1.

O du, mein scheues Reh, wo weilest du nunmehr?
Bekannt bin ich mit dir ja schon seit lange her.
Zwei einsam wandernde Verlassene sind wir,
Und Netze drohen dort und wilde Thiere hier.
Komm, dass wir wechselweis uns klagen, was uns quält,
Und – sind wir es im Stand – uns geben, was uns fehlt;
Denn fruchtlos spähe ich in dieser Wüstenei
Nach einem Weideplatz, der schön und fröhlich sei.
Gefährten, sagt, wer schliesst sich dem Verlass'nen an,
Und wer wird freundlich thun mit einem armen Mann?
Dies könnte Chiser nur, der Segen mit sich bringt,
Und dessen hohem Muth ein jedes Werk gelingt.
Jetzt scheint die Zeit der Huld erschienen mir zu sein,
Den Gott erhört den Spruch: »O lass mich nicht allein!«
[455][457]
An einem Rasenrain sprach einen Wandersmann
Ein Strassenbettler einst gar freundlich also an:
»Was birgst du, Wanderer, in deinem Sacke hier?
Komm, stelle Netze auf, hast Körner du bei dir.«
»Ich habe Körner zwar – entgegnet' er – allein
Die Beute, die mir ziemt, kann ein Sĭmūrgh nur sein.«
Er sprach: »Auf welche Art erhascht ihn deine Hand?
Ist doch sein hohes Nest mir gänzlich unbekannt.«
D'rum halte dich an's Glas und Rosen, aber sei
Von Furcht vor dem Geschick, dem trunk'nen, niemals frei.
Wenn dein Cypressenbaum sich auf die Reise macht,
Sei vom Cypressenzweig von dir er überwacht!
Fort ist er, und betrübt macht' Er mich frohen Mann;
Ob zwischen Brüdern man so grausam handeln kann?
Er hat so mitleidlos der Trennung Schwert gezückt,
Als hätt' uns Beide nie die Freundschaft noch beglückt.
Hat da mein Opfergeld wohl irgend einen Werth,
Wo schon die Sonne selbst den Beutel hat geleert?
Nun frommt der Rand des Quell's, das Bächlein auf der Flur,
Nun frommt der Thränenthau und Selbstgespräch mir nur.
[457][459]
Wird die Erinnerung an ferne Freunde wach,
So ahme weinend stets die Frühlingswolke nach;
Und wenn ein Wasser rasch an dir vorüber läuft,
So schwell' mit Wasser es, das deinem Aug' entträuft.
Da jener alte Freund mir Unrecht angethan,
Ruf' ich, o Mōslĭmīn, o Mōslĭmīn, Euch an!
Schon reicht mir über's Haupt der Trennung Wasserschwall;
Nichts nützt die Güte mehr in einem solchen Fall.
Nur Chiser's Segen ist's, dem es vielleicht gelingt,
Dass den Verlass'nen er zu dem Verlass'nen bringt.
Was streit' ich immer denn mit meinem eig'nen Glück,
Und wesshalb flieh' ich denn mein eigenes Geschick?
Die Reise tret' ich jetzt in's Dorf des Freundes an,
Und wenn ich sterben soll, sterb' ich auf jener Bahn.
Die Fremden, werden sie mit meinem Loos bekannt,
Verweilen länger wohl an meines Grabes Rand;
Der Fremden eingedenk sind Fremde sicherlich:
Sind sie doch wechselweis ein Angedenken sich.
O Gott, der Hilfe du dem Hilfentblössten leih'st!
Was mir und andern hilft, steht klar vor deinem Geist;
[459][461]
Gleichwie aus finst'rer Nacht du schaff'st den lichten Tag,
Schaff'st du aus dieser Qual das, was mich freuen mag.
Dass Er von hinnen zog, erpresst viel Klagen mir:
Dies zu erzählen fehlt es mir am Raume hier.
Auf Perlen blicke nur, auf Glaskorallen nicht,
Und unterlasse stets was keinen Ruhm verspricht.
Wenn ich des Rohres Fisch auf das Papier gebracht,
So frage Fisch und Rohr und klar wird's dir gemacht.
Gefährten! Euer Werth ist Euch bekannt nunmehr;
Klar ist der Commentar, so sagt ihn nun auch her!
Es sagt als Warnung dir der wohlberath'ne Mann:
»Im Hinterhalte weilt das Scheiden als Tyrann.«
Durchknetet habe ich die Seele mit Verstand,
Und hab' geerntet nur das, was daraus entstand;
Und diese Mischung bot mir wonnigen Gewinn:
Es ist ja Liedermark und Seelenmark darin.
Komm, und mit diesem Duft der Hoffnungsseligkeit
Durchwürz' die Seele dir in alle Ewigkeit!
Der Huris Kleidung ist's, die diesen Duft verstreut,
Und nimmermehr das Reh, das sich vor Menschen scheut.
[461][463]
In diesem Thale – horch! – ruft laut des Stromes Fluth:
»Feil um ein einz'ges Korn ist viel unschuld'ges Blut.«
Den Fittig Gabriel's setzt hier in Flammen man,
Und Kinder zünden sich daran ein Feuer an.
Wer hätte wohl noch Muth zu sprechen hier ein Wort?
Wie überflüssig wär's, o Gott, an diesem Ort!
Zieh' hin, Hafis, und sprich davon nichts weiter mehr;
Brich ab; der Weiseste ist ja nur Gott der Herr.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Ḥāfeẓ, Šams o'd-din Moḥammad. Lyrik. Diwan des Hafez. Dritter Band. Zweizeilig gereimte Gedichte (Mesnewiat). 1.. 1.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-2DDA-6