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Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit 1

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Ihr Wälder! wo kein Licht durch finstre Tannen strahlt
Und sich in jedem Busch die Nacht des Grabes malt;
Ihr holen Felsen dort! wo im Gesträuch verirret
Ein trauriges Geschwärm einsamer Vögel schwirret;
Ihr Bäche! die ihr matt in dürren Angern fließt 2
Und den verlornen Strom in öde Sümpfe gießt;
Erstorbenes Gefild und Grausen-volle Gründe,
O daß ich doch bei euch des Todes Farben fünde!
O nährt mit kaltem Schaur und schwarzem Gram mein Leid!
Seid mir ein Bild der Ewigkeit!
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Mein Freund ist hin!
Sein Schatten schwebt mir noch vor dem verwirrten Sinn,
Mich dünkt, ich seh sein Bild und höre seine Worte;
Ihn aber hält am ernsten Orte,
Der nichts zu uns zurücke lässt,
Die Ewigkeit mit starken Armen fest.
Kein Strahl vom künftigen verstörte seine Ruh,
Er sah dem Spiel der Welt noch heut geschäftig zu;
Die Stunde schlägt, der Vorhang fällt,
Und alles wird zu nichts, was ihm so würklich schien.
Die dicke Nacht der öden Geister-Welt
Umringt ihn jetzt mit Schrecken-vollen Schatten;
Und die Begier ist, was er noch behält
Von dem, was seine Sinnen hatten.
Und ich? bin ich von höherm Orden?
Nein, ich bin, was er war, und werde, was er worden;
Mein Morgen ist vorbei, mein Mittag rückt mit Macht,
Und eh der Abend kömmt, kann eine frühe Nacht,
Die keine Hoffnung mehr zum Morgen wird versüßen,
Auf ewig mir die Augen schließen.
Furchtbares Meer der ernsten Ewigkeit!
Uralter Quell von Welten und von Zeiten!
Unendlichs Grab von Welten und von Zeit!
Beständigs Reich der Gegenwärtigkeit!
Die Asche der Vergangenheit
Ist dir ein Keim von Künftigkeiten.
Unendlichkeit! wer misset dich?
Bei dir sind Welten Tag und Menschen Augenblicke.
Vielleicht die tausendste der Sonnen welzt itzt sich,
Und tausend bleiben noch zurücke.
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Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht,
Eilt eine Sonn, aus Gottes Kraft bewegt;
Ihr Trieb läuft ab und eine zweite schlägt,
Du aber bleibst und zählst sie nicht.
Der Sterne stille Majestät,
Die uns zum Ziel befestigt steht,
Eilt vor dir weg, wie Gras an schwülen Sommer-Tagen;
Wie Rosen, die am Mittag jung
Und welk sind vor der Dämmerung,
Ist gegen dich der Angelstern und Wagen.
Als mit dem Unding noch das neue Wesen rung
Und, kaum noch reif, die Welt sich aus dem Abgrund schwung,
Eh als das schwere noch den Weg zum Fall gelernet
Und auf die Nacht des alten nichts
Sich goß der erste Strom des Lichts,
Warst du, so weit als itzt, von deinem Quell entfernet.
Und wann ein zweites nichts wird diese Welt begraben,
Wann von dem alles selbst nichts bleibet als die Stelle,
Wann mancher Himmel noch, von andern Sternen helle,
Wird seinen Lauf vollendet haben,
Wirst du so jung als jetzt, von deinem Tod gleich weit,
Gleich ewig künftig sein, wie heut.
Die schnellen Schwingen der Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind
Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind,
Ermüden über dir und hoffen keine Schranken.
Ich häufe ungeheure Zahlen,
Gebürge Millionen auf;
Ich welze Zeit auf Zeit und Welt auf Welten hin,
Und wann ich auf der March des endlichen nun bin
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Und von der fürchterlichen Höhe
Mit Schwindeln wieder nach dir sehe,
Ist alle Macht der Zahl, vermehrt mit tausend Malen,
Noch nicht ein Theil von dir;
Ich tilge sie, und du liegst ganz vor mir.
O Gott! du bist allein des Alles Grund!
Du, Sonne, bist das Maaß der ungemessnen Zeit,
Du bleibst in gleicher Kraft und stetem Mittag stehen,
Du giengest niemals auf und wirst nicht untergehen,
Ein einzig Itzt in dir ist Ewigkeit!
Ja, könnten nur bei dir die festen Kräfte sinken,
So würde bald, mit aufgesperrtem Schlund,
Ein allgemeines nichts des Wesens ganzes Reich,
Die Zeit und Ewigkeit zugleich,
Als wie der Ocean ein Tröpfchen Wasser, trinken.
Vollkommenheit der Größe!
Was ist der Mensch, der gegen dich sich hält!
Er ist ein Wurm, ein Sandkorn in der Welt;
Die Welt ist selbst ein Punkt, wann ich an dir sie messe.
Nur halb gereiftes nichts, seit gestern bin ich kaum,
Und morgen wird ins nichts mein halbes Wesen kehren;
Mein Lebenslauf ist wie ein Mittags-Traum,
Wie hofft er dann, den deinen auszuwähren?
Ich ward, nicht aus mir selbst, nicht, weil ich werden wollte;
Ein etwas, das mir fremd, das nicht ich selber war,
Ward auf dein Wort mein Ich. Zuerst war ich ein Kraut,
Mir unbewusst, noch unreif zur Begier
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Und lange war ich noch ein Thier,
Da ich ein Mensch schon heißen sollte.
Die schöne Welt war nicht für mich gebaut,
Mein Ohr verschloß ein Fell, mein Aug ein Staar, 3
Mein denken stieg nur noch bis zum empfinden,
Mein ganzes Kenntniß war Schmerz, Hunger und die Binden.
Zu diesem Wurme kam noch mehr von Erdenschollen
Und von des Mehles weißem Saft;
Ein innrer Trieb fieng an die schlaffen Sehnen
Zu meinen Diensten auszudehnen,
Die Füße lernten gehn durch fallen,
Die Zunge beugte sich zum lallen,
Und mit dem Leibe wuchs der Geist.
Er prüfte nun die ungeübte Kraft,
Wie Mücken thun, die, von der Wärme dreist,
Halb Würmer sind und fliegen wollen.
Ich starrte jedes Ding als fremde Wunder an;
Ward reicher jeden Tag, sah vor und hinter heute,
Maß, rechnete, verglich, erwählte, liebte, scheute,
Ich irrte, fehlte, schlief und ward ein Mann!
Itzt fühlet schon mein Leib die Näherung des nichts!
Des Lebens lange Last erdrückt die müden Glieder;
Die Freude flieht von mir mit flatterndem Gefieder
Der Sorgen-freien Jugend zu.
Mein Eckel, der sich mehrt, verstellt den Reiz des Lichts
Und streuet auf die Welt den Hoffnungs-losen Schatten;
Ich fühle meinen Geist in jeder Zeil ermatten
Und keinen Trieb, als nach der Ruh!

Fußnoten

1 Auf daß sich niemand an den Ausdrücken ärgere, worin ich vor dem Tode, als von einem Ende des Wesen, oder der Hoffnung spreche, so ist es nötig zu berichten, daß alle diese Reden Einwürfe haben sein sollen, die ich würde beantwortet haben, wann ich fähig wäre diese Ode zu Ende zu bringen. Ein zweites Leben ist dennoch ausdrücklich angenommen.

2 Es sind Tofwasser, die die feuchten Wiesen, in die sie sich ergießen, sandicht und dürre machen.

3 Dieses natürliche in dem ungebornen Kinde die Augen schließende Fell habe ich in den upsalischen Abhandlungen beschrieben.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Haller, Albrecht von. Gedichte. Versuch Schweizerischer Gedichte. 17. Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. 17. Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-336A-F