[191] Jessica

1. Coquett?

Alles verzog sich ..
endlich allein wir zwei ..
und in die Hand sofort
stützt sie das Kinn:
– Sag mir nun ernsthaft:
warst du zufrieden so?
War ich nicht artig heut,
gar nicht coquett?
Ach, war ich sittsam!
Hab kaum ein Wort gewagt,
immer nur zugehört ..
War ich coquett? –
– I Gott bewahre!
Köpfchen nach links geneigt ..
Zopf auf die Brust gelegt ..
Gar nicht coquett!

[192] 2.

Wenn ich entfesselt, dreist, nur noch ein Spiel
lieblichen Rausches bebend vor dir stehe
im Lichtstrahl deiner Augen – o, ich flehe:
wende sie ab von mir – es ist zuviel!
Da du mit schlichtem Zutraun mir genaht,
dürft ich die liebe, klare Seele trügen?
Du bist zu gut für meine alten Lügen,
kein Boden mehr mein Herz für deine Saat.

[193] 3. Herbstblatt

Nun sind die Winde lebendig,
die Sonne ist blind und matt ...
vorüber an meinem Fenster
segelt ein herbstlich Blatt.
Dem lieh Natur zerstörend
launischer Gnade Schein,
hinsinkend frei zu flattern,
hinwelkend bunt zu sein.

[194] 4. Flucht

Fort denn! Hinaus! Und all das Spiel
es hab mit Eins sein End!
Und züngeln noch der Flämmchen viel,
gelöscht wird, was da brennt.
Ja, wie ein Dieb, der schon zuviel
und allzu frech sich stahl,
berg ich mich in der Welt Gewühl
vor jener Augen Strahl.
Vor deinen Augen, Jessica,
die mich zu heiss umloht ...
Fahr wohl! Jetzt ist ein Ende da:
für dich bin ich nun tot.

[195] 5. Scherzo

Mich selber hab ich nun bezwungen
und bin ein halber Engel schon,
die Palme hab ich mir errungen,
geniesse meiner Reinheit Lohn!
O Sünde an der heilgen Jugend,
der toten Sitte schnöder Sieg,
o schmählicher Triumph der Tugend
in feigem, würdelosem Krieg!
Was frommt es, selber sich zu zwingen,
da schon die Welt genug uns zwingt,
was frommt es, Opfer ihr zu bringen,
die selber uns zum Opfer bringt!

[196] 6. Aus einem Briefe

... und das üppige Haar
und mehr denn alles deine nächtigen Augen,
die saugenden Sterne ... Wahrlich Jessica,
ich bin noch nie so kindisch stolz gewesen,
als da ich dir, du wundervolle Hexe,
als da ich deinen siegesleuchtenden Reizen
und deinen fordernden Blicken widerstanden.
Nun wär ich tot für dich? – O könntest du hören
das gelle Lachen, das ich einsam lache
mir selbst zum Hohne! – Jessica! Verzeih!
Verzeih! Ich war ein Thor! Ein Narr! Ein Sünder!
Verzeih! Und wenn du diese Worte liest,
so wisse, dass die Reue mich verzehrt,
und wisse, dass ich wiederkehren werde,
und dass ich deine Knie umklammern werde
voll Büsserglut! ...

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TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Jessica. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-37B2-B