[57] Lore

1

Stahlblauer Aether trage meine Schwingen,
goldrothe Sonn hast meine Kraft erregt!
Nun will ich laut und immer lauter singen
das Lied, das mir der Dank ins Herz gelegt!
Ein frommer Heide, will ich Opfer bringen,
dir Göttin, die den Busen mir bewegt,
und wenn im Glücke meine Lippen schweigen,
will ich mein Haupt, von Gnaden schwer, dir neigen!
Im Jugendrausche stamml ich deinen Namen,
beseelende, o Venus, Herrscherin,
und mein Gebet beschliesst kein kaltes Amen,
mein Kuss bezeugt, wie tief ich dankbar bin!
Die Tage gingen und die Tage kamen:
ich war so still – was fiebert heut mein Sinn?
Was weckt in meiner Brust den Strom der Lieder?
Ja du! Du liebe Lore kehrtest wieder!

[58] 2

Ins Philisterium werd ich eingeschifft
als Material für künftige Schwiegerväter,
und meid ich nicht die Poesie wie Gift,
so ernt ich ein Familiengezeter.
O Lore! Kind! – Es rauschen die Pandekten –
und du in deiner Sophaecke lachst?
O Gott, wenn sie zu Hause das entdeckten!
Kind, sei doch ernst! Du weisst nicht, was du machst!
Fühlst du denn nicht den tiefen Ernst der Lage?
Des Lebens Pflichten, Lebens Jus und Muss? –
Dass ich mit frischer Kraft ans Werk mich wage,
gieb mir – dann aber still! – noch einen Kuss.

Notes
Entstanden 1885. Entstanden 1888.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Lore. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-371B-1