[10] Der Sünder

1

Wenn ich den Wellenschlag des Meeres höre,
eintönig rauschend, Nachts, in dunkler Stunde,
aufblutet des Gewissens alte Wunde,
so stark ich auch mich wider mich empöre.
Ich seh ein Weib, gehüllt in Trauerflöre,
das murmelt dumpf mit todesblassem Munde,
was mich vor Graun erbeben macht, die Kunde,
dass sie der Schande Fluch im Grabe störe.
Weh meinem fiebergluth-durchlohten Hirne!
Ich seh sie winken mir mit schmalen Händen –
und kalte Tropfen perlen von der Stirne.
Der Rache Faust seh ich auf mich sie wenden,
weil sie durch mich erniedrigt ward zur Dirne –
in Qualen fühl ich meine Nächte enden.

[11] 2

Des Morgens, wenn am Strande noch der Hauch der Nacht
weht, wenn im Osten kaum das Frührothlicht erwacht,
wenn sich die Wellen färben – irr ich schon verstört
und stehe, wo am Steine sich der Schwall empört,
und schau hinaus aufs unermessne, öde Meer,
trocken und starr die Augen und die Brust so leer ...
Allmählich wohl vergess ich meine Schuld und Qual.
Ich denke dann des Tages, da zum ersten Mal
ich sie gesehn, das blonde, märchenschöne Kind.
Die Thür der armen Hütte, drin sie sitzt und sinnt,
steht wieder offen, wieder hemm ich meinen Fuss,
der schon vorübereilen wollte .. ersten Gruss
[12]
wagen die Augen, ihre Hand erbebt .. doch blieb
haften ihr Blick in meinem tief –: hast du mich lieb?.. mich lieb?..
Zurück! Schon zischt die Welle unter dir! Die Fluth,
sie steigt .. und wieder drängt sie an mit alter Wuth!

[13] 3

Die Woge funkelt. Warme, weiche Sommernacht
sank nieder, doch am Strande lebt es noch und lacht.
Da freuen frohe Menschen sich am seltnen Spiel,
das die Natur spielt, jauchzen, wenn die Welle fiel
und blinkte ...
Aber freudefeindlich, fern dem Schwarm
wandl ich allein und nähre finster meinen Harm,
Zu meinem Herzen redet die Natur nicht mehr,
mir schweigt des Lenzes Saatengrün, mir schweigt das Meer.
Ehmals wohl fasste Wonne meine Seele ganz:
ich kniete, wenn am Meeressaum der Sonnenglanz
aufglomm, und hehre Schauer füllten mir die Brust.
[14]
Kam eine Nacht, voll Scheideleid und Liebeslust,
kam eine Nacht, sternblinkend wie die heutige zwar,
die doch unendlich schöner wie die heutige war!
Ich lag zu Füssen der Geliebten, sah empor
zu des geflammten Himmels ewiger Pracht und schwor:
So wahr erhabene Andacht meine Seele füllt,
da heilige Ruh in Schlummer alles Leben hüllt,
da niederblitzt das Sternendiadem der Nacht:
scheiden von dir soll nimmer mich der Welten Macht!
Ich kehre wieder, eh der Herbst die Blätter raubt,
du bist mein Weib, eh übers Feld der Winter schnaubt! –
Seit jener Nacht spricht die Natur zu mir nicht mehr,
mir schweigt des Lenzes Saatengrün, mir schweigt das Meer.

[15] 4

Frischer Windhauch strafft mir der Segel Seile,
lässt die Fluth aufspritzen in hellen Kämmen,
hei! der sturmschnell eilende leichte Nachen
hebt sich und senkt sich.
An der Stirne kleben die feuchten Locken,
und das Hirn durchbohren die Gluthgedanken.
Wirr und rastlos flattert das Haar der Furie,
züngeln die Nattern! –
Dass ein Gott wär, dem ich mich beugen könnte!
Dass ein Gott wär, welcher mich strafen dürfte!
Jauchzend wollt ich, sühneberauscht und büssend,
tauchen ins Weltmeer!

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Der Sünder. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-37CE-F