[334] Der Christbaum im k.k. Militär-Invalidenhause, am 24. Dezember um 5 Uhr abends

Ein Jahr hat unser Weihnachtsfest geruht,
Kein Christbaum konnte hier, wie heute stehen;
Ein Jahr von Not, von Jammer, ja von Blut,
Wie ihr gehört und selbst zum Teil gesehen.
Ein Sturmwind ging durch alle Länder wild,
Auf alles, was da recht und fest, erbittert,
Selbst unsre Stadt, sonst heitrer Güte Bild,
Sah sich in ihrem alten Wert erschüttert.
Das macht: nicht ihr seid Kinder nur allein,
Auch alle Menschen, sie sind Gottes Kinder,
Und wie man euch ermahnt, die ihr noch klein,
So mahnt er jene Älteren nicht minder.
Er hat in jedes Menschen Brust gesenkt
Die Warnerstimmen, die das Rechte künden,
Und was der Mensch ersinnt und klügelnd denkt,
Kann sie ersetzen nicht und nicht ergründen.
Das Recht, es ist; das Gute will, was gut,
Die Liebe lebt in jedes Menschen Herzen;
Den Dank erzeugt des Wohltuns edler Mut,
Das Mitleid fühlt, gleich eignen, fremde Schmerzen.
Solang der Mensch nun aufhorcht fromm und still
Auf jene Stimmen, die im Innern mahnen,
Und was er gläubig hört, vertrauend will,
Geht er einher auf Gottes lichten Bahnen.
Doch wird er stolz und lärmt und spricht und schreibt,
Hört nicht mehr auf die leisen Gottesstimmen,
Dann schweigen sie, vom Lärmen übertäubt,
Und machen Platz dem Schlechten und dem Schlimmen.
So wars mit uns im jüngst verfloßnen Jahr,
Wo unser Heil in wilden Wahnsinns Händen,
Wo jedem nur der eigne Dünkel wahr,
Gleichlaut in allen Schichten, allen Ständen.
[335]
Ein einzger Stand fiel nicht vom Rechten ab,
Ward nicht an sich und andern zum Verräter,
Es war der Stand, der euch das Leben gab,
Der Stand, Soldatenkinder! eurer Väter.
Es war das Heer. Die einzigen, die fest,
Als Volk und Staat im Taumel fast vernichtet,
Weil sie verließen nicht, was nicht verläßt,
Die Gottesstimme, die im Herzen richtet;
Weil Ehrfurcht und Gehorsam und die Pflicht,
Vertrauen in die Einsicht der Bewährten,
Erstorben noch in ihrem Busen nicht,
Allmächtig durch die Eintracht der Gefährten.
So schritten sie auf rauhen Bahnen fort,
Ihr Ohr verschlossen sie dem Schmeichelwahne,
Sie hörten nur der Führer ernstes Wort
Und sahen nur die unbefleckte Fahne.
Was halb unmöglich schien, ward so zur Tat,
Der Treue wars, der Tapferkeit beschieden,
Sie holten aus dem Aufruhr, dem Verrat
Die Ordnung uns zurück, zusamt dem Frieden.
Drum freut euch nur: von Wackern stammt ihr ab,
Bestimmt vielleicht, die gleiche Bahn zu treten,
Genießt für heut, was euch die Milde gab,
Und morgen laßt uns für die Sieger beten.

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TextGrid Repository (2012). Grillparzer, Franz. Gedichte. Gedichte. Der Christbaum [2]. Der Christbaum [2]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-F70E-1