[109] Die Taube

Es gleicht das Herz der Taube, die entsendet ward,
zu spähen, ob die Wasser sich verlaufen schon.
In muthiger Jugendfreude flatterte sie davon
und traute: eine Welt entsteige dieser Flut.
In jedem tiefen Wogenschlage wähnte sie
zu schauen schon die langersehnte Erdenflur:
der milde, volle Mond, der Sonne reiches Gold,
mit Hoffnung färbten beide sie der Woge Schaum. –
Doch immer wieder glättete der Spiegel sich
und sah empor, ein stumpfes, blödes Auge stets.
Die Taube zitterte vor diesem kalten Blick,
und schlaffer stets und müder ward der Fittiche Schwung.
Der Regen troff vom sonnenblinden Firmament,
und höher stieg das unverändert dunkle Meer.
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Und höher stieg es, bis der Flügel Kraft erlahmt,
der letzte Hoffnungsblick im brechenden Auge starb –
und höher stieg es noch, als eine Beute schon,
der tote Leib der Taube auf den Wassern trieb. –
Es gleicht das Herz der Taube, die entsendet ward,
Zu spähen, ob die Wasser sich verlaufen schon.

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TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Gedichte. Meine Verse 1883-1904. Die Taube. Die Taube. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3682-E