und er vom Malen nicht hatte mehr seelensatt werden können.

Aber »Einhart« war es noch immer. Nur hatte er einen Blick, der wie ein sicherer Dolch aufblitzte jetzt, wo er sich erhob. Er war ein schlanker, stattlicher Mann geworden. Er ging in Jahren auf die Dreißig. Er hatte noch immer ein zähes gelbgraues Gesicht, schmal, glattrasiert, mit schwarzhaariger Umrahmung des dunklen Augenglanzes, der noch tiefer schien, und sein Fetthaar hing noch in Strähnen. [5] Aber alles war streng an ihm. Die Linie um die Nase bis zum Mundwinkel furchte sich. Die Stirnfalten zitterten, wenn er die Dinge ansah. Der seine Mund lag fast immer fest geschlossen. Und er hatte ein versunkenes, eigensinniges Leben in allen seinen Bewegungen.

Einhart war heut einsam in die Heide gewandert. Draußen und drinnen die eine Welt, die ihn trug, und die er war. Wie er seinen Sommerhut von der Heide aufnahm, sah er noch einmal zu Leidchen hinüber. Dann zeichnete er einige Linien in sein winziges Skizzenbuch, klappte es zu und schlug mit dem Stocke frei und trotzig in die Lüfte.

Wenn jetzt Grottfuß gekommen wäre, wäre er irre geworden, einen zu finden, den er kannte. Einhart war jetzt nicht imstande, an alle Lebensgänge sich groß noch zu erinnern. Einhart war gewiß augenblicklich ganz unbekannt, daß es so etwas wie eine Akademiestadt und einen Herrn Grottfuß wirklich gab, der seit Jahren die Künste seines Landes und aller Länder der Erde bemaß. Einhart wußte jetzt davon so wenig, wie etwa, daß er Nase und Ohren hatte und nicht ganz nur jener süße [6] Heideruch und die weite, summende Halmensonnenwelt und Himmelsbläue selber war.

Fern lag alles.

Die Zerrüttungen des stummen Herzens waren über Einhart weggegangen. Sturm geht über die Weizenflur. Die Halme beugen sich hin und her, schwanken und tauchen auf. Die Zerrüttungen zeichneten Strenge und Vergessen in seine dunklen Züge, Nicht-sich-rückwenden, Lächeln und Einsamkeit, und Schauen und Hinhorchen, was in dieser Welt des Wesens innen und außen sich jeden Augenblick neu begeben will. Es begab sich dieser einzig-artige Traum, der einer Seele eigene Welt zusammenfügte, und wo noch immer der Turm des Baues sich nicht aufreckt, nur erst hohe Mauern und Zinnen sich erheben, die den neugierigen Blick abweisen.

Einhart war noch immer ein Zigeuner. Den Sinn für die offnen Erdenräume, für Wälder und Heiden, hatte er nicht verloren. Ob er auch, in seiner Strenge begehrt, längst selbst in Schlössern und Burgen an Fürstentafeln seine Speisen gegessen und sich als Künstler hatte rühmen lassen.

Nach einer sinnlosen, ziellosen Wanderschaft hatte er von neuem Menschen gemalt. In einer der [7] letzten großen Ausstellungen war Begehr nach seinen Werken gewesen, und ein Mäcen hatte das meiste davon aufgekauft. An Mitteln fehlte es ihm nicht. Aber auch an Gleichgültigkeit dagegen hatte er nicht abgenommen. Er fragte noch immer Krähen und Gräser, Wolken und Bäume um ihre Freuden, und wußte nicht recht, ob er nicht lieber ein Baum sein möchte und harren und es sich begeben lassen, als es mit Erjagen erraffen und nicht finden. Wenn man das Enttäuschung nennt, mag man auch ihn enttäuscht nennen.

»Reich leben ist eine Sache für sich,« sagte er oft mit Lächeln und nannte dann das Geheimnis mit drolligem Namen.

Damals, als er aufgewühlt in die Beglückungen des Blutes sich ganz einsenkte, waren die inneren Fluten ein Meer ohne Grenzen, und der Beseligung keine Zweifel. Hart und voll Wunder alles. Die Glutfeuer der Tiefe gaben Wärme und die Farben des Schicksals wie glühe Rosen. Das war nicht mühsam Zusammentreiben, was nicht kommen will. Das war ganz Geschenk und Fülle, Leid und Licht, Zerrissenheit und eins in allem.

Jetzt schmerzte nichts in Einharts Blute, wo er [8] ein ruhiger, selbstsicherer Künstler nun am Heideraine hinging und die Welt von ferne träumte, wie eine Baumkrone träumt, hin und her, hin und her, tändelnd mit Licht, spielend mit Schatten.

Das sind die Zeiten des stillen Erntewartens auch im Geiste, die nichts von Leiden und Leidenschaften, vom Erjagen und Ersehnen wissen.

2.
[9] 2

Unten im Moore hing ein altes, moosbegrüntes Dach nieder fast ins Gras und in Nessel- und Schierlingstauden, tief im Eichenschatten verborgen. Gänse gackerten unter den Säulen der Stämme, und ein Schwein machte drollige Sprünge und quiekte ungehalten, wenn jemand in den Frieden der verfallenen Umhürdung, in die verwunschene, verwachsene, nesselumwucherte Herrlichkeit eindrang. Einhart mußte hier oft seinen Weg hindurchnehmen weiter in die Weiden hinaus.

Wie Einhart jetzt war, hatte er gern den Blick in die Ferne gerichtet. »Unstet« war noch immer sein Name. Er näherte sich, in dem Grase am Wege schreitend, dem kleinen, engen Hausfenster, legte seine Stirn an die Scheiben und sah hinein in die dunkle Stube.

Hier wohnte Klaus Otten, der Moorbauer, und seine magere, strenge Frau mit der schreiigen Stimme, mit den großen Holzschuhen an den Füßen und der dürftigen Haube, und Henny, deren Tochter, die seit einem Frühling krank in den Kissen saß, und die sich nun eine Welt träumte, jemehr sich ihr die Hoffnung und der Blick verschloß.

[10] Henny war eine blonde, junge, sanfte Seele, ein wenig neckisch immer im Leben, und wo sie Arbeit tat, froh und wohlgemut singend früher. Und sie hatte allerlei Arbeit getan. Vor allem draußen in dem Mooracker hatte sie Scholle um Scholle mit Vater zusammen umgelegt und hingeschoben und der Sonne gebreitet, und geschichtet dann, und in den Kahn geborgen endlich, wenn es zum Trocknen gekommen war. Sie war auch dann mit dem wundersamen, eintönigen Ruderstoße, einer und einer und immer wieder derselbe, im sonnenweiten Wiesenglanze mit Vater und der schwarzen, erdigen Sommerernte zur Stadt gefahren.

Nun war damit nichts mehr.

Es blühten ihr jetzt die glühen Todesrosen im schmalen, kindlichen Angesicht, und sie träumte viel und konnte wundersam aufmerken auf alle Dinge im Himmel und auf Erden.

Einhart hatte gleich im Beginn seines sommerlichen Aufenthaltes einmal zufällig hier Rast gehalten und in diese graublauen, jungen Augen gesehen und mit Staunen den seltsam glücklichen Glanz des Entsagens und Entschwebens fort in alle Weiten.

Und Henny hing jetzt an der Stunde, wo Einhart [11] oft den Abend durch die Stauden und Schatten und die goldnen Tupfen des Sonnenscheidens hindurchstapfte. Heute hatte sich Henny schon am Nachmittag zeitig in Kissen hinausbetten lassen. Um sie glühten allerlei Taube-Nesseln, Camillen und Glockenblumen. Sie horchte in die helle Sommerluft, wo Finken ihr kleines Lied sorglos pfiffen, und Spinnen sich auf die Blätter niederließen oder auf ihre Hand und erschrocken sich dann am eigenen Gespinste eilig in die Lüfte emporzogen.

Henny war außermaßen fein von Sinnen. So eine Spinne mit ihrem Fleckenkleide sah sie staunend an wie eine Dame in reicher Gewandung. Die kleine Spinnenarbeit däuchte ihr voll ein Wunder. So ins Schauen versunken, konnte Henny stundenlang zusehen, wenn das winzige Dürrbein mühsam die Fäden seines Netzes zusammenrollte wie ein Seiler seine Knäuel, dort wo das Netz lädiert und undicht geworden, um mit feinem Bisse die kleinen Packen Spinnenseide zu lösen und in die Lüfte verächtlich hinauszuwerfen, wie eine Dienstmagd den Kehricht. Fein war der Knäuel. Henny fing ihn in der Hand. Sie zerdrückte ihn zu einem kaum sichtbaren Flecken Silberstaub. Es war schier ein [12] Wunder, ihr, die angebunden an Leib und Seele, nur noch Auge und Traum hinaussprang aus ihrem kranken und schwachen Gehäuse. Und deren Hoffnung nur noch in den Lüften hinwehte ohne Halte, wie der Wind.

Und wenn Einhart nicht kam, war es nur ein Tag ohne solches Wehen.

Aber auch Einhart kam nur zu gern. Er sah zum er sten Male hier in dieser Bleiche der Züge solch ein Leben ohne irdische Bestimmung. Er sah in diese einzig-artige Süße der Züge, die engelgleich sich in den Luftkreis um und um einsaugten und mit jeder Spinne und jedem Blatte und jedem Vogel und jedem Lufthauch aufwehten ins Ungewisse, und war erschüttert heimlich von der unerhörten Leichtigkeit solcher Seele, von der Frohheit und dem Leide, die gleichsam in Einem aus den jungen Augen lachten.

»Nun, Henny? liebe Henny!« sagte Einhart gewöhnlich, wenn er aus den hohen Nessel- und Schierlingstauden zu ihr trat. »Liebe Henny!« das klang ihrem verwehenden Leben wie Sonne.

»Guten Tag, Herr Selle!« sagte dann Henny mit dem Gesicht halb in den Kissen und die Augen allein[13] nach ihm gewandt. Aber die Hand, die einmal eine harte Arbeitshand gewesen, zu ihm hingestreckt, daß er sie in seinen langen, feinen Fingern hielt.

»Na also! es geht ja! ich sehe es an den Fingerspitzen,« lachte dann Einhart und sah drollig die Hand an, die jetzt kindlich und bleich und weich war wie ein Federflaum.

Er brachte wohl auch einen Strauß von Blüten, die er draußen in der Heide zusammengebunden. Feine, silberne Wollgrasbüschel liebte Henny. Damit strich er ihr gar erst einmal über die seine, bleiche, magere Nase. Das machte Henny lachen, wie eine flüchtige Drossel auflacht, klingend, ganz ohne Erde und Schwere, nur eine verfliegende Lust in die Luft.

Einhart konnte dann dieses entrückte, schöne Mädchen anstaunen heimlich. Er konnte ihre Hände ewig sprachlos in den seinen halten, jede blaue Linie des zarten Aderwerkes verfolgen, und jeden Hauch rosigen Glanzes, der darüber huschte, wenn das junge Herz Hennys sich dann heimlich auch froh erregte, in den dunklen Zigeuner, der ja ein freier, sicherer Mann war, sich zu verlieren.

Sie sprachen nie viel. Es war nur meist eine [14] stumme, lange Frohheit. Hennys Hände lagen oft lange in Einharts Hand. Und Einhart sah auch Hennys Mund dabei lange an, der allein noch wie frisches, zartes Fleisch glänzte.

»Ich war heute faul,« sagte wohl Einhart. Oder auch: »heute habe ich meine Tagesernte doch gemäht.« Dabei zeigte er Henny einige Blätter Leinwand hin.

»Oh!« sagte sie dann. »Das ist unten an der Brücke der dunkle Wassergrund und der schwarze Geisterkahn.«

»Ist es wahr,« sagte Henny einmal, weil sie irgendwo so etwas gelesen hatte, »daß man in die Seligkeit eingeht über einen dunklen Fluß, von einem stummen, düsteren Fährmann gefahren, auf einem solchen Kahne?«

»I wo!« sagte Einhart. »Du, Henny, gehst mit Flügeln ein!« sagte er lachend. »Und ich auch. Mit Kähnen, das wäre zu mühselig. Gar noch auf solcher alten Schute!«

In Henny und Einhart war ein heimliches Miteinander. Henny wußte schon vorher halbe Stunden, wenn Einhart kommen würde. Sie merkte es an der Luft, am Vogelgesang, an dem Gackern der [15] Gänse, an dem Zittern der Spinnenfäden, an tausend unsagbaren Dingen, daß er käme. Und er kam immer, wenn es ihr alle diese seinen Dinge um sie schon erzählt hatten.

Und Einhart hatte ein solches Rätselleben noch niemals angesehen. So gebunden und bleich und die Röte der Todnacht auf den Wangen erglühend, und der Mund noch feucht und voll Liebe, und so fein und leise alles erhörend ihr kleines, blutloses Ohr.

»Henny,« sagte Einhart manchmal, »was träumtest du eben in die Eichenkrone über dir und den hellen Himmel?«

Dann erzählte sie ihm wohl einmal einen flüchtigen Traum.

Oder sie lächelte ohne Ton.

»Was ich träumte, werde ich Ihnen nicht sagen,« sagte sie dann. Da sagte sie es ihm lange nicht, so oft er kam.

Aber eines Tages begann sie auch selber zu erzählen.

»Ich träumte,« sagte sie versunken, »ich läge wie ein feiner Sommernebel über meinem Bette ausgebreitet, und mir war nichts mehr schwer. Ich konnte sein, wo ich wollte, oben, und unten, unter [16] den Blumen, oder in den Baumwipfeln, alles war nur rein ein seliges, freies Dasein.«

Und eines Tages auch kam Einhart, wollte es wieder von ihr wissen, weil Hennys Gesicht etwas von Schönheit und Verklärung hatte, wie er es so noch nie gesehen. Da drang er in sie und sah, daß ihr gleich eine schwache Blutwelle ins Schläfenweiß aufschoß und ihr Gesicht in Purpurglut legte und ihren Atem fast erdrückte. Und er mußte sie ewig quälen. Er bat. Er nahm ihre weiße, sanfte Hand in die seine, und sah sie mit bittenden Augen lange an, fragte und bat wieder. Da begann sie zitternd und flüsternd und zögernd noch immer endlich doch zu sprechen.

»Einmal im Himmel,« sagte sie.

»Was? – – was? – – weiter!«

»Einmal im Himmel werde ich,« kicherte sie leise.

»Einmal im Himmel – – werde – – ich – – dich.«

»Werde ich dich?« sagte Einhart wiederholend, aber jetzt in Einfalt lächelnd.

»Werde ich dich küssen,« sagte Henny hastig. »Denn hier auf Erden bin ich nur ein elender Mensch, zu bleich und zu schwach und zu krank, und [17] arm und ein Nichts! – – – Aber im Himmel,« lagte sie dann fest und arglos froh, »ist besser seben.«

Und Einhart fühlte es, daß ihre Seele der seinen sehr nahe kam, fast wie wenn sie als Windeshauch seine Wange strich. Und man konnte in Einharts Auge sehen, daß er Henny mit einer unbegreiflichen Frage ansah, in der Trauer und Staunen und reiner Glanz der Liebe von ferne gingen und nicht Halt fanden.

Oh, es gingen noch immer nicht die Glutfarben aus Henny. Immer neu mußte sie schüchtern Glück und Lachen ganz leise überwinden.

3.
[18] 3

Im Moore feierte man ein Volksfest. Es waren helle Zelte gebaut nahe einem Kiefernhügel, der gegen den blauen Aethergrund der weiten Nacht ragte. Und der erstrahlende, irrlichtelierende Freudentaumel der Karussells schwang sich unter dröhnender Musik um. Die Lampen und Lichter glitzerten in bunten Scheinen und schwirrten vorüber inmitten der drängenden Menge erheiterter junger Gesichter. Alt und jung strömte um Wurst- und Kuchenbuden und hin in das von grünen Reisern durchduftete Zelt, worin die jungen Paare tanzten. Leute aus den jetzt unter der Sternennacht schlafenden, weiten Mooren saßen an den Tischen, zum Teil wie sie sind, ernst und ungesprächig, auch ein wenig feierlich erstaunt von dem Lichterglanze und der Musik die Frauen, und die Männer dann und wann geradehin, flüchtig von Witz und ohne groß Anmut.

Um einen Tisch saßen junge Maler. Einige freie, geistige Mädchengesichter glänzten in Röte, die mitten durch Staub und Wirbel sich mit schwebender Frische in die schwerfällige, walzende Menge mischten. Die jungen Malerköpfe waren [19] voll Leben. Die Augen aller sahen voll Spannung in die bunte Welt des nächtlichen Reigens. Heiter und unbedacht streifte der träumende Blick dieser staunenden Jungwelt den Duft der Dinge dieser Festnacht und schwang sich lachend inmitten des bäuerlichen Gestampfes immer wieder neu hinein, nicht nur zu schauen, auch dabei zu sein.

Einhart war spät in das Tanzzelt getreten, hatte ein paar seiner Kameraden mit flüchtigem Nicken angesehen und war unschlüssig unter die Gruppe Bauern am Eingang zurückgegangen. Man kannte ihn auch hier allenthalben, weil er noch immer fremdartig genug aussah. Nicht mehr verwahrlost, sehr schlank und mager. Aber die Augenbrauen immer mehr wie breite Bänder, die Augen aus Tiefdunkel blinzelnd oder auch mit der Güte und Einfalt und dem verlorenen Lächeln eines Kindes, oder plötzlich der Blick mit Funken wie der eines harten, andalusischen Räubers. So war er allen, auch den Bauern, immer ein wenig ungeheuer. Die jungen Malerinnen waren halb moquant, halb hingezogen, obwohl Einhart in dieser Zeit für niemand recht zu gebrauchen war.

Auch an diesem Abend war Einhart sehr gleichgültig. [20] Es sich von Festen und bunten Aeußerlichkeiten ablesen, hatte er völlig verlernt.

»Die Natur meiner Augen und Sinne hat es so schön eingerichtet, daß die Welt ohne Mühe hineinspringt. Und was hineinspringt, ist mir sicher,« sagte er. »Wenn sich meine Stunde nach etwas sehnt, was verloren ist, kommt es aus der Brunnentiefe aufgestiegen wie der Nix im Märchen und lacht oder weint mit mir.«

So lebte er die Dinge ohne Anspruch. Auch alle die leuchtenden oder beschatteten Gesichter rings. Aber er sah manchen Bauern doch scharf an, und manches blonde Mädchen, das vorbeihuschte, ihn zu grüßen, und den derben Burschen, der Hut oder Mütze vor ihm lupfte. Er hatte immer etwas Prüfendes im Blick. Es war gar nicht Methode. Es war gewohntes Leben jetzt.

Und Einhart mischte sich dann doch unter die Tanzenden, tanzte mit einer wunderlichen Schönheit, die vom Moore in bunten Damenflittern gekommen war, nachdem sie Jahre jenseits des Meeres gewesen und rechtes Geld mit heimgebracht. Alle Moorleute staunten die überlegen Prunkende an, die sie früher als einfaches Heidekind gekannt, wie [21] sie mit ihren Seidenbehängen und der Schleppe jetzt im Arme Einharts hinflog, mit sicherer Grazie alles flatternde Lose ihres Gewandes zusammenhaltend und umschwingend, wie es keine der derben, gesunden Moortöchter in ihrer behaglich runden Umdrehung vermochte.

Aber wie auch alle die lustigen, jungen Blicke rings, je mehr die Zeit hinging, lockten und bedrängten, wie auch Einhart dann noch einmal lange stumm am Tische unter den Malern gesessen, in die flackernde Regsamkeit des halbhellen Tanztaumels hineinstarrend, wie er auch dann unentschlossen einem blonden Mädchenkopfe sich nachgestohlen, der ihm ein paarmal mit heimlichen Blicken zugeblinkt, wie ihn auch dann die lustige, schmiegsame Heide, jung und derb und verliebt, mit heißen Erhitzungen jetzt in der Festnacht hinausgelockt in die Waldschatten und sich an ihn gehangen mit weichen Armen, die aus den offenen Aermeln wie Nixenarme im Sternenschein glänzten, Einhart konnte in dieser Nacht nirgend Ruhe finden. Er hatte es noch immer aus dem Wandervolke, die treibenden Süchte, die wie Krankheiten ihn manchmal plötzlich überfielen und versehrten.

[22] So geschah es auch heute, daß in die drängenden Flüstertöne dieser Nacht, in das Gesumme und Geräusche in den Baumwipfeln oben und das Silberlicht der Sterne, unter die scharfen Schatten im Waldgrunde und in die stammelnde Sehnsucht des blinkenden Mädchenmundes ein Bild plötzlich tiefer Erschrockenheit hineinsprang. Daß Einhart seinen Namen aus den Weiten der Nacht herhalten hörte, und hinstarrte – und hinlauschte – gierig. Und es zum andern und zum dritten Male vernehmlich einsog: »Einhart! – Einhart! – Einhart!« von einer leiblichen Stimme silberhell durch die Nacht gerufen. Daß ihm die übrige Welt rings darnach wie in Totenruhe verstummt erschien.

Einhart hatte Heide sofort losgelassen. Er sprang aus den Waldschatten ins Licht ganz hinein. Er machte eine Bewegung mit dem Munde, wie um zu rufen. Aber es kam noch kein Ton. Er rief jetzt wirklich. »Ich komme!« rief er laut. Weil es ihn auch gleich dünkte, daß er den Ruf verstanden. Und er lief – und lief, wie getrieben, was er konnte, hin ins Moor, wo Henny in der umwachsenen Hütte krank lag.

Das Haus lag im Schlitzschattenwerk der alten [23] Eichen ganz verborgen und dunkel. Ein kleines Fenster gab einen rotgoldenen Schein, warm wie eine Seele und stumm. Die Schierlingsstauden und die Nesseln standen wie bleiche Spitzensäume unter dem Fensterschein und flüsterten und zitterten.

Einhart schlug sein Herz wie ein Hammer in der Brust. Er drückte leise, wie oft, sein Gesicht an die Scheibe.

Alles lag still, wie in Ewigkeit gebunden.

Er suchte jetzt einen Halt zu gewinnen. Das Unbegreifliche hatte ihn bedrohlich angefaßt. Er trat noch einmal vom Fenster zurück. Und er sah auf in die Nacht.

Über den Schatten des Hauses hingen in den Baumwipfeln die blanken Sterne, als wären Diamanten in die Zweige gesät. Drinnen im Hause regte sich nichts.

Dann schlich Einhart neu nahe, sah lange durch die Scheibe in den Dämmerraum und merkte endlich, daß drinnen der Tod selber am Tische saß und schlief.

Es war eine von den wunderlichen Visionen Einharts. In dieser Nacht ging es in Einhart wie Irresein schon seit Anbeginn. Da konnte er [24] die Welt noch weniger sehen vor seinen eigenen Bildern.

Er drückte ewig die Stirn an die Scheibe, um drinnen – den Tod schlafen zu sehen.

Ein alter, müder, starrer Mann, grau wie eine Fledermaus, in einem langen Gewände wie gefaltete Flügel, dessen Kopf unsinnig, und wie zu arg geknickt, unkenntlich auf den Tisch hing.

Ganz allmählich erkannte Einhart, daß es der alte Otten selber war. Der Schein des kleinen Lichtes traf seinen grauen Schädel. Auch die alte, strenge, magere Frau Otten saß im großen Lehnstuhle und schlief, das Gesangbuch auf ihren Knien in der Hand haltend, worüber ein Lichtstreif spielte. Das Bett neben dem Tische schien wie eine Bahre mit einem Totenlaken zugedeckt.

Wie Einhart lange hingestarrt, erwachte Frau Otten, daß ihre Haubenbänder einen vertrackten Schatten an die Wand warfen. Und der alte Graumann regte sich auch.

Die Beiden hielten stumme Totenwacht. Denn Henny hatte eben den langen Schlaf des Todes begonnen.

Einhart sah jetzt auch deren Züge genau. Das [25] Fenster war nahe. Das junge, entrückte Totengesicht hob sich langsam aus den weißen Tüchern heraus. Es schien zu lächeln. Einhart wußte es jetzt. Hennys Stimme hatte ihn zärtlich noch einmal gerufen. Er regte sich nicht. Er trat nicht hinein. Er stand nur ewig und ging dann wie ein Schlafwandler ohne Laut in die Nacht der Moore zurück, Schierling und Nesselstauden durchschreitend, dieselben, in denen Henny noch am Tage in Kissen gebettet gesessen.

Die Nachtwelt begann in Unruhe aufzuschauern. Die Blumen und Bäume flüsterten. Einhart lief ins Unbestimmte Schritt um Schritt. Tausend Fragen tat er in die Sterne. Allenthalben däuchten wie zarte Gewande über den Heiden aufzusteigen. Er war tief in Rätsel verstrickt in dieser weiten, einzigen Nacht.

Als Einhart am Morgen in sein Quartier kam, sah er aus wie ein Kind, so sanft berührt von den fernsten, geheimsten Weisen aus den Gründen, die ewiges Vergehen und ewiges Leben halten.

4.
[26] 4

Das Leben auch dieses Sommers ging bald hin. Einzeln verfärbten sich die Blätter der schiefhängenden Birken an der langen, schnurgeraden Chaussee, die hinwies in die Ferne.

Einhart hatte die Herbstabende oft einsam in den Weiden gestanden, neckisch umschnaubt von den Mäulern der Mutterstuten und Füllen und hatte in den sinkenden Sonnenglast hineingesehen. Oder er war an den tintenschwarzen Tiefen der Moorgewässer entlang gelaufen, darin Hütte und Strauchwerk und hoher Hängebaum sich düster fremd und kalt spiegeln, und über die Heidehügel hin, hatte den Schrei des Brachvogels über sich klagen hören in die Dämmerluft und war schließlich mit seinen Gesichten und Träumen dann auch selber ins Weite gezogen.

In jedem Leben gibt es Zeiten, wo die Seele, überreich an Gehalt und Drängen, nicht recht rasten kann. Wo nicht das Erschauen neuer, fremder Dinge und Wunder hinaustreibt und forttreibt von Ort zu Ort. Nur die unbestimmte Sehnsucht, endlich die schöne Schale der Götter zu finden, sie mit der eigenen Seligkeit und dem Reichtum aus der eigenen Tiefe zu erfüllen.

[27] »Denn die Welt des Wurmes und meine Welt ist allenthalben dieselbe. Aber in meinen Augen blitzt diese Welt und glänzt im See Menschenliebe wieder,« sagte Einhart jetzt oft. So war seine Welt nicht die Welt, die draußen war, nur die drinnen jetzt umhütet mit ihm ging.

Einhart war noch immer einsam, wie er gekommen war. Er verstand es gar nicht mehr, sich anzuschließen. Keiner der jungen, tüchtigen Maler, die er in der Heide gefunden, und mit denen er beim Mittagsmahle oder nach Feierabend manchmal noch in der kahlen Dorfschenke des Moordorfes zusammen gesessen, kam ihm recht nahe. Das war wohl hauptsächlich, weil ein jeder für sich genug erfüllt war, auf seine Weise die Welt der Beglückung aus Wolken und Lüften, Wasser und Weiden zu greifen.

Aber man traute sich auch nicht. Zumal wenn Einhart seine undeutbare Doppeltheit mit sich trug, achtlos spitz und abwehrend im Gespräche seine Blicke funkeln ließ, die dunklen Schalksaugen drollig-einfältige Begleitung zu sonderlichen Worten und Weisheiten spielten, wenn er sich gar manchmal in den Mantel tiefsinniger Verrücktheit hüllte, wie ein indischer[28] Heiliger ewig lächelnd dasaß, aus einem Punkte der Weltbetrachtung süßen Wahnes Netze spinnend.

Da waren die um ihn unschlüssig, wie ihn erkennen. Keiner, der eines solchen Einsamen, eines solchen Schalkes und Gauklers Herz recht gefunden glaubte, weil auch die Flamme der unsteten Sucht nach tiefem Leben ewig dabei zuckte und die Flamme der harten Verachtung alles kleinen Getriebes nach Ehren. Da waren die um ihn doch noch immer im Vergleich angebunden an tausend engere Wünsche und Weisen, bauten ihr Haus und priesen Heimat und Scholle, verherrlichten den Frieden der Ackerdienste und Feierstunden, und ließen die weite Welt sich im kleinen Moorgraben spiegeln mit den moosigen Baumästen zusammen, und mit dem ziegenhütenden Weidekind.

Einhart hatte auch diese Welt gesehen, die alle sahen um ihn, »auch der Wurm,« wie er sagte. Aber er träumte von keiner Heimat. – Er träumte nur von dem Wundersee seiner eigenen Ausschau, darin diese ganze Welt sich in Menschlichkeit spiegelt.

Kein Mensch kann je seine Träume leibhaftig träumen, wie die Welt, die wir wachend um uns Welt nennen. Kein Mensch, außer in flüchtigen [29] Augenblicken, wo der Spiegel der eigenen Seele rein liegt wie im Tode, daß die zarten Luftgespinste Traum ihn kristallrein durchhauchen und uns ein volles Wähnen geben von den verborgenen Gestalten unserer fernsten Sehnsucht. Nur einen Augenblick. Wenn die wahre Welt der Dinge uns weckt, zerrinnen die Träume, und nicht einmal ein Erinnern kann noch den Saum ihres Gewandes fassen. Das mag wohl eine tiefe Weisheit bedeuten in unserm Leben. Denn wenn je ein Mensch in sich den Himmel seiner fernsten Sehnsuchten wirklich dauernd wölben könnte vor seinen Augen, so würde ihm das Bild der wachen Welt verblassen. Da würde er eine Seele sein, deren irdisches Auge erblindete, um nie mehr aus ihrem Traumlande zurückzuschauen. Der Leib dieses Menschen müßte hinsiechen. Denn selbst die köstlichsten irdischen Speisen würden nichts sein, als Ekel gegen die süßen, duftigen Früchte, die er im Garten seiner Sehnsuchten brechen könnte. Solche Wahnsinne gibt es. Es gibt manchen Irren, dessen unheimlich entlegener Weg jenes Wunder erreichte. Dessen Auge im irren, entirdischten Lächeln voll Wehmut seine grauen Pfleger zur eigenen Beglückung bemeistern möchte. Manchen Irren, der selig [30] für sich wandelt, und der nicht irdischen Trank noch Speise mehr nehmen mag.

Wahn und Kraft kommt aus derselben Quelle, die alle Wunder birgt. Aus der Quelle, die im Grunde eine ewige Quelle ist. Ein Brunnen voller Schätze. Auch ein Meer, unermeßlich und unergründlich. Darin Schau und Wahnsinn eines sind. Daraus der Mut des Träumerlebens Schatz um Schatz aus der Tiefe hebt, um es im Gleichnis der Welt zu geben, selbstvergessen es vorweglebend im schauenden und schaffenden Ereignis, dem irdischen Bilde aller Erdenzwänge zum Trotze.

»Mein ist es,« sagte dann Einhart, »mein einziges, potentatisches Leben, das was ich mit mir herumtrage, in welcher Heimat immer. Und wenn ich wirklich ein Wahnsinniger bin, es ist der göttliche Wahnsinn, der alles Feste und Starre zunichte macht, Hoffnungen gibt, Aussichten. Und ohne so etwas lohnt sich nichts.«

Einhart war ein Sonderling. Er war auch hart. Er mochte mit niemand auch nur familiär sein. Er duzte sich mit keinem Menschen. Mit Grottfuß. Aber den sah er nicht mehr. Der wußte jetzt auch schon alles in voraus, was die Künste sollen. »Sollen! [31] Ha Ha Ha! Sie sollen mir den Buckel kratzen!« sagte Einhart lachend, wenn er an Grottfuß dachte. Und wenn er von den herrschenden Modepreisern gebrandmarkt wurde, das tat ihm nur wohl.

Auch mit daheim waren die Beziehungen jetzt ganz kalt und förmlich. Er dachte mit Liebe zurück. Aber hin ging er fast nie. Einmal im letzten Winter war er doch daheim gewesen! Gott! man hatte sich auch gar nichts zu sagen! Rein nichts. Als wenn man jetzt eine ganz fremde Sprache redete. Was gingen den alten Geheimrat diese Künste an? Und überhaupt so das Erleben dieser Welt. Der würdige, steife Herr ging zum Skat in einen vornehmen Beamtenklub. Und gar die Mädchen! Die waren verheiratet, hatten ihre Kinder und sagten: »lieber Einhart!« Weil Einhart jetzt in sehr anständiger Kleidung gekommen war. Rosa fuhr ihm wohl einmal noch wie in alter Zeit über die graugelbe Wange und versuchte sich zurückzuerinnern. Sie küßte ihn auch in Aufwallung. Aber sonst war sie unerfahrenen Geistes und dem Erringen des Lebens zu sich, dem tätigen Gewinnen eines wirklichen Anteils Welt in sich, war sie fern wie eine Kuhmagd. Die fleischliche Enge gab Sinn und [32] Ende. Nichts galt wirklich, als das wahrhaft Erdene des Augenblicks.

Da war Einhart sich also daheim sehr schnell ein wenig lächerlich vorgekommen, und er war nach wenigen Tagen mit freundlicher Einfalt und Güte im Gesicht abgesegelt.

Nun ging es am Sommerende aus dem Moordorfe auch einsam und unstet in die Kunststadt zurück. Und er fand sich in allerhand wehmütige Träume noch einmal ganz verstrickt, als goldene Birke um goldene Birke zurückwich in die silbernen Morgennebel, und er in dem rattelnden, schwarzverblichenen Omnibuskasten mit den plumpen Ackergäulen davor die schnurgerade Chaussee hintetterte. Unterdessen zwei runde Bauerweiber, die volle Packen auf Boden und Sitze des Wagens ausgebreitet, den Lärm der klirrenden Fenster und des Räderrollens zu überschreien suchten mit ihren scharfen, aufgebrachten Worten über Wetterschaden, über Henny Ottens Tod, und Aussichten der Obsternte und derart tausenderlei Sachen.

5.
[33] 5

Jahre gehen hin und kommen nicht wieder. Einhart war reich genug, sie nicht zurückzubegehren. Auch die, die jetzt kamen und nicht sichtbare Merkzeichen einritzten, die scheinbar ungehört verhallten. Es waren Jahre innerlicher Raffung zu sich selber. Denn der Mensch ist lange ein Kind, und dann ein Schüler, und auch wenn ihn die Menschen entlassen aus ihrer Meisterschaft, liegt er noch immer mit der Welt im Streite, ehe sie ihn gewähren läßt, aus sich zu sehen, zu sammeln, zu sichten, zu reden und zu malen.

Und es kommt in jedes Menschen Leben eine Zeit, wo er mit leidenschaftlicher Sehnsucht nach Stimmen und Gestalten greift, die aus selbsteigener Gnade hineingerufen und hineingebildet in die Zeit. Einmal mit denen Zwiesprach zu halten, die in ihrer Zeiten Drange nach dem persönlichen Gute rangen, und nach der Kraft die eigenen Laute und Gesichte in die Lüfte über der Menge Häupter hinzuschreiben zu dauernder Verlockung.

Einhart versank in ernste Studien. Er las jetzt mit wirklicher Begier Philosophie. Da war er nur gerade schlecht beraten zuerst. Er griff da einen [34] langen Zopf, der dem Chinesen im Westen hinten hängt. Man nennt es Geschichte der Philosophie. Ein uraltes Bild, was man so die Philosophie der Alten nennt. Tausend Stümper haben es übermalt. Es versuchte so mancher zu bessern und zu streichen, was originale Menschen aus innerstem, eigenem Lebens- und Schauensbedrängnis zur Klarheit gestaltet.

Es ist ziemlich unkenntlich, alles daran. Und von dem Ursprung nicht mehr viel Spur.

Das merkte Einhart.

Er kam mit wahrem Verlangen. Er hatte gar nichts gelernt. Oder besser, er kam mit dem natürlichen Drange, eine Welt, die sich ihm reich und heiß darbot, zu ergreifen mit Sinn und Seele allenthalben.

»Das nennt ihr also Philosophie?« sagte er zuerst ganz erstaunt, als er die Berge des gelehrten Wissens ansah.

»Gibt es nicht Männer, in denen sich wirklich die Welt in ihren wahren Mächten spiegelte? Gibt es nur solche zerstückelte Weisheit? Hirngespinste von tausend Begriffen, in denen sich nicht einmal Fliegen fangen? Gibt es nicht Männer, die die Welt [35] klar anschauen, also daß man in sie einsehen kann wie in einen kristallenen Wassergrund, auf enger Scheibe das ganze, weite Eine?

So suchte er immer wieder nach Menschen.

Und es kam auch, wie er durch den Vorhof, die geilen Reminiszenzensammlungen und Retouchieranstalten, durch allerlei Kommentare von Kreti und Pleti, durch die Stätten der unpersönlichen Fruchtbarkeit flüchtig hindurchgegangen, daß ein paar Heilige selber ihm endlich wirklich begegneten.

Einhart stand plötzlich vor Spinoza. Der dunkle, bleiche, wortkarge, jüdische Mann entzückte ihn. Er hatte Mühe, sich in seine Strenge einzufinden. Er sah ihn beständig versunken über seine mühsame Arbeit gebeugt. Mitten in das Lesen der Worte dieses Vertieften hörte er manchmal plötzlich das Surren des Schleifrädchens, das er mit seinem Blicke verfolgte. Denn der irdische, äußere Mensch dieses Juden saß angebunden an die irdische Leistung, indes sein Geist selbstvergessen den Zwängen der Menschenseelen tief nachsann.

So persönlich das Werk, so ganz selbstvergessen der Mensch zugleich.

Zum ersten Male begriff Einhart mit dem in sich[36] gewissen Blick dieses Erkenners die Zwänge von Launen, Lieben und Leidenschaften der Menschen, die, wie Wolken- und Weiterspiele den hinausgeworfenen Erdball, so die einsame, hinausgestoßene Menschenseele umdrängen.

Die entsagende Weisheit solchen Betrachters, der ohne eigenen Anspruch, ohne auch nur leises Erzittern des eigenen Spiegels, Leiden und Leidenschaften des Menschen, ohne Hauch eigener Leidenschaften, bemaß, erregte ihn förmlich. Die erhabene Ruhe und durchdringende Macht, mit der dieser kranke, jüdische Glasschleifer den unentrinnbaren Verkettungen in den Seelen nachtrachtete, ohne je Wunsch und Plan eines engen, eigenen Lebenskreises anmaßlich und trübend seiner eisklaren Schau zuzumischen, dünkte Einhart das unverlierbare Gleichnis der reinsten Hingabe des Menschen an seine Quellen.

Dann las Einhart in sonderbarem ZufallsspielSchopenhauer. Das griff ihm sehr ans Herz. Aber weil er sich auch immer wieder die Welt mit Sinnen besah, konnte er das grausige Urgespenst des Willens vor tausend schönen Ordnungen der Dinge und den liebenden Sehnsuchten nach deren reicher Gestaltung nicht immer entdecken.

[37] Und seltsam vor allem, daß er nach dem stillen Frieden in Spinozas Schleiferzelle nie ganz vergaß, daß er nun einen unwirschen Griesgram vor sich hatte, dem er zwar mit schuldiger Devotion vor dem hohen Flug und dem weiten Umblick manchmal fein zulächelte, weil auch er Hohn und Verachtung gut kannte, aber auch oft mit sicherem, klaren Worte entgegentrat.

Einhart begriff nicht, daß es ein Weltleid gäbe, weil er meinte, daß nur der Einzelne immer wirklich leide. Das wirkliche Leiden schien ihm begrenzt in dem engen Becher der Vereinzeltheit. Und das Maß dieses persönlichen Leidens däuchte ihm nicht um ein Jota vermehrbar, wenn er die einzelnen Personen zusammenreihte. Leid und Freude dünkten Einhart gleich nur eine schwankende, leise Begleitung in der weiten Ordnung dieser Welt und dem weiten Meer der Seele darin.

»Gewiß,« sagte Einhart, »die Welt der Hanswurste und Affen. Aber auch der Weisheit mit vielen Gesichtern.« »Wie ich sie nehme, ist meine eigene Sache.« »Ich werde nicht weinen, weil ich malen will. Die Augen müssen weit und des Lichtes viel sein. Aber es gibt auch Licht genug.«

[38] »Ich liebe meine Welt,« sagte er dann drollig lachend, »und nur die eine Welt.«

Später geriet er über die Legenden des heiligen Franziskus von Assisi.

»Man kann die Exstasen weit treiben,« sagte er zuerst.

»Das Lustigste bleibt doch Bruder Ginepro, der Schalk und Hanswurst unter den Heiligen, der den verstiegenen Menschen durch alle Frömmigkeit hindurchscheinen läßt, daß die dummen, nackten Selbstsüchte sichtbar werden wie die Knochen im Röntgenbilde. Und dann Bruder Egidio, der selbstsichere, achtlose Arbeitsmann, der zeigt, daß man tun kann mit Händen und Füßen und doch reine Absichten und frommes Schauen der Welt mit sich tragen.«

»Ich werde immer ein Schalk und Arbeitsmann bleiben: große Liebe und klare Schau! und lachen über den Staub meines Kleides, und immer tun, und im Tun mich vergessen!« »Und von Zeit zu Zeit zwei Fuß mich über die Erde erheben,« sagte er lachend, »aber nicht weiter!«

Alles in allem ging Einharts Winter und Sommer und noch ein Winter und Sommer so hin. Er las viel und hatte tausend Erfüllungen. Und verwarf [39] dann alles in Summa, weil nichts kommen wollte fürs Werk aus allen solchen Betriebsamkeiten. Er lebte in diesen Zeiten ganz abgeschieden.

Er hatte auch dazwischen allerlei Studien gemalt und Entwürfe. Aber er trat auf allen bald herum. Pappen und Leinwanden lagen auf dem Erdboden ohne daß er sie achtete. Er kam nicht dazu, etwas fertig zu machen. Er war manchmal dann in heller Verzweiflung plötzlich, verfluchte die dummen Bücher und ging einen Tag in Unruhe unter die Leute auf den Straßen, sah Werke in den Galerien an oder zeigte sich unversehens einmal in einer Gesellschaft. Es war ihm in solcher Art des Tuns schließlich auch ganz klar geworden, daß ein Kunstwerk immer nur aus Dunkel nach den heimlichen Drängen der Fruchtbildung zusammenschießt und aufsteigt, wie die Blüte mit der eigenen, jungen Gestalt aus dem Ackergrunde. Werk um Werk. Erfüllung um Erfüllung. Ein wahres Rückschauen auf die eigene Zeit, wenn also Werke wirklich Erfüllung gegeben.

So begann Einhart nach zweierlei sich jetzt neu zu sehnen, nach selbsteigenem Tun und nach selbsteigenen Menschen unter den Lebendigen. Er fragte sich oft jetzt nach Einem, den er mit sich trüge, [40] wie sich selber, dem er trotzig begegnen möchte, wie dem griesgrämigen Verächter Schopenhauer, oder zu dem er leise eintreten möchte wie in Spinozas einsame Schleiferzelle.

Am Ende brachte ihm der Zufall noch Platons Welt in die Seele.

»Da haben wir den Seher, den ich gesucht,« rief er vielemale im Lesen. Und er saß unter den schönen, jungen Griechen selber bekränzten Hauptes in Rausch und fröhlichem Widerstreit, daß er sogar die äußeren Augen weit aufriß.

»Diese Welt ist ergriffen mit Auge und Ohr, mit Geruch und Geschmack, ist wahrhaft angeschaut,« rief er entzückt. »Und die Ideen sind wie Arome, die der leibhaftigen Blüte entsteigen.«

»Seht doch unsre Duftmacher, die uns Arome eintränken wollen und haben nie die Blüten gesehen.«

Jeden Schritt hin und her auf den Fliesen im Hofe hörte Einhart hallen, das Poltern der Berauschten an den Läden machte ihn lachen, jede Geste und jeden Geist griff er in wahrem, sinnlichen Gewande. Damit kam er ganz zum Leben zurück.

»Ich will Menschen finden,« sagte er streng, »nicht Werker! – Menschen!« Das war ein Wendepunkt nach [41] einigen Jahren. Weil er auf einmal jetzt auch gefühlt hatte, daß in den Werken der Vergangenheit sich klar Menschen und Werker unterscheiden: Menschen, die die Welt spiegeln, ihre eigene und die ewige zugleich, kristallklar in ihrem einen Wesensblick, und Werker, die im Dienste der Gesellschaftsmächte zusammenhäuften, redeten, kommentierten, alles zu wissen meinten, nicht schauten mit eigenen Sinnen, nichts lebten aus Blut und Atem, als einen Widerschein fremder Welten, fremder Gefühle und fremder Entschließungen.

6.
[42] 6

Die fremdartige Erscheinung Einharts, die fahle Strenge seiner Züge, seine weichen Glutaugen, die plötzlich Haß und Feuer geben konnten, dazu die ungewöhnliche Ruhe seiner Bewegungen, seine schmalen, dünnen Zigeunerfinger in der straffen, braunen Hand, sein leicht rauhes Organ, das immer sanft verhalten klang, sein Lachen voller in sich gekehrten, kindlichen Uebermutes, wenn es wirklich einmal Lachen gab, verursachte ein sonderliches Aufmerken nach ihm hin. Wenn Einhart jetzt einmal in Gesellschaft kam, sahen ihn viele heimlich an.

Einharts Augen waren jetzt immer sehr wach. Er war jetzt auf dem Menschenfang, wie er es nannte. So begegnete er in einem vornehmen Hause der Stadt einmal einem Gelehrten, der so dunkel und verschlossen war wie er selbst.

Beider Augen hatten sich erst wie zufällig nur begegnet.

Dann am Kamin waren sie zueinander gekommen. Sie sprachen dabei nichts.

Doktor Poncet war von herrischer, wegwerfender Gebärde und dachte nicht daran, jeden [43] gleich anzusprechen. Und Einhart lächelte nur ein wenig.

Aber die Dame des Hauses, eine bucklige, häßliche Frau mit Negerlippen und ebenso gelbbrauner Gesichtshaut, wie Einhart gelbgrau, eine sehr vornehme, hochgeartete und geistesanmutige Frau, die den Winter in ihrem Stadthause Künstler und Männer von Welt bei sich versammelte, eine Gräfin Schleh, freute sich heimlich, wie sie endlich einmal Einhart bei Poncet stehen sah.

Es gab durchaus gar keine laute Bewegung. Die beiden starrten nur in das Loderfeuer des Kamins. Nichts weiter zuerst lange. Doktor Poncet sah dann, immer mit unterstützten Armen sich haltend, seiner Zigarre Glühende an, desgleichen Einhart auf den Glühfleck seiner Zigarette sah. Das Feuer flammte und die Scheite knackten.

»Feuer ist schwer zu malen,« sagte Poncet endlich, weil er sich jetzt erinnerte, daß Einhart Maler war.

»Gott ja,« sagte Einhart. Dann standen sie wieder, ehe sie sich auch einmal flüchtig in die Augen sahen.

So begannen sie langsam zu fühlen, daß sie sich[44] viel zu erzählen gewußt. Um so hartnäckiger schwiegen sie.

Manchmal ist es mit Menschen so, daß ihnen beieinander plötzlich eine neue Frohheit und Freiheit kommt. Es drängt etwas auf aus jedem in jeden, gibt ein sanftes Gebundensein und zugleich eine seltsame Ruhe.

Die Gesellschaft war ziemlich groß, die weiten Räume dehnten sich. In dem hintersten Eckzimmer spielten einige alte Herren an grünen Tischen. Im Mittelsaale schwatzte die Jugend durcheinander. Es war alles hellerleuchtet. Junge Frauen in erlesenen, bunten Seiden und Sammeten waren im Lichte blendend sichtbar. Hundert Gesichter schoben sich durcheinander, wenn man wie Einhart jetzt oder Poncet aus dem Halbdunkel des verlassenen Kaminzimmers durch die umhangenen Türen in die bewegte Menge hineinsah.

Man sang jetzt im Musikzimmer ein Lied. Der Klang kam gedampft zu Einhart und zu Poncet. Die beiden sprachen noch immer kein Wort weiter. Der Klang tönte wie eine Vogelstimme. Die Melodie war ein wenig feierlich. Das Flackern und Zucken der Flammen im Kamin schien sich den [45] Klängen anzuschmiegen. Einhart beobachtete unaufhörlich gespannt in das Feuer.

»Sehen Sie einmal,« sagte er dann zu Poncet, »die Flammen scheinen mitzutun.«

Poncet war solches Gefühl bis jetzt unbekannt. Wie wenn er nun plötzlich seine Fäden der Dinge, mit denen sie sich halten, blinken sähe. Er lächelte ein wenig, als er nun auch gespannt wie Einhart in das Feuer sah. So standen sie und standen.

Im Raume waren gedämpfte Lichter. Bleiche Bilder in goldnen Rahmen hingen an Schnüren dämmernd an den Damastwänden. Man ging auf weichen Teppichen. Es war ein seines Duften aus Blumen und Parfums allenthalben. Einharts Sinne waren davon wie umnebelt. Er sah nur dann und wann wie aus einem Traum von den Düsterflammen in die lichten, fernen Gesichter, die in dem Glanz der Nebenräume sich bewegten. Auch Poncet erwachte ein paarmal richtig.

»Sie sind ein Gelehrter?« sagte Einhart dann zu Poncet.

»Wissen Sie, daß das eine Tragik ist?« sagte Poncet. Einhart setzte sich dabei lächelnd nieder. Auch Poncet. So blieben sie neu beieinander sitzen.

[46] »Eine Tragik!« wiederholte Einhart. Die Vorstellung ging in ihn ein wie ein stiller Akkord, den er jetzt summen und summen hörte.

»Sie lächeln,« sagte Poncet.

»Aus Kummer!« sagte Einhart. »Denn nicht wahr? Wenn ich Sie richtig verstand, müssen Sie sich immer fliehen. Und Sie möchten sich finden.«

»Ja, so ist es,« sagte Poncet.

Dann fühlten beide neu die Flammen zucken und springen, als wenn sie mitsprächen in das heimliche Leben der Stunde von ihrem eigenen, heißen Erlebnis. Auch die Blicke der beiden Hineinstarrenden schienen von innen zu brennen.

Endlich erhoben sie sich. Sie gingen gleichzeitig lässig in den Glanz der Gesellschaft zurück. Sie kamen sich wie geblendet vor und zögerten noch immer. Jedem schien es, als hätten sie von tiefen Dingen und Schicksalen Zwiesprach gehalten. Als hätte es einen heimlichen Zusammenklang gegeben, nicht bloß von Seele zu Seele, auch zu allerhand Wesen ringsumher. Zu Flammen und Stimmen und Lichtern im Raume. Und es kam einem jeden jetzt auch so vor, als wenn sie viel voneinander wüßten und sich einig fühlten über das ganze, rätselhafte Leben.

7.
[47] 7

Alles, was Einhart so entgegenkam, erregte ihn lange und tief. Aber es machte ihn nicht zufrieden. Einen Menschen hatte er in Doktor Poncet gefunden. Das war an und für sich ein Ereignis. Zumal Poncet in seinem Fache tüchtig genug war, um zu glänzen, wenn er nur mit Wissen sich zufriedengegeben.

Aber »der Wahn ist unserer Füße Schemel,« sagte Einhart. Und das dachte auch Poncet. So gab es gutes Miteinandersein. Und sie kamen auch voll überein, daß sie die Welt von verschiedenen Seiten, aber die eine Welt angefaßt.

Poncet war seines Faches ein Mann, der nach den Gesetzen des Lebens der Vielen suchte. Und Einhart sehnte sich und suchte die Träume und Gesichte zu erschauen, die ihm sein eigenes Blut als Glück und Stillung verraten wollte.

»Es sind nicht weniger Gesetze des tiefsten Lebens,« sagte Einhart zu Poncet, als sie sich ein jeder ein wenig an die Sprachweise des andern gewöhnt hatten.

Sie waren jetzt oft beieinander.

Als sie einmal in einer Schneenacht die Straße [48] entlangspazierten, weil Poncet gekommen war, um Einhart aus seiner Arbeit herauszulocken, hatte Einhart noch immer seine Tafel vor Augen, und das Zwiegespräch der beiden war also arm und stumm nach außen, wie damals vor dem Kaminfeuer. Da hatte es eine flüchtige Beglänzung aus einer der schneebekappten Laternen mitten im Flockenfall so weise gefügt, daß Einhart in ein Paar der wunderlichsten Augen hineingesehen, die je unter einem Kapottehütchen zu ihm aufgeblitzt. Einhart war wie gefangen gleich. Er ging mit Poncet Arm in Arm. Denn Poncet liebte Einhart, und Einhart Poncet. Ein jeder, wie es kam, hatte bald, wenn sie so gingen, den Arm in den des andern vertraulich eingelegt. Nun eben war es, daß Einhart in der sonderlichsten Laune Poncet plötzlich losließ. Es schneite weich und die Flocken tanzten.

»Nein,« sagte er nur, »hier werde ich mich nicht groß besinnen und einfach zurück die alte Fährte gehn!«

Poncet war auch ein Frauenkenner. Aber mit Einhart jetzt oft in seiner alten Versunkenheit. Und ehe er also ganz begriff, hatte Einhart nur noch zurückgerufen, daß sie sich in dem Kaffeehause gegen die Nachtzeit wiederfänden.

[49] Einhart lief, was er konnte. Das Mädchen war wieder in seiner Nähe. Sie war schlank und hatte einen eiligen Schritt. Offenbar ging sie mit einem Ziele. Einhart war kindlich erregt, neugierig und lustig. Er kannte auch gar keine Scheu und Rücksicht. Ihre Augen hatten wie sammetene Blätter geschienen. Dunkel und großäugig hatten sie ihn angeblickt, wie Eulenaugen. So tief, wie wenn es Weisheit gewesen, die ihn angesehen. So lief er jetzt nur schnell vorüber und blickte sich nach den Augen wieder um.

»Nein, um keinen Preis dürfen Sie mir jetzt entwischen,« sagte er hastig.

»Wie?« sagte das junge Fräulein nur, als wenn sie ganz arglos wäre und gar nicht weiter auf ihn geachtet.

Da stand auch Einhart in seinen langen Mantel gehüllt schon vor ihr mit seinen lächelnden Augen voll kindlicher Freude, sah ihr prüfend drollig ins Gesicht und machte sie so im Laternenscheine und Flockenspiele lachen.

»Lachen Sie nur, mein sehr gutes Fräulein! Aber ich muß um jeden Preis noch einmal Ihre Augen sehen, ehe ich es glaube!« sagte er bestimmt.

[50] »Was glaube?« sagte das Fräulein, das eine sanfte, bleiche Miene hatte und dessen Augen in Wahrheit groß schienen wie Dunkelflecken.

Der Schneefall trieb und tanzte um sie.

»Ach, nein, nein! so etwas Wunderbares!« sagte Einhart ganz inbrünstig. »Ich muß Sie um jeden Preis wiedersehen.«

»Wenn Sie meinen!« sagte das Fräulein, kindlich wie er. Denn Einhart gewann durch Ton und Glück seines Erstaunens gleich einen Eingang in ihre Seele.

»Wenn es nur meine Augen sind!« sagte sie sanftmütig und brach dann plötzlich richtig in Kichern aus.

Da gingen sie schon miteinander.

Das Mädchen war eine kleine Putzmacherin. Sie trug noch ein Paketchen zu Kunden aus. Sie hieß Johanna und war voll Übermutes.

»Sie sind wirklich ein Ungestüm!« sagte sie zu Einhart. »Maler sind Sie?« fragte sie ihn noch einmal, als er ihr erzählt hatte, daß er eben zu einem Bilde ein Paar besonderer Augen schon ewig in seinen Träumen und auf allen irdischen Wegen gesucht und nicht gefunden hätte.

[51] »Ich brauche irgendeinen Ton aus der Seele, eine glückliche Tiefe. Und renne schon immer herum, wie ein Raubtier äugend,« mühte er sich jetzt, von seiner Arbeitsnot einen Begriff zu geben.

»So wollen Sie mich also verspeisen!« sagte Johanna.

So liefen sie lange miteinander und plauderten allerlei Loses, worüber sie immer wieder beide lachen mußten.

»Ich wohne bei einer Wäscherin, wo ich mein Stübchen habe,« sagte Johanna. »Sonntags bin ich immer frei.«

Es stellte sich heraus, daß Johanna erst vor wenigen Monaten in die Stadt gekommen und noch scheu und ängstlich war. Einhart war an dem Abend wie losgebunden. Er hatte so viel Dummheiten im Kopfe, daß Johanna aus dem Lachen nicht herauskam, so beschneit, wie sie schließlich aussah. Er hatte ihr längst das Paketchen abgenommen und ging die ganze Strecke neben ihr ordentlich wippend. Ihr war es längst auch recht.

»Ich bin ein bisset töricht richtig in der Stadt,« sagte sie. »Das paßt sich doch gewiß nicht, wenn ich zu Ihnen käme.«

[52] »Ih, mein Fräulein,« sagte Einhart. »Was nicht paßt, muß passend gemacht werden, wie Ihre Hüte! Darauf verstehen wir uns doch. Und außerdem«, redete er weiter, »dienen wir beide einem Höheren!«

»Oh, Sie sind aber sehr eingebildet!« sagte Johanna. »Was wäre denn das?«

»Die Kunst! die Kunst!« sagte Einhart äußerst gewichtig.

»Das ist eine Ausrede!« sagte Johanna.

Beide lachten wieder um der Rede willen. Aber beider Augen lachten auch jetzt, wenn sie eine Weile nur stumm die Flocken an Mund und Nase spürten, die ein wenig kitzelten.

So waren sie bis ans Ende der Straße gekommen, wo ein großer Platz im dämmernden, nächtlichen Schneetreiben lag. Johanna erledigte ihre Mission. Einhart mußte eine Weile, vergnügt die Schultern in die Höhe stoßend und trappend, weil es kalt war, hin und her gehen, ehe er wieder ihre weiche Plauderstimme aus dem Dämmer vernahm.

Auf dem Heimwege plauderten sie schon allerhand Zutrauliches. So daß Einhart jetzt dünkte, als ob er diesen Laut seit Ewigkeit gehört.

[53] So ist alles innerlich Nahe und Verwandte, wenn es auch zum ersten Male unser Ohr und Auge trifft, uns gleich vertraut und will uns erscheinen wie in uns selber, wie ein Stück erweckten Eigenwesens. Es gibt eine wunderbare Ruhe und Freude, ihm zu begegnen.

Johanna erzählte, daß sie, eines kleinen Beamten Tochter, von Hause gegangen, weil eine zweite Mutter ihr das Leben verbittert. Nicht sehr viel davon. Einhart hatte auf Rückblicken jetzt gar nicht die Gedanken. Ihm war mit der Gegenwart genug. Er hielt Johannas Arm mit Scheu und sah nur oft in die großen, dunklen Eulenaugen, und war sanft entzückt, daß ihm die Augen zulachten, und auch daß die Hände, die einmal aus dem dicken Wollhandschuh herausfuhren, sanfte, kleine Frauenhände waren.

»Ich werde Ihnen die Hände reiben. Kommen Sie!« sagte Einhart.

Johanna gab ihm die Hände. Es waren ziemlich viel Vergnüglichkeiten in ihren Blicken dabei, weil auch sie in seinen Augen das Funkeln und die Güte gern sah, und alles sanft und zärtlich war, was er sagte und tat.

[54] Schließlich wollte Johanna doch nicht mit ihm kommen, so sehr Einhart auch bat und quälte und sie am Arme hielt und lachte, wobei auch sie lachte.

»Schon wegen der Schmutzerei,« meinte sie, auf ihre Beschneitheit weisend. Sie hatten beide Schneelasten auf Hut und Mänteln. »Aber auch so! das schickt sich nicht. Ich werde Sie erst einmal am Tage besuchen. Wenn Sie mir dann noch so gefallen wie jetzt,« sagte sie ganz bestimmt, »dann können wir weiter Freunde sein.« So hatten sie sich getrennt.

An dem Abend war es Einhart, als ob er plötzlich eine ganz eigene Art und Leichtigkeit gewönne. Es kamen ihm allerhand Tollheiten in den Sinn. Er konnte gar nicht zum Entschluß kommen, ob er zu Poncet noch in die Ecke ins Kaffeehaus gehen sollte. Dann ging er doch.

Poncet, der verheiratet war und daheim zwei Kinder hatte, saß vor sich hinbrütend wie oft. Einhart war an dem Abend voller Leben. Aber er sagte nicht warum. Er ließ sich zweimal hintereinander Kaffee geben. Und glomm Zigarette um Zigarette und war sehr gesprächig.

[55] »Ja, malen!« sagte er. »Ach Gott, das liebe Malen! Wenn man nicht einmal fände, was einen im Alter noch anmutet mit dem Glück eines gefundenen Schatzes. Man muß dahinter sein. Das große Bild wird etwas. Ganz neuartig. Ganz meine eigenen Harmonien. Das ist sicher. Der Einfall und der Zufall! Ich will nur malen, was mich selber überrascht! Den glücklichsten Einfall und den seligsten Zufall.« Er hörte nicht auf, so hinzuplaudern, daß Poncet nur zuhörte.

»Ein Blick gibt es manchmal,« sagte er.

Poncet saß versunken in sich. Aber er lächelte auch manchmal, weil Einhart lächelte.

»Einfälle und Zufälle machen es bei euch,« sagte Poncet dann einmal. »Bei uns ist alles System, System, System! Das ganze Leben System! Schrecklich! schrecklich! schrecklich!«

Sie liefen erst in tiefer Nacht nach Hause. Einhart war noch immer nicht still. Sie standen erst lange vor Poncets Hause, ehe sie sich bis zum andern Tage Lebewohl sagten.

8.
[56] 8

Johannas Hände waren fein und klein, weiche Frauenhände, die Finger schlank. Wenn sie hantierte, gab es ein lustiges Spiel. Wenn sie mit einem Finger drohte, mußte Einhart lachen. Und nun hantierte sie erst noch eine Weile, einige Monate, bis über die Weihnacht im Putzladen, daß die weißen, lieblichen Frauenhände in bunte Seidenbänder und in allerlei fremde Blumen und Federn sich ewig einwühlten, und garnicht, däuchte es, daraus endlich ganz ans Tageslicht kommen könnten. Die etwas gebogene, schmale Nase war ewig noch den Tag gesenkt. Die großen, schwarzen Eulenaugen hatten durchaus gar kein Lachen, nur eine sichere Sittsamkeit und Spannung. Sie umprüften um und um die breiten Krempen oder hohen Türme der sonderlichsten Frauenhüte, ehe endlich wieder einer, rings umziert, aus der Schöpferin liebender Hand ins Schaufenster oder auf den Ladentisch wanderte.

Einhart stand jetzt oft vor dem Laden, schon am Tage. Aber die großen Eulenaugen drinnen sahen und zwinkten nur heraus. Erst am Abend waren dann die lustigen Blicke und der junge Mund und [57] die sanften Hände in Einigkeit mit Einharts. Bis Einhart sich ganz und garnicht trennen gewollt, gleich zu Neujahr, und Johanna ruhig lachend eingestimmt hatte und eine kleine, zierliche Hausmutter bei Einhart geworden war.

Und Einhart war jetzt plötzlich ganz auf sich selber gekommen.

»Ich male nur dich und mich, das ganze Leben lang,« sagte er stolz. »Denn im Grunde genommen sind wir zusammen alles. Du bist eine hohe und eine niedere Frau, und ich lebe auch das ganze volle Leben. Alle Tugenden und alle Laster sind in einem jeden. Besser, man lockt sie auf die Leinwand, als ins Leben.«

Es war das drolligste Spiel zwischen den beiden. Johanna war wie ein Kind, so dienstwillig und hingegeben. Und hatte einen Zauber schon im Lachen. Das klang rein, als wenn Lachtauben ihre weichen Laute sanft hinhauchen und ein wenig dazu schluchzen. Und Johanna war voller Grazie. Fast noch mehr als früher. Sie hatte gleich begriffen, daß sie mit Anmut die Seele Einharts ganz und gar umspinnen konnte.

Wenn sie auch nur mit der Kaffeemühle dasaß, [58] die sie hockend zwischen den Knieen hielt, so gab das schon für Einhart eine Malerfreude, rein nur, wie sie dann die Schultern aufnahm und den Kopf halbgesenkt, halb ihm zugewandt ihre großen Dunkelblicke geschäftig spielen ließ. Oder wenn sie sich einmal flüchtig dabei zum Kusse hergab, launiges Lachen in die Lüfte schluchzend. Oder gar, wenn sie in feierlichen Gesten, den schlanken, kindhaften Jungleib in irgend ein köstliches Tuch leicht eingehüllt, eine griechische Krugträgerin hinschritt.

Nun: Einhart konnte plötzlich ein Gefühl nicht loswerden, als wenn er jetzt erst ganz die eigene Kunst gefunden. Er sah rein nichts sonst. Er fühlte nur, als wenn jetzt der letzte Zwang plötzlich gewichen und er frei geworden wäre zur eigensten Betriebsamkeit.

Dazu kam, daß Johanna einen echt mütterlichen Zug hatte. Sie begann für Einhart zu sorgen, um den sich all die Jahre nur höchstens einmal eine gutgelaunte Wirtin zufällig umgesehen. Jetzt saß Johanna stundenlang bei ihm am Tage und versah allmählich alles.

Es war garnicht gut für Einhart. In der ersten [59] Zeit kam deshalb Einhart wochenlang nicht mehr auf die Straße. Und bald hatte sich Einhart an Johannas Anwesenheit derartig gewöhnt, daß er rein nichts zu tun vermochte, wenn nicht die ein wenig dumpfe, kindliche Plauderstimme um ihn und in seine Arbeit hineinfloß.

Doktor Poncet kannte Johanna jetzt auch längst. Er hatte sie auch gleich gern gehabt. Ihm war unsäglich wohl nur schon deshalb, weil ihm in den beiden Räumen, von denen der Atelierraum groß und geräumig war, nichts als eine arglose Menschlichkeit und ein rechtes Lebensvergnügen entgegenkam. Daheim bei ihm war das anders. Er saß oft lange in seinen weiten Mantel gehüllt auf irgend einem Kasten voll Skizzen und sah, wie Einhart, gespannt äugend und sein und spitz lächelnd, die Farben auf die Leinwanden hinbrachte, und sah Johanna an, wie sie unterdessen um den kleinen Eisenofen herumhantierte oder das Teetablett oder sonst etwas herzutrug.

Einhart hatte jetzt einigermaßen auskömmlich zu leben. Obwohl das auch noch schwankte, was ihn garnicht weiter anfocht. Denn jetzt, wo er mit Johanna lebte, war er schnell in eine wahre Arbeitsleidenschaft [60] hineingerissen. Daß Bild um Bild aus dieser Erhitzung aufging.

Und auf allen Bildern erschien jetzt Einhart und Johanna. Einhart malte jetzt sich in allen möglichen Schicksalen und Gefühlen, und immer Johanna dazu, als eine süße, selige Begleitung, als die eigentliche Melodie des Lebens, um die es sich allein lohnte, solcher Musik zuzuhören. Er malte Johanna als schwebende Vision gegen den lichten Himmel, oder in paradiesischer Nacktheit selig und schön unter Blumen, oder mit Kindern ein neckisches Spiel auf freien Wiesen treibend, immer in hellen Tönen sie, immer ihre großen Kindsaugen mit den erstaunten Blicken, immer auch mit der ganzen Drolligkeit ihrer entzückenden Anmut. Und allenthalben auf den Bildern stand er irgendwo in der Nähe Johannas, wie ein trutziger Ritter, dem man das Frühlingsglück der holden Frau nicht mit einem Augenzucken nur trüben durfte.

Der Ausdruck des strengen Wächters über seiner Liebe ging durch alle Bilder hindurch. Der sanfte, arbeitversunkene, spitzlächelnde Einhart wußte es gar nicht, daß einer immer jetzt sich so fehdehaft und kampfsicher aus ihm hinausgab. Doktor Poncet [61] stand oft heimlich erstaunt über die Fülle und Kraft solchen Ausdrucks, und über die schwebende Seligkeit, die durch solche Kontraste sich ins Blut schrieb aus den durchaus stummen Malerspielen.

Alle Dinge haben eine Sprache. Jede Sprache schlägt nur die Tasten der Seele an. Immer sind wir es, in denen die Erkennung aufwacht. Alle Dinge können jenes heimliche Leben wecken, daß es in uns von ihnen redet, wenn sich die Seele ihnen nur innig genug dargeboten. Die Sprache der Rede ist nur eine unter tausend.

Deshalb saß jetzt auch Poncet oft stumm und sann und horchte in die Leinwanden Einharts. Er fühlte genau, welche Ketten und Bande bald sich zwischen Einhart und Johanna gewoben. Er fühlte vor allem, daß an solcher wesenhaften, innigen Verstrickung niemand hätte rütteln dürfen, es wäre denn um Einharts Einfalt getan gewesen. Ein heißer, niederträchtiger, hassender, zäher Zigeuner womöglich wäre aus ihm herausgesprungen, wie der, den er mit einem Dolche unter der Glutrose und mit dem blitzenden Glutblick schon gemalt hatte.

Und Johanna sah jetzt um sich wie einen Garten aus allerlei Pracht. Aus jeder Umhegung lächelte [62] sie. In jeder Laube saß sie als Glück. Allenthalben wandelte sie als Selige hin. Sie war umklungen und umsungen von ihrem eigenen Scheine und Glänzen. Ein jeder Hauch im Räume sagte es ihr stumm, daß Einhart wie ein Toller und Ausbund war, der nichts anderes sonst denken konnte, als ihrer Liebe Lied in alle Himmel zu singen, sie zu Preisen in den Hymnen seiner Farben und Bilder und nichts sonst. Und sie lächelte heimlich, wenn es aus den Bildern redete, daß er zum Mörder oder Räuber werden könnte gegen jeden, der es wagte, auch nur wie eine Wespe oder Motte sich in den Glanz seines Glückes zu verfliegen.

Aber Einhart war jetzt recht eigentlich wieder ganz Kind. Er liebte, wie Kinder lieben mit spielender, strahlender Verklärung. Denn wahrhaftig, er fand nach außen gar keinen Anlaß gegen jemand sich zu verwahren. Es störte ihn niemand. Er lebte ganz einsam mit Johanna. Und sie war täglich liebend um ihn und zärtlich dienend in allem.

Doktor Poncet, der einzige, der kam, war ein ganz anderer Mensch als Einhart. Poncet hatte die Liebe in der Welt reichlich genossen. Er staunte in das kindliche Spiel, das sich in Einharts Werkstatt [63] darbot. Er war müde der Liebe, kann man sagen. Heiß, wie er gewesen, hatte er die Leidensfeuer längst in Asche gelegt. Er fand kein Genügen mehr im Rausche. Er lächelte nur manchmal ein wenig ätzend, wenn er Einhart und Johanna plaudern hörte.

Aber Einhart war in seinem tätigsten Behagen, daß man ihm zum ersten Male seit jenen Tagen, wo er einst nach Zigeunern ausgezogen, den Lächler wieder ganz ansah. Johannas Nähe hatte ihn richtig zu einem kecken Jungen gemacht. Und als wenn er nun die ganze Welt nur so hinmalen könnte, die ganze, weite, selige Welt, die keines Kommentars und keiner Mühe und Arbeit bedurfte, um ganz und gar erkannt und geliebt zu sein.

Die ganze selige Welt: Johanna und Einhart.

9.
[64] 9

Daheim in Poncets Hause war keine Einigkeit. Frau Poncet, die eine feine Seele war, war ihrem Manne ganz unvertraulich. Ihre Liebe schien langst grau in grau und wenig anderes noch, als hassende Erinnerungen. Die beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren lieb zu ihm. Aber sonst fehlte die stille Flamme hüben und drüben.

Es gibt Männer, die vorzeitig nach allerhand Frauen greifen, gattungsgebunden und unpersönlich in verfrühten Süchten. Das zärtlich scheue, kindlich sehnende Berühren fehlte, das schon Platon als den süßen Beginn aller Liebe geschildert. So will sich aus jungem Drängen in solchen Naturen nie der harte, klare, blinkende Rubin zusammenfinden. Wie der Uhrmacher, so muß der Menschenkenner bei jedem fragen, auf wieviel Steinen die Seele geht, und ob es heimlich im Grunde einen Halt gibt? Und ob es heimlich funkelt? In Poncet war kein klarer Stein kristallisiert. Das Leben seiner Liebe war in Asche zerfallen. Kein inneres Funkeln in allen Strahlenwundern, nur Brände zuerst und Asche dann. So auch mit Frau Poncet.

Aber wenn jetzt Poncet zu Einhart kam, begann[65] sich ihm eine neue Welt aufzutun. All die kleinen Handreichungen des Lebens, die er nie geachtet, gewannen einen tiefen Glückseligkeitssinn auch für ihn.

»Das Leben ist gar keine Idealität. Es ist immer nur das einfache Leben,« sagte Einhart. Er wußte es nicht, daß er damit den tiefsten Lebenssinn gegen all die großen Worte in Wissenschaft und Religion verteidigte.

»Das Leben ist immer nur diese kleine, einfache Verrichtung mit Hand und Fuß, immer nur auf dieser steinigen Erde, die wir mit Auge und Sinnen erfassen und anstaunen,« sagte Einhart. »Immer nur dieses: eine liebende Stimme hören, in liebende Augen sehen oder in hassende. Ist immer nur Wandel in Regen oder in Sturm. Oder in weicher Nacht, wenn Sterne und der Mond blinken. Oder wenn es stockbrandfinster ist mit dem kleinen Scheine unsres Laternenlichts in der eigenen Stunde. Ist sich kalt fühlen, sich in seinen Mantel warm hüllen, oder eintreten an ein warmes Kaminfeuer und unter gute Blicke, die uns zulachen und uns willkommen heißen. Ist diese steinige, weite Erde, deren Wege der Frühling umblüht und umsonnt. Oder auch wenn uns Kümmernisse um Liebe und Geliebte das Herz [66] bedrohen. Diese eine sonnenfrohe oder nächtigeisige, hinausgestoßene Erde. Ist aufatmen, jung hinaus und in die höchsten Hoffnungen sich heben mit Flügeln so scheint's. Oder mit blinden Augen schreiten, geführt und ängstlich und mit der süßen Ahnung dessen, was ewiger Schlaf dem Menschengemüte an letzten Lasten aufhebt. Es ist das eine kleine Leben, mit Hand und Fuß, mit Auge und Seele, mit der einen kleinen, einsamen Seele, die einzeln sitzt in jedes Gehäuse, und die ihren Traum doch laut hinausträumt von dem Verein der Seelen, auf den Millionen verlangend lauschen.« Das war, wie es Einhart jetzt und immer lebhaft verkündigte.

Doktor Poncet kam oft. Er war daheim, seitdem er zum ersten Male das gute, einige, zitternde, irdische Seelenspiel Einharts und Johannas angesehen, noch mehr losgetrennt. Er begann einzusehen, daß er durch alle sogenannte Idealität durchmüßte zu der kleinen, großen, einsamen Seele. Er begann beglückt zu sein von ferne.

»Man muß es mit den Sinnen greifen. Nur mit den Sinnen hält der Mensch sich fest in der Welt, wie der Baum mit den Wurzeln in der Erde.«

Einhart sagte es nicht. Aber Poncet sagte es jetzt,[67] weil es Einhart lebte. Poncet begann allmählich kindlich zu lachen wie Einhart. Wenn er kam, saß er stundenlang. Johanna fand ihn angenehm. Ihre Eulenaugen sahen zu ihm hinüber. Ihre Augen waren immer zärtlich im Blick. Poncet begann sie oft anzusehen. Einhart fühlte, daß Poncet sich heimlich neu zu sehnen angefangen.

»Die kleinen Handreichungen des Lebens sind es,« sagte er einmal vor sich hin. Er sah Johanna oft nicht mit bloßer Achtlosigkeit an.

Und einmal war es gekommen, gegen das Frühjahr, wie Einhart zufällig nicht daheim war. Da hatte Poncet lange nur stumm dagesessen und hatte Johanna dadurch geradezu verlegen gemacht. Wie es kam? Wer weiß. Die Augen Johannas waren mitleidig. Sie wollte auch gleich noch wegspringen erst, um unten in dem kleinen Gemüse- und Butterladen einzuholen. Dann war sie doch geblieben. Es war in ihrem Gesicht gleich eine große Röte.

Außerdem sind die brennenden Blicke dunkler Augen, wie die sehnsüchtigen Poncets eine wundersame Sprache des Preisens. Das Herz der Frau wird neugierig. Die Eulenaugen Johannas baten gegen Poncet, wie er so immer noch stumm als [68] Schatten auf der Skizzenkiste unter dem großen Atelierfenster saß. Aber sie versuchten Poncet auch um so mehr.

Die Neugier Johannas war so hart in ihr geworden, daß sie einfach nicht mehr hinaus konnte. So blieb sie und hantierte lange vor Poncet. Eine Weile dachte sie noch immer, daß Einhart kommen müßte. Aber je mehr sie hoffte, desto bestimmter sprachen ihre Blicke Sanftheit hin in den stummen, in sich verzehrten Poncet.

»O Gott Gott!« hatte er schon manchmal vor sich hin gesagt. Jetzt rang er heimlich sich zu überwinden. Aber Männer, die die Leidenschaft zu früh blind gemacht, stehen unter einem unentrinnbaren Zwange.

»O Gott! nein! daß Einhart nicht kommt!« stieß nun auch Johanna heraus, gleichsam seine Angst vor sich aufnehmend, und weil auch schon die Dämmerung in den Raum spann. Dann griff sie endlich eine leichte Hülle, einen bunten, leichten Seidenschal, um doch noch jetzt hinauszufliehen. Da waren Poncets Süchte plötzlich hart aufgebrannt, daß er sie atem-und lautlos von der Tür zurück und an sich gerissen und sie sinnlos hastig und heiß brünstig geküßt hatte.[69] Johanna in ihrer Kindlichkeit hatte sich lange küssen lassen, mit hastigem, aber nicht starkem Widerstreben und hatte dann erst noch eine Weile drollig zärtlich gelacht, ehe sie unversehens ebenso hart aufgeschluchzt.

»Wie? Was? Pfui! Pfui! o! Nein nein! nein aber, wie Sie nur können!« hatte sie noch herausgestoßen, als Einhart auf der Treppe draußen hörbar wurde.

In demselben Augenblick hatte Johanna gleich mit ihren Eulenaugen zärtlich zu Poncet hin gebeten, reckte sich aufrecht, sich gleich einfindend in eine gleichgültige Hantierung. Und als Einhart mit einem Strauß Maiglöckchen eintrat, ganz beglückt nur von der Absicht sprechend, bald in eine ländliche Einsamkeit, ins Gebirge oder ans Meer zu gehen, saß Poncet wieder als Schatten gegen das Dämmerlicht. Einhart war ganz achtlos und arglos. Er streichelte Johanna und begrüßte Poncet mit kräftigem Handdruck. Er achtete gar nicht, daß er fast ins Dunkel kam, worin die beiden gesessen.

10.
[70] 10

Als der Frühling den vereinzelten Obstbaum im Hofe des Stadthauses, wo Einhart oben unter Dach sein Atelier besaß, blühen machte, drängte Johanna selber, aus der Stadt zu gehen. Es war wenige Wochen nach der Annäherung, die Doktor Poncet versucht hatte.

Johanna war eine Drollige. Der Gedanke daran machte sie jetzt heimlich lachen mit ihrem lieblichsten Lachen. Und so oft Doktor Poncet auch gekommen war, er hatte in dem sanften, fröhlichen Leben von Johanna nur eine Hingabe an Einhart, aus den funkelnden Augen und erheiterten Worten ganz nur ein Mit-ihm-sein und -leben wollen spüren müssen.

Gar nichts hatte ihn an eigene Vertraulichkeiten auch nur von ferne erinnert. Wenn ihn nicht gar eine herbe und strenge Miene, sobald Johannas große, feuchte Dunkelaugen ihm begegnen mußten, heimlich geradezu wie ein Vorwurf manchmal getroffen hätte.

Johanna war nur innig zufrieden, daß Einhart arglos und voll frohen Arbeitssinnes ungestört vorwärts lebte. Um so mehr wünschte sie also jetzt [71] ins Freie hinaus, ins Landleben. »Meinetwegen ins Gebirge, noch besser an die See!«

So waren Einhart und Johanna bald mit Packen und Malwerkzeugen nach dem Norden zu abgereist und hatten auch einsam und gut, nach dem Rate Poncets, eine friedsame Sommerherrlichkeit ausgefunden.

Das Häuschen, worin sie Wohnung nahmen, lag mit seinem breiten Strohdach nahe einem alten Eichenwalde, ein kleines, gemächliches Fischerhaus mit vier ungewöhnlich großen und hohen Fenstern nach vorn. Um die Haustür und um das hölzerne, hohe Gartentor hingen Rosenranken, die eben ergrünten. Ringsherum dehnten sich Wiesen, von Sauerampfer blühend und glühend, deren schlanke, zitternde Pracht sich reichlich zwischen roten Nelken, Glockenblumen und Kamillen in die flüsternden Lüfte aufhob. In der Ferne strich der Wind das junge, grüne Korn der weiten Felder, wenn Johanna am Morgen die Fenster frei auftat. Dorther blinkten hinter Hecken und maigrünem Buschlaub die Silberflecken der spiegelnden Scheiben eines vornehmen Landsitzes mit Gutsgebäuden zu beiden Seiten.

[72] Dorther kam täglich nun den ganzen Sommer lang auch Johannas Freude.

Johanna war jetzt losgebunden wie ein Vogel, ohne Pflicht, so recht hineingestellt in die lichte, freie, blühende und reisende Welt. Wenn die Herde Mutterschafe und die Lämmchen sich aus dem Tor der entfernten Gehöfte ergoß und in einer Wolke Staub naher und naher herankam, stand sie, alles vergessend, und harrte mit einem wahren Jubellachen, das Einhart viele Male heimlich entzückte.

Johanna hielt dann schon ewig Büschel Blumen in ihren Händen, der Herde entgegen laufend, um sie den Lämmchen zum schrobenden Fraße anzubieten.

Der alte Hirte, der einen verschmutzten Pelzflausch trug, war gegen Johanna äußerst scharmant. Er hätte ihr den ganzen Tag Geschichten vom guten Lämmchen erzählen wollen. Er wußte Schmeicheleien von ihrer Lieblichkeit und von ihren großen Augen, die wie schwarze Stiefmutterblumen im Schloßgarten wären, wohl anzubringen.

Und Johanna stand ganze Morgen lang auf der weiten Blumenwiese unter den blökenden, grauen Mutterschafen und den wolligen Lämmern im Licht, [73] hob sich die kleinen Schreihälse zärtlich auf den Schoß, oder vergnügte sich, ein zutunliches Lieblingslämmchen im Arme zu halten und an ihrer Brust zu wärmen. Wie eine frohe Heilige im Garten Gottes, verloren für sich in die Lüfte lachend.

Der weiße, zottige Spitz räsonnierte von Zeit zu Zeit und schoß um die lässigen Wolltiere. Unterdessen Schäfer und Lüfte und Düfte, die Wolken im blauen Himmel und die Augen der Lämmer und der Schafe, und auch Johannas Blicke arglos und wohlig und eintönig verwehend über die Weide tändelten. Das waren Johannas Feierstunden jetzt am Morgen.

Aber Einhart war in dieser Zeit leidenschaftliche Arbeit an Ecken und Enden. Einhart war dann gewöhnlich gleich nach dem Frühstück einsam gegen den Strand hin gegangen. Er besah sich jetzt die Erde neu von allen Seiten. Schon durch den Streifen Eichwald, der die Blumenwiesen vom Meere trennte, wanderte er mit wahrer Spannung. Er genoß entzückt den lautlosen Eintritt in die hohen, einsamen Wipfelwölbungen, um deren Tragesäulen Schmetterlinge taumelten, und Hummeln eilig vorüberbrummten. Er sah an jedem Stamme empor, wo eine Eichkatze die Rinde reißend hinaufhuschte, [74] oder ein schmelzender Vogel unsichtbar seine Liebesmelodie tirilierte. Er horchte dem Spechtpochen und verfolgte den seltsamen Schwung seines Fluges, wenn er ihn absichtslos verscheucht hatte. Und sah ihn noch lange rüstig hintauchen zwischen den Schatten der Wölbung. Er begegnete Hirsch und Hinde. Der Hirsch, mit dem Blick eines Ernsten, Erstaunten, der plötzlich aus dem Dickicht herausbrechend, in gereckter Gestalt vor ihm stand, lange unerschüttert äugend, zwei Tiere und ein Junges scheu zur Seite hinter sich.

Daß auch Einhart gleich völlig erstarrte.

Daß die Blicke beider, Einharts und des reich gehörnten, mächtigen Waldkönigs sich fest ansahen und immer noch hielten. Bis das erstaunte Tier, seine Gabelung vehement in den Nacken werfend, um seine Flanken zu schützen, ebenso plötzlich mit königlichem Sprunge gegen die Waldwirrnis sprang und den Seinen mit dem Geweih wie mit einer Pflugschar durch Ast und Dorne den Weg fegend' unter erstaunlich flüchtigem Zerkrachen und Zerbrechen von Buschwerk verschwand.

Einharts Leben war jetzt ganz innerlich und froh erfüllt, wie das Leben des Vogels im Schattenwipfel[75] oder das Leben der Woge im Meer. Der Strand breitete sich hellblendend, wenn Einhart die letzte Eiche des Waldgürtels zurückgelassen. Er stapfte tief im Sande auf den hellen Dünenhügel. Auf dessen leichter Höhe zitterten die Strandgräser. Dort lag vor ihm das weite, schäumende Meer ausgebreitet. Im Sande halbvergraben lag ein verfallenes Boot. Weit und breit war keine Menschenspur sichtbar. Hoch im Sonnenraum hing oder kreiste ein Seeadler einsame Runden, dann und wann einen kreischenden Wecklaut herniedergebend. Die glasigen Wogen hatten Schäume weit hinaus. Aus Nordosten flatterte der Meerwind. Und am Strande schlürften die Fluten breit heran, sich leise überstürzend immer und zurücksaugend, rieselnd und zerschäumend und neu zusammenrinnend. Immer wieder. Immer wieder. So weit der Blick Einharts an dem weiten Bogen des flachen Seestrandes sich verlor.

Wenn die Mittagsonne warm schien, hockte Einhart gewöhnlich auf einem Waldfelsen über dem Strande, auf den er vom Meere aus zurückgegangen. Einhart liebte den Ausblick von oben, den frohhebenden Eindruck der Wogenwelt aus der Höhe. [76] Von dort aus konnte er Johanna kommen sehen. Das galt Einhart eine Heiterkeit ohne Ende, wenn die verabredete Stunde heran war. Er hatte den Morgen lang beobachtet, skizziert, oder auch Malarbeit in Studien getan. Durch die silbernen Stämme von einigen Buchen dämmerte schon Johannas flatternde, lichte Gestalt. Sie ging in losen Ballisten und hielt einen Schal um die Schultern, der im Laufthauch winkte und wehte. Sie lachte von ferne, wie ein Specht lacht zwischen den Stämmen. Hören hätte es Einhart kaum können. Meerrauschen füllte mit ewigem Überstürzen und Branden, mit genug Lärm die sonnenlichte Strandeinsamkeit.

Aber Einhart sah es klingen in Johannas Augen. Johannas Augen sahen groß aus Dunkel her. Ihre sanfte, schlanke Lieblichkeit, so eilfertig heranstrebend, schien nicht anders, als zuzugehören zu dieser blendenden Dünenwelt zwischen Meerflutschäumen und Waldeswehen. Auch Einharts Blutwelle pulsierte dann singend, als wäre er die Seele dieser einsamen Welt von Dünen, von Wald, Felsen und Wogen.

Dann waren die Flatterwinde still. Die leichten Kleider warfen sie in den weißen Meersand. Johannas lieblicher, rosiger Leib enthob sich den letzten [77] Hüllen. Sie sprang mit anmutigem Gezeter alsogleich in die heranstürzenden Wogenschäume. Sie kreischte lieblich. Sie fiel von der Kraft der Wasserstürze gestoßen und tauchte nieder unter die Flut. Da konnte auch Einhart aufjauchzen derart, als hätte er plötzlich die Stimme eines alten Tritonen, so voll. Da konnte er in die hohlen Hände trompeten, als ob er in eine Muschel dumpf tutend hineinblies. Da konnte er hinter der ängstlich kreischenden Johanna drein in den flachen Wellen schaumsprühend springen, mit vollen Händen Diamanten in Sonne und Lüfte und über Johanna unbarmherzig schöpfend und sprühend. Daß der Seeadler neu aus der Ferne heranstrich, fühlbar erregt hoch über ihnen seine Kreise ziehend, und dann und wann wie im Zorn niederstoßend. Als wenn er jetzt dächte, daß weiße, große Meerwesen aus ihren Wasserpalästen in der Tiefe aufgetaucht, die sich dreimal selig vergnügten im strahlenden Licht.

Dann lagen die beiden lange noch im heißen Sande. Einhart war auf die Idee gekommen, Johanna tiefer und tiefer einzugraben. Sie sah allmählich aus wie eine neckische Sphinx. Kopf und Schultern und Brust hatte er freigelassen. Es waren [78] lauter törichte Spiele, die ihnen wohl Appetit machten, daß sie dann endlich durch den Wald eilig zurückgingen, Hand in Hand und lachend wie Kinder.

Und auch beim Mittagsmahle konnten sie nicht genug immer wieder alles sich erzählen, was ein jeder doch wußte, weil er es eben erst erlebt hatte.

Aber so ist ein Schatz auch das Erzählen von glücklichen Dingen. Es gibt einen Hauch wieder, wenn das Glück verloren ist, und das Glück hier erneuerte sich jeden Tag und jeden Tag den ganzen Sommer lang.

Nie war Johanna freier gewesen im ganzen Leben. Ihre Seele war wie eine Blumenwiese so reich bestellt und wie eine Meereswelle eilig. An Poncet dachte sie nie. Oder geradezu mit Ärger jetzt, wo sie Einhart so in Übermut um sich hatte und in wahrer, freier Sommerfreude.

Und Einhart hing leidenschaftlich an der wachsenden Ernte seiner Sommerarbeit, aber jetzt auch voll an dem Taumel, Johannas Schönheit allenthalben in Wald oder Wellen anzustaunen und sein zu fühlen.

11.
[79] 11

Einhart hatte ein paarmal an Doktor Poncet geschrieben, er möchte kommen. Aber Johanna war es sehr recht, daß trotz Poncets Zusagen den ganzen Sommer nichts daraus geworden war. Wie der Herbst kam, waren sie also in die Stadt zurückgegangen und kamen braungebrannt, robust auch ordentlich Johanna, in die alten Verhältnisse zurück. Das Leben am Meer hatte Johanna vollkommen in die einige Sicherheit zu Einhart eingewöhnt. Daß auch der Winter nur weiter ein tätiges, ruhiges, launiges Leben, und nichts anderes, hinging.

Poncet kam oft. Aber wenn Johanna jetzt eine Empfindung für ihn hatte, so war es die, ihn vor sich selber schützen zu wollen. Weil sie selbst sich in dieser ersten Zeit durchaus nicht mehr bedroht dünkte. Außerdem war Poncets Leben offenbar auch heiterer geworden. Poncet hatte eine große Herbstreise nach Amerika und Spanien gemacht. Er war danach auch in allerlei Arbeiten leidenschaftlich hineingeraten. Man hatte also allerseits die Hände voll zu tun, und Kopf und Herz, den ganzen Winter lang. Daß die nächste Frühlingsausstellung herankam, [80] so schien es, als hätten die Werke einfach die Zeit eingesogen.

Die Ausstellung enthielt ein paar große Phantasiestücke von Einhart.

Als Einhart in den Ausstellungssälen zum ersten Male herumging, Johanna mit einem blumigen Frühlingshut eigenster, freier Erfindung neben ihm, sahen ihn, den Zigeuner-Grandseigneur in Zylinder, und sie, diese kleine, wippende Dame mit hoher Krempe und viel Schleier, wie eine Herzogin von Goya so zierlich und so schnippisch, die vornehmen Besucher der Eröffnungsfeier alle mit sonderlicher Neugier und mit absichtlosem, heimlich lauschenden Umprüfen und Umwandeln an. Weil sie wohl von ferne ahnten, daß die lustige, launige Windsbraut von Seele hinter dem feinen, duftigen Stoff- und Schleierwerke, das sie jetzt licht und lose hüllte, einmal hüllenlos in die Bilder an den Wänden, die von Einhart irgendwo hingen, so recht eine kichernde Eva hineingesprungen.

Auch Doktor Poncet war oft dabei, wenn sie in der Ausstellung herumgingen. Poncet im beginnenden Frühling schon wieder heimlich gequält immer um Johanna.

[81] Aber Johanna hielt sich nur an Einhart. Johanna war das anmutig liebende Leben selber, so dienstwillig und zutunlich, wenn es um Einhart ging. Und Poncet desgleichen. Poncet war ganz und gar nur zu Einhart der liebende Freund, der den andern voll gewähren läßt.

Und Einhart war ein Narr, wie schon als Junge, wie immer bis ans Ende vielleicht, eingesponnen in allerhand eigene Schau und in die Froheit seiner Gesichte. Er ahnte ganz und gar nichts, daß mit dem neuen Sommer auch neu leise Unruhen in Johanna aufzutauchen begannen. Er ahnte ganz und gar nichts, daß Johannas sanftes Blicken nur erst wie zufällig noch, aber nicht gleichgültig mehr, über die wachsenden Versunkenheiten des verachtenden, bleichen Poncet hinglitten.

Einhart war unter der kindlichen Freiheit Johannas noch vollends wieder zum Traumnarren geworden. Er hatte jetzt gar keine Leidenschaft ans Leben, als die Ergreifung dessen, was sich als Gehalt und Gestalt aus ihm gebar. Das Hinauswachsen im Werk galt ihm alles. Das sonstige Leben nahm er lachend als Zier und Laune, die sich um seine Kunstarbeit froh herumrankte.

[82] Bei Doktor Poncet verhielt sich das ganz anders. Poncets Leben war auch durchaus nur ringende Arbeit.

»Aber was kommt dabei heraus für mich?« sagte er oft verbittert.

Es war kein Verklären und Finden von sich selber, und von dem, was ihm die Stunde je gewesen. Poncet hatte allerlei hinausgegeben. Aber der Wind hatte die Früchte noch immer fortgeführt auf Nimmerwiedersehen. Er lag ewig im Streite mit sich und im Harme um sich. Er sehnte sich beständig, etwas vom eigenen Leben zu greifen, geläutert, wie die Kunst es zu dauerndem Genüsse darbringt.

Und Poncet sah das Glück und den Glanz, die Einhart um sich und Johanna wob. Und wahrhaftig, Johanna wuchs jetzt noch mehr zu einem Wunder der Verklärung auch vor seinen Augen. Poncet konnte in diesen ganzen Frühlingsmonaten nur noch nagen und sinnen, wie er aus einem leidenschaftlichen, schwelenden Zwange nach ihr zur Ruhe käme?

Aber Johanna war innerlich bestimmt dawider gewesen, daß man ein gemeinsames Ziel für den Sommeraufenthalt fände. Und Einhart und Johanna [83] hatten also, wie das Jahr vorher, mit genug ausfüllender Arbeit und frohen Launen allein oben am Meere gesessen.

In den letzten Augusttagen kam dann doch Poncet nach. Es war eine sehr warme Zeit. Das Wasser des Meeres lag fast immer spiegelblank, wie eine weite, silberne Scheibe, über die die feinen Unruhen des Lichtes und des Windhauchs in lieblichem Wellengekräusel hinstrichen.

Johanna war ein wenig erschrocken gleich, als Poncet kam. Es hatte ihn von daheim fortgetrieben. Es hatte Zerwürfnisse gegeben. Aber Einhart freute sich. Poncet war unerwartet gekommen. Er kam sanft und entschuldigend, fast ein wenig demütig gegen Einhart.

Und die ersten Abende saß man gemeinsam auf dem verbleichenden Dünenhügel am Strande. Man sah zu, wie die Dämmerungen über die leuchtenden Wellen hereinsanken, wie durchsichtige Flöre. Man sah, ohne in Minuten Worte zu wechseln, verloren in den nachtlichtenden Nordschein.

Und wenn Einhart am Tage malen ging und erhaschen der Welt auf seine Weise, blieb Poncet in gelehrter Arbeit in der Stube im Fischerhause [84] zurück. Da war Johanna in kleinen Betriebsamkeiten oder in dem launigen Leben in Wald und auf den Wiesen dann für sich festgehalten.

Johanna mied es noch immer, mit Poncet allein zusammen zu sein.

Aber das Kindstum von früher war in ihr jetzt doch heimlich ganz eingeschlafen. Wenn sie mit dem Hirten unter den Schafen plaudernd stand, sah sie viele Male neugierig nach der Richtung aus, woher Poncet kommen konnte. Poncets überlegene, verachtende Männlichkeit lockte sie sehr. Poncet, der auch Ruhm hatte. Mehr wie Einhart. Der jetzt einer der Ersten zu gelten begonnen. Wo Einhart noch immer den Massen nichts bedeutete, die über seine Bilder nach wie vor Glossen machten. Auch die meisten Kritiker noch, die an das Durchschnittliche gewöhnt, nie die leidenschaftliche Inbrunst der Seele nach dem eigensten, erlesenen Glücke erfahren haben. So geschah es, daß bald in dem Zusammensein der beiden mit Poncet allerlei Verstecken aufkam.

Poncet stand schließlich mit Johanna schon manchmal am Morgen im Lichte auf der Kleestoppel unter den Schafen, aber nur neckisch und kindlich scherzend noch immer.

[85] Dann war doch einmal ein Abend gekommen, der ganz anders war.

Schon der Tag war schwül gewesen. Gegen Abend war in dräuendem Zuge vom Lande her ein Gewitter, Sturmvögel kreischend voran, mit grellen Blitzen und wildem Erdröhnen ins Meer hinausgezogen. Dann lag der Himmel, als die Nacht begann, wieder wundersam reingefegt und glänzte aus Mitternacht her blutrot nach.

Es war gegen acht.

Einhart hatte gleich versucht, von den auserlesenen Farbenspielen der sich enthüllenden Nachtwelt und ihren langsam erglühenden, perlmutternen, finsteren Tinten einiges auf Studienblätter einzufangen. Er war deshalb auf der Höhe, nahe dem bekannten Felsen, sitzen geblieben.

Johanna, die mit Einhart allein am Meeresstrande gewandert war, lockte es heimlich zum Meere zurück. Deshalb war sie von dem Felsen lautlos die Schlucht im Sande, ein wenig tastend, hinabgeglitten und stapfte staunend und geblendet in der unerhörten, aus sich leuchtenden Düsterpracht von Himmel und Meer und Dünenstrand.

Der Dünenhügel, über den sie schritt, ragte körperlich [86] groß und schaurig vereinsamt im fahlen Nachtdämmer.

Das Meer in der Ferne wogte blutrot in grellem Himmelswiederschein.

Der Himmel darüber dunkel gewölbt, ganz doch ätherklar.

Johanna hatte lange ohne Hut und mit nackten Füßen, weil sie bei Einhart Hut und Schuhe und Strümpfe hatte liegen lassen, einsam auf dem Hügel gestanden und trat nur zögernd Schritt um Schritt, in einem unbestimmten, hungernden Verlangen, den Schaumspielen am Strande näher und näher.

Aber wie sie so einsam erstarrt aufragte dicht am Wasser aus dem Meersand, das brennende Auge weit hinausgebannt, schienen die stürzenden, spielenden, schäumenden Purpurfluten immer düsterer und düsterer heranzudrängen.

Das lebendige, treibende Meer däuchte sich immer gewaltiger aufzutürmen.

Unermessene Körpermacht gewinnend, wuchs es düster empor, wie ein grausig sich nahendes Ungetüm.

Zwischen den glühen Purpurflecken gebaren sich,[87] ewig neu dem Blicke, höllische, blaue Dunkelheiten, wie schaurige Gründe, die sie bedrohten.

Draußen in der fernen Dämmerwelt wälzten sich tausend Gewalten in wildem Begehren. Und tausend Gewalten schienen aus Düsternis herzudrängen vom fernsten Meersaum in rasender Eile.

Aufrauschend sich hebend und in Schäumen zerberstend, spielten die Wogen wie bleiche Geister um einen Felsblock, der näher aus den Fluten sich hob.

Und in Johanna brachen ganz langsam die Halte zusammen. Als wenn sich in ihrem Herzen Stützen zerlösten und in dem finsteren Reichtum der drohend lebendigen Meernacht versänken.

Die Wogen zu ihren Füßen schlürften und schlüpften schon um sie, wie wenn tastende Wesen nach ihr griffen.

Die Wogen jagten und schäumten heran. Aber sie rannen unversehens noch einmal zurück, die Angst entlastend und wieder noch eine Minute Zeit gewährend.

In Johanna zuckte die Bedrohung in jeder Fiber. Das Spiel war um sie höllischer und höllischer geworden. Es hatte sie ein Frostschauer plötzlich durchrieselt. In dieser menschenfernen, erstorbenen, [88] purpurglühenden Einsamkeit stand sie allein. In dieser menschenfernen, erstorbenen, purpurblendenden Einsamkeit däuchten jetzt unzählige Blutzungen plötzlich sinnbetörend nach ihrem Kleidsaume zu lecken.

Mit grausiger Gewalt fing es an züngelnd und lechzend nahe zu wachsen. Die Blutzungen rings um sie leckten und schlürften und schlüpften schon nach ihren nackten Füßen, furchtbar begehrlich. Als wenn ein gewaltiger, unerbittlicher Riese nach ihr sich mit unentrinnbarer Sehnsucht zu sehnen begonnen.

Da hatte Johanna sich endlich nach Hilfe umgesehen. Da hatte sie sich noch einmal mit aller Gewalt gehalten, weil der Himmel darüber mit seiner sanften Rosenröte noch einmal flüchtig Trost gegeben. Da ging auch schon ein heiserer Schrei aus ihr aus in die nächtliche Meerwelt, wie Möven schrill und flüchtig rufen. Da hatte sie auch schon jemand von rückwärts schützend angerührt. Da hielt sie längst jemand sicher in seinen Armen. Da preßte jemand sie an sich, und preßte seinen heißen Mund auf ihre bebenden, zuckenden Lippen.

Johanna log sich vor, daß es Einhart wäre. Sie gab sich ganz hin. Leidenschaftlich. Sie wußte [89] es längst, daß sie es nun voll genoß. Sie wehrte sich nicht. Der Schrecken hatte ihre Seele ohnmächtig gemacht und innig brünstig nach einer Kraft, die sie hielte. Und die Kraft war gekommen. Die Kraft hielt sie jetzt ehern gebannt, daß Minute um Minute lautlos zerrann.

Einhart saß noch immer auf dem Felsen, um die farbige Düsterwelt einzusaugen. Er kam erst spät zum Strande, als alle Farben verblichen waren. Das Meer lag jetzt graudunkel unter einem bleichblauen Nachtschein.

Da kamen ihm Poncet und Johanna laut sprechend entgegen.

»Oh, das hättest du sehen sollen,« rief sie neckend, schon von ferne. »Einen furchtbaren Schrecken habe ich ausgestanden,« sagte sie richtig im Übermut. »Und wenn Poncet nicht kam,« erzählte sie dann in allem Ernste, »hätte ich eine Ohnmacht bekommen, wie in dieser Nacht das Meer furchtbar aussah!«

Poncet erzählte sehr gewichtig, daß das Gefühl Johannas, in solchem nächtigen Glutdunkel dem Wogenspiel und dem Himmel mutterseelenallein gegenüber zu stehen, die Seele völlig erschüttern kann, und daß es sich dabei wohl um das gehandelt [90] haben möchte, was die Alten einen »panischen Schrecken« nannten.

»Pan lechzte und züngelte mit tausend Blutzungen nach mir, als wenn die ganze Nachtwelt ein gräuliches Gespenst wäre,« sagte Johanna ganz eingesponnen neu in den Schreck.

»Ich habe genau den Eindruck auch aufgefaßt,« sagte Einhart zufrieden lächelnd, »und werde das einmal malen.«

»Denkt ihr denn, ich wäre umsonst so lange dort oben sitzen geblieben und hätte wie ein Felsen so starr in die seltsamen Verwandlungen hineingeblickt, wenn es mir nicht darum zu tun gewesen?« sagte er noch arglos.

12.
[91] 12

Sonderbare Menschen, die in den jungen Tagen im eigenen, summenden Blute es aus tausend Seligkeiten erhören, aber sobald das Leben mit seinen Erfüllungen begonnen, Schritt um Schritt scheu zurückweichen. Und die dann ewig stehen, den Blick in die Ferne, gar nicht mehr bereit, das Leben und seine Erfüllungen hinzunehmen, anders, als mit bitterer Verachtung. Und die immer neu zum Leben in plötzlichem Lustflackern sich hinwenden, immer tiefer enttäuscht und immer herrischer erregt gegen den Trug aller Trüge.

Solche Menschen sind wie heiße Glutstätten, in denen innige Brände doch nur schwelen, solange keine leichte, frohe Hand ihre Feuer beschwört und ihre Asche lockert. Und aus denen es, wenn eine hohe, liebende, sanfte Frau zur Opferstätte solchen heimlichen Erharrens getreten, emporbrennt wie ein Blühen. Der Harm ist zerstoben, wie noch ein wenig Rauch unter Flammen und Funken. Eine neue Jugend, scheint es, blüht. Eine köstliche Fülle reiner, stolzer, lodernder Feuertriebe wähnt sich das kranke Herz dem weihenden Blicke offen.

In solcher Menschen Tiefgrund klingt ewig die[92] Mythe von der Erlösung durch die Liebe. In jede neue Phase ihrer Weltverachtung nehmen sie diese einzige, sichere Verheißung mit, träumen immer neu den großen Traum, erharren und erhoffen neue Entfaltung. Denn jedes Menschengemüt auch, wie der Rosenstock und die Feuersglut entzückt sich im Entfalten und sich Darbieten. Und nie sind größere, letzte Erfüllungen, als sich weit und frei auftun und sich hingeben dürfen von Seele zu Seele.

»Aber vielleicht ist das im Truge ›Leben‹ der letzte, tiefste Trug!« sagte oft Poncet.

Mit solchem Zweifel in der Seele ist es nicht gut, einem andern Freund sein. Flüchtig sind die goldenen Fäden, in denen Baum und Früchte am Sommerende eingesponnen. Sie zerreißen leicht vom leisen Windhauch. Die goldenen Blätter, vom Lebenszweifel unversehens gelockert, wehen hin. Es gibt kahles Land und astkahle Bäume, vom Winde zerweht, und kahle Seelen von der Verachtung verarmt. Und immer ferner verklingt solchen Seelen das sanfte, heilende Wunder.

»Auch das Weib ist nur eine Verheißung, die sich selbst zum Truge geboren,« sagte Doktor Poncet. »Und unter jeder Herzflamme, von Himmelsbränden[93] voll, lauert der leere, finstere Abgrund, lauert die Zeit, und lauert das Sich-selbst-entführt-werden, wie Blatt um Blatt der Baumkrone im Winde.«

Doktor Poncet war immer zernagt nach dem Weibe. Er war als Jüngling ein Menschensüchtiger gewesen. Er hatte überall hin mit Schwärmerblick neue Glückslehren gebracht. Er hatte auch, wie alle großen Schwärmer eine Zeit wähnen, es einmal ganz gefunden geglaubt. Er hatte das Leben nur zu sehr geliebt, wie er es noch träumte. Und Schritt um Schritt hatte das Wirkliche gegen ihn gestritten.

Wenn man ihn genauer hätte einsehen können, das heiße, heimliche Erlebnis seiner Seele seit Jugendbeginn, so hätte man einen weiten Traumgarten gesehen, worin der Wolf Wirklichkeit immer neu alle Blumen geknickt und alle Bäume umgebrochen.

Die Leidenschaft war immer heiß gewesen. Ein Weib berühren, galt schon dem Jüngling als verzehrendes Leiden. Allmählich hatte er die Liebe und alles Ding in der Welt käuflich und zur Gewohnheit und Notdurft erniedrigt gesehen. Er hatte sich [94] immer wieder in unbegreiflichem Zwange hingeworfen. Die Gewohnheit Ehe, die Gewohnheit Kinderliebe, die allzu reiche Fülle Wiederkehr auf allen Wegen, daß auch die Leidenschaft, die sich ein höchstes Wunder wähnte, sich an Ecken und Enden profan gebärdete, daß das entzückteste Preisen der Seele nur Worte, nicht Wahrheit, nur Flucht, keine Dauer darstellte, das hatte er längst in sich genommen und trug mit solchem entweihenden Grundakkorde sein armes Leben.

Und immer wieder war für ihn doch neu die Rätselblume des Hungers nach dem Weibe vor sein Auge emporgesproßt. Er mußte jetzt Johanna zu sich locken. Er mußte neu an die Erfüllungen glauben. Er fühlte es wieder wie eine Erlösung. Es däuchte ein ehernes Gesetz. Unentrinnbar. Er mußte.

Und Doktor Poncet war ein zersetzender Liebhaber. Als der Winter in der Stadt dahinfloß, fühlte sich Johanna ganz verstrickt.

Einhart liebte Johanna mit sanfter Güte. Er hing an allen ihren Handreichungen. Er liebte ihre junge, frohe Gestalt. Er hatte jeden Zug ihres Wesens in seinen Bildern licht gemacht. In ihm [95] ruhte sozusagen und wuchs das Bild, das sie sich selber geworden war.

Der Mensch selber weiß so wenig, was er an sich darbietet. Und unversehens kommt einer herzu, der ein Lied zur Dauer aus ihm anspinnt. Da hört sich die Seele plötzlich klingen und will es kaum glauben, daß so das Lied des eigenen Lebens hallt.

Johanna ging wirklich ganz im Wundergewande, das Einharts Reichtum ihr wie einen Zaubermantel umgewoben. Aber um so mehr lockte sie jetzt der verzehrte Glutblick des »armen Heinrich.«

So geschah es, daß Johanna das Blut glühen fühlte, wenn sie den arglosen Einhart mit Poncet zusammen sah. Poncet kam jetzt auch, wenn Einhart nicht daheim war. Man besprach sich heimlich und traf sich heimlich. Poncets Liebe war hart. Seine Illusionen waren flüchtig. Es griff das Gerippe des matten Unglaubens gar zu hart durch das weiche Fleisch seiner Begehrung. Er hatte es oft in den Fingern zucken wie herrische, böse Laune, sobald die Phantasmagorie, die sein Begehren geweckt, in der Erfüllung untergesunken. Aber je jäher die Härte seines Wesens und seiner Enttäuschung [96] aufquoll, desto jäher und süchtiger wurde ihm Johannas Wesen Untertan.

Die Liebe Einharts war eine zärtliche, sanfte, frische Weise. Grade in Einharts Wesen lag Liebe und Begehren wie Heiterkeit. Auch im Rausche der Sinne spielten die Genien um das Lager zweier Liebenden. Jetzt in den Wintermonaten in den heimlichen Beziehungen zu Poncet gewann Johanna einen Zug fremder Schicksalshärte in ihren Blick.

Einhart begann ihre Seele langsam durch zu schauen. Zuerst hatte er Johanna noch in arglosem Scherz mit einem Satan im Hintergrunde gemalt. Und auch, daß er sie als eine junge Hexe im Morgengrauen fortgeführt, hatte seine Seele noch ganz ohne Wissen, gleichsam im Traumspiel vorweg getan.

Johanna verwahrte sich gleich dagegen. Sie fand die Bilder abscheulich. Sie hing sich an ihn und weinte einmal, und mochte gar nicht sprechen. Sie war sich heimlich wie erraten vorgekommen. Obwohl Einhart ganz und gar nichts wissen konnte. Denn alles war noch immer völlig geheim gewesen, was Poncet betraf. Aber diese feinen, schauenden Wesen, die das Denken gar [97] nicht brauchen, um die treibenden, Mächte auszuspüren!

Einharts beginnende Wissenschaft scheute gleich vor allem offenen Ausdruck zurück. Wie er zu erkennen begann, bekam er auch nur seltsame Linien der Vernichtung in seine gelbgrauen, hageren Backen. Und der Blick seines Auges glomm in Erstaunen.

Johanna kam immer zu ihm mit Demut wie Liebe. Sie schien ihm manchmal, wie etwas abzubitten. Aber er hätte zuerst und noch lange seinem Mißtrauen keinen Raum in sich, nun gar Worte geben mögen. Auch zu Poncet blieb er immer gleich freundlich. Daß der ganze Winter ungestört hinging.

Erst einmal gegen den Frühling kam es zu einem wirklichen Erschrecken. Daß die Gewißheit Einhart gleich wie eine Kralle anfaßte. Johanna war schon in sonderlicher, verschleiernder, erregter Demut und in nicht weniger flatternder Frühlingspracht mit irgend einer sehr plausiblen Absicht, Einkäufe oder dergleichen zu tun, ausgegangen. Sie war, den Hut frischer Springen von goldenen Stäbchen gehalten über breiten Dunkelscheiteln, zu Einhart getreten mit zärtlichem Auge, das nur ein wenig noch unsicher [98] nebenher sich zu schaffen gemacht, und hatte dann in einer innigen Anwandlung Einhart plötzlich leidenschaftlich auf den Mund geküßt, was sie aus freien Stücken noch nie getan.

Einhart durchfuhr es gleich sonderbar. Aber er hatte, versunken in die Pinselstriche für die große Tafel, die er für das Speisezimmer der Gräfin Schleh eben vollendete, die Sache doch noch einmal vergessen.

Da war der Abend herangekommen, wo sich Johanna noch immer nicht einfand. Und auch Poncet, der um diese Zeit gewöhnlich kam, war ausgeblieben.

Einhart lebte es plötzlich sicher und mit dem ganzen Wesen, was sich jetzt im Grunde der Seelen zugetragen. Jetzt zum ersten Male schoß auch Entschluß und Wille auf.

Er hatte sich im Dämmer in seinen Gesellschaftsrock geworfen und hatte die klare Absicht, in eine fremde Gesellschaft zu gehen. Da kam Poncet, bleich, offensichtlich verlegen, erregt die Treppe empor und trat ein. Einhart war stumm und scheu. Poncet redete zuerst auch nicht. Er wagte auch nicht, nach Johanna zu fragen. Wie er es doch tat, nachdem er sich das große Bild Einharts lange [99] stumm angesehen, gab Einhart eine harte Antwort.

»Du wirst es besser wissen, als ich!« sagte er nur, während er sich an dem einsamen Lichte seine Zigarette anglomm, ehe er das Licht rücksichtslos löschte. Es war eine sehr peinliche Pause, die Einhart und Poncet, beiden gleich, einen heißen Schmerz im Blute zum Aufbrennen brachte.

Sie waren dann schweigend die Treppe hinuntergegangen, weil Einhart gewissermaßen sich ganz ohne Anwesenheit Poncets zu fühlen schien und seinem Vorhaben wie allein nachging.

Einhart wollte um keinen Preis, daß jetzt noch gar Johanna dazu sich fände.

So schritten sie stumm nebeneinander einige Straßen lang, bis Einhart mit flüchtigem Gruß in das Treppenhaus der Gräfin Schleh verschwand. Er wünschte jetzt durchaus nur mit dem Rauch einer feinen Zigarette und dem sanften Geplauder der alten, feinsinnigen, gütigen Frau am Kaminfeuer eine Stunde lang sich aus den Trümmern seiner zerbrochenen Zutraulichkeit zu sich zu finden.

Wie er dann heimkam um Mitternacht, lag Johanna schon im Bett. Sie wagte nicht, ihre Augen [100] aufzutun. Tat nur, als wenn sie fest eingeschlafen und sah scheu und zärtlich durch die blinzelnden Lider zu Einhart hin, der, die kleine Kerze in der Hand haltend, im Zimmer sich noch eine Weile zu tun machte.

Einhart schien ein wenig eingesunken fast. Demütig ging dann und wann ein Lächeln aus seinen beglänzten Blicken.

Einhart konnte noch immer lächeln, wenn er nagende Schmerzen hatte. Und auch wenn er sich recht aus der Tiefe selber sonderbar dünkte.

13.
[101] 13

Johanna erwachte spät. Einhart stand bereits vor der Staffelei und malte versunken und mit einem Blick voll demütiger Tiefe. Johanna erkannte an allem, daß seit gestern eine völlige Verwandlung mit ihm vorgegangen. Sie hatte das Feingefühl, was aus der stummen Geste der Dinge mehr erhört, wie aus Worten. Wie es manche Frauen haben und auch manche Tiere. Sie wissen ohne weiteres und unmittelbar, was die Glocke geschlagen hat. Johanna begriff also plötzlich mehr, als ihr lieb war. Sie war ein sehr zartes Geschöpf voll sanfter Anmut. Die Eulenaugen waren noch immer groß und voll gütigen Staunens. Das kleine, schluchzende Lachen konnte nie aus der Rolle fallen.

Als Johanna die Augen aufgetan, hatte sie gleich gespannt zu Einhart hinübergeblickt. Und sie betrachtete ihn lange, ohne daß er es merkte. Seine Verlorenheit in die Arbeit fiel lautlos wie ein Schicksal über sie her.

Früher, wenn sie erwachte, hatte Einhart manchmal wohl, wenn es Frühling war, mit Scherz und Späßen vor ihrem Lager gestanden. Oft hatte [102] er sich dann schon eine Weile damit vertrieben, ihre schlafenden Mienen belustigt anzusehen. Oder bunte Blumen auf dem Kopfkissen um ihren dunklen Kopf auszubreiten und aufzubauen. Einmal hatte er sich ein Vergnügen daraus gemacht, ihren geschlossenen Augen einen großen Spiegel vorzuhalten, daß, wie sie die Augen auftat, sie sich selber zu eigener Verwirrung vor sich sah und einen Augenblick nicht recht ihre Lage begriff.

Das waren so Einharts Neckereien gewesen.

Einhart hatte so auch die drolligsten Skizzen von Johanna als Schlafende gemacht, Zeichnungen und in Farbe. Sie sah darauf ganz wunderlich aus. Die vollen Wimperkränze auf dem unteren Augenrand gaben ein solches Gefühl von Schattendunkel in die jungen, schmalen, im Schlafe eigenwilligen Züge, daß man eine wahre Spannung empfand, diese weichen Lider und schweren Wimpern sich heben zu sehen und die Seele sich auftun. Wie vor eine Knospe voll unbekannten Blumenlebens gestellt, die bald springen und das heilige Lebensgeheimnis verraten will.

Jetzt stand Einhart ganz vertieft vor seiner Arbeit und hatte keine drollige Miene zu ihr gewendet. [103] Sie sah an der Art seiner Haltung, daß in ihm nicht Freude, daß eine Last in seiner Seele war.

Johanna quälte ein furchtbares Gefühl. Sie lag und rührte sich nicht. Und weil auch Einhart seine Stellung in nichts änderte, ließ sie die Augen neu sich schließen und sank in Halbträume.

Es kam ihr plötzlich ein harter Schrecken an. Es däuchte ihr, doch noch wach, als wenn sie eine volle, reife Ähre aufragte, goldhell in den Sommerhimmel und voll Glanz. Aber der Himmel wurde eine drohende Finsternis. Und ein Fegewind, der heranbrauste, riß und zauste sie hin und her und vertrieb unbarmherzig Korn um Korn. Daß sie sich im Treiben der bedrohlichen Mächte dünner und dünner schien, ein ärmlicher Stab und endlich ein dürres Nichts.

Johanna hatte die Augen jetzt wieder fest geschlossen und war in das Nichts ganz hineingeschlafen.

Einhart trat zu ihrem Lager, von ihrem Sorgenatem angeweht und aus seiner Versunkenheit geweckt. Johanna hatte im Schlafe aufgeseufzt. Aber wie er sie jetzt lange zärtlich ansah, erwachte sie nicht, nur immer tiefer in Träume gebannt, die [104] ihr vieles sagten, was die Seele sich nicht frei eingesteht.

Da träumte ihr ein Traum, der wie eine Erstarrung über ihr stand. Es träumte ihr, daß man ihr das Gewand, die runden, vollen Flechten ums Haupt, ihr ganzes, reiches Schwarzhaar und ihre Jugendfülle und knospende Gestalt, daß man ihr alles genommen. Und daß sie irgendwo auf einem einsamen Hügel bar und bloß läge, mitten in einem einsamen Steingeröll. Nichts um sie, rein nichts. Nur ein unendlicher Horizont. Es war offenbar um sie ein Meer. Aber in einer ganz trostlosen Stummheit. Es war tief lautlos zum Hilferufen. Und Johanna wollte auch Hilfe rufen. Sie hatte schon gerufen, verhallend. Sie rief wieder, weil der Ruf erstickte. Und der Ruf hielt sich doch auch gleichsam in der Luft. Der Schrei war der Schrei der Stille selber geworden, der nun ewig in der Luft hing. Da begann sie die Angst immer mehr zu pressen. Denn auch die Wellen des Meeres schienen ganz starr.

Die lebendige Blutwelle der Schlafenden raste in Johannas Herzen so arg, daß sie sich umwälzte und neu zu stöhnen angefangen. Daß Einhart [105] wieder mit seiner ganzen Teilnahme an Menschen und Dingen zu ihr herantrat und sie ansah.

Aber Johanna erwachte nicht. Der Bann hielt sie wie mit Krallen. Sie war verödet. Es waren die Blumen und Träume von ihr genommen. So lebte sie es jetzt. Die schönen Kleider, in denen sie Einhart vor sich hingestellt, die Götterzeichen seiner Liebe und seiner Visionen, die waren längst abgefallen, weil sie verurteilt war. Es war noch immer niemand um sie. Es war noch auf demselben öden Dünenhügel. Sie war weit fort verschlagen. Sie war es gar nicht. Es war kein Leben. Nur lebloses Erstarrtsein. Nur bleiches Land. Nur vertrackte Gebilde von weißen Kieseln im bleichen, glühen Sonnenbrande. Brütende Launenspiele von einem ewigen Gestorbensein. Wie nur Knochen und bleiches Totengebein lag sie unter aller hand grinsenden Schädeln mitten auf dem Hügel. Das sengende Licht erstarrt. Die jagende Woge erstarrt. Der Schrei hing erstarrt in den Lüften, bleichend und ganz ohne Hoffnung.

»Ach! – – ach! – – ach!«

Johanna hatte die Augen jetzt wirklich aufgetan und sah in Einharts Blick und hing sich auch gleich[106] mit ihren nackten Armen an ihn. Denn Einhart hatte nicht mehr von der Stelle gekonnt, in seinem Verlangen, die Schlafende zu ergründen.

»Ach, mein Geliebter!« flüsterte Johannas erschrockene Stimme, traumbenommen und sanft flehend, und sie hing sich an ihn, verworrenen Haares, aus der Bleiche ihres geängstigten Lebens so inbrünstig aufweinend, als wenn Einhart jetzt gekommen wäre, ihr die Zauber, die er um ihr kleines, lustiges Leben gewoben, wirklich herunterzureißen.

In Einhart war ein Kampf. Eine widerwillige Blutwelle ging in ihm, die seinen Blick zu ihr starr und weh machte.

»Sinne nicht!« schluchzte Johanna hastig. Und sie hatte sogleich seinen Kopf an sich und an ihre weiche Brust gepreßt, indem sie Einhart mit aller Gewalt festhielt.

»Sinne nicht!« flüsterte sie leidenschaftlich. »Es kann besser werden! Laß uns bald fortgehen!« redete sie in Überstürzung von allerhand Bekenntnissen. »Auch du hast es mit verschuldet, selber,« sagte sie weinend. »Du hast mir zuerst den Satan gezeigt, und meine Neugier geweckt. Und hast mich nie [107] zurückgehalten!« »Mir graust vor den harten Lüsten!« weinte sie kläglich. »Geliebter, ruf mich noch einmal zurück! hilf mir, hilf mir!« bat sie und rang sie. »Ich will wieder werden, was ich durch dich geworden war. Ich will meine Schönheit wieder haben! ich will meine Schönheit wieder haben!«

Einhart war so einfachen und schlichten Anschauens, daß er nie dachte, daß die verklärende Liebe der Seele des Andern wirklich eine Elle zusetzt und sie erhöht über alle, die von dem Geheimnis nichts wissen. Deshalb, wie Johannas Selbstanklage so über ihn herfiel, konnte er nichts als verlegene Güte sein. Er war sanft, wie Moses vor Gott. Er sah durchaus nicht heiter aus, obwohl er doch lächelte. Er wußte es jetzt, was es hieß, diese Verzweiflung. Auch in ihm blutete es. Auch in ihm wollte eine Stimme furchtbar aufschreien, wie der reißende Sturm, der Äste und Blätter tummelt. Es war nichts Ruhiges in ihm. Und doch streichelte seine Hand die weißen Hände und die weiße Stirn Johannas.

Einhart wußte: die Frühlinge der Seele kommen selten. Und wer kann sie halten? Er wußte, daß Johanna jetzt eine nackte Büßerin sich wand nach [108] einem ewig Verlorenen. Und er begann sanft und treu in sie hineinzutrösten mit leisen Worten und sie in seine Arme sanft einzustricken. Er begehrte auch nichts zu wissen weiter. Er redete nur ganz zum Besinnen. Er war so weit gekommen, in alles einzuwilligen.

»Wir gehen fort,« sagte er. »Wir gehen ans Meer.«

Er war, wie sie dann schon ruhiger erwogen und besprachen, in seiner Art und Sachlichkeit so töricht, gar den alten, lieben Ort neu in Aussicht zu nehmen.

»Nein, nein! um nichts in der Welt dahin zurück,« brach Johanna, noch einmal ganz in die Erschütterung zurücksinkend, aus, »wo alles begonnen. Dort wird mich jeder Stein und jeder Ast treffen und schlagen. Alles wird mich erinnern und zermartern. Ich werde nicht mehr am Meere stehen können, wo der Bann mich blutig gegriffen.« Der Gedanke daran brachte Johanna geradezu in einen Zornesausbruch und eine wahre, reißende Inbrunst, daß sie Einhart noch leidensvoller wieder beschwor, ihr zu vergeben, so daß ihre Versicherungen der Liebe kein Ende fanden.

14.
[109] 14

Eigentlich müßten wir uns nach guter Mannesart schießen, mein lieber Poncet!« sagte Einhart lächelnd. »Aber Leidenschaften muß der Künstler wohl oder übel doch einmal anerkennen. Schließlich muß er davon leben,« lachte er, »wenn sie einen unter Umständen auch verbrennen oder zerbrechen.«

Einhart und Poncet besprachen sich mit Offenheit, erwogen das Sinnlose des Hasses oder auch nur Vorwurfs in ihrer Lage, und daß darin die Entscheidung Johannas allein der Sinn wäre, um den es sich handelte.

»Johanna hat sich entschieden,« sagte Einhart zu Poncet, als er zuerst bei Poncet eintrat. Und er sagte es noch ein paarmal dann. Und als die beiden von Poncet begleitet am Bahnhofe eine Weile noch vor dem Kupee standen, wußten und fühlten es alle drei.

»Johanna hat sich entschieden.«

So hatte auch Poncet in Gegenwart Einharts Johanna, die mit blassem, scheuem Gesicht vor ihm stand, die Hand zum Abschied gereicht.

Der Sommer am Meer verging wie ein hegericher[110] Tag, den milchige Dünste trüben. Man sah nie das volle Licht. Trotzdem lebte man freundlich, ja froh, kann man sagen. Hoffnungen schwammen nicht wie weiße Schäfchen am Himmel. Die Heidehügel erinnerten an viel ernste Dinge. Aber die schliefen im Blute jetzt. Die Arbeit brachte Ruhe. Johanna war unglaublich sorglich für Einhart. Einhart empfand ihre Güte, und daß sie den Gram wollte vergessen machen.

Man hatte sich bei einem alten Kapitänspaar eingemietet. Vor dem Hausgarten ragte wieder ein verwittertes Holztor im Bogen. Darüber blühten auch hier Heckenrosen. Johanna konnte jetzt stundenlang einsam sitzen, einen Rosenzweig in Händen, auf den sie beständig niedersah. Ihr Dunkelblick schien weich und kindlich. Vieles war hingegangen. Sie wollte nicht zurückdenken. Man badete jetzt nicht mehr wie im Paradiese. Einhart trieb Kurzweil und versuchte aus dem Ernst manchmal herauszukommen. Keiner gestand es sich ein, daß etwas in dieser Zeit wie verweht schien.

Einhart war eifriger wie je. Er unterhielt sich oft mit dem Kapitän. Er spürte Seemannszauber und allerhand Meersagen nach. Der Alte wußte [111] mancherlei. Er erzählte von Meerfrauen, und daß manche von ihnen in Meervögel verzaubert wären. Er sagte auch, daß alle Meervögel eine ewig sehnsüchtige Seele besäßen, und daß immer ihre Rufe sehnsüchtig klängen.

»Ja, was ist Sehnsucht?!« sagte dann Einhart, sehr ins Nachsinnen verloren, den des Alten Weisheit innig entzückte.

»Ja, mein lieber Herr Malersmann,« erwiderte dann der weißbärtige, breitbeinigstehende Kapitän, »wie soll ich Ihnen das wohl erklären? Sehen Sie, wenn ein Mensch nicht Sehnsucht hat, ist er eben ein langweiliger Schmeerbauch,« sagte der Alte listig und zog dabei seine gelbe Weste straff, um seine zähe Leibesgestalt zu zeigen. »Ich bin immer hübsch mager geblieben. Und hatte immer brennende Sehnsucht nach tausend Dingen draußen. Nun gar, wo ich nicht mehr zur See fahre. Brennende Sehnsucht! Was Sehnsucht ist, wollen Sie von mir wissen? Sehnsucht, das ist überhaupt der Lebenstrieb sozusagen. Sehnsucht – – ja – – das ist überhaupt die Begierde nach dem wahren Leben. Sehnsucht, das ist das einzige Zeichen, daß man noch nicht erstarrte, sozusagen! Na überhaupt, [112] wer wohl sagen könnte, was Sehnsucht ist?« sagte der alte Jens mit Nachdruck.

Aber Einhart begriff trotzdem, was Sehnsucht ist. Johanna begriff es auch. So standen sie oft unter dem Holzbogen und den hängenden Rosen, die den ganzen Juli und August blühten.

Und wenn sie mit dem alten Kapitän im Segelboote gegen Abend auf die spiegelnde See hinausfuhren, fühlten es beide heimlich noch mehr. Es war ein wahres Entzücken für Johanna und Einhart, so hinzuschießen über das drängende Wogenspiel in die hereinsinkende Sternennacht. Man hatte die Augen weit in die Ferne und hoch in die Nacht gewandt. Man sah nach rückwärts die silbernen Flutgarben rieseln. Man lehnte sich im Teerkittel an die Bootsplanke zurück, weil das Fahrzeug jenseits fast ins Wasser strich. Man sprach kein Wort. Man hörte die Wellen rauschen und gluckern und zerbersten. Und manche Woge kam unschuldig drängend heran, ehe sie mit Gewalt an Einhart und Johanna heransprang. Daß man das kleine, schluchzende Lachen Johannas mitten in das Wasserschäumen hörte.

Einhart hatte dann wohl einen Schmerz heimlich[113] dabei, weil das Lachen noch immer klang wie früher. Nur daß es jäher abbrach, wie sich ebenfalls an etwas Vergangenes erinnernd. Es war eine Zeit, die halbgefühlt forteilte. Und die Sehnsucht ging und kam ungesehen.

Dann kam es auch, daß Johanna am Ende dieser Zeit zu kränkeln begann. Sie war ohnehin immer sehr zart. Und die allzu kräftige Luft am Nordmeere hatte ihr zuerst schon den Schlaf geraubt. Einhart war sehr böse immer, daß sie nicht gleich alles tat, um zu Schlaf zu kommen. Aber sie war darin unverständig wie alle Frauen. Und sie hatte also die kleinen Mittel, die er manchmal anwandte, um zu große Regsamkeit einzuschläfern, immer noch bittend ausgeschlagen. Bis auch große Appetitlosigkeit und eine nicht ganz natürliche Sanftheit kam.

Johanna war gegen das Augustende wirklich in einem Zustande von Schwäche. Auch ein leichter Husten plagte sie. Einhart versuchte jetzt alles mögliche. Er ließ Früchte und Leckeres kommen. Auch Frau Kapitän Jens, die an einige Heilmittel felsenfest glaubte, versuchte zu helfen. Sie hatte sogar einen alten Fischersmann mit einer mächtigen [114] Hakennase und Lederbacken voll harter Stoppeln und harten, langen, schwieligen Händen zum Besprechen der Krankheit einmal heimlich und sehr feierlich an Johannas Bett treten lassen. Nichts hatte geholfen. Der Sommeraufenthalt endete schlimm. Man konnte mit knapper Not in die Stadt zurückfahren.

Der Brief Einharts an Poncet, worin er ihr Kommen ankündigte, klang schon sehr sonderbar. Einhart schrieb, daß er nicht wüßte, was denken? Daß Johanna einfach nichts mehr wäre, ganz und gar nicht mehr Johanna, nur ein Schemen von Johanna, nur ein bleiches, liebliches Schemen.

Nun, wie sie dann ankamen, Johanna in viel Kissen gebettet, da sah auch Poncet, daß es die einstige Johanna nicht mehr war. Sie lächelte ihm sehr freundlich zu. Sie reichte ihm die kleine, welke Hand wie einem guten Freunde. Poncet war ganz nur Güte und Erschrockenheit, und seine Art jetzt hatte Wahrhaftigkeit genug. Das sah Einhart.

Und Einhart war kein Mensch, der sich dünkte, Sünden vorwerfen oder vergeben zu können.

»Wir alle begehen sie, ein jeder auf seine Weise.[115] Und vergeben tut sie der Tod und das dahinter,« sagte er.

»Eine Schuld gegen mich, lieber Poncet!« sagte Einhart, wie Poncet sich noch einmal wieder vor ihm allein seiner langen Heimlichkeit wegen anklagte. »Das Aufrichtigsein! – – ja, ja! – – wenn das immer so einfach wäre, und die Seelen nicht doch manchmal wie harte Mauern. Aufrichtigkeit! natürlich – sehr schön! es ist immer eine hohe Forderung. Eben weil sie oft gegen manche mächtigeren Umstände vergeblich streitet.«

So hatte Einhart tatsächlich alles Vergangene noch vollends gegen Poncet in Vergessenheit gebracht. Und Poncet und Einhart waren wieder Freunde, und wie Freunde um Johanna. Und Johanna saß bleich und abgemagert in ihren Betten, hatte ihre Eulenaugen jetzt wie eine kleine Hungrige aufgetan und konnte beide manchmal aus einem langen, lautlosen Insichsein plötzlich seltsam anlächeln.

15.
[116] 15

Einhart schaute die Seele der Dinge. Und er kannte keine Gebote und keine Verschuldungen. Er sagte es immer wieder, daß die Seele der Dinge alles Geheimnis einschlösse, unbegrenzt und frei. Und daß nichts weit und grenzenlos bliebe, auch im Menschen, wenn nicht seine Seele.

»Das ist ein großer Geist,« konnte er von dem oder jenem sagen, der sich in der Kunst ausgesprochen, »und eine kleine Seele.«

»Der Geist ist immer Sklave,« sagte er. »Die Seele ist das Ungebundene in uns und überall.«

Er sagte auch: »Dein Geist und deine Entschlüsse und dein Wille und was weiß ich? flattern wie Möven ängstlich, und halb eigen, halb von irdischen Winden getrieben, über das große, freie, unbegrenzte, wogende Meer ›Seele‹.«

Und er lächelte auch immer und sagte: »Wo wir Schauenden und Schaffenden es schöpfen sollen? Dort, wo die großen Ahnungen anwogen und unsere Ufer bedrängen. Und wer könnte wohl sagen, welche treibende Woge?«

»Seele« schaute er. »Die Welt ist Seele,« sagte Einhart. Er philosophierte aus seiner Herzschau.

[117] »Die Welt ist Seele. Nicht, wie die Alten gesagt: die Welt ist Vernunft.«

»Gar nicht Vernunft ist sie,« sagte Einhart. »Nun gar das, was wir mit dem Gran Rechensinn, dem Verstande, können und erkennen. Diese Triebe sind die schlimmsten Flüchtigen, die begrenzter noch wie Möven und kleine Seeschwalben flattern, nur hinschießen auf den Bissen und dann verjagt sind, morgen schon andere.«

»Nichts dergleichen!« sagte er, »nur Seele! das weite, tiefe, wogende Meer. Die große, grenzenlose Flut. Auch in uns ist Seele allein die Kraft und allein die Erneuerung. Wenn wir von unseren Erstarrungen uns wieder jung waschen wollen, wohin sollen wir tauchen? In unsere Seele.«

Einhart erschaute sich immer mehr das mächtige, reiche Unbekannte in sich und der Welt, aus dem alle Frühlinge wie eine flüchtige Phantasmagorie auftauchen, und alle Schönheit in Leib und Auge, und alle Liebe ins Blut.

Und Einhart schaute Seele und war Seele.

Das konnte man in der Zeit erleben, wo Johanna in dem Winter daheim sich ganz und gar nicht erholen konnte. Auch Poncet hätte es jetzt [118] voll begriffen, wenn er es nicht schon gewußt hätte. Poncets Organ war gemeinhin immer das Wissen, womit er sich viele Menschen und Dinge scheinbar nahe brachte, und das Einhart tatsächlich nicht kannte. Aber Poncet liebte jetzt die Weise, wie Einhart mit der Seele der Dinge und der Menschen umging. Poncet hatte längst auch angefangen, sich zu sehnen, ins Meer der großen Ahnungen einzutauchen und aus aller engen, irdischen Notdurft heraus dem ursprünglichen Quelleben sich zu nahen.

Einharts Wesen war in diesen Wintertagen voller göttlichen Frohsinns. Er hätte können auch traurig sein, ergriffen von dem Anblick Johannas. Johanna war bleich wie ein zarter Engel. Sie hustete viel. Ihre Hände waren wie weiße Hände einer Heiligen. Ihr Lächeln war ein wundersames Aufflattern, körperlich schwach und gebunden, wie ein verschlafener Falter im Winter, der, vom Sonnenstrahl aufgeweckt, hastig flattert, nicht um zu fliegen. Aber Einhart war nicht traurig.

Johannas Bett stand im Atelier fast mitten. Sie saß in feinen Kissen, weiß in feine Spitzenleinen gehüllt. Ihre Eulenaugen waren im bleichen Gesicht noch tiefdunkler und sehr groß. Und man [119] fühlte, daß ihre Seele viel ruhelos schweifte. Eine große, unbegrenzte Frage sprach aus ihrem Augenglanz. Die Wangen waren abgezehrt. Der Mund rosig und blank. Wie Perlen die kleinen, jungen Zähne. Und das Lachen oft nur abgerissen, jäh. Wenn auch die Seele aus den Augen noch für sich lange wie verlegen zu lächeln schien.

Einhart lachte zärtlich um das Bett herum. Er mußte seine Staffelei so stellen, daß Johanna alles sah, wenn sie neu aus ihrem Hindämmern die neugierigen Blicke auf der Leinwand ruhen ließ. Das war durchaus ihr Wunsch. Einhart malte jetzt allerlei Schalksgeschichten voll bunten Lebens.

Und wenn Poncet hinzukam, stand er oft lange neben Einhart stumm. Als wenn er es erhören könnte jetzt, so däuchte es ihm, wie in Johanna die Möven und Seeschwalben der Wünsche und des Wollens immer noch hinflogen über eine weite Wogenwelt, nur jetzt rein geworden, wie aus der Göttin Händen aufgeflogen.

Einhart war immer arglos heiter auch vor Poncet. Nur wenn der Arzt kam, begannen sich in den fragenden Augen Einharts tiefe Ängste zu erheben. Aus seinem Dunkelblick konnte es auch wie [120] Trotz manchmal aufspringen, wenn Johanna schlief, und er mit Poncet allein einen Augenblick die Zukunft ermaß. Da war Härte und Anklage in jähem Aufwallen und Verwünschung um eine hinschwindende Seligkeit in ihm flüchtig lebendig, mit ängstlichem Sorgenblick nach der Schlafenden hin.

Poncet war in solchen Zeiten der Tröstende. Er log dann sogar. Er meinte noch immer, daß der Frühling es bringen könnte, was der Winter versagte. Poncet erwies sich in der Zeit als Freund. Er, in dem immer noch nicht die Schuld ganz getilgt war, daß sie manchmal in ihm heimlich aufbrannte und sein Wesen in eine fremde Sanftheit in dem leise durchatmeten Raume wandelte.

Einhart sagte oft zu Poncet heimlich: »Ist Johann nicht schon wie eine Vergessende? Rein und grenzenlos? Ihr Lachen klingt mir manchmal, als wenn es von jenseits des Meeres noch zu mir dränge. Ich könnte weinen und lachen zugleich, wenn ich es höre. Ich könnte beständig sitzen und harren auf diesen überwindenden Laut.«

So war es. Johanna zog schon hinaus. Sie zog schon mit hohen Masten auf dem weiten Meere und konnte ferne sehen und tief hinein ins eherne [121] Klare. Sie war nicht zurückzuhalten. Es konnte wie ein Prunken hart aus ihren Worten die Wahrheit gehen. Und wie ein Festzug aus ihrem Gefühl ihre Losgebundenheit von allem. Obwohl sie immer leise und lieblich sprach, nicht laut. Solche seltsame Gehaltenheit drang aus ihr auf. Aus ihren Träumen manchmal, auch aus bloßen Träumereien oft, die Einhart und Poncet gleich unbarmherzig anrührten wie eisige Geschenke.

16.
[122] 16

Und solche sonderbare Zeichen kamen immer mehr. Johanna war gegen den Frühling viel wach mit weiten Augen. Sie redete viele Dinge ohne alle Scheu. Das war für Einhart allmählich noch eine rechte Prüfung.

Wenn Johanna Einharts Hände manchmal in ihre schlanken, bleichen, kaum noch schweren Hände nahm, sann sie allerlei Geheimnis nach, besonders dem Laufe ihres eigenen Lebens. Sie war in solchen Momenten eigentümlich streng. Sie fragte dabei nach niemand, der hinter ihren Erkennungen zurückblieb.

Einhart hatte jedesmal, wenn in Johanna solche Anwandlungen aufkamen, ein Gefühl, wie wenn eine ganz Unbekannte und Fremde vor ihm läge. Ihre Hände hielten sich bleich und heiß in seiner Hand, und die Pulse hämmerten sichtlich in den feinen, weißen Schläfen.

Einmal hatte sie zu erzählen begonnen und hin und her zu sprechen von Poncet.

»Am Meere hat es begonnen,« sagte sie ganz hart.

Einhart hatte nur gedacht, daß sie die Krankheit meinte.

[123] Wie sie es an Einhart merkte, weil sie jetzt außerordentlich schwach war, daß er die Worte nur gleichgültig hingenommen, versuchte sie lauter und deutlicher zu sein.

»Nicht doch!« sagte sie ein wenig unwillig. »Ich meine das Jahr vorher! Die Nacht! Ich meine doch die Nacht, wo du mich einsam am Meere gelassen. Wo du auf den Felsen stiegst, um zu malen. Wo ich mutterseelenallein auf dem Dünenhügel stand und dann ans Meer ganz nahe herantrat, wo die tausend Blutzungen nach mir leckten.« – – »Hu!« sagte sie noch, wie sie eine Weile geschwiegen.

Einhart wußte noch immer nicht recht.

»Du kannst es mir glauben, daß es erst damals begonnen!« sagte Johanna jetzt ganz eindringlich.

»Ja, ja, an den Abend erinnere ich mich,« sagte Einhart beteiligt. »Ich weiß schon. Wo ich die Skizze in Purpurfarben malte und dann zu dir ans Meer kam.«

»Nein, nein, du kamst nicht. Du kamst ewig nicht. Das war es. Das düstere Meer war unsäglich in seiner Pracht. Unsäglich in seiner herandrängenden Begehrlichkeit!«

»In einer gräßlichen, blutigen Begehrlichkeit,«[124] sagte sie in sich hinein fröstelnd. »Alles war blutig und eintönig herandrängend und eindringend. Ich wäre schließlich doch zu dir geflohen, wenn mich nicht jemand im letzten Aufschrei der Seele gegriffen und meine Lippen lebendig geküßt hätte, bis ich wieder eine Menschenseele ganz fühlen konnte. O!«

Einhart war ganz stumm geworden.

»Einhart,« sagte Johanna, »wußtest du das?«

»Nein,« sagte Einhart.

»Sei mir nicht böse, Einhart!« sagte Johanna zärtlich.

»Damals war ich noch gesund,« sagte sie in demselben Tone.

»Du dachtest nie an solche Not,« redete Johanna dann lächelnd weiter. »Du warst immer nur aufs Verklären aus. Auf die Arbeit. Auf die Kunst. Poncet stand hinter mir.«

»Ja, wer kann sagen, warum es mir so süß dünkte, dich zu betrügen mit seiner Liebe?« sagte sie flüchtig hin.

»Ach, Johanna!« sagte Einhart.

»Weißt du. Betrügen ist ein dummes Wort,« sagte Johanna heiter. »Nein, nein, das kann ich dir mit aller Bestimmtheit sagen, daß ich Poncet [125] beständig ersehnt und begehrt hatte. Meine Seele hatte ihn an dem Abend ohne Namen tausendmal gerufen. Er hatte gar keine Schuld. Nicht die geringste. Ich hatte ihn gerufen. Wie ich diese wundersamen Düsternisse anstaunte, die mich blendeten und gräßlich schreckten, hatte ich nach Einem gerufen, der wie ein Räuber furchtlos sein, mich stark anfassen und mich sicher forttragen würde durch die tausend züngelnden Höllenfeuer. Mich! Mich! Mich!«

Johanna schwieg lange, ehe sie leise lachte.

»Ha, ha, ha, ha, damals war ich noch gesund,« sagte sie vor sich hin.

»Poncet mußte mich gehört haben. Mußte es gehört haben, daß ich beständig so gerufen hatte. Er stand zu rechter Zeit hinter mir und preßte seine heiße Glut auf meinen verbleichenden Mund und hüllte seine Seele wie einen Mantel um meine Seele.«

»Ja, Einhart!« sagte Johanna leise.

Dann redete Johanna noch leise Worte.

»Deshalb war ich immer heimlich an Poncet gebunden in allen Ängsten. Du hast mich damals nicht gehört, Einhart. Du kamst viel später,« sagte [126] sie ganz zärtlich, und als wenn sie nichts gesprochen hätte als arglose Dinge. Sie ließ auch Einharts Hände nicht los. Sie zog die Hände an ihre weiche, fast vergangene Brust. Einhart sah heimlich erschüttert ins Auge dieser wunderlichen Erzählerin, die unter ihren Lebensgeheimnissen hinwandelte und alle verhangenen Bilder in den Sälen ihrer Erinnerung wie gleichgültig enthüllte.

»O, du,« sagte Johanna einmal ganz plötzlich, »glaube mir, Einhart, du und Poncet seid aus zwei verschiedenen Himmelsstrichen. Du konntest mir nie zu Hilfe kommen. Aber einmal wird sich dein Kreis auch vollenden,« sagte sie seherisch. »Wer weiß, auf welche Art?«

Zu Poncet war Johanna immer gleich sanft. Aber sie redete jetzt, wo ihre Kräfte mehr und mehr abnahmen, zu ihm nichts Sonderliches. Und ihre Kräfte nahmen wirklich sehr ab. Rapide sogar nach den Aprilwettern.

»O! Einhart! Einhart! Einhart!« rief sie einmal plötzlich klagend und starrte vor sich hin, mit einem Blick, der kaum zu erwecken war.

»Was ist dir, Geliebte?« hatte Einhart ihr zuspringend gerufen, den der Klang tief erschrocken hatte.

[127] Aber Einhart kannte jetzt das Geheimnis. Denn alle Dinge sind in dem Schauenden, wenn ihm ihre Seele auch nur einen Hauch gab. Aus solchem Hauche wachsen sie auf in ihm zu klarem, vollem Bilde und Leben. Er sah jetzt alles, wie es immer zwischen Johanna und Poncet gewesen war. –

Eines Tages stand Einhart, Johanna beobachtend, stumm am Bette, wo auch Poncet saß. Der Puls Johannas war schwach und klein. Johanna hatte garnichts mehr gesagt. Den ganzen Tag war sie zu schwach gewesen. Nur als Poncet ins Zimmer gekommen, hatte sich Johannas Auge ein wenig aufgetan und dann lange nach ihm hingewandt. Der Husten hatte sie noch geplagt, aber verhältnismäßig gering gegen sonst. Und sie schien danach eine Weile auch wieder ganz ruhig und wie im Traume Zärtliches mit einer murmelnden Lippenbewegung auszudrücken.

Dann hatte sie mit großen Augen plötzlich aufgeblickt.

Da, wie Einhart so in die bleiche, ersterbende, aufstarrende Johanna hineinsah, erhob sie sich immer höher und mit dem weit aufgetanen Auge, wie wenn eine Nachtwandlerin aufstünde, allein dem [128] Monde noch zugewandt und ganz dahin gerichtet, woher ihre Seele jetzt noch Licht gesehen. – Und jetzt tastete sie mit zitternder Inbrunst nach Poncet, seinen Namen mit letzter Seele flüsternd, suchte und suchte sich an ihn zu drängen, seine Lippen heiß und verzehrt zu erreichen und mit dem letzten Atem der Sterbenden sanft anzurühren. –

Dann lag Johanna zurückgesunken, nur noch ein Hauch, nachdem sie darnach einen langen, tiefen Atemzug getan, der nicht zu enden schien. Sie hustete nicht mehr. Alle Unruhe und Krankheit schien von ihr genommen. Die Augen abgewandt, doch leicht aufgetan. Nach niemand hatte sie mehr gerufen. Nichts mehr begehrt. Man hatte ihr die trockenen Lippen ein paarmal mit Wein genetzt. Die Hände lagen still wie Blumen. Nach niemandem mehr hatte sie sie ausgestreckt.

Poncet und Einhart, die beide wie erstorben aussahen und fröstelten, merkten bald, daß sie vor einer Toten standen. Johanna hatte Leid erfahren, Sünde gelebt und Glück. Die Tote begann lächelnd auszusehen und wie frei schwebend. Einhart bebte. Poncet staunte in die Augen, die noch immer offen standen und doch jetzt leer schienen.

[129] »Drücke ihr die Lider zu!« sagte Einhart bestimmt, aber verhalten. »Nach dir hatte ihre Seele immer verlangt.«

Die Freunde umarmten sich und standen dann noch lange stumm versunken vor Johannas Totenbett.

[130]
Fünftes Buch
1.
1

Es ist lange her.

Die Zeit steht nicht still, und der die weichen Flügelschläge ihres Wehens nicht achtet, auch nicht.

Und es gibt tief im Menschen Einsamkeiten, wie ferne Öden, darin der Mensch ziellos umirrt. Und die draußen sehen ihn, und nennen ihn doch noch immer mit demselben Namen. Es gibt tief in ihm eine Welt der Trauer, wie in Schemengewändern gehen darin Rätsel um, ewig ist der Blick gebannt in dem Kommen und Verwehen derselben Düsterwesen, und nach außen blicken noch immer dieselben Augen mit einem Lächeln voll Güte und Einfalt, das wie bekannt deucht, und doch nur wie eine Maske eine ganze Welt Verwüstung und Trümmer verhüllt, wo kein goldenes Götterbild ragt, die Säulen zerborsten, die Tempelstufen umwuchert sind, und das Dach von Geiern umkreischt und den Stürmen aus den Tiefen der Sehnsucht offen.

Auch in Einhart war es so, daß die Geschehnisse und Dinge der weiten Erde lange nicht den schrillen Laut eigener, einsamer Stille, das Wehen und Jagen der Rätselgesichte, übertönen konnten.

Daheim war Einhart trotz allem immer ein süßes[133] Wort. Auch daheim war jetzt verhallt, wie eine Saite, die gesprungen.

Herr Geheimrat Selle war nicht mehr. Die Schwestern hatten geschrieben. Aber ehe Einhart herzukommen konnte, war es mit dem letzten Atemhauche des Herrn Selle am Ende gewesen.

Nun hatte Einhart nur erst unter einigen Verwandten gestanden, die ihn ganz fremd dünkten: Männer der Praxis, einer ein Richter und einer ein Fabrikant, und einer ein Arzt, und einer ein Geistlicher. Und wie wunderlich! alle auch untereinander fremd. Keiner dem andern als nur mit feinem Wort und gewohnter Höflichkeit eine flüchtige Minute durch Blick und Geberde verbunden.

Nur die Frauen dieser Männer erkannte Einhart wieder. Sie waren alle Mütter geworden.

Die Männer alle sahen Einhart mit Bevorzugung an.

Auch Rosa, die außermaßen sanft war, rund und behaglich schien, streichelte Einhart.

Alle waren für sich und doch auch angesichts der Trauer liebevoll und mit leisen Tönen.

Einhart war in einer sonderlichen Entartung aller Gewohnheit. Der Kreis Männer und Frauen in [134] dem Trauerhause, darin auch seine Jugendgefühle einst umgegangen, erschütterte sein Lebensgefühl, wie selten etwas. Einhart konnte so scheinen, als wenn unter all den trauergeschäftigen Menschen, Müttern und Vätern und den Kleinen, die längst jetzt unter ihnen heranwuchsen, und die alle in Dunkelkleidern herumstanden und huschten, er allein ragte, wie ein dunkler, stummer Schmerz, der aus fremden Augen lächelte. Gar nicht anders war Einhart. So erlesen und schlank und gehalten. Und wenn er einen ansah, so scharf fassend mit Blick und Sinn er auch dastand.

Einhart war innerlich dem unruhigen Treiben um ihn völlig abgewendet.

Als der Tag der Beerdigung herangekommen, war Einhart nicht zum Weinen und Wehklagen, weder im Vaterhause am Sarge, noch am Grabe erschienen.

Der Mann Katharinas, der Geistlicher war, hatte eine tönende, klagende Feier in dem Sterbezimmer begonnen. Katharina, die streng und fromm geworden, hatte Gesänge des Leides selbst zusammengesucht. Das Haus widerhallte von Wehmutsliedern. Die Tränen aller rannen. Und einer [135] jeden dieser zerrissenen Seelen war unterdessen unbegreiflich geworden, daß Einhart nicht unter sie getreten war.

Auch dann nicht, wie man den Sarg aus dem Hause und weiter in den Gräbergarten hineingetragen.

Es war Herbst. Die braunen Blätter trieben sanft um die schwarzen Kleider und wehenden Flöre. Goldene Fäden fingen sich überall. Die behaglichen Muttergestalten Katharinas, Emmas, Rosas und Johannas, eine jede sah sich voll Schmerz und doch heimlicher Verwunderung auch während der tönenden Worte, die schrill in die milchige Dunstluft des Herbstes und in die dunkelgrünen Zypressen am Grabe klangen, nach Einhart um.

Einhart war nicht zu entdecken, so daß man, wie man dann ohne den Toten heimgekommen war, ganz irdisch, mit kaum noch freundlichem Vergeben, ein wenig ungehalten redete.

Man wartete dann auch am späten Nachmittag unter den schwarzgekleideten Verwandten vergeblich auf den einsam fremdartigen Einhart.

Einhart stand noch immer jetzt draußen in Friedhofsnähe, als die Sonne schon tief hinabsank.

[136] Die Luft schwamm in sanften Rubinfarben. Die Zypressen ragten längst seltsam schwarz.

Einhart hatte alle Schuld neu gefühlt, die der Einsame an denen begeht, die sich nach ihm sehnen. Etwas von dem Sondergefühl heißer Begierde, noch einmal zu der Seele des Toten zu kommen, hatte er empfunden, als er in seines Vaters Totengesicht gesehen. Etwas von der ganzen Klarheit, daß darin ihm, dem einzigen Sohne, viel Liebe ewig verborgen gewohnt, hatte ihn angefaßt mit unbegreiflicher Kraft.

Da war es gewesen, daß er plötzlich ungesehen hinausgewandert aus dem Trauergetümmel, und daß er in dem fernen Eichwalde gestanden, und nicht recht aus Netzen und Schleiern, die der Tote um ihn gesponnen, mit denen ihn der Tote mit sich zog, herausgekommen.

Und wie nun die Erde eine weite Herbsteinöde mit blanken Goldgespinsten über den Stoppeln dalag, darin mitten der Garten der ewigen Schläfer rosig umflossen dunkel ragte, da hatte Einhart sich endlich wie in sinnlosem Triebe herangemacht, eilig zur Grube, die jetzt ein Totengräber mit magerem, grauem Stoppelgesicht zuscharrte, hatte ihm, dem [137] lächelnden Alten, selber ein wenig mit scharfem Augenglanz lächelnd, das Grabscheit aus der Hand genommen, sagend, daß er der Sohn des Toten wäre, hatte den Alten geheißen und mit einem Geldstücke bewegt, ferne zu gehen, und hatte mit eigener Hand Schaufel um Schaufel auf den Sarg zu werfen angefangen. Und als wenn er allein dem Toten der rückbleibende Hüter und Sorger wäre, ihn sanft und klar in die tiefe Sandhöhle zu betten, worein nicht Sonne noch Mond mehr scheint, hatte er die Erde über dem Sarge wachsen gesehen, und den Erdhügel ins Abendlicht getürmt.

Einhart stand dann lange. Die Schweißtropfen rannen ihm ums Auge. Keine Träne fiel. Die Stirn war glühend heiß. Der Blick eilig und innerlich. Einhart war kein feiner Herr jetzt. Er hatte den schwarzen Rock an den Zaun gehangen und stand in Hemdärmeln, wie ein Arbeitsmann auf das Grabscheit sich stützend.

Es war ganz einsam in dem Gräbergarten.

Auch der alte Gräbermann traute sich nicht heran.

Als Einhart endlich wieder die Kühle des Abends wehen gefühlt, war er in innerem Schauen [138] achtlos fortgehastet über die verbleichenden Felder, gleich hin zum Bahnhof und zurück an seinen Ort.

Es gab eine Aufregung unter den Schwestern. Wie man Einhart gar nicht wieder gesehen, war man einig geworden, daß man es mit einem unheilbaren Sonderling zu tun hätte. Man war gelinde gesagt durchaus enttäuscht.

»Die wenigen Male mit uns! und bei einem solchen Anlaß!« hieß es, »und er benimmt sich so!«

Einhart fühlte dann zu Hause in seiner Arbeitsstätte wieder auch etwas Liebloses in seinem Handeln. Deshalb schrieb er an Rosa:

»Ich bin ein Einsiedler, geliebte Rosa. Und außerdem bin ich ein Mensch, der über gewisse Dinge im Leben nie hinwegkommt. Ich sehne mich immer nach dem innersten Sinn. Der Sinn ist ein Geschenk, der uns wird aus jeder Trauer, wie aus jeder Freude. Aber den Sinn hört nur der, der ganz einig lebt und hinhorcht. Was mir vorgesprochen wird, tönt mir nur im Ohre, und ist mir wie ein Lärm, der mich stört im Erfassen.

[139] Seid nicht böse! Ich hatte an Vater viel abzutragen. Wie wäre das noch möglich jetzt? Aber mit Tränen vor den Leuten erst gar nicht. Ich konnte nur einsam noch einmal fühlen, daß dort unter der Erde einer ruht, der ich selber bin, und für den ich sorgen mußte, selber mit eigener Hand, soweit hier unter uns noch für ihn zu tun möglich war.

Ihr seid auch desselben Blutes. Deshalb werde ich euch immer lieben müssen. Es ist ein uraltes Geheimnis, alt wie die Hügel, alt wie Steine. Ich glaube, das Blut liebt sich selbst. Wer kann sagen, wie alles zusammenhängt?

Ich fühlte unter euch, daß uns das Leben ganz und gar ferne gebracht. Nichts von dem Trachten eurer Seelen, das nicht bei mir verhallte und von mir bei euch. Und doch liebe ich euch, als wäret ihr ein Bilderbuch meines Lebens, und Mutters und Vaters. Ich liebe euch sehr. Ich liebe euch wie ein Kind. Und ich werde euch, wenn ich ein ganz Alter bin, noch lieben, als wäre ich ein Kind.«

Das war jetzt Einharts Art und Einsamkeit. Und er arbeitete daheim auch in den Jahren in [140] derselben Art, wie er an der Grabhöhle seines toten Vaters Schaufel um Schaufel warf, versunken in den Sinn seines Tuns. Und er atmete und schaute und ließ die Zeit ungehört gehen Jahre um Jahre.

2.
[141] 2

Einhart war jetzt ein Mann von einigen vierzig Jahren. Er stand ganz allein, mehr wie je. Ein feiner Herr ging er einher, bekannt unter Freund und Feind wegen der Fremdheit und Eigensinnigkeit seiner Bildwerke und wegen seines vereinsamten, eigensinnigen Lebens.

Eines Winters kam es ihm inmitten seiner Farbenträume, inmitten auch der Regsamkeit in den Klubs und Koterien der Stadt, in denen er sich manchmal beobachtend und herumprüfend blicken ließ, plötzlich an wie einem Wandervogel, alles Bekannte zurückzulassen und fortzuziehen. Es waren neu allerhand Zerrissenheiten in ihm aufgebrochen und vieles von seinen Erfüllungen zum Zweifel geworden. Die Menschen um ihn deuchten ihm zu bekannt in ihren Stimmen und Bewegungen. Und er selber dünkte sich durch sein eigenes, langes Herkommen eingeschnürt und ermüdet. Er verlangte den freien Horizont des Lebens zu sehen, wie es den Wandervogel fortreißt in den Höhenwind. Er wollte weit ausblicken und aus der Höhe hinab, einmal zu sehen, wo er eine Erfüllung fände, eine Feier, einen Festtag in die Reihe der eintönigen, einsamen [142] Wandertage, die sein Leben jetzt lange hingegangen.

So war Einhart nach Antwerpen gekommen, und wohnte dort am Platz der Grüne.

Hinter den Hausern des Platzes ragt der Dom. Er überwächst mit seinem breiten Steinleib alle die kleinen Häuser rings.

Der Regen fiel an dem Morgen, als Einhart vor die Tür seines kleinen Hotels hinaustrat. Der Turm ragte dunkelgrau in die graue Märzluft.

Als Einhart eintrat, war es drinnen still, wie im Grabe. Die Düsternisse der Nischen breiteten sich in Schattendunkel. Die Bilder um den Hochaltar hatten kaum Farben. Eine kaum merkbare Erhellung ging aus den Fenstern, die gen Morgen lagen, und schwebte streifig über den grauen Steinfliesen des Mittelschiffs.

Einhart war lange dem einsamen Dämmerklang seines Schrittes unter den Wölbungen hingegeben. Die graue Schattenweite der kalten Raumtiefen umspann ihn, wie wenn die Stille darin eine Schönheit wäre für alle Sinne. Die marmornen Altargestalten schienen ihm lebendige Leiber, ragend, um zu antworten, was seine Seele zu fragen begann.

[143] Ein Dom! Ein grauer Steinleib mit Zacken und Dach, Zinken und Türmen. In dessen Höhle sich Menschen drängen mit Gebeten, mit Gesängen, mit Wehklagen, mit Hymnen zum Lobe. Und den jetzt die ewige Ruhe ausfüllte wie mit dem Schlafe aller erhabenen Herrlichkeiten.

Hoch oben begannen sich die bunten Lunetten der Fenster am Hochaltar zu belichten mit blauen und goldenen Scheinen. Die Säulen sprangen aus dem Dämmer lebendiger fühlbar in die Runde. Die Stimmen vereinsamter Beter gaben ein fernes Raunen, ohne daß Einhart seinen Blick aus der Höhe zurücknahm.

Ein Dom! Und wahrhaftig in Stein getürmt von Menschenhand! Und wahrhaftig erst einmal im Traum gesehen von Menschenaugen! Das da steht, wölbt sich wie Berge, und gibt ewige, stumme Kunde.

Und es kam Einhart so vor, als ob er aus den Wölbungen und Säulen und ragenden Gestalten in Stein, und hinaus in Dach und Zinnen und Türme einen Ruf, eine Anbetung, eine gewaltige Sturmwelle aus Menschenstimmen, eine unerhörte Macht der Seele lautlos vernähme. Hier schien ihm [144] ein Leib gebaut, dessen Seele mehr deuchte, als seine Seele, dessen Stimme bandenloser aufklang, als seine Stimme. Dessen Gewalt ewig stumm und manchmal mit ehernem Munde rufend, sich belebte, in Stürme und Wolken zu hallen, und sich in das große Rufen der Gebirge und der Wüsten einzumischen.

Graue, kanadische Schifferknechte traten durch eine Seitentür unter dem holzgetäfelten Chore, darüber die Silberflöten der gewaltigen Orgel, von Engeln umflogen, schwiegen, und trappten langsam und verschüchtert in die tiefe Stummheit. Das Angesicht dem lichtdurchstrahlten Dunkelraume des Hochaltars kindlich staunend entgegen gewandt, warfen sie sich auf die grauen Steine nieder, bald auch die Häupter tief dem Boden zugeneigt.

Kanadische Schifferknechte, die im Hafen gelandet waren, harte, rauhe Männer. Und doch scheu wie das Wild, auch vor dem Erhabenen nur heimlich geängstigt, weil immer und immer bedroht nicht von bestimmten Dingen. Sie beteten in sich eingesunken auf Knieen die kleinen Gebete um ihr enges Leben. Umhergeworfen in harter Frohn, wie Wellen im Meere, hörten sie nie das große [145] Rauschen über den Wassern, darein ihr graues Leben verschäumte. Sie baten:

»Hilf uns! Rette uns! Bewahre uns! Bewahre uns ewig für uns! Laß uns nicht aufgehen!«

Der Glanz vom Hochaltar her fiel eine Weile auch auf sie. Es waren rauhe Seelen, die oft fluchten im Sturmstreit. Sie waren in Furcht niedergesunken.

Ein Dom! Wer hört die Symphonien seiner Einsamkeit? Wer hört die stumme Sprache der Steine, aus der weiten, ewigen Seele gespeist, die einig ist über unzähligen Menschenhäuptern und Menschenwünschen.

Ein Dom! Kein Kirchenlied! Der steingewordene Ruf des großen Christ. Auch wenn alle Erinnerung verginge, wird ihn der Steinleib beständig rufen. Es ist ein stummer Ruf durch die Zeiten, den die Kanadier noch nicht hören konnten in ihrer Enge.

»Sie werden die Religion der Furcht abstreifen, wie eine tote Haut. Dann wird die Religion der Liebe beginnen, die jetzt nur aus den Steinen redet,« dachte Einhart.


[146] * * *


Dann waren draußen Glocken verklungen, drinnen kaum wie ein dumpfes Klagen und Surren vernehmbar. Einhart war neu auf die Straße hinaus gekommen. Er stand in seiner dunklen Art mit geschärftem Schwarzauge um sich blickend. Aus den Häusern und in den Straßen begannen Maskeraden zu drängen. Der Regen fiel neu. Es dröhnten ferne Pauken. Es schmetterten Trompeten von einer Ecke des Platzes. Eine bunte Bande Musikanten stürmte trappend daher, hinter der sich ein unabsehbarer Schwarm in Narrenflittern und Ritterharnischen ergoß.

Einhart hatte die Stille des Domes noch im Ohre wie eine nieausgesungene Feier. Seine blitzenden Augen sahen jetzt in die bunten Lumpen hinein, in das Getümmel, in Geschrei und Gelächter.

Der Tag hatte von nun an keine Ruhe mehr. Zu tollem Schwalle drängten sich allmählich die bunten Scharen. Die Menge wuchs und wuchs. Die Häupter schoben sich wie Wellen im Meer. Die Menge trieb um, wie um Pfeiler an Brücken, Kopf an Kopf, die Münder lachend geöffnet, in beständigem Johlen.

Der Dom ragte still. Die Musikbanden marschierten [147] am Dom vorbei. Die Masken dahinter durchpatschten die Pfützen. Keiner achtete weiter.

»Sie feiern ein Fest,« dachte Einhart vielemale und empfand eine Frage.

Die hereinsinkende Nacht sah die Stadt in enger, fahler Lampenhelle. Der Regen rann. Aus Pflastersteinen und Häuserwänden nahe und fern schienen Laute und Lärm, Lachen und wirre Musik ewig zu dringen. Die halblichten Straßen und blendenden Plätze, die unter finsterer Graunacht lagen, die Cafés und die Wirtschaften waren durchstürmt von belustigten Lärmern. Reihen buntumflitterter Weiber gingen in tollen Sprüngen vorwärts, wie in Prozession. Daß ihre Schatten und Bilder in den Pfützen zuckten, und hinter jedem Weibe sein Schatten nachsprang wie der eigene Tod. Tumultuarische Gesänge quollen aus aller Mündern so hart und dumpf, als wenn auch die Schatten traurig hallten. Irgendwoher grollte fortwährend wie sinnloses Pochen dumpfer Paukenschlag durch die Nacht.

Einhart war mit dem Zuge rasender Weiber vorwärts gegangen, die als grünweiße Bajazzi über die blinkenden Pfützen einhersprangen, dem tollsten Paare nach, das den Reigen führte.

[148] Aber dann blieb er in einer Nebenstraße stehen, bis der Lärm sich vereinzelte und dann völlig verebbte.

Nur zwei junge Frauenzimmer, wie blaue Schwalben gekleidet, tanzten und rasten im einsamen Halblicht ruhelos umeinander, den matten Laut ferner Musik noch erhaschend, der irgend woher in dem grauen Straßenschlund sich verlor.

»Sie feiern ein Fest«, dachte Einhart vielemale und empfand eine Frage, als er in dem matten Laternenlicht weiterlief.

Aus einer kleinen Schenke dröhnte hart und schrill eine Orgel wie von Maschinen getrieben. Der Raum war eng, in den Einhart hinein sah. Die Köpfe drinnen standen wie Ähren im Felde. Matrosen, Schifferknechte und lachende, junge Weiber. Man konnte sich nicht umeinander drehen. Inmitten auf kleinstem Raume vor dem schmutzigen Schanktisch schwang sich ein schwitzendes Paar in Wut und Lust.

Einhart war in die Nähe des Domes zurückgegangen.

Er witterte empor, sah auf, erlöste seine Bedrückung inmitten des treibenden Getümmels durch einen Blick in die graue Nacht.

[149] Die finstere Nacht hing tropfend über der Erde, engte die bleichlichten Menschenwege und gab jedem Dinge und jedem Menschen ihr Schattenzeichen. Der Dom lag dunkel aufragend. Die Fenster spiegelten mit blankem Schein wie von Feuer oder wie Silberplatten. Der graue Turm verlor sich in die Nacht. Und aus der grauen Finsternis nieder hallten über die bleichlichten Menschentaumel und das wirre Tosen dumpf und schwer die Stundenschläge.


* * *


Einhart kam später auch nach Paris. Welche königlichen Plätze und Straßen! Daß die Menschheit in bekränztem Reigen durch Triumphbögen und Säulen hineinziehe in die Gärten des Lebens. Da sah er ein Idol hochaufgerichtet über der Stadt. Der Mann mit dem Dreistütz und mit untergeschlagenen Armen, in Bronze ragend, auf einsamer Säule hoch über die Dächer in einsamer Luft. Einhart wußte, daß das der Kaiser der Franzosen war. Der einzige Kaiser. Der heimliche Kaiser noch immer. Der jedem drunten in der hastenden Menge heimlich diese Worte zuflüstert:

[150] »Mensch! Du! Bist ein Kaiser! Sei kühn! Habe Mut! Befiehl! Blicke wie ein Tiger! Alle um dich sind Geängstigte! Sie liegen vor jedem Idole im Staube! Mach dich zum Idol! Vergiß es nie! So tat ich! Nun stehe ich über allen! Das ewige Gleichnis vom kühnen Menschenverächter, vor dem ein ganzes Volk in den Staub sank.«

Und Einhart stand auch an dem Sarkophage aus rotem Porphyr, darin die Gebeine des großen Triumphators modern. Er sah die zerschossenen Fahnen seiner menschenmordenden Siege, all die Blutzeichen um ihn aufgestellt. Und die zwölf großen, weißen Engel, die das modernde Gebein bewachen. Und er hörte den Heersoldaten in stumpfem Brüten dort die Reveille trommeln: »Rataplan! Mensch! Sei kühn! Habe Mut! Befiehl! Alle um dich sind Geängstigte! Rage auf! Du! Kaiser! Einziger! Du selber!«

Und Einhart sah dann auf Straßen und Plätzen in jedes Auge hinein und hörte in jeder Seele nur diese eine Stimme.

Und er stieg auch auf die Türme von Notre-Dame und war wirklich in tausend Zweifeln.

»Die Dome ragen,« dachte er, »aber die Chimären[151] treiben ein wirres Spiel um ihre Türme. Und aus der Tiefe rufen uns starke Stimmen.«


* * *


In Paris war es, wo er zum Schluß seines Aufenthaltes in ein stilles, weißes Haus draußen über der Seine eingetreten war. Es liegt hoch über dem grünen Fluß an einem grünenden Hange. Ein Rundbau aus Glas. Licht quillt viel herein. Ein Garten voll Blumen umschließt seine Stille. Dort innen stehen in gläsernen Schränken oder auf hölzernen Postamenten tausenderlei Gestalten aus Ton und Stein. Auf Simsen, offen oder verhüllt, ragt dort der Mensch und sein ringendes, rätselgebundenes Leben als ewiges Gleichnis. Dort sah er Schicksal und letzte Begierden in Steinen stumme Sprache sprechen. Dort flüstert der Traum im übervollen Flügelmantel der Schlafenden sein nie erschautes Geheimnis. Und die versunkene, herrliche Athena wirft sich von der Sehnsucht nach einst erfaßt und mit Tränen aufgescheucht über die Trümmer. Dort ragt der stolze Bürger, von der Macht des Triumphators gebeugt. Und das lieblichste Frauenbildnis voll verborgenen Lebens klingt wie ein sanftes Lied zwischen den harten Schicksalsvisionen, [152] die aus andern Steinen sprechen. Dort schlafen Paolo und Franceska wie Lurche im Schlamme der Erde den sinngebundenen Schlaf, aus uraltem Bluttriebe wie mit Polypenarmen nach einander begehrlich tastend in der Düsternis des Grundes. Dort – inmitten dieser Welt aus Steingestalten, darin im Stein über das einzelne Leben hinaus sich ewige, letzte Verschwisterungen der Schicksale offenbarten, also daß Blöcke und Steine rings um ihn Ideen duften wie Blumen ihre Arome, steht ein einzelner Mensch. Keine zerschossenen Fahnen, keine Blutzeichen um sich. Seine – einsame – Schau, seine – großen – Deutungen, dem Erdenklose eingehaucht zum schauenden Erfüllen der Stunde, zum Erhören, zum Erkennen, zum Mitleben aus der Tiefe ins klare Licht, zur Erhöhung des Lebendigen um und um. Ein Einzelner. Kein Triumphator. Kein Bezwinger der Leiber. Ein Sinnenmächtiger. Auguste Rodin. Ein Sinngebärer. Ein Seelenbezwinger.

Auch den Dom hat erst einmal im Traum ein solches Menschenauge geboren.


* * *


Einhart hatte viel gesehen. Er reiste auch durch [153] Italien. Er sah Rom und Florenz. Er sah vielerlei Einzigkeiten. Er sah Naturen in heißer Sonne, achtete auf die fremden Blumen und genoß die Schatten fremder Bäume. Er sah auch die Schneegebirge ragen. Und Menschen in allerlei Kostümen kreuzten seine Wege. Da war es, daß er sich heimzukehren entschloß, weil er nach der eigenen Welt sich noch brünstiger sehnte.

»Du erjagst es nicht. Du erjagst nur dich selbst!« sagte er.

3.
[154] 3

Ein Abend voll sanfter Farbe. Der See weit spiegelnd. Die Gärten und Parks am Uferrande in prachtvoller Fülle und Frische, von weichen Milchtönen umsponnen. So zog der einsame Kahn mit Einhart und einem alten, graubärtigen Schiffersmanne hinaus in die Nacht. Die Wellen gingen rieselnd und gluckend immer um die Planken, und der gleichmäßige Ruderschlag schrob polternd nach, weil die Stangen sich eintönig in ihren Halten am Kahne rieben.

Einhart hatte sich in das Boot zurückgelehnt und sah das kleine Fahrzeug mit dem stummen Alten tiefer und tiefer in Dämmer gleiten. Er sah hinein in die mächtigen Berggebilde, die aus dem Dämmer des Sees sich in Abendglut hoben und dann langsam zu kühlem Nachtglanz erblichen.

Der Schiffer sah Einhart oft an, ein alter Italiener. Einhart bat, auf umständliche Weise einiges radebrechend, er möchte ein Lied singen. So fuhren die beiden in der langsam dunkelnden Flut. Die rauhe Stimme klang melancholisch. Ein Lied voll Glück und Vergehen mußte es sein. Der Alte sang das Lied mit versunkenem Lächeln. Dem Alten [155] war es lange nicht auf die Lippen gekommen. Lange hatte das Leben kein Lied aus seiner Seele gefordert, nur harte Arbeit und Sichvergessen. Nun deuchte es ihm gut, daß, wenn die Nacht die Schlüfte und Gründe erfüllte, wo die Seewasser tief zwischen den Gipfeln und Rücken im Mittnachtslicht bleichen und dämmern, er aus rauher Kehle seine Töne in das Glucken und Murmeln und Geräusche der Flut mischte.

Einhart war auf dem Wege heim.

Man sah am Mittnachtshimmel schwarze Fahnen wehen. Wetter voll Drohung zogen über den Gebirgen. Die kleine Laterne, die man am Kiele des Bootes endlich erleuchtet hatte, warf einen spitzen Bootsschatten. Und Einhart, der in die Fahrt hineinsah, mußte es scheinen, als wenn zwei helle Flügel sie über die Dunkelgewässer trügen.

Der alte Schiffer kannte die Fahrt. Man mußte den weiten See überfahren. Am anderen Ende, an einem engen Arm, den Gebirgswände fast preßten und erdrückten, lag ein einsames Gasthaus.

Aber die Donner aus der Nacht und den Zackengestalten der Berge gegen den fahlen Himmel fingen [156] zu rollen an. Man hörte ein Herandräuen des rauschenden Regens. Er zerstob bald über die beiden im Boote. Blitze begannen ferne zu zucken. Das Wogenspiel erhob sich. Es machte das Boot hastig, wiegte es, belebte den Gang und warf es auf und nieder.

Da war das Lied des Schiffers verstummt.

Die Blitze zückten näher. Die Finsternis ward tief dunkel. Die Donner dröhnten aus den Schlünden zwischen den Bergen wieder. Es war tiefe Nacht geworden. Das kleine Licht am Kielende wogte auf und nieder, und die Schatten des Bootes sanken und stiegen und machten die Wasser voll Düsternis und fremder Gestalten. Die Lichtflügel zerrissen in Unruh. Schäume drängten am Plankenwerke auf. Manchmal schlugen Wellen in den Innenraum.

Einhart sah auf das Gesicht, das er vor sich hatte. Furcht fuhr nicht in dem Boote mit. Der alte Graubart saß als finstere Silhouette gegen das Laternenlicht, daß Einhart kaum noch seine Züge ahnte. Aber es deuchte ihm, daß der Alte noch immer lachte. Sie hielten trotz hohem Wogendrang die Richtung gut.

[157] Alles Bleichgrau aus Himmelshöh war jäh verschwunden. Die fernen Lichter der Ufer waren in Finsternis untergesunken. Es brach weißes Feuer aus der samtnen Schwärze, züngelte wie Schlangen, floß nieder, zerbrach, wie Zersplittern von Bäumen und dumpfes Bellen und Zerkrachen, grollte aufwachend und zerbarst neu in dumpfe, lautlose Erwartung. Rege und jach krochen die bleichglühen Fäden pfeilschnell in der Finsternis hin, fern und hoch, oder nahe. Manchmal ganz nahe jetzt, daß Einhart sich schreckhaft duckte. Das nächtliche Chaos der jagenden Wogen und Wolken auferstand ewig in höllischem Schein, den das Sammetdunkel eben so immer wieder jäh verschluckte. Als wenn die Himmel zerbrächen, barsten die Donner und brandeten und schmetterten unaufhörlich jetzt.

Bis dann der Regen hart wirbelnd und trommelnd in die tiefdunkle Nachtflut fiel. Wie Perlen, in Menge ausgeschüttet, tanzten und klirrten die Tropfen auf der finsteren Woge um die Bootsplanken. Und die monotone Weise der jankenden Ruderstangen hörte man mitten hinein in die tausend Rätselgeräusche der Wetter.

Noch immer in rabenschwarzer Düsternis Blitz um[158] Blitz, wie glühende Peitschen von Göttern geschwungen. Und wilder, rastloser Wogendrang. Und Grollen und Rollen in den Schlüften, Branden und Verhallen.

Einhart war Seele und Auge. Und wenn er sich in Wunder verstrickt fühlte, wurden es Seligkeiten aus Farben. Er sah das Geringste in den Spielen des Lichtes und der Dunkelheiten jetzt.

Die Wetter erstarben in tausend rätselhaften Geräuschen. Versickernd. Dröhnend in Höhe und Nähe, rieselnd und ungewiß.

Das Boot schoß vorwärts.

Die Blitze schwiegen, nur matte Scheine noch. Die Ruhe nach dem Regenfall blieb tief. Die Wolken jagten wie schwarze Riesenvögel in Scharen hoch und ließen ein Stück Nachtäther frei, groß, wie ein See, darin zwei Sterne blinkten.

Da besann sich der Schiffermann wieder auf sein Lied.

Der Gang des Bootes war noch voll Unruh. Das Lied klang jetzt hell und froh.

Lichter am Ufer begannen von ferne zu blinken. Eins. Man kam nahe. Noch eins und noch eins. Man glitt jetzt dem Strande nahe vorüber.

[159] In der Haustür einer kleinen Strandhütte stand ein Weib und warf einen langen Schatten in die Nacht. Man glitt hörbar. Man sah wieder die Bewegung. Es ging in Eile. Der Alte sang mit rauher, zitternder Stimme, und beflügelte damit seine Ruderschläge. Man war Stunden gefahren.

Einhart war ganz in sein altes, lächelndes Staunen verloren.

»Was war ich,« dachte er, »so in die Wetternacht eingesunken? Komme ich je ans Licht zurück?«

Es gingen undeutbare Gefühle in ihm hin, indessen sein Auge frei den Wolken folgte, die in wechselnder Gestalt gegen grünlichen Nachtäther hinjagten.

»Ich? Wer bin ich? So gar nicht bekannt weder dem alten, singenden Manne vor mir, noch mir selber, noch den Wasserfluten, noch den Wesen im Dämmerkreise, noch gar jenen Gebirgsgipfeln und Bergzacken, die sich jetzt neu aus den Wolken lösen?«

Er war heiter, wie jetzt fast immer. Und die Welt und er selber kamen ihm jede Stunde nahe, wie neue Enthüllung. Und er erstaunte neu, wie er dann endlich unter Menschen trat. Als das nächtige [160] Ufer eine lichte Fläche von silberblinkenden Steinen, sich dehnte. Als Leute mit Laternen sich nahten. Als sie das Boot und den Graubart und auch den eigenen Menschen Einhart aus der Nacht herauslichteten. Als er endlich auf den Beinen einherging und sich leibhaftig wiedersah.

Es war ein kleines, italienisches Gasthaus am Strande. Aber es ging darin laut zu. Man spielte in der erleuchteten, offenen Schenkstube und schrie. Einhart fragte nach einem Hotel höher oben, worein bessere Fremde kehrten. Dort saßen zwei junge Frauen einsam an der Hoteltafel, als Einhart eintrat. Die gleich aufmerksam nach ihm herüber blickten.

Er war von schier verzehrter Tiefe in dem sicheren Blick seiner Glutaugen, und ganz sanft und sehr für sich die ganze Reise. Er mußte mit dieser Welt, die um ihn in Neuheiten aufstieg, Tag und Nacht fertig werden. Das rauhe, zitternde Lied des Schiffers klang ihm noch in der Seele wider.

Schon am andern Tage ging Einhart eine freie, sonnige Bergstraße einsam nach Norden zu.

4.
[161] 4

Heimweh ist eine verborgene Urmacht. Wer weiß, aus welchem Paradiese der Mensch ausgetrieben? Eine große Fremde ist die Welt.

Und es ist ein anderes, sich in dieser Fremde wissend heimisch machen, also daß man darin seine Wege findet. Ein anderes, aus eigener Schöpferfreude dieser Welt Gestalt und Glanz verleihen, in göttlichem Spiele dem ewigen Heimweh Ahnungen von Stillung und Erfüllung zuzutragen.

Ist es wahr, daß der Künstler aus seinem zutraulichen Hange zu den Wesen und Dingen dieser einen, weiten Sonnenerdenwelt – er allein – die Fremde der Erdentage vergessen machte, das starre Staunen und Ergrausen vor den Mächten in zartes Mitfühlen und Entgegendrängen verwandelte?

Der Erkenner findet sich zurecht in dieser großen Fremde.

Aber der Künstler bildete je und je den Trost, verklärte die ewigen Irrtümer alles Lebendigen in Leidensstufen des Aufgangs, machte aus den Sünden der Seele den großen Preis des Lebens, verriet uns und verrät uns immer neu die innige Bruderschaft zu Stein und Quelle, daß wir in Einöden [162] und Felsengebirgen nicht mehr erzittern, gab den Vögeln unter dem Himmel und den Fischen im Meer Namen und Sprache und schuf Hoffnungen, daß wir mit Augen Paradiese wähnen.

So ungefähr war es Einhart im Blute immer lebendig gewesen.

Einhart hatte daheim eine richtige Auferstehung gefeiert. Die Zeit der Wanderschaft, die er ein Jahr mit leidenschaftlichem Sinn betrieben, lag jetzt längst hinter ihm. Er war durch die Reichtümer fremder Länder, durch die Fülle wirklichen Weltschauens mit offenem Verlangen hindurch gewandert und hatte Herz und Sinne voller Dränge mit heimgebracht. Und Ahnungen genug.

Und sein Blick wurde reich. Seine Freiheit zu bilden, war gewachsen. Auch seine Andacht vor dem Geheimnis allenthalben war groß geworden, und seine mitleidigen Gefühle für die Übermenge derer, die in den Vorhöfen ihrer Sehnsuchten grau in grau wie die zerlumpten Bettelleute vor den Türen der blumengeschmückten Osterkirchen hoffnungslos harren.

Alle Dinge weichen zurück in der Zeit. Man weiß zuletzt nicht, ob sie einmal wirklich gewesen? So ist[163] alles Geschehene nur wie ein Bild, das kleiner und blasser hintreibt und eines Tages nicht ist. Seit Johanna starb, war ein Jahrzehnt und manches Jahr noch vergangen. In solchem Zeitraum bleichen viele Dinge. Und die Luft um manche Seele wird kühl wie Herbstluft.

Einhart war nicht Kind noch Jüngling mehr. Seine Stirn hatte Falten, die aus der grabenden Verinnerlichung seines Prüfens sich längst tief eingezeichnet. Seine feinen Lippen lagen streng. Eine tiefe Furche zog sich zwischen der mageren Nase und den herben Mundwinkeln hin, die seinem Gesicht einen Hauch von Gram aufprägte, eine unbestimmte Schicksalsbegleitung, die nie ganz stille wurde, auch wenn seine Augen mit Feuerfunken gütig blickten, und sein Lächeln von sanfter Einfalt über die gelbgrauen Züge huschte. Er war ein wenig grauhaarig geworden. Als er es zufällig entdeckt hatte, hatte er gelacht.

Einhart hatte Menschen und Dingen gegenüber eine völlige Ruhe gewonnen. Er hatte sich jetzt ein Lebenlang gewöhnt, Wesen und Ereignisse zu betrachten, wie ein überlegener Zuschauer das Getümmel auf einer Stadtstraße ansieht. Oder öfter [164] noch, wie ein leidenschaftlicher Sammler den schönen, blauen Libellen mit Netz und Nadel nachtrachtet, um sie für seine Schaukästen einzufangen, mag auch solcher Schönheit eigene Seele dabei verhauchen.

Einhart war wirklich ein Meister geworden. Wenn Meisterschaft der Name ist nicht für ein rundes, sicheres Können, sondern für das zähe Vorwärtsringen zum eigensten Eigentum, für die ewig ringende Mühewaltung, also daß die Blöcke, die er aus dem Steinbruch brach, manchmal nur halb behauen niederfielen, immer eigenartig genug, aber oft halb begreiflich zuerst, nicht gleich bekannt und geliebt und glatt, daß sie dem herkömmlichen Gefühl oft trotzten.

Einharts Meisterschaft lag auch in der Kraft seines Standpunktes. Nie hätte er sich zum herkömmlichen und durchschnittlichen Formwerke je aus seiner Höhe zurück gewandt, den eigenen Blick voll innigster Verwöhnung aussendend, so daß ein Jugendzug in seinen Mienen geblieben, etwas wie Demut, etwas, das wie im Kinde selber immer noch gläubig und traulich das Letzte erwartet.

Das kleine, weiße Haus mit den grünen Jalousien,[165] das Einhart gemietet hatte, lag vor der Stadt. Sein großer Atelierraum war jetzt mit mancherlei köstlichen Dingen behangen, feinen, gestickten Seiden und blaßfarbigen Teppichen. Auch zwei antike Grabreliefs hingen da. Bequeme Liegestühle standen auf weichen Tierfellen herum. Und eine Menge gerahmter und ungerahmter Leinwanden waren gegen die Wände gestellt oder ragten auf Staffeleien. Ein kleiner Diener, ein wenig zu kurz geraten in einem sehr langen, blauen Arbeitskittel, Schwenkfeld genannt, der außerdem sechs Finger statt fünf an jeder Hand besaß, ging dienstwillig in Hof und Werkstatt um. Und eine weißhaarige, bebrillte Konditorswitwe versah als Wärterin Küche und Wohnstätte.

Und Einhart sah jetzt die Fülle getaner Arbeit mit Zufriedenheit an. Er war verwundert, wie es möglich gewesen, so die Zeit ungehört hingehen zu sehen und nicht zu achten. Es dünkte ihn, daß er in den neuen Werken sich endlich rein gewaschen von aller Absicht. Ganz nur der göttliche Zufall hatte gewaltet. Und der selige Einfall hatte die Gesichte herzugetragen. Er wußte längst, daß es sich nicht erjagen läßt. Daß die Schönheit auch im schaffenden Leben kommen muß, einem selber zum [166] Erschauern, wie die geheimnisvollen, kristallenen Spiegelungen im Wassergrunde hintreiben, indes der Blick verloren in den Waldsee eintaucht. Es war jetzt wirklich nur in freiem Reigen heran gekommen die ganze Zeit.

Er hatte allen Ernst völlig abgeschüttelt und lebte neu und neu eine Zeit unmittelbaren Frohgefühles an den Dingen. Die Jahre, die er mit einer vergrabenen Sucht nach dem Sinn gelebt, deuchten ihm überwunden. Die Bilder, die er augenblicklich zu einer Sonderausstellung das erste Mal vereinigen wollte, würden es zeigen, welchen Weg er genommen. Die Frische seiner Pinselstriche war überraschend.

Und Einharts Losgebundenheit von aller Überlieferung hatte das ganze Jahr angehalten. Festliche Gefühle, eine Welt der sonderlichsten Einfachheit, schöne Leiber in freien Bewegungen, einfältige, beglückende Landschaften, darin man leben mochte wie auf Paradieswiesen, inniges Menschentum in Ausdruck und Gebärden. Auch manche heimlichen Triebe der Menschenseele offenbarte Einhart in seinen Tafeln mit seltsam herbem Formgefühl. Er sagte viele Male, daß er zu einer reinen Kindsleidenschaft [167] zurückgekehrt wäre. Daß er sich von aller Tiefe, aller Bedeutung, aller Richtung frei gemacht hätte zum einfachen Lieben der Dinge, zu lebendiger Schönheit, zum echten, sonnenhellen Spiele der Kunst.

So hatte Einhart nach seiner Heimkehr Sommer und Winter lang einsam gelebt und gearbeitet. Nun begann wieder Frühling zu werden. Als er im Malkittel in seinen Garten trat, darin, wie er einzog, Rosen geblüht hatten, zog ihn jetzt ein Ruch von jungen Veilchen fröhlich an. Er bückte sich und wühlte unter feuchtem, altem Laube kleine, weiche, blaue Blumen, die Lieblinge des Menschenherzens, ganz ans Licht.

Einhart stand ewig. Er hielt die Veilchenköpfchen sorglich aufgerichtet über der braunen Erde, ohne sie zu brechen. Er ging am Beete entlang Schritt für Schritt, allen kleinen, blauen Blumen, die ans Licht drängten, die Last des alten Laubes fortzuräumen. Er sah auch lange in die Ferne hinaus. Freie Felder lagen nach einer Seite um sein Haus. Der blaukittelige Schwenkfeld stand am Fenster des Ateliers und lachte verstohlen hinter dem blaßgrünen Vorhang hervor,[168] weil er den Meister lächeln gesehen. Die ferne Birkenallee hatte einen Duft von Dunkelröte gegen den milchigblauen Morgenhimmel. Die braunen Knospen drängten.

Einhart war noch immer stehen geblieben. Auch als man schon einige Kisten für die Frühlingsausstellung auf den schweren Speditionswagen aufgepackt, und das Gefährt mit den plumpen Rappen und dem vierschrötigen Kutscher längst dröhnend um die Straßenbiegung verschwunden war.

Einharts Stirn schien jetzt im Lichte des Vorfrühlings bleich und frei. Er strich sich einen Strähn seiner Dunkelhaare aus der Stirn.

»Ach du Gott im Himmel!« sagte er. »Ich vermale das ganze Leben und die schönste Stunde!«

Schwenkfeld hatte an dem Morgen lange vergeblich gewartet, daß der Meister irgend eine Arbeit vornehmen würde.

Einhart saß dann zurückgelehnt in einem Lehnstuhl und rauchte eilig. Und lief wieder hinaus und sah in die Ferne. Es hatte ihn fast erschrocken, wie er merkte, daß der neue Frühling sich schon zu [169] regen begann. Weil er plötzlich keinen Ausweg zum Leben offen sah.

Wie Einhart dann ausging gegen die Stadt zu, wollte er an verschiedenen Türen pochen. An Poncets. Aber er zögerte. Er wußte nicht, wie bei Poncet finden, was er in dem Frühling suchen ging. An dem Portale der Gräfin Schleh. Aber er zögerte auch hier, weil er wußte, daß drinnen seine Ahnungen vielleicht still würden über tausend Dingen des vornehmen Behagens.

So war er zurückgegangen, lief weiter hinaus die Chaussee und dann einen Feldweg hin, bis wo voll frischen Grüns eine schmale Wiese leuchtend dalag, feucht umweht, hinter einem kleinen Saumhügel voll Jungwald, der auch im Lichte stand.

Einige Weidenknorren reckten sich mit Blütenräupchen über den Bach. Die Wellen, klar und kühl, schäumten und gurgelten. In kleinen Gruppen lebten schlohweiße Schneeglöckchen auf im grünen Grase.

Meister Einhart war ein rechter, loser Zigeuner. Hut und Stock hatte er irgendwo hingeworfen. Er[170] pflückte die kühlen, frischen Blumen in seine braunen Hände. Er war voll tiefen Erstaunens. Er trug die weißen, reinen, kleinen Kelche wie neue, verschlafene Wunder sorglich in den Händen vor sich und vergaß sich ganz in deren Anschauen.

5.
[171] 5

Der Sommer war für Einhart überreich an Arbeit hingegangen. Nachdem ihn erst die Frühlingsfeier eine flüchtige Weile untätig eingesponnen, und nachdem ihm dann die Ausstellung seiner neuen Bilder zum ersten Male eine erlesene Auszeichnung eingetragen, war er mit viel selbstvergessener Laune und Heiterkeit aufs Radieren verfallen, daß buchstäblich gar nicht für ihn daran zu denken gewesen, aufs Land oder an die See zu gehen.

Im Herbst noch zu rechter Zeit weckte ihn ein Brief der Gräfin Schleh zum Leben. Sie schrieb:


»Lieber Meister! Kommen Sie! Sie finden liebe Gäste. Auch teilnehmende Menschen in der Nachbarschaft. Traurige und Fröhliche! Und Völker von Rebhühnern sitzen im hohen Mais und streichen rauschend von dannen, wenn Sie nahe gehen. Früchte hängen im Obstgarten an den Bäumen. Feigen an den Spalieren. Und Jung und Alt hat den Glanz des Herbstes in den Augen, und goldene Fäden um Stirn und Wange oder in den Kleidern. Kommen Sie, lieber Meister Selle!«


[172] Der Brief hatte Einhart lachen gemacht. Er hatte dann Finis unter das Blatt geschrieben, das er vor sich hatte, hatte auch noch um das Wort allerlei spielende Kinder und lachende Gesichter gezeichnet. Und dann befand er sich bald auf dem weißen Schlosse der Gräfin.

Die alte Dame empfing ihn in einem gewölbten Zimmer zu ebener Erde, darin die Wände einfach weiß getüncht und die behaglichen Möbelstücke mit dunklem Leder überzogen waren. Auch einige alte, bunte Stiche, Szenen aus dem Schäferleben darstellend, in dunklen Rahmen, erhöhten das Bild alteingesessener, friedsamer Beschaulichkeit.

Die alte, leicht verwachsene, sonngebräunte Gräfin war voller Güte. Sie saß in einem blaßseidenen, weiten Reifrock und griff nach einem Stabe, als sie sich von dem schweren Ledersessel aufhob.

Ein gelbfleckiger, mächtiger Bernhardiner stand oder ging gutmütig neben ihr.

Die vornehme Frau sprach zu Einhart mit ihrer liebenswürdigsten Teilnahme, daß ihre kleinen, ausdrucksvollen Augen lachten und ihre feuchten, vollen Lippen lachten. Sie zeigte ihm auch gleich nur ganz nebenbei eine Sammlung edler Steine, die [173] zufällig noch dastand, das Vermächtnis eines unverheirateten Sonderlings, köstliche, juwelische Dinge von hohem Werte, ein ganzer Kasten voll, in Seidenlager eingebettet ein jedes Stück, noch ungefaßte, seltene Kleinodien aus aller Herren Ländern. Man trat auch gleich einen Augenblick auf die Terrasse hinaus, um in den Park und in die alten Silberkuppeln hundertjähriger Pappelbäume hineinzusehen.

Dann führte ihn die heitere Herrin, immer geschäftig plaudernd, durch das lichte, weite Treppenhaus, worin einige Diener herumstanden. Und an den eisengetriebenen Geländern hinauf in die oberen Zimmer und Säle. Auch durch den weiten Rundbau der großen Bibliothek führte sie ihn, zeigte und erklärte ihm dort zwei goldene, indische Götzenaltäre, die einander gegenüber an der Wand standen und die den heimlichen Ton einer tiefen, leidenschaftlichen Andacht hineinzutragen schienen in die Stille und unter die Überfülle kostbarer, alter Bücherreihen an den hohen Wänden. Auch auf einzelne silberne Plaketten, die an dem blanken, braunen Eichengetäfel zwischen den mächtigen Pergamentrücken alter Handschriften [174] angebracht waren, wies ihn die alte Dame sorglich hin.

Alles war für Einhart nur ein erster Hauch von einem eigenen, selbstsicheren Leben in Macht und Schönheit.

Man war dabei schon wieder auf den steinernen Altan hinausgelangt, um den Blick über purpurrote Beetornamente hinüber auf eine weite Wiesenfläche des Parkes zu tun.

Bei Tafel saß man in einem lichten, geräumigen Saale, dessen Deckengewölbe und Wände nur eben falls ganz in Weiß mit leicht erhabenen, freien Blumengewinden verziert waren. Einhart hatte seinen Platz neben der Herrin des Schlosses. Sie zeichnete ihn aus, wo sie konnte. Einige junge Komtessen, die in helle Seiden gekleidet, warfen dann und wann prüfende Blicke auf den neu angekommenen, zigeunerischen Meister Einhart, der an dem ersten Tage nur zu den schelmischen Worten seiner lustigen, graugescheitelten Nachbarin und oft auch zu den Bemerkungen einer alten, gebrechlichen Exzellenz, eines Grundherrn der Nachbarschaft, der hier zu Besuch war, herzlich lächelte.

Sonst bequemte sich Einhart gar nicht, aus seiner[175] Stille herauszugehen. Graf Karol, ein junger Abgeordneter, »einer der kühnsten Fahrer und Reiter im Lande«, wie die alte Gräfin Einhart zugeflüstert, hatte es ein paarmal versucht, Einhart aus seiner Stummheit herauszulocken. Auch Komtesse Helena, eine sehr muntere, junge Verwandte der Gräfin Schleh, die sehr große und sehr blaue Augen hatte, und eine leichtwogende Stimme, die auch unsäglich melodiös kicherte, hatte die Rede, die Graf Karol über die Kunst begonnen, fortzusetzen versucht.

Nichts war gelungen. Einhart war nun einmal unerwecklich geblieben, erfüllt von der köstlichen Reine und Kühle des Raumes. Er schmeckte und fühlte heimlich die atemlose Stille, mit der die reiche Dienerschaft in bunter Livree lautlos tätig um die Tafelnden umging. Sein lächelnder Blick ging zuweilen achtlos um den oder jenen, der am Tische saß. Einhart fühlte den Sonnenschein durch die hohen Bogenfenster über die vollen Purpurblumen hereingleiten, die in üppiger Silberschale mitten auf dem weißen Tafeltuch ragten, sah das süße Licht über köstliche Spitzen und Seiden und Federflaume, über junge, heitere Köpfe und zarte [176] Schultern fließen und in den Kelchen und Schalen glutrot und weingolden funkeln und blinken.

Das alles war Meister Einhart einstweilen Ereignis genug, erfüllt und stumm zu sein.

Das Gespräch an der Tafel war schließlich über Einhart hinweggegangen. Man hatte von dem Bau einer Eisenbahn geredet, die für die Landschaft in Aussicht genommen. Und Graf Karol erörterte dann mit dem alten Burgherrn hin und her Vermutungen, die sie über die Besetzung einiger freigewordener, hoher Regierungsstellen wechselseitig hegten.

Nur einmal war plötzlich tiefe Ruhe eingetreten.

Das war, als die Diener das Wildgeflügel hereintrugen, und der alte, gebrechliche Burgherr, die Exzellenz, dazu ausdrücklich bemerkt hatte, daß ein alter Mann immer beim Essen sehr sorgfältig verfahren, aber daß er »beiläufig« beim Wildgeflügel um jeden Preis schweigen müsse. Es war darnach wirklich eine tiefe Schweigsamkeit eingebrochen. Daß man die sorglichen Tritte der Diener leise gehört und dann ebenso schnell allgemein in ein herzliches Gelächter ausgebrochen war.

[177] Und ein jeder an der Tafel hatte dann und wann und auch dabei den Meister Einhart flüchtig und verstohlen angesehen.

Als man nach Tisch auf den Terrassenvorsprung hinausgetreten, waren alle voll Güte gegen Einhart. Einhart trug ein volles Festgefühl in sich.

Man stand an eines Marmorschlosses besonnter, weißer Terrasse. Frische, bunte Blumengewinde hingen um die steinerne Brüstung und von den Pfeilern nieder. Die jungen, lieblichen Mädchen reichten in köstlichen Schalen den Tee. Komtesse Helena bediente Einhart, trug ihm selbst die silbernen Tabletten mit feinen Gebäcken zu und lächelte ihm zu mit Anmut.

Weithin in Sonne lag das Grün der Wiesen, ragten die uralten Pappelwipfel und warfen Riesenschatten in die Runde. Man saß bald unter den großen Schirmen, indes man den Tee einsog, die Sonne warm und stumm glühte, und der blaue Zigarettenduft sich träge in die Sonnenluft einspann.

Dann rollten Wagen auf dem schattigen Parkwege her. Es gab eine verhaltene Bewegung unter [178] denen, die am Tische saßen. Dann ein sanftes Begrüßen in die Ferne.

Die Jungen alle hatten sich erhoben und liefen vor die Schloßfront. Einhart mit der alten Gräfin und die gebrechliche Exzellenz, die sich im Lehnstuhl zurückbog und sich nicht rührte, waren allein sitzengeblieben.

»Meine geliebte Nichte,« erklärte gleich die alte Gräfin. »Sie wohnen in unserer nächsten Nachbarschaft. Komtesse Josepha Renauld, des alten Landmarschalls Renauld einzige Tochter,« sagte sie. Dann nahm sie vollends eine sanfte Kummermiene an.

»Oh, Meister Selle! Sie bringt eine sehr liebe, sehr traurige Frau mit. Verena von der Trau. Denken Sie! Diese junge Frau ist kaum dreiundzwanzig Jahre alt und trägt schon an der sonderbarsten Schickung. Sie hat auf unbegreifliche Weise ihren Mann verloren. Mitten aus der glücklichsten Ehe. Was sage ich? Sie lebten wie Kinder. Denken Sie! Durch Selbstmord! Man wird es nie erklären können. Verena ist aus ihrem Erstaunen gar nicht mehr aufzuwecken. Sie sang früher wunderbar. Reich und fromm klang die[179] Stimme. Sie hatte immer etwas Seliges im Laut. Und doch auch herb wieder wie der erste Frühlingswind. Oh, sie denkt gar nicht mehr an dergleichen. Sie lebt schon mehr als zwei Jahre nur so hin in Meditationen. Meine geliebte Nichte müht sich sehr um sie. Und es gelingt ihr auch. Es gelingt ihr, Verena wenigstens in der ländlichen Stille zurückzuhalten.«

So erzählte die alte Gräfin.

»Es ist gar nicht zu sagen,« spann sie ihre Erzählung weiter, »welche stille Schönheit in ihr brannte in ihrer Mädchenzeit. Und welche Erstarrung über sie gekommen ist.«

Aber Einhart hatte sich dann erhoben, weil die alte Dame ihre Handarbeit neben die Teetasse hinschob, um den Ankommenden jetzt auch entgegenzugehen. Und weil er sich von der Neuheit seiner Eindrücke etwas zu erholen wünschte, bat er, daß man ihm erlauben möge, eine einsame Streiferei in den Park und die nächste Umgebung zu tun, um, wie er launig zu der Gräfin sagte, erst einmal deutlich mit Augen anzusehen, wo er sich denn eigentlich befände?

6.
[180] 6

Verena war eine jungfräuliche Frau, eine schlanke, schwebende Junge in schwarzen Flören. Komtesse Josepha ging mit sorgendem Blick zärtlich hütend um sie. Und die Gesellschaftsdame, eine alte Baronin, die außermaßen verbindlich und steif und blinzelnd etwas hinterdrein kam, sowie die jungen Herrschaften, die mit den Ankommenden jetzt auf die Terrasse hinausgetreten, alle schienen in ihren gemessenen Gebärden anzudeuten, daß ein unbegreifliches Schicksal nun in ihrer Mitte stand.

Allenthalben hatte die schwebende, schlanke, verschleierte Verena den Vortritt.

Auch die alte Exzellenz erhob sich wie erschreckt, als sie Verena vor sich sah, und küßte der Trauernden die Hand, ohne etwas zu sagen. Es schien in diesem Augenblicke, als wenn eine Heilige mit einer Trauerbotschaft hereingetreten, und als wenn alle erstarrt wären.

Um Verena wehte es wie Märzluft. Sie schien von der Fahrt ein wenig gerötet. Aber gar nicht sonst erweckt aus ihrer tiefen Stille.

Man hatte bei der Begrüßung nur flüchtig leise[181] Worte gewechselt. Jetzt war man lange stumm. Alle, auch die Jungen, lauschten sozusagen auf ein erlösendes Wort, das aus den leichtgereckten, flaumigen Lippen von Verena kommen würde, die wie eine Rätselträgerin aufgerichtet dastand.

Verena hatte ihren Schleier zurückgeschlagen. Da enthüllte sich ein Gesicht, rosig und streng, wie ein Engel von Fra Angelico, mit einem lieblichen, scheuen, graudunklen Auge. Es lächelte verloren zur alten Gräfin Schleh hinüber, als man sich endlich in die Runde niedergelassen hatte, und die Diener den Ankömmlingen den Tee zu reichen begannen.

Dann waren die graudunklen Augen Verenas lange über die durchschatteten Parkwiesen hingewandert, wie ziellos, und doch heimlich suchend, und wie wenn es aus dem warm besonnten Dufte der Aue aufsteigen könnte.

Ein goldener Tag fing an zu vergehen. Die sinkende Sonne glänzte in Blatt und Zweigen. Strahlengarben schossen zwischen den Baumwipfeln hindurch. Und allenthalben in Blattwerk und den hohen Blumenstauden schwebten und zitterten in der Luft goldene Gespinste.

[182] Die alte Schloßherrin sah oft mit Zärtlichkeit zu Verena.

Man plauderte allmählich wirklich. Verena pries den Abendfrieden. Man begann von fernen, schönen Dingen zu reden. Von den seltsamen Reizen der Tage, darüber die Jahreszeiten Blüten oder Früchte, goldene Blätter oder weiche Flocken verstreuen. Von dem Leben einer Seele hinter allen Dingen und Schicksalen. Von dem Geheimnis der hier auf Erden unerfüllten Schicksalsläufe. Und wohin die Seelen wohl eingingen, die hier ihren Lauf noch nicht vollendet? Von der Liebe, die wie das Licht wäre, nie stürbe, nur erlöschte, daß es wer weiß welche heimliche Macht immer neu erwecken könnte. Verena schien in solchen Meditationen über sich und die Welt zu leben.

Die alte Gräfin Schleh hatte fortwährend einen verklärten, ängstlichen Ausdruck voll Güte, sah Verena oft von der Seite an, wie gehalten und streng sie dasaß, und war heimlich wie ergeben in den vibrierenden, leisen Stimmton der Trauernden.

Verena war dann lange brennend solchen Rätselbetrachtungen hingegeben. Es ließ sie nicht los. Sie beherrschte sanftredend oder auch eine Weile [183] tiefstumm den ganzen Kreis. Sie sah in jedes der Gesichter um sie manchmal fragend und grabend hinein, auch wohl unversehens mit einer unsäglich jungen Zärtlichkeit, die wie warme Sonne aufleuchtete.

Keiner der Anwesenden hätte sich auch nur eine Weile von dem Spiel ihrer stillen Mienen weggewendet. Jeder, auch die jungen Komtessen und die alte Exzellenz, blickten liebend auf den feinen, roten Mund und in das blaßsommersprossige, schmale Frauengesicht. Und alle erstaunten heimlich über die Kraft und den Frieden, womit die graudunklen Augen Verenas Harm aussäen konnten und ein hoffnungsloses Ergraben.

Die Linie ihres Kinnes und Halses, wenn sie den Dunkelschleier noch mehr zurückstrich und beim sanften Reden den Kopf ein wenig reckte, nahm eine einzige Schönheit an. Sie ragte dann in ihren schlichten, aschblonden Scheiteln im Raume gleichsam wie eine heilige Bildung für sich.

Als Einhart wieder auf der Terrasse erschien, neigte sich die Sonne tief dem Horizonte zu. Man hatte sich unter dem Eindruck der Düsternis, die aus Verena ausgegangen, neu ganz stumm dem [184] Anblick der verquellenden Sonnenfeuer hingegeben. Man sah die Sonnenscheibe langsam einsinken, starrte der blitzenden, zückenden Erstrahlung nach und hatte dabei lange geschwiegen.

Aber Einhart kam ganz achtlos.. Er hatte den Sommerhut in der Rechten und brachte eine lose Freude in seinen lächelnden, graugelben Zügen. Er grüßte schon von ferne heiter und verbindlich. Er hatte zum ersten Male über die weiten Ebenen hinausgestaunt, die sich dicht hinter den Gutsgebäuden und dem Parke dehnten. Er hatte in diesem Augenblicke etwas an sich wie von einem fremdartigen Wanderleben.

Als ihn die alte Schloßherrin vorstellte, sah er mit Funkelglanz seiner Augen in jedes Auge hinein. Ohne doch zu sehen. So war er erfüllt.

Er begann die Landschaft fröhlich zu rühmen und rühmte das seltene Glück solchen Aufenthaltes. Nicht mit lauten Worten. Mit einer Art, die sich launig und leise nur hinausgab, vorsichtig die Eindrücke ertastend, aber mit einem Gefühl der sicheren Frische jetzt aus einer Welt, die ihm deutlich im Auge stand.

Erst lange nach seinen Worten hatte er die junge[185] Frau in dunklen Flören neu angesehen. Da erst begann er zu merken, daß er in eine weihevolle Ruhe mit seiner Freude hineingesprochen. Er sah sich die neu Angekommenen jetzt noch einmal wie absichtslos behutsam an. Indes er nun auch stumm der gleichgültig gewichtigen Rede lauschte, womit die alte Baronin die entstandene Pause der Unterhaltung, ganz in fernliegenden, selbstgefälligen Erinnerungen aus ihrer Mädchenzeit befangen, auszufüllen sich bemühte.

Und Einhart vergaß sich dabei ganz in dem Anblick Verenas. Es däuchte ihn, daß er noch nie eine solch erschrockene Scheu, eine solche rosige, stille Heilige mit Augen gesehen. Und daß er noch nie ein solches erzitterndes Glück aus einer Menschenstimme je hallen gehört, als Verena mit leisem Worte zum Aufbruch mahnte.

Er war gleich völlig betroffen.

Und er ging zurückhaltend und in Gedanken mit bis zum Schloßportal, wo die Wagen standen und warteten.

Die alte Gräfin Schleh schritt auf dem abendbeglühten Kieswege neben Verena. Man sah, daß sie zutraulich zu der jungfräulichen Trauerfrau [186] redete. Die Gräfin sprach von Einharts Kunst. Sie machte Rühmens. Verena erinnerte sich ferne manches aus des Meisters Werkstatt, das sie früher angesehen. Sie erinnerte sich wohl auch seines ausgezeichneten Namens. Sie stieg nicht gleich in den Wagen ein, den der Diener eine Weile geöffnet hielt. Man legte ihr einen weichen, langen Pelzmantel um, wobei auch Komtesse Josepha Verena liebend behilflich war.

Verena sah erstaunt zu Einhart hinüber, der zurückstand. Und weil ihn die jugendliche Hoheit ihrer Schwermut gleichermaßen wie der andächtige Rätselton ihrer Stimme und ihr blasses, köstliches Haar unversehens hingerissen, fehlte nicht viel, daß er sich ihr plötzlich leidenschaftlich genähert. Aber er stand doch nur ernst und aufgerichtet und grüßte nur mit einer fast kindlichen, tiefen Verbeugung.

7.
[187] 7

Einharts Art zu erleben war in diesen ersten Tagen wie immer heiß und sonderbar. Die erste Nacht im Schlosse konnte er lange keine Ruhe finden. Es war eine stille, ziemlich dunkle Reifnacht, darin die Zweige von der Kälte knickten und fielen. Er hatte lange am Fenster gestanden und in die unbestimmten Dämmer auf den grauen Wiesen hineingesehen. Die Sterne waren spitz und klein und gaben nur wenig Schein auf die Erde.

Und Einharts treibende Erinnerungen kamen in ihm auf und trieben hin mit zerfließenden Säumen leicht wie Nebelfrauen. Er sehnte sich. Er begann unbestimmt nach etwas zu trachten und dachte an dies und das, was vergangen war mit Sturmeseile und zerschellt, wie ein bekränztes Boot an einer Nebelklippe.

Das Schloß lag in tiefer Stummheit. Da, hinter den hohen Bäumen, die wie Schattenkuppeln hoch ragten, dehnte sich ins Ungewisse die lautlose Steppe, von seinem Auge jetzt ungesehen. Und doch seinem Lauschen ganz nahe. Daß sie in seinem Blute wie der ewige Ton einer Muschel sang und summte von der Freiheit, die dort gebreitet lag.

[188] Und in Einharts Auge, das sich halbschließend ein Spiel machte, zu träumen, stiegen die Dunkelheiten in Gestalt auf und schwanden langsam vorüber.

Einhart stand am offenen Fenster, darein der Nachthauch quoll und wie ein Ruch von verwelkendem Laube.

Er fühlte auch, daß er ein wenig fröstelte.

Aber die dunkle Nacht, in die er ganz für sich sengend hineinsah, hatte tausend Gesichter. Da kamen viele, die gestorben waren und verweht. Warum kamen sie in dieser Stunde? Da kam allerlei springendes Volk, und verhuschend schienen die Glanzlichter kindlicher Blicke vorüberzuziehen.

Seiner Mutter heißes Augenfeuer begann lange wie ein Stern im Dunkel vor ihm zu brennen.

Einhart hatte wohl nie im Leben geweint. Er hätte jetzt vielleicht zum ersten Mal eine Träne gehabt, wenn nicht sein Auge sich gleich dem wirklichen Nachtbilde draußen noch weiter aufgetan.

Draußen fielen im Scheine des Lichtes, das von hinter ihm in die hohen Kronen der Weymutskiefern blassen Glanz warf, einige blinkende Zweige nieder, und es klang wie zerbrochen. Der knickende [189] Laut weckte ihn einen Augenblick aus seiner tiefen, traumumfangenen Erstarrung.

Warum er nur so unruhvoll umfangen war von Vergangenem?

Er hatte sich mit einem wahren Herzenshunger zu sehnen angefangen.

Es waren alles Ungewißheiten, wie oft bei Einhart. Es waren Träume, die leibhaftig aufwuchsen. Es waren Visionen, die ihn jetzt plötzlich zu zerreißen begannen.

Alles Vergangene lebt wer weiß wo in einem fernen Reiche immer lebendig und kann wohl in Stunden der Qual oder der Ahnung wie ein Reigen uns umtanzen und uns bedrängen.

Einhart sann nach. Da standen auch aufrecht manche Menschen, die er nie gekannt. Deutliche, klare Gesichter unter denen, die ihm einmal nahe gewesen. Das Gesicht eines alten Schiffermannes hob sich vor ihm aus der Dämmerung so hell im Nachtgewirr, daß er wie gebannt dem großen, klaren Auge wie in den Grund sah.

Einhart konnte gar nicht der Gedankenspiele Herr werden. Er kannte das Gesicht nicht, das vor ihm gestanden und das jetzt vergangen war mit Blitzesschnelle. [190] Als wenn man es plötzlich wie ein Licht ausgelöscht. Dann besann er sich, weil er immer noch den Mund sprechen hörte von Sehnsucht.

Etwas war jetzt in ihm nur brennende Sehnsucht.

Er dachte zurück an Johanna. Etwas war damals Erfüllung gewesen, redete es in ihm, und war doch nicht erlöst worden.

Johannas Wesen wehte wie eine treibende Minne mit langen Flören um ihn. Wie ein dunkler, unheimlicher Nachtvogel, wie eine grenzenlose Schwermut. Daß Einharts Herz sich wie im Krampfe zerpreßte, und er unversehens wie gescheucht vom Fenster zurücksprang, von dem schwarzen Flügelaste der Weymutskiefer angerührt, der zufällig gegen das Fenster griff.

Oh! Daß er jetzt wußte, warum sich seine Seele in der dunklen Nacht ganz vereinsamt und tief versunken zu härmen begonnen.

Jene Frau in Flören war nicht Johanna. Johanna war eine Sanfte, eine zärtliche Blüte, eine Ahnungslose, eine kleine, liebende Seele, eine, in der im Wunder des eigenen Daseins die Goldsäume der Liebe flüchtig um die Dinge gegangen. Die nichts gewollt, als eine andere Seele suchen [191] und finden, und nichts begehrte aus ihrer eigenen Brunnentiefe. Johanna war wie ein kleiner Lerchenvogel ins Blaue emporgeschnellt, hatte beglückt auf einem Himmelsflecke stillgestanden, in jedem Morgen neu die Welt lieblich besingend. Und doch auch mit der heimlichen Wunde, die wer weiß welche Sehnsucht der Seele eingebrannt.

Aber das Bild Johannas stand gar nicht vor Einharts Augen. Verena hieß die Frau in schwarzen Flören. Verena zog in der Nacht über die Baumhäupter. Zog in der Reifkälte wie eine dunkle Trauer hin. Zog jetzt in tiefer Stummheit in ihren weiten Mantel gehüllt. Trug eine Seele hin. Trug und herzte sie, wie eine Mutter ein Kindlein herzt. Trug eines Mannes enttäuschte Seele klagend empor an ihrer Brust.

Einhart war von der Vision völlig erregt und erschüttert.

Jetzt begann er zu fühlen, daß sein Herz eines weichen Mantels bedurfte, darein man es hülle, damit es noch einmal rätselgebunden und selig gleichermaßen emporschwebe. Damit es noch einmal ganz aus der Tiefe neu zu leben beginne.

Einhart war so hingenommen von dem aufquellenden [192] Verlangen nach dieser Vision, daß er die Augen wie im Fieber weit aufgerissen, daß er wie im Traumschrecken beinahe laut gerufen hätte, daß er sich sehnte, wie ein Wahnwitziger, wie ein Hungernder, und in einem wahren Herztumulte dastand.

Er war dann ganz erwacht. Er war langsam zu sich gekommen und lächelte. Es waren alles nur Gänge der eigenen Traumerregung, die mit dem wunderlichen Tiefklang kamen und gingen.

Draußen lag die Nacht noch immer stumm. Es lockte ihn sich zu kühlen. Er ging durch die matterleuchteten Korridore und ließ sich von einem wachenden Diener das große Schloßportal auftun, um in den blassen Nachtschein zu treten.

So ging er hin.

Im Teiche tanzte ein Stern in den Kräuselungen, die ein kaum spürbarer Hauch auftrieb. Die Schwäne wie kaum sichtbare, graue Schemen strichen heran und quiekten leise klagend.

Einhart hatte die Düsternis von sich getan. Er ging sichern Schrittes und hörte seine knirschenden Tritte. Und lief im weiten Bogen des grauen Kiesweges hin, bis wo noch im Abendschein Verena gesessen.

[193] Auf der Terrasse stand noch der Stuhl, und lag ein dunkles Spitzentuch über seiner Lehne. Offenbar hatte es Verena vergessen. Es duftete wie ein Hauch von ihrem Leben. Und wie eine fremde Blume schien ihren Atem in die Nacht zu geben.

Einhart hatte sich in einer leidenschaftlichen Vertiefung in den Stuhl niedergesetzt, worauf er am Nachmittage Verena gegenüber gesessen. Nun saß er und saß.

Er kämpfte vergeblich gegen seine Gesichte. Kämpfte vergeblich gegen die wache Inbrunst seiner Träume ...

Ein Wächter, der im Morgengrauen an der Terrasse beobachtend vorüberging, fand dann Einhart dort in dem großen Korbstuhl ganz erstarrt eingeschlafen.

Wie ein Hund seinem Herrn auf der Spur folgt und auf seinem Grabe sich zu Tode verzehrt nach seiner Seele und verhungert, so war es über Einhart gekommen. Daß er erst im Morgenlichte alles ganz vergaß, als er sich endlich in seinem Bette befand, einige Stunden ruhig eingeschlafen und von weiten Ebenen träumend, darin er mit irgend einer fremden Frau hinschritt.

8.
[194] 8

Einhart war am andern Tage ganz frei und froh. Er war heiter und bereit zur Wanderung im Parke und zu Fahrten in die Meierhöfe. Und war ein bevorzugter Gast im Schlosse. Daß er Nachtgespenster gesehen, das hatte sein Blut im Lichte noch vollends vergessen.

Er war am Morgen vom Kammerdiener rechtzeitig geweckt worden. Und man vergnügte sich erst eine Weile im Anschauen einiger Kunstblätter in der Bibliothek, ehe man in ein kleines Gehölz hinausgefahren, wo auch schließlich die Diener auf weißen Tüchern am Waldboden das Frühstück aufgestellt, und wo man im Kreise darumgesessen, viel geplaudert und gelacht hatte.

Und Tage gingen dann in solchem Behagen hin und in der Fülle Freiheit, die unter allen Menschen hier herrschte.

Das Schloß der Gräfin Schleh lag ein wenig entfernt von den zahlreichen Gutsgebäuden auf einem kleinen Hügel mitten in dem uralten Parke. Die blaue Flagge Derer von Schleh wehte hoch vom Turme in die Lande. Um den Park dehnten sich nach einer Seite die Weiden.

[195] Einhart durchschritt oft einsam die stillen Schattengänge des Parkes, durchbrach Büsche und herbstbunte Dickichte und Dornen, die den Park am äußersten Ende eingrenzten, sprang über Hürde und Graben und stand dann unversehens in der weiten, schweigenden Flur.

Hier war es, wo er zum ersten Male in die Ferne sah. Hier war es, daß er plötzlich wie nie im Leben seines Blutes uralte Triebe in einer schier grenzenlosen, verhallenden Einsamkeit in der Stille der Steppe vernahm, wie einer ganzen, weiten, unermessenen Grasflur tiefste Sehnsucht selber. Hier stand er und fühlte seinen Atem aus tiefster Brust, wie aus seinem innersten Leben drängend. Daß er erschrocken stand. Daß er ewig lauschte. Daß es ihm deuchte, als wenn in den reinen Lüften, die im Weidenstumpfe knarrten, und in den fernen, freien Tieren dasselbe seit Anbeginn lebendig wäre wie in ihm. Ungebunden und mit freiem Fluge, die Seele voll Licht und den Weg voll blumigen Grases hinauszuspringen, ohne Band, ohne Ziel, weil allenthalben das Ziel der Stunde, die Rast, der Aufenthalt, die Stärkung unter Fuß oder Huf gebreitet [196] daliegt, von der Sonne geweckt, vom wehenden Luftzuge erzitternd.

Hier quollen Gefühle der Freiheit auf. Und er wähnte so hin in seinen wachen Träumen, als wenn er hineingestellt wäre, ein alter Zigeuner, in die weite Steppe und hätte irgendwo da sein Wanderzelt aufgeschlagen.

Als wäre er nicht geboren in einer fremden, gebundenen Gesellschaft, sondern aus dem Boden aufgesprungen, wie eines jener schlanken, schönen Schwertgräser, die mit ihren toten Ähren jetzt am Wassergraben entlang sich stolz wiegten.

Hier vergaß Einhart, daß noch eine andere Welt lebte, darin er als ehrgeiziger Künstler umgegangen. Und sein einstiges Treiben und Trachten schien erstorben zu einem fernen, leeren Gemurmel.

Hier hockte Einhart stundenlang auf einer Hürde und sah hinaus. Sein dunkles Gesicht war jetzt noch vollends richtig bronzen gebrannt. Seine Hände waren fein und dürr wie braune Zigeunerhände. Hier begann in ihm zum ersten Male eine Stimme leidenschaftlich zu rufen nach einem freien, eigenen, aus sich bestimmten Leben.

Nie hatte er gewußt, daß es im Blute einen [197] Laut gibt, so unaufhaltsam, so unstillbar tief, so ewig alle Stimmen der Zeit und der Welt überrufend, daß nichts bleibt als diese eine Stimme. Unter den Tieren wanderte er manchmal weit hinaus, ohne Hut, ohne Stab, ganz nur er, einsam und achtlos, daß man ihn schließlich ängstlich ein paarmal suchen kam und ihn an die Ordnung im Schlosse gütig zu mahnen.

Er konnte hier alles vergessen. Er starrte einem Blatte nach, das frei im Winde lebte. Und einem Füllen, das nach seiner Mutter Laut die Ohren neckisch vorwarf.

Er sah auch immer darin eine Weibesgestalt bewegungslos stehen, streng in sich selber und von zärtlicher Güte, wie nur die Schönsten sie haben. Mit der Süße der Züge einer Geliebten und auch eines ein wenig ängstlichen, lieblichen Kindes.

Fern kam es. Fern ging es. Diese Bilder von Verena tauchten von ferne in die Fülle Gefühl, die ihn in der Steppe zum Leben aufrief.

Und wenn dann Einhart heimgekommen, waren seine Augen von dem Glanz, der in jedem Grase gefunkelt, noch tiefer und fröhlicher, noch ahnungsvoller und leidenschaftlicher zugleich. Es ging dann [198] aus seinen Augen und aus seinen Worten, wenn er sich so vollgesogen mit der kühnen, hinauslockenden Freiheit des Weidetieres und des ziehenden Vogels, eine solche stählerne Festfreude aus, daß mancher an der besonnten Schloßtafel, verstohlen auf Einhart blickend, nicht begriff, wie mit diesem schlanken, jetzt in gewählter Salontracht dasitzenden, leicht ergrauten Manne, dessen Mienen und Gebärden sanft und gütig waren, sich ein solcher Hauch freien Wandertums und losen Abenteuers, eine solche rücksichtslose Ungebundenheit und Lust am namenlosen Leben auf der weiten Erde je zusammengefunden.

Einhart saß an der Tafel sanft geneigt. Die Gräfin Schleh sah ihn wie beglückt an. Aller Blicke suchten ihn manchmal. Er konnte mit lustiger Laune auch nur von dem springenden Blatte erzählen, dessen Spiel über die Ebene hin er mit spannenden Augen aufgesogen. Oder das Zwiegespräch von ein paar rauhaarigen Füllen, das er, als sie miteinander weideten, vorgab selber erlauscht zu haben. Innige Wahrheit barg sich immer hinter seinen lustigen Lügen. Man sah alles, was Einhart sich so aus den blauen Lüften eingebildet. Denn Einhart hatte wie ein Raubvogel so sicher die kleinsten Seelendinge angesehen, die in [199] Luft und Steppe hinstrichen. Das alles hatte er erspäht. Das alles lebte in seinen Worten. Daß ein Pferdewiehern wie ein Lachen der Freiheit und das Auseinanderbrausen einer jungen Hengsteschar wie der letzte Ton einer ganzen Geschichte der Leidenschaft ausklang.

Man liebte Einhart. Alle liebten ihn.

9.
[200] 9

Tage nachher war man beim Landmarschall, dem Grafen Renauld, zur Tafel.

Einhart sah hier Verena wieder, die heute in lichten Gewändern kam.

Hier ging von Anfang an eine fröhliche Laune durch die hohen, reichen Räume.

Der alte, zausbärtige Schloßherr, ein frischer, leidenschaftlicher Mensch, der jeden Eintretenden eine Weile mit zutunlichen Worten in Beschlag nahm, hatte besonders Einhart laut hofierend angesprochen. Und er war dann auch nicht mehr von seiner Seite gegangen, hatte ihn heiter plaudernd und lachend einige Säle im Schlosse weitergeführt, und hatte ihm dort herrliche Sammlungen von japanischen Altertümern, persische antike Porzellane und die kostbarsten Möbelstücke alt orientalischer, eingelegter Arbeit, wahrhaft königliche Besitztümer, einzeln vors Auge gehalten und erklärt.

Aber auch bei Tisch waren alle voll Laune. Auch Verena, die in ihren hellen, blaßgrünen Falbeln und mit der dunklen Perle mitten auf der Stirn, die an einem Goldkettchen hing, wie eine liebliche Heilige von Perugino dasaß. Es schien, als wenn [201] auch sie nur eine arglose Teilnehmerin zu erscheinen wünschte. Sie sprach, ein wenig scheu, einige Male freundlich über den Tisch herüber. Was Komtesse Josefa unabsichtlich flüchtig lächeln machte, weil Verena dabei in richtiger, weltlicher Teilnahme redete.

Man sprach während der Tafel viel von den Künsten. Der alte, graubärtige Schloßherr hatte Einhart dazu ausdrücklich angeregt. Und weil Einhart gleich mit heimlicher Entzückung die Nähe der lichten Verena gefühlt, redete er froh mit versunkener, zögernder Frische, lächelte dann und wann mit seinen funklen Augen den oder jenen absichtslos an und sah oft wie zufällig zu Verena hinüber, die mit mildem Eifer seinen Worten zuhörte.

Einhart redete mit viel Wärme kluge Worte.

»Jeder Künstler, nein, ein jeder von uns,« sagte er lebhaft, »sollte eigentlich immer noch ein Kind sein.«

»Wohl dem, der ein Kind bleibt sein Lebelang,« sagte er danach, weil sich sein Blick in Verenas jungfräulicher Schmäle eine Weile wie verfangen.

»Davon ganz abgesehen!« verbesserte er sich dann[202] schnell, wie er es merkte, daß er in die Irre ging. »Vor einer höheren Macht sind wir ja alle immer Kinder,« sagte er lachend. »Ich wollte nur sagen: zuerst kommt die Meisterschaft des Meisters, der den Schüler vorwärts führt. Mag der Meister nun ein Mensch oder die Natur selber sein.«

»Aber von dem Meister muß der sich befreien,« sagte er nachdrücklich, »der ein Meister werden will. Von der Natur sich befreien! Die Natur zum Eigentum seiner selbst überwinden! Ja! Das taten alle Großen. Da redet erst das Innerste, was in uns selber redet. Dem müssen wir ganz untertan werden. Es zur Sprache bringen, das ist die Meistersprache.«

»Mit dieser Sprache verstehen sich die Großen aller Zeiten,« redete er sanftmütig zu Verena hinüber. »Sie reden aus einem heimlichen Reiche, daraus wir wohl alle ausgetrieben sind. Eine Art Heimat.«

»Das ist dann Heimatkunst,« sagte er lachend.

»So kommt es mir wenigstens manchmal vor,« gab er noch ein wenig kleinlauter hinzu, weil er die Augen Verenas zärtlich auf sich gerichtet gesehen ohne Absicht. Er wußte nicht sonst groß, was er [203] geredet. Er redete mit schwärmerischem Tone. Sein Auge konnte dabei aufblitzen. Und an der Tafel herumwandern von dem zu jenem. Manchmal ging es wie das Auge eines gütigen Vaters über die aschblonde Junge hin, immer sie wie im Zwange fast demütig bittend um ihre Fröhlichkeit. Und Verena saß allmählich ganz frohmütig, indes Einhart erzählte und sich heimlich verzehrte nach ihrem Anblick, wenn ihm auch nur der volle Strauß großer, gelber und rosa Chrysanthemen, der mitten im Licht der Tafel ragte, ihren Anblick für Augenblicke entzog.

Verena ließ dann ihren Hut in der Vorhalle des Schlosses liegen und lief, wie die jungen Komtessen, mit hinaus auf die Pferdeweiden. Sie hatte eine scheue, kindliche Heiterkeit. Einhart suchte wie absichtslos ihre Nähe und behandelte sie mit sanfter, fast zärtlicher Achtung.

Verena vergaß sich ganz. Auch in die andern war ihre Heiterkeit eingegangen. Man begann sich zu haschen. Beinahe wäre Verena mitgesprungen. Sie besann sich zu rechter Zeit und war dann ein wenig verlegen.

»Wie sie alle froh sind!« sagte sie nur zur alten[204] Gräfin Schleh gewandt, die neben ihr auf dem Parkwege hinschritt.

Man schritt über welke Wiesen. Verena brach einige verspätete Blumen und lachte fröhlich für sich.

Einhart ging der alten Gräfin zur Linken. Ihm gingen beim Schreiten heimlich Melodien mit. Es schritt sich herrlich in den losen Herbstschatten und weiter hinaus.

Man wanderte über die Weiden.

Ein alter, struppbärtiger Hirte kam herangesprengt und zog seinen vergilbten Filzhut nieder, den er vor die Brust hielt, daß die roten Bänder daran flatterten.

Der Hirte gab weise Antworten auf drolliges Fragen.

Die Tiere kamen heran, junge, scheue Stuten, die um die Tränke standen und äugten.

Ein paar graue Wollköter spannten auf den Hirten, den strengen Herrn der Steppe, der auf dem flattermähnigen, heißen, braunen Hengsttiere herangestrichen. Der jetzt das lose, unbändige Tier noch immer fest in Stricken hielt. Bis er ihm dann plötzlich neu die Freiheit gab, um selber ein [205] ganzes Rudel Füllen um die vornehmen Ankömmlinge heranzutreiben.

Sonne! Sonne! Steppenerde! Himmel klar und tief! Lose Tiere auf weicher Grasflur weit in die Ferne! Vögel, die hinziehen im Grenzenlosen!

Man schritt ohne Rücksicht.

Die jungen Komtessen hatten sich unter die Füllen verstreut mit einigen der jungen Herren zusammen. Man schlug in die Hände. Man lockte mit Grasbüscheln, die man abgerissen, bis eines oder das andere der Tiere laut schnaubend langsam herangekommen.

Die alte Gräfin Schleh wandelte achtlos mit dem zausbärtigen Schloßherrn in tiefer Zwiesprache.

Verena stand einsam neben Einhart. Schlank aufgerichtet. Ihr lichter Kopf wie in silbernen Schimmern gegen die Ferne. Ihre Augen lächelten. Einhart sah hinaus, als wenn er es sehnsüchtig erspähen müßte und keine Grenzen sähe.

Einhart stand lange so stumm. Etwas in seinem Blute begann sich zu regen, daß er tiefer atmen mußte, um sich dagegen zu betören.

Er fühlte jetzt Verena neben sich schreiten und[206] neben sich ragen in der Freiheit. Es war jetzt wie eine jähe Gewalt aufgekommen. Er begann Seltsamkeiten zu reden mit einem zitternden Tone, als wenn er sänge. Er sprach von den weiten Toren, die hier hinausführten aus aller Trauer und allem Herkommen. Von den kleinlichen, engen Bestimmungen und Zwecken, die die Menschenseele ewig verkümmerten. Er pries ein Leben ohne Ziel, wie jene losen Lüfte es lebten, die mit goldenen Halmen vor ihnen hintändelten. Er sah dem reitenden Hirten nach und der scheuen, sonnengebräunten Hirtin, die ferne hinschritt. Er pries ein Leben ohne Namen und ohne Grenzen, so auf Pferdes Rücken hin, frei und im Gefühle der Kraft, stolz das Weib seiner Liebe zu behüten und am Herzen des Weibes im Zelte auszuruhen.

Seine Worte klangen wie helle Rufe, und als wenn er am liebsten sich hingeworfen, den Boden der Steppe mit der Stirn zu berühren in Inbrunst.

Verena stand neben Einhart. Sie war kindlich erstaunt in ihrer scheuen Fröhlichkeit. Weil sie die Glut in Einhart lohen sah. Die verzückten Worte seiner Rede hatten sie noch mehr aufgeweckt.

[207] Als sie dann beide wieder unter die übrige Gesellschaft traten, und man dem Schlosse langsam zuwandelte, war Einhart ganz für sich neben ihr.

10.
[208] 10

Wer wohl begriff, was in Verena so zärtlich aufquoll, als die alte Gräfin Schleh mit Einhart und dem übrigen Besuche durch die hohe Allee des Schloßgartens hinausgefahren. Als nur die alte Baronin mit dem blinzelnden Auge und die liebende Komtesse Josepha noch um sie waren. Verena sah auf und lachte in die Abendluft, weil oben hoch ein Rüttelfalke mit zitternden Flügeln im Äther stand, nach Beute spähend. Verena sah lange hinauf ins Abendlicht, bis ihre Augen geblendet kleiner wurden, und war kindlich erschreckt, als das flüchtige Tier plötzlich in die Baumkronen niederschoß, und nur ein schrilles Gekreisch hörbar blieb.

Das Schloß lag in roter Glut. Die Fenster umrankte glühes Blattwerk. Verena schritt neben Komtesse Josepha und hing den Arm in den ihren.

Verena begann jetzt auch einige schwebende Töne zum ersten Male zu singen.

»Oh Verena!« sagte die junge Gräfin zu ihr. »Wie es klingt! Herrlich! Siehst du, du kannst es!« sagte sie nur. Sie wußte, wie oft Verena jeden Versuch, sie aus ihrer Trauer zu Tönen zu locken, immer noch bestimmt abgewehrt.

[209] »Meinst du, daß ich es wieder können werde?« sagte Verena nur, und sah in die weite Wiese hinein, wohinter in der Ferne ein weißer Tempel an einem Schilfwasser ragte, davor mitten eine große, weiße Vase sich aus der Flut erhob.

Und Verena sang gleich noch eine kleine Kadenz, lachte in die Luft und hatte den Abendglanz in ihren tiefen, grauen Augen leuchten.

»Oh Verena! wie du wunderbar aussiehst, wenn du so aufblickst«, sagte die junge Gräfin, als sie jetzt merkte, daß Verena eine zärtliche Heiterkeit kaum bemeisterte.

Man schritt einen Augenblick stumm.

Die alte Baronin achtete nicht groß auf die unsichtbaren Geister, die im Abendglühen rings und in Auge und Seele der neben ihr schreitenden jungfräulichen Frauen umgingen. Sie war an einem Asternbeet stehen geblieben, besah umständlich die bunten Blumen, nur um etwas auch dabei mitzutun, und brach eine blaue Aster, die sie Verena reichte.

Aber Verena sah sich die Blume lange erst kindlich an, stand still und redete dann zu der Blume, als wenn niemand um sie wäre.

»Ach, du bist es, Liebe!« sagte sie. »Solche [210] düstere Blume paßt wohl nicht mehr an mein Herz,« sagte sie dann bestimmt. Und dann redete sie ganz ernst und sich sichtlich besinnend.

»Nur blaue Astern schmückten meines Vaters Sterbezimmer,« sagte sie dann. »Er hatte nie sonst im Leben Blumen angesehen. Nur erst als man ihn in seiner letzten Krankheit in Kissen in den Park gebettet und er so lange still für sich dasaß. Da hatte er zum ersten Male im Leben Blumen geachtet. Diese da. Er hatte sie zu lieben begonnen. Deshalb befahl Mutter, daß man ihn im Tode damit schmücken sollte.«

Die alte Baronin war richtig erschrocken, daß sie so fehlgegriffen und wartete lange, ehe die frohe Laune, die sie verscheucht, in das lässige, stille Abendwandeln zurückkehrte.

Dann war die Baronin im voraus ins Schloß zurückgekehrt.

Im Schloßgarten, dort wo man von der Landstraße in den Park hineinsah, hatte die junge Gräfin ein eichenes Kruzifix für die Wanderer, die vorbeigingen, errichten lassen. Jeden Tag des Jahres kniete sie zu Ave dort und legte der Jungfrau einen Strauß Blumen nieder. Jetzt knieten [211] Verena und Josepha im Abendlichte vor dem kleinen Holzbilde und schauten verträumt zur Jungfrau empor und beteten ein kindliches Gebet, eine jener süßen Weisen, die nichts wollen, als sich nach goldenen Früchten recken, oder gar gläubig selig nach Mond und Sternen, sprechend: Gieb mir den Mond! Gieb mir die Sterne! Gieb mir das Reinste! Indes Baum und Strauch um sie in der Runde flüsterten.

11.
[212] 11

Es waren Tage vergangen. Und es war ein lieblicher Tag gekommen nach Sturm und Regen. Die Bäume waren noch vollends astkahl geworden, und das Laub häufte sich in den Gartenwegen. Einige Astern blühten noch in den Beeten, die ziemlich gezaust aussahen. Die Sonnengespinste in der Luft hatten goldene Wärme.

Die Renaulds mit Verena waren wieder zu Besuch auf dem Schlosse der alten Gräfin. Verena sah rosig und reizend aus. Sie trug ein Barrett und einen ganz schlichten Sammetpelz, den sie wie einen Husarenmantel leicht auf die Schulter hing, als man im Parke spazierte.

An diesem Abend war man in den Musiksaal des Schlosses gegangen, weil einige der jungen Mädchen gewünscht hatten, Musik zu hören. Ein weiter Raum mit freier Wölbung, also daß die Töne des Klaviers darin voll Wohlklang sangen und wie aus einer tiefen Seele kamen.

Alle hatten sich gleich an die Wände verteilt und saßen in Ecken und Winkel gelehnt und versunken. Weil Verena sich unerwartet ans Klavier gesetzt hatte, wo ihre mattgraue Robe allein noch rieselte.

[213] Sie begann einige Baßtöne anzuschlagen, die im Raume tief surrten. Alle horchten wie erstaunt und beglückt.

Aber sie war unentschlossen. Dann begann sie ein Kinderlied.

Einhart horchte. Der Klang der Stimme allein sang ihm schon ein Schicksal vor. Es klang nicht zerbrochen. Es hallte wie eine Überwindung. Der Ton war anfangs ängstlich und zögernd im Vorwärtsgange. Aber Verena sang durch die leisen Kümmernisse, die sie zurückhalten wollten, sich ganz und gar zu einer freien Feier.

Einhart saß gleich und zerriß sich den Sinn nach diesem Klange, der ihn umspann, wie aus Harfenlauten und Vogelstimmen gemischt. Ein jeder Hall beladen mit einem frommen Geheimnis, das leise hinschwebt. Ein jeder auch ein Zauberstab, dem Auge Gärten voll Blumen zu wecken und seiner tiefsten Begehrung letztes Gefühl. Es däuchte auch Einhart, als kämen die Töne wie Friedenstauben, hinausgeflogen, zu suchen, wo sie in den weiten Wassern eine Stätte fänden.

Wer Einhart kannte, mußte wissen, daß er allmählich dasaß, als wenn es seine Seele selber wäre, [214] die den Raum mit tausend dunklen und hellen Gewalten ausfüllte. Manchmal schienen die Töne, wie wenn Sturmvögel ihr Lied schrieen im Gewitter. Manchmal schien der Raum sich tief zu verdunkeln vor Einharts Augen, daß er sich ermannen mußte.

Große Rätselkelche graufleckiger Lilien ragten im Dämmer von einem blanken Marmortische, verbreiteten einen betäubenden Duft im Saale und schienen mit zu leben ein stummes, nieverratenes Lebensgeheimnis.

Verena sang und sang mit einer zärtlichen, stillen, selbstvergessenen Leidenschaft. Sie sang Lied um Lied. Sie sah aus wie ein musizierender Engel, von Meisterhand hingebildet, aber mit einer Seele, die sich wirklich regte und mit einem roten Munde, der selber Musik war.

Und Verena sang und sang. Und jemehr sie sang, desto reicher gewannen ihre Augen und Mienen den Ausdruck einer lichten, reifen Kraft, einer tiefen Zuneigung zu den Visionen ihrer Tongestalten. Daß sie allmählich völlig vergaß, wer um sie war. Daß nur ihr Blick manchmal noch den gütigen Blick Einharts berührte, wie [215] wenn sie sein reiches Leben mit ihrer Seele flüchtig grüßen wollte, und auch wecken, und nicht binden.

Ihre leisen Töne hauchten im Raume wie verwehende Gespinste. Ihre Tiefen klangen wie harte Sprüche der Parze manchmal. Oder wie ein Echo in Gründen. Ihre schluchzenden Melodiengänge waren Nachtigallen im südlichen Morgengeäst.

Wie alle versunken waren und nicht erwachten!

Auch Verena erwachte nicht aus dem Fest der Seele. Zart ist das Zarte dieser Welt. Süß und köstlich. Es muß immer schweben. Es ist nie auf der Erde. Hat nicht Fuß und hat nur Halt in der eigenen Wonne.

Verena hatte dann nach Santuzzas Liebesklage plötzlich geschwiegen.

Sie stand da und sah sich scheu um. Sie lächelte zur alten Gräfin hinüber, die mit einer Träne im Auge zu ihr trat und ihr leise die heiße Wange strich.

Verena sah in den Dämmerraum wie geblendet. Und sie errötete, weil alle noch wie im Banne gehalten sich nicht rührten. Und weil auch Einhart [216] dasaß, die Hand auf die Augen gepreßt, und nicht zu erreichen war.

An diesem Abend wagte Einhart nicht mehr, Verena sich zu nahen.

12.
[217] 12

Wer die Steppe kennt, liebt sie wie das Meer. Das Meer –: ehern anrauschend, gewaltig wogend und schäumend, ewig in seiner Unruhe. Oder auch gebreitet wie ein seliger Garten für schöne Meerfrauen, wenn die Fluten im Sonnenglanze sich wärmen und mit den goldbraunen Tangen ihrer Leiber Glanz scherzend umspülen. So breitet sich der gewaltige Mantel der Wasserwogen in rastloser Unruh und macht das Menschenauge voll Schrecken oder voll Lachen.

Aber die lautlose Schweigsamkeit ist der Steppe Geschenk, ewig quellend aus der niegestörten Stille grenzenloser Fluren. Wer nur am Berghange den Abendfrieden erhört, der mit sanften Glutfarben die Täler vergoldet, kennt nicht den Hymnus, den die Steppe schweigt aus unerwecklicher, ewiger Schweigsamkeit. Wer bloß Stummheit kennt, erhört noch keinen Ton jener ehernen Erdenruhe, darin der Ruf des Vogels untersinkt wie ein Ring in die Flut, kaum gehört, schon verloren.

Siehe die Ruhe des lieblichen, roten Mundes, wenn Verena schweigt und kaum nickt, ob zwar schon aus ihrer Seele ein Wunsch aufsteigt, gegen [218] die Ruhe der Schlafenden, deren Mienen in tiefer Verlorenheit schlummern und von milder Erquickung sprechen.

Die Ruhe der Schlafenden ist tief.

Aber die Schlafende wird die feinen Lippen regen und wird erwachen.

Die Ruhe des tiefsten Schlummers ist lebendigstes Leben gegen die Ruhe des Toten, dessen Wesen vor unsern irdischen Augen erhaben eingesunken in die große Stillung, die sich ihm plötzlich weit und entbindend aufgetan.

Trachten und Tun ist Schlummers Ruhe gegen die Totenruhe. Ein rastloses Zielsuchen gegen ein ewiges Gefunden. Ein Drängen und Tasten gegen eine nie ausgeträumte Vollendung.

Und so summt die Steppe die letzte Stillung. So tut sich der ewige Abgrund Schweigen auf vor deinen Ohren. So kannst du lauschen und lauschen und erhörst dir das Lied, das in alle jache Unrast der Zeit zum Troste gesungen dem Ringen, dem Trotzen, dem letzten Sehnen der Liebe.

Einhart pries es so. Einhart floh jetzt längst hier hinaus in das Schweigen. Einhart floh durch Busch und Dickicht und konnte nicht mehr Halt finden. [219] Es war eine richtige Narrheit gekommen. Narrheit nannte er es, weil er jetzt zum ersten Male seine grauen Haare fühlte.

Es geschah, daß er mit seinem Skizzenbuche ausging, weil er um jeden Preis allein sein mußte. Es war nur reine Vorgabe. Er zeichnete oder malte gar nichts. Er hatte längst vergessen, wer er war. Ein Meister nun schon gar nicht. Das merkte er bald an der Not, in die er sich einspann. Darin mit Malen oder Federstrichen durchaus nicht zu helfen war.

Einhart war derart untätig und verträumt, daß er wie der Hirte draußen stundenlang auf der Viehtränkrinne hocken und mit einem Grashalme spielen konnte von Mittag bis Abend. Er hatte dann auch wirklich gar nichts gedacht. Oder alles war nur flüchtig hingegangen vor seinen Augen. Manchmal auch ein Hohnlachen über sich selber, wenn er an Verenas fromme, blonde Jugend dachte und nicht wußte, ob sie ihn je mit ihren klaren, grauen Augen angesehen. Er träumte wahrhaftig jetzt nicht, wie der Künstler träumte, schnell nur hin zu laufen und die Träume in Farben einzufangen. Er träumte fortwährend die einzige, wirkliche Welt der Einsamkeit [220] vor sich, die Ruhe darin in der Weite der Grasflur, die eine lautlose Welt, und sein Leben darin mit Verena.

Denn Einhart sah Verena Tag und Nacht. Er sah sie fortwährend mit Augen vor sich. Er sah sie in lichter, fließender Schlankheit mit der verspäteten Blume in Händen. Wie eine Liebende sah er sie. Wie eine Tätige sah er sie. Und seine Augen und Sinne schufen sich ewig eine lange Geschichte Lebens und Wanderns mit ihr. Dann lachten seine Augen und sein Mund hell in die Lüfte, ehe sie zu sich kamen, wenn er Verena gegen die tiefen, reinen Lufträume der Steppe mit einem Kinde im Arm hatte aufragen sehen.

Unbegreifliche, jähe Kraft der Einbildung, die Einhart im Leben immer geübt. Jetzt kam diese Kraft zum ersten Male mit eisernem Zwange und wollte das eigene Leben aus sich erfüllen und bemeistern.

Er lächelte gütig, wenn er merkte, daß er einen ganzen Tag so hingebracht. Und daß auch im Dunkel seines nächtigen Zimmers im Schlosse, wenn er nur einmal aus Träumen von Verena die Augen aufschlagen würde, ihr Lichtbild, ihr schmales, strenges Oval kühl und sanft im Dämmer schweben würde.

[221] Und Einhart erschrak buchstäblich, wenn die Zeit ihm wie einem verliebten Jüngling verstrichen war. Also, daß die weiten Herden sich in der Ferne längst umeinander gedrängt hatten, und er die Welt noch kaum grau in grau verschwinden sah.

Aber er saß und saß doch weiter auf der Hürde, fühlte den Ätherhimmel wie eine wasserklare Wölbung hoch über sich, und den Streifen Erde darunter ohne Maß und Grenzen. Fühlte sich hoffnungslos kühl umfächelt und umflüstert in der stillen Grasflur, darin noch Verenas dämmernde Gestalt wehte, die seine Seele ewig in die Einsamkeit schuf. Und versank neu ratlos in die tiefste Erstorbenheit der Steppennacht.

An einem solchen Tage, den er nicht heimgekommen, war es, daß er erst spät zernagt erwachte und sich mit Leide besann. Die Gräfin Schleh hatte ihn ausdrücklich herzlich gebeten, zu kommen, weil sie noch einmal ein kleines Fest im Schlosse veranstaltet und Gäste aus der Nachbarschaft, auch Renaulds und Verena gebeten hätte. Aber wie er nun war. Er ging nicht. Er ermannte sich nicht. Er saß auf der Tränkrinne, von den Mäulern längst verlassen, die vor einer Stunde und mehr um ihn geschnobert, [222] und dachte nur, daß sie im Schlosse mit ihrem Feste allein fertig werden müßten.

Und er gab sich um so inniger der kühlhereinbrechenden Stummheit hin, weil er sein heißes Begehren noch einmal wie ferne klagen hörte mit dem schrillen Schreie des Brachvogels, und untersinken nur noch wie Schatten der Dinge, die allmählich im Raume zerflossen.

So war die Nacht hereingebrochen.

Der alte, in einen umgekehrten Schafpelz gehüllte Hirte war zu ihm getreten und wies in die Ferne, wo ein bleicher Schein blinkte, und die schwarzen Silhouetten einzelner Tiere sich gegen ein kleines Feuer erhoben.

Da hörte auch Einhart, daß fröhliche Musik herklang, Zigeunermusik, schluchzende Weisen, weit herübergetragen. Denn sie waren dem Dorfe und Parke fern. Die Weisen verklangen über die graue Ebene unter dem blaßgoldenen Nachtschein.

Es war eine Sehnsucht in den Lüften. Es ging eine Sehnsucht in den Gräsern. Es ging jetzt eine nagende Sehnsucht aus Einhart.

Er lauschte. Er machte lautlose Schritte. Er ging in der grauen Dämmernacht hin, nachdem er [223] dem Graubart mit tiefen, sicheren Blicken Lebewohl gesagt. Schritt getrieben von den Tönen, die vom Schlosse kamen. Eilte. Hörte die Geigenklänge. Hörte das Cymbal durch Baum und Büsche herüber singen. Sah die gotischen, hohen Fenster des Saales durch die Bäume herüberleuchten. Und trat über Stufen hastig dem Fenster nahe.

Man tanzte. Man war heiter. Alle waren festlich und heiter. Auch Verena. Die Zigeuner, die in einer Nebentür des Saales um den Tisch mit dem Cymbal postiert waren, spielten neu. Verena schwebte mit dem Grafen Karol, allen voran, in die Runde der Frohen.

13.
[224] 13

Am andern Tage hatte sich Einhart entschlossen abzureisen. Als er es der alten Gräfin mitteilte, war sie gütig und machte Versuche, ihn zurückzuhalten.

Niemand ahnte, was in Einhart diese Tage vorgegangen. Man hatte seine weiten Wanderungen durchaus nur hingenommen aus dem natürlichen Wunsche, die fremde Landschaft und die fremden Leute darin genauer auszuspähen, und hatte nicht im entferntesten eine Vermutung, daß Einharts Gemüt in einem richtigen Zerwürfnis mit sich hingelebt.

Und Einhart hielt sich fast streng und vermied auch nur das leiseste Wort, das man auf eine solche Wandlung der Dinge hätte beziehen können.

Die alte Gräfin, die am Morgen im Kaminzimmer vor den brennenden Scheiten saß, obwohl draußen die Herbstsonne lau schien und zu den hohen Bogenfenstern hereinfiel, starrte sehr verträumt und doch eifrig in die Flammen, so den Abend der vergangenen Fröhlichkeit noch ferne im Blick vor sich sehend, und hatte dabei Einhart immer wieder zu erzählen begonnen, wie schmerzlich ein [225] jeder Einzelne unter ihren frohen Gästen seine Abwesenheit gefühlt hätte.

Aber Einhart blieb dabei, daß er heim müßte, und man beredete nur dann, daß er den Morgen benützen möchte, um sich auf dem Nachbarschlosse zu verabschieden.

Seine Gefühle waren brennend genug. Er wünschte heimlichen, jähen Verlangens Verena zu sehen. Er mußte um alles in der Welt die verzehrende Ungewißheit seiner Seele ertöten, die einen hohen Grad krankhafter Kümmernis angenommen. Und er hatte es wohl erwogen, daß, wenn er in den Morgenstunden käme, es gelingen würde, mit Verena allein zu sprechen. Aus ihren Augen, aus ihren Händen, aus ihren Worten oder aus ihrer Stummheit, aus irgend einem Zeichen es zu lesen, was ihn auch nur beim fernen Ahnen mit ruheloser Zerrissenheit neu erfüllte.

Gegen elf Uhr fuhr der gräfliche Wagen vor das Schloß, um Einhart dann zu Renaulds hinüber zu fahren. Einhart stieg in den Wagen mit sehr vornehmer Ruhe. Er hatte sein ganzes Weltmannstum wie seinen dunklen, vollen Mantel um sich geworfen und schritt hochaufgerichtet. Schon die Stufen herab [226] kam er wie ein Grandseigneur und ließ sich vom Diener die große Pelzdecke sorgfältig um die Füße hüllen.

Aber wie es bei Einhart manchmal geschah: Im Wagen, in der inbrünstigen Bewegung seiner Ideen, hatte er alle Rücksicht auf Besuch und Abschied bald hinter sich gelassen. Es war in ihm nur der eine Gedanke noch herrschend geblieben, wie er die zarte, junge Verena sehen würde. Die Neugierde seines Herzens und seiner Augen war so hitzig und erregt geworden, daß er nur noch wünschte, so schnell wie möglich in die graudunklen Augen zu sehen, in den Grund dieser Augen, in Verenas Seele, und aus der leisen Stimme eine Entscheidung über sein Leben einzusaugen.

So war er beim Ankommen nur eilig die Stufen im Treppenhause hinaufgestiegen, und hatte hastig gewünscht, daß man ihn Frau von der Trau melden möchte.

Es gab auch gar kein Staunen der Diener weiter, die in ihren bunten Livreen in dem lichten Treppenhause herumstanden. Auch gar kein Besinnen in Einhart. Sein Auge brannte so bestimmt und herrisch von seinem Verlangen, er hatte eine so [227] befehlende Sicherheit, als er emporschritt, daß niemand an etwas Sonderliches in seiner Absicht sich zu denken vermaß.

Verena empfing ihn fast zärtlich. Wie Einen, den sie mit viel Ahnung von Gutem zutraulich ansah. Ihre grauen Augen hatten eine sanfte Zurückhaltung, die vom frühen Morgen herrührte. Als wenn sie sich noch nicht ganz zu sich und der Welt eingefunden. Sie sah äußerst lieblich aus. Die aschblonden Scheitel hingen noch weicher und loser um die kleinen Ohren und gaben ihr eine sehr wohlige Jugend.

Ihre Augen gewannen gleich eine leuchtende Wärme, als sie Einhart angesehen.

Sie trug in schlanker Gestalt eine glatte, goldgelbe, fließende Sammetgewandung und hatte außer der Perle auf ihrer klaren Stirn nichts von Schmuck angetan.

Einhart war wie erstarrt in ihren Anblick. Es erstarb in ihm alle Hast. Er besann sich dann und fing an Worte zu machen.

Aber Verena lächelte ihn so ahnungslos gütig und zerstreut an, bat ihn so arglos auf das kleine, zierliche Sofa mit den goldenen Lehnen und den [228] großen Silberblumen im rosa Felde, das mitten im Zimmer stand, hockte sich so sanft und froh über seinen Besuch vor ihn in einen der blumigen Fauteuils, daß in Einhart alles wie plötzlich in eine richtige, tiefe Zärtlichkeit einsank.

»Oh mein Gott, lieber Meister!« sagte sie. »Es wird uns allen ganz bange, wenn Sie jetzt wirklich wieder von uns gehen.«

»In allen lassen Sie Ihr Herz zurück,« sagte sie so ahnungslos und klar, als wenn sie von etwas ganz Fernem spräche.

Und dann begann sie ganz zutraulich und redselig zu erzählen, wie seine reiche Art die Welt zu sehen, ihr Trauer und Trübsal von der Seele genommen und sie zu einem froheren Leben neu wachgerufen.

»Meine sehr liebe Frau Verena,« sagte Einhart und versuchte, sich aus seiner besonderen Lage aufzurichten, ohne noch groß an seine inneren Erwartungen sich zu erinnern.

Aber Verena lächelte kindlich zärtlich.

»Sie nennen mich mit dem Vornamen,« sagte sie ganz fröhlich. »Oh Meister Einhart,« sagte sie. »Sie haben mir viel Gutes getan. Wissen Sie das?«

[229] Einhart staunte Verena mit großen, funklen Blicken an und erwartete jetzt jedes ihrer Worte.

»Ich will es Ihnen nur offen sagen, daß Sie mir lieb geworden sind, wie ein Vater,« sagte sie. »Sie haben mich herausgelockt. Ihre Worte klangen mir wie ein Sturmwind, der mir in die Seele fuhr, und allerhand welkes Laub verjagte. Nun lebe ich wieder neu. Nun lebe ich wieder und singe ich wieder. Und beginne mich einzufinden in diese Welt.«

Einhart hörte die Stimme und sah diese ahnungslose Zärtlichkeit ihm zugewandt, sah die fromme, jungfräuliche Jugend plaudern wie ein Kind voll Zutrauen zu ihm, wie zu einem sicheren Hüter über den Tälern. Und er sah mit einfältigen Augen ewig auf den flaumigen, roten Mund, der mit der Güte eines schwesterlichen Vergnügens jetzt auch Erinnerungen hinsprach und wie von fernem Schicksal neu angerührt allmählich sich strenger zusammenzog.

»Ich habe viel verloren trotz meiner Jugend,« sagte Verena. »Ich habe mein höchstes Gut verloren, Meister. Ich habe lange geweint, wie ich endlich weinen konnte. Und bin dann wieder hingegangen [230] in Erstaunen. Ich habe das Schönste verloren, was das Herz kannte. Was sind Namen? Das Köstlichste auch zur Entfaltung des eigenen Lebens. Ich dachte, ich könnte es nicht ertragen. Ich wollte, wie der Tod im Hause stand, um jeden Preis mit dem Geliebten ins Grab gehen. Ich hätte mich auf den Scheiterhaufen gestellt und hätte Feuer und Flammen nicht gefühlt. Jetzt ist die Zeit der Wehmut gekommen. Daß ich jetzt wieder neu zur Erinnerung meiner Liebe leben kann. Zuseiner Erinnerung kann ich jetzt wieder tätig sein. Das danke ich Ihnen. Ihrer freien Art, die Welt zu sehen.«

»Wissen Sie, Meister, wie Sie so sprachen auf der Weide? Es kam wie ein Gesang in meine Seele, daß es auch in mir wieder den Gesang weckte.«

»Und alles, was ich jetzt tue, tue ich wieder gern,« sagte Verena mit frohem Tone. »Was ist es? Der geliebte Freund lebt. Er ist irgendwo. Er macht eine Reise. Er lebt irgendwo fern. Ich tue alles zu seinem Gedächtnis. Das kann ich jetzt wieder. Ich kann wieder ein tätiger, liebender Mensch sein.«

[231] So plauderte Verena gütig und zutraulich.

Einhart hatte ein paarmal nur unwillkürlich tief Atem geholt und als wenn er seufzte. Er staunte Verena versunken an. Sie pries ihre Liebe. Sie war glücklich, weil sie an den Geliebten dachte. Einhart hatte ganz vergessen, wo er war. Es quoll in ihm etwas auf, was wie Lachen und Schluchzen kam. Er küßte ihre beiden Hände, als sie vor ihm stand, und die weißen, weichen, frommen Hände ihm zutraulich, wie ein Kind dem Vater hinhielt. Er beugte sich und küßte auch den Saum ihres Kleides in einer fast hündischen Demut, weil sie wie eine Heilige vor ihm schien, die ihre innerste Seelenliebe hütete, wie eine Vestalin das reine Feuer. Er war so zernagt und beglückt und erhoben von der reinen Seligkeit ihrer Erinnerungen und ihrem kindlichen, neuen Leben, daß er Verena noch einmal mit Leidenschaft angesehen, ihr ganzes, stilles, reines Bild eingesogen und dann hinaus war, als wenn er die heilige Jungfrau in Person gesehen und ihre Berührung gefühlt hätte.

So war Einhart. Die Kraft seiner Gesichte hatte ihn im Leben noch immer bewältigt. Ihn ganz [232] ausgefüllt und ihm die Besinnung genommen. Und eine höhere Besinnung ins Blut einverleibt als innerstes Ereignis.

So hatte er von dem Traum Verena Abschied genommen.

14.
[233] 14

Einhart hatte sich von allen Gästen im Schlosse und von der alten, gütigen Gräfin Schleh verabschiedet. Er wollte in der Nacht gegen die Morgenfrühe abreisen, um auf einer entfernteren Station der weiten, gräflichen Herrschaft den Eilzug rechtzeitig zu erreichen.

Die alte Gräfin hatte Einhart einen eigentümlichen, fremden Gram in seinem sammetdunklen Auge wohl angefühlt. Und sie war noch gütiger und gewinnender gewesen, mütterlich und sanft.

Als er alles mit dem Kammerdiener zusammen in seine Koffer eingeordnet hatte, lief er spät noch einmal in die Weiden hinaus.

Es war schon Nacht. Die Lüfte strichen in Einharts Gesicht mit leisem Berühren. Dann und wann hatten Äste im Park geknackt. Und die Sterne hingen wie Diamanten in den kahlen Bäumen.

Als Einhart auf der Ebene stand, hörte er einen Vogelruf verhallen. Ein Feuer brannte fern, dessen Flammen leicht aufflogen und vergingen. Spärliche Worte erstarben über die tote Grasflur her. Die Gesichter einiger ferner Hirten waren warm beschienen.

[234] Einhart war langsam auf das Feuer zugegangen. Seine Erinnerungen verhallten hier ins Ungewisse. Man war ehrerbietig, erhob sich und schwieg, hielt die Hüte in den Händen und lächelte.

Auch Einhart lächelte.

Schwarzbärtige Hirten, eine kleine Schar, auch Alte mit Wollhaar und in graue Pelze gehüllt. Man hatte einen rauchigen Kessel über dem Feuer hängen. Man sog an der Pfeife und blies Rauch aus. Irgendwoher rief und rief ein junger Hengst mit Wiehern. Die Fluten der Nachtluft strichen lau über die Steppe her und wehten sanft um.

Einhart hatte sich längst niedergeworfen an dem Feuerkreis und den Hirten geheißen, ein Gleiches zu tun. Es war eine Verlassenheit der beglühten Häupter ohnegleichen und eine Verlassenheit des lohenden, knisternden Feuerbrandes.

Ein alter, grauhäuptiger Hirte, der seinen Hut fortwährend im Schoße drehte, erzählte lässig vom gespenstigen Steppenreiter. »Wild wie der Wind treibt er um. Zerzauster Mähne, zerzausten Schweifes kommt er gejagt. Ist da. Sein Mantel flattert. Sein Haar flattert. Eine Miene wie graue Steine. Augen hat er starr und sehnsüchtig [235] in Höhlen liegen. Manchmal ruft er. Düstere Rufe. Er pfeift unsichtbaren Gesellen. Er pfeift einer unsichtbaren Meute, die um ihn her heult. Schaurig geht es um ihn. Seine Augen können glimmen wie verzehrende Feuer.«

Auch Einhart saß jetzt in der Wildnis so recht heimatlos umgetrieben. Daß alle die Jungen und alten Häupter rings ihn scheu und ehrerbietig heimlich betrachteten. In allen ging dumpfe, stumme Sehnsucht um.

Der volle Mond stieg wie ein stumpfes Rosenfeuer in den Dämmerdunst der Nacht. Fern und groß hob sich die glühe Scheibe lautlos und ohne Strahlen über den Rand der Erde. Tief war die Stummheit. Die rauhe Stimme des alten Erzählers erstarb unter den starren Blicken im Feuerschein.

Ein Tier in der Ferne jagte hin. Ein junger Hengst, der unruhig eine Strecke aufgescheucht.

Wie ein dunkles Monument, so dünkte es Einhart, weil das Tier näher kam. Wie einer weiten mächtigen Freiheit Göttersohn schien es.

Der wilde Hengst wieherte. Es antwortete wiehernd in der Runde.

[236] Der Mond begann höher und höher in die graue Nacht emporzuziehen und Strahlen zu spenden in die tiefe Schweigsamkeit.

Einhart hatte vergessen, daß er schon in der nächsten Stunde zurückkehren müsse in eine andere Welt.

[237]
[238] Ausklang
[239][241]

Einhart hatte graue Haare, die allmählich weiß wurden.

In seinem Hause vor der Stadt, das in einem alten Garten lag, war die Vorhalle weiß getüncht, und es standen wenige Marmorbildungen in Nischen. Und seine Räume waren hoch und still, darin nur einige Bedienstete umgingen und eine alte Schaffnerin.

Einhart war ein Meister geworden, der in hohem Werte stand. Toren, die Glossen machten über manche seiner Weisen, gab es wie immer mehr wie Kenner. Aber sehr viele spürten auch jetzt längst das Glück heraus, dem Einharts Seele sehnsüchtig nachgetrachtet, je mehr er die eigenen Brunnen ergraben.

Einhart war in späteren Jahren noch vollends ein Einsiedler geworden, ein Eremit ohne Kutte, und ein rechter Sinnierer. Nicht etwa, wie Einer, der mit Begriffen sinnt, also, daß in der Seele nur Namen schwirren, daß das innere Auge nichts sieht als Grau in Grau, und das Ohr hört Worte hallen. Er hatte immer heitere Gesichte seines inneren Auges und hörte die Dinge aus sich tönen.

[241] So konnte Einhart in seiner vereinsamten Schau sitzen, wie ein Derwisch vor einem Blumenkeim, bis aus der schwarzen Erde die Blume selber aufstieg, die er heiter erwartete.

Einhart war selten mit Menschen zusammen.

Außer mit Poncet.

Viele waren auch gestorben.

Aber die Kinder seiner Nachbarschaft kannten ihn alle. Er lächelte jedes an und spaßte mit ihm. Erzählte lustige Sperlingsschwänke und deutete ihnen in gütigem Geplauder Sträucher und Sterne. Das Auge jedes, auch des kleinsten Jungen leuchtete und erwartete eine Freude, wenn Meister Einhart noch immer mit dem heiteren Funkelblick die Straße kam, noch immer schlank und gehalten und von einem paar gelber, zottiger, schlanker Schäferhunde begleitet, die ihm die Gräfin Schleh noch geschenkt hatte.

Und Poncet war immer noch sein Freund.

Der war auch grau geworden und auch weise. Wenn die beiden am Winterabend im Atelier Einharts vor einem hohen Kaminfeuer saßen und nur dann und wann der eine oder andere in die Stille hinein plauderte, erinnerten sie sich an viel vergangenes [242] Leben. Auch an manche Zerwürfnisse, als wäre es jetzt ein Gut.

»Man muß doch sagen, daß das Leben Weisheit hat, mindestens wie ein guter Tonsetzer,« sagte Einhart. »Wenn man es nur aufzuspüren versteht.«

»Mir scheinen jetzt auch viele Schmerzen in der Rückschau sonnenklar aufgelöst,« sagte dann Poncet.


* * *


Später, als Einhart schon auf die Siebenzig zuging, begann er eine leidenschaftliche Erinnerung neu zu fühlen. So daß er wochenlang nicht ans Licht kam. Er saß und radierte allerhand Szenen aus dem Steppenleben, einen ganzen Reigen phantastischer Blätter, darin allenthalben ein gespenstiger Reiter und eine heilige Frau mit Verenas Zügen umging.

In solcher Vertiefung in die eigene Schau einer weiten Welt, die an ihm vorübergegangen, also daß er gebeugt dasaß, wie ein lächelnder Hieronymus im Gehäuse, schwanden ihm seine Jahre hin. Indes ihn die Welt von ferne als Meister pries.

[243] Kein Uneingeweihter fand Zutritt in Einharts Werkstatt. Nur daß noch lange Jahre daraus reiche, satte Schöpfungen gingen, die vor seinem Auge zum eigenen Staunen aufgewachsen, wie auf einem gepflügten Acker einsame, seltene Blumenkelche.


* * *


»Ich war einer, der aus der grau in grauen Welt Helligkeit auffing, Licht, Sonne, weil ich einmal als Kind die Sonne gesehen in blonde Mädchenhaare fallen und sie beglänzen. Seitdem liebte ich das Fest der Mühsal, den Glanz der irdischen Dinge,« sagte er oft.

Oder er sagte auch: »Ich hatte manche Enttäuschung. Die Dinge und wir selber narren uns oft. Es ist viel Torheit in unseren Geschäften. Und manchmal ist das Blut herrschsüchtig, wie ein Tyrann. Aber es gibt auch viel Trost.«

Einmal sagte er:

»Zwanzig Jahre und mehr hatte ich als Künstler gelebt und nicht begriffen, daß unser tiefstes Leben nur leben will ohne Rest und ohne Spiegel.

[244] Johanna starb und hinterließ mir diese Wahrheit.

Aber ich begriff sie noch lange nicht.

Das Leben will nicht Belehrung sein, nicht Zwecke haben, nicht Gabe werden, nicht bestimmt sein von tausend Blicken hier hin und dort hin. Adam und Eva noch immer in der weiten, einsamen Steppe, hungrig nacheinander, sehnsüchtig nach Mitfreude, sehnsüchtig nach MitLeiden, hungrig nach Hoffnung, hungrig nach Zukunft. Weil über alle Dränge der Seele auf Erden der Tod sein Zeichen schrieb. Das ist es.«

Und er sagte dann auch: »Verena heißt diese Weisheit. Verena, die vor mir vorüberging ohne Acht, daß sie mir für immer die alte Ursehnsucht zurückließ.«


* * *


Als Einhart Selle im Sarge lag, nachdem er an einem Morgen nicht mehr aus tiefem Schlafe die Augen aufgetan, sah er aus wie einer, der das Leben lächelnd ansieht von hoch auf der Kommandobrücke. Wie ein Kapitän sicheren Blickes. Oder ein Lotse, der durch tiefe Gewässer fährt. Er war wie [245] jung geworden. Er sah schön aus. Die abgrundtiefe Ruhe lag in seinen bleichgrauen Zügen. Weil ja die Augen fest geschlossen waren.

Und doch lag in seinen Augen auch das ganze, freie, sieghafte Lächeln, womit er über den Häuptern in die fernsten Fernen sah, dahin er fortzog.

So ist er allen erschienen, ehe man den Sarg über ihm schloß.

Man begrub ihn. Viel neugieriges Volk und viele Freunde seiner Kunst standen dabei. Einige redeten trauernde Worte in die Luft über seinem Grabe und rühmten einen Einsamen.

Einhart wollte nicht verbrannt, er wollte begraben sein. Er hatte oft gelacht:

»Nachdem meine Feuer Flammen geworden, die sich auf die Lippen des unbekannten Gottes setzten, mag meine Erde wieder zu Erde werden.«

Und er hatte auch oft in den letzten Jahren das Volkslied schalkisch lächelnd im Munde gehabt:


»Wohl unter den Röslein, wohl unter dem Klee,

darunter verderb ich nimmermeh'!«


Man warf ihm Kränze und Erde nach, die auf seinem Sarge polterten. Und aller Augen starrten [246] wie klare Steine vor sich hin. Alle wußten, daß seine Grabschrift also lauten sollte:


»Denn jede Träne, die dem Auge entquillt, macht, daß mein Sarg mit Blute sich füllt. Doch jedesmal, wenn du fröhlich bist, mein Sarg voll duftender Rosen ist.«

[247]

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TextGrid Repository (2012). Hauptmann, Carl. Roman. Einhart der Lächler. Einhart der Lächler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-38E1-A