Warnung an einen schönen Knaben

Holdseelig Kind, du meine werthe Freude,
Anmuthig, wie der West,
Rein, wie ein Lamm, das auf der Frühlingsweide
Am Bach sich säugen läst.
Dies goldne Haar, daß sich itzt kurtzgekrollet
Um deine Schläfe krümmt,
Wenn es einst braun in langen Locken rollet,
Und auf den Schultern schwimmt;
Wenn Hebens Hand mit einem zarten Schatten
Dein rundes Kinn bekrönt,
Und sich dein Geist nach freyen Blumenmatten,
Und ofnen Feldern sehnt;
Wenn einst dein Leib in holder schlanker Länge
Zur Männergröse steigt,
Wie Cedern thun, die in berühmter Menge
Der heilge Hermon zeugt:
Alsdann, o Sohn, fleuch, gleich dem Strahl der Blitze,
Den angenehmen Strand,
Wo neben dir auf einem Rasensitze
Dich Doris schön genannt,
Wo sie gesagt, daß dir der Weinstock blühet,
Und auf dem Blumenfeld,
Um dich zu sehn, der klare Quell verziehet,
Und froh die Ufer schwellt,
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Daß nur für dich die kühlende Melone
Am Sonnenstrale reift,
Und nur für dich der Lentz, des Jahres Krone,
Im Rosenwäldgen streift.
Sohn, wenn sie einst, indem sie Blumen pflücket,
Die Stengel nach dir schmeist,
Wie? oder doch die steifen Stengel knicket,
Und dir sich spröd entreist,
Und wie ein Reh in junge Myrtenhecken
Nicht ohne Schalkheit flieht,
Vor ihrem Freund sich schüchtern zu verstecken,
Doch so, daß er sie sieht:
So folg ihr nicht; sie leitet deine Jugend,
Auf Pfade voller Blut.
Ach! folge nur der ewigschönen Tugend;
Die ist das höchste Gut.
Die wird dich auch im Tode nicht verlassen;
Verlasse sie nur nie.
Was wär ich, ach! wenn du mich wolltest hassen?
Was wärst du ohne sie?

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Götz, Nicolaus. Gedichte. Versuch eines Wormsers in Gedichten. Warnung an einen schönen Knaben. Warnung an einen schönen Knaben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E550-5