[155] Sappho

1

Ja, es gleicht den Göttern der Mann, der flüsternd
nah dir sitzt in heimlicher Sommerlaube.
Näher rückt er – inniger fleht er – und du –
lächelst verlangend!
Aber mir – zerschlagen in meinen Brüsten
ist das Herz, die Zunge in meinem Munde
stockt – und lähmend rieselt ein eisig Feuer
unter der Haut hin.
Blind die Augen – nur vor den Ohren gellt es!
Schaudernd vor der Wucht des ergrimmten Schicksals
wank ich, blasser denn Heu, das an dem Feldrain
welkend vergessen.

[156] 2

Alle Nächte zaubert der Traum die Wonnen
deines Leibes wieder vor meine Sinne!
Meine Lippen wachen und stammeln leise
glühende Worte!
Küsse, die du von mir in dich gesogen,
spür ich wieder, bebend in deinen Armen,
Küsse, die ich von dir in mich gesogen,
brennen aufs neue!
Doch die Sonne führt mir die Welt ans Lager,
morgenkalt verscheucht sie die nächtgen Gluthen,
weinend sehn ich dem Schlaf mich nach – dem Traume,
drin du mich küsstest.
Sinnlos, wie verzaubert, das Haar im Nacken,
such ich draussen im Hain die tiefe Grotte
wo mit mir du ruhtest .. und meine Thränen
netzen den Rasen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Sappho. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3782-6