Herrmann Goedsche
Sebastopol
Historisch-politischer Roman aus der Gegenwart

1. Theil: Seine und Bosporus

Der Prolog
Der Prolog.

Ein heftiger Regenschauer, wie der März sie in Paris häufig mit sich führt, hatte mit der späten Stunde des Abends – die Uhren zeigten bereits über Zehn – die bewegliche Masse der Spaziergänger und Flaneurs von den Straßen und Boulevards vertrieben, als an einem Nebenausgang der Gallerie Heinrich's IV. in den Tuilerieen ein eleganter, aber durch keinerlei Zeichen oder Livree auffallender Wagen wartend hielt. Endlich gegen halb Eilf öffnete sich die Thür und zwei in Mäntel gehüllte Personen, die beide Civilkleidung trugen, kamen heraus und bestiegen den Wagen, der auf einige dem Kutscher zugeflüsterte Worte sofort über die Pont Royal, durch die Rue du Bac undde Grenelle nach der Esplanade der Invaliden seinen Weg nahm. Ein Loosungswort am Thor öffnete ihm den Eingang und der Wagen rollte durch den Cour Royal nach dem berühmten Dom, an dessen Seiteneingang er still hielt. Ein Mann in Generalsuniform schien hier den Wagen erwartet zu haben, öffnete selbst den Schlag und begrüßte höflich dir Aussteigenden, von denen der Eine den Mantel dicht und verhüllend um sich geschlagen hielt.

»Sie haben mein Billet bekommen, General,« sagte sein Begleiter, »und wir sind Ihnen sehr verbunden für Ihre Aufmerksamkeit. Ist unser Mann an Ort und Stelle?«

»Er wartet seit einer halben Stunde.«

»Ah, dann haben Sie wohl die Güte uns einzulassen und dafür Sorge zu tragen, daß wir unter keinerlei Umständen gestört werden. Die sämtlichen Eingänge sind doch geschlossen und Niemand mehr in der Kirche?«

[5] »Es ist Alles geschehen, Herr Graf, wie Sie gewünscht,« entgegnete der General. »Hier ist der Schlüssel zur Pforte, so daß Sie zu jeder Zeit von Innen öffnen können. Ich werde die Ehre haben, Sie selbst hier zu erwarten.«

Die beiden Fremden traten in die Kirche und schlossen die Thür hinter sich, der alte Offizier aber lehnte sich sinnend unter einem Vorsprung der Mauer an die Wand, um vor dem Regen geschützt zu bleiben; das Schiff der Kirche war dunkel, nur vor dem Hochaltar und in der Kapelle zu Häupten des großen Katafalks, welcher jene sterblichen Reste umschließt, die eine vertriebene Herrscherfamilie als erstes Siegel der entente cordiale von dem Felseneiland St. Helena holen ließ, zu Häupten des Katafalks Napoleon's I. leuchtete der Schimmer der ewigen Lampen. Ehe die Männer den Gang betraten, hielt der Verhüllte den Andern einen Augenblick am Arm zurück. »Sie kennen Ihre Instruktionen, Graf,« sagte er, »wenn etwas Weiteres nöthig, werde ich Ihnen ein Zeichen geben.« – Ihre Schritte hallten im Echo wieder an dem mächtigen Gewölbe, als sie sich der Kapelle näherten. Ein leiser Luftzug schien die Banner und Standarten in Bewegung zu setzen, die ringsumher aufgehangen sind. Aber es sind Siegesdenkmale der neuern Zeit, wehende Roßschweise und Prophetenfahnen, welche die Bourbonen und Louis Philipp dem Vasallen des Großherrn in den heißen Kämpfen auf afrikanischem Boden entrissen; – jene Standarten, die der mächtige Griff des napoleonischen Adlers einst auf den Feldern von Arkole bis zur Moskwa den Völkern Europa's nahm, und die der kaiserliche Soldat im Dom seiner Invaliden aufhängen ließ, sind längst verschwunden. Joseph Napoleon hatte wenigstens so viel Achtung vor dem Kriegsruhm seines verrathenen Bruders, daß er diese Zeichen einstiger Siege verbrennen und vernichten ließ, ehe die Verbündeten ihren Einzug in Paris hielten, um sie wieder zu holen.

Von den zu beiden Seiten des Grufteinganges aufwärts führenden Stufen des Mausoleums erhob sich bei dem Nahen der Beiden ein Mann und blieb sie erwartend stehen. Dem gegenseitigen stummen Gruß folgte eine kurze Pause, in der die beiden Parteien im Halblicht des Lampenschimmers sich zu mustern schienen. Von den beiden Eingetretenen hielt sich der Größere auch jetzt mehr im Schatten und in den Falten seines Mantels verborgen, ohne auch im Gotteshause den Hut abzunehmen; der Andere trat näher[6] an's Licht; seine Gestalt war mittelgroß und ziemlich schlank, und sein Kopf trug charakteristische Züge, geeignet, die Erinnerung jedes Franzosen wachzurufen. Ein ergrauender Schnurr- und Knebelbart bedeckte den untern Theil seines Gesichts, aus dem ein Paar scharfe unruhige Augen unter starken buschichten Brauen den Dritten forschend vom Kopf bis zu den Füßen maßen. Dieser erwiederte ruhig, mit einem etwas matten starren Auge den Blick. Es war ein Mann in hohem Lebensalter, offenbar den Siebenzig nahe, aber von ungebeugter, fester Körperhaltung. Haupthaar und Bart waren weiß, das Gesicht außer von zwei tiefen Narben auch von den Runzeln des Alters durchfurcht. Die dicht beieinander stehenden Augen hatten, wie gesagt, einen seltsamen starren Ausdruck, der sich nur von Zeit zu Zeit feurig und dann unwiderstehlich belebte. Eine der Narben lief von dem linken Backenknochen aus bis auf den Schädel, auf dessen hoher kahler Platte sie endete. Der Greis hatte den Reitermantel auf den Stufen des Mausoleums fallen lassen und stand vor den Beiden gekleidet in eine offenbar alte und unscheinbar gewordene Offizieruniform der poniatowski'schen Lanziers.

»Sie sind der Herr,« begann Der, welcher den General am Eingang angeredet hatte, auch hier das Gespräch, »welcher Seiner Majestät dem Kaiser vor drei Tagen dies Memoir eingereicht hat?« Er zeigte ihm hierbei ein ziemlich starkes Heft und fuhr, als der Angeredete sich zustimmend verneigte, fort: »Sie werden aus dem Besitz dieser Papiere ersehen, daß ich von Allem Kenntniß gesetzt bin und Vollmacht habe, mit Ihnen zu verhandeln. Es sind dem Kaiser seit ungefähr zwei Jahren von Zeit zu Zeit ähnliche Denkschriften zugegangen mit – wir müssen es gestehen, – sehr umfassenden und schätzenswerthen Materialien ...«

»Die der Kaiser auch benutzt hat, sonst wäre er schwerlich der Kaiser,« unterbrach ihn mit kaustischem Lächeln der Greis.

»Auch das, wenn Sie wollen, wir gestehen es zu, die Thatsachen sprechen. Selten hat man eine genauere Voraussicht und Combination der politischen Ereignisse gefunden, als der Verfasser dieser Schriften besitzt, wohl nie eine umfassendere und tiefere Kenntniß aller auch der geheimsten Triebfedern, die Europa, ja die Welt gegenwärtig bewegen. Es ist unmöglich, daß diese Kenntniß die Wissenschaft eines einzelnen Mannes sei, der nicht wenigstens einen Thron zu Gebote hat. Der Kaiser, mein Herr, ist begierig, [7] den Verfasser dieser Winke kennen zu lernen, und da es heute das erste Mal ist, daß Sie eine persönliche Annäherung selbst gewünscht haben, obgleich, wie ich gestehe, an einem seltsamen Ort und zu seltsamer Zeit, so hat mich Seine Majestät beauftragt, Ihre Eröffnungen entgegen zu nehmen und Sie nötigenfalls, wenn Sie darauf bestehen, zu ihm zu führen.«

»Das ist unnöthig, Herr Graf,« bemerkte der Andere, »ich weiß vollkommen die Person zu schätzen, mit der ich hier zusammentreffe.«

Der Graf erröthete leicht und warf einen Moment lang den Blick auf seinen Begleiter, der an der zweiten Seitenwand des Mausoleums lehnte. »Sie kennen mich, mein Herr?« frug er rasch.

Der Alte verneigte sich ehrerbietig. »Es rollt ein Blut in Ihren Adern, Excellenz, das ein alter Offizier jenes Kaisers, der nicht zu sagen gewohnt war: l'empire c'est la paix, sondern l'empire c'est l'épée! nie verkennen wird. Ueberdies sind wir gewissermaßen Landsleute, ich bin Pole von Geburt.«

»Sie gehören zu der Conföderation des Fürsten Ezartoriski?« sagte Jener rasch.

Der Pole schüttelte spöttisch das Haupt. »Herr Graf,« sagte er, »ich bin nicht siebenundsechszig Jahre geworden, ohne gelernt zu haben, daß die Wiederherstellung Polens nicht auf dem Parketboden der Salons von Paris gemacht werden kann. Ich kenne den Herrn Fürsten nur dem Namen nach. Doch lassen wir das, – es führt uns nur von unserm Gegenstand ab. Ich bitte, recapituliren wir für einen Augenblick den Stand der Angelegenheiten.«

Der Graf verneigte sich zustimmend und der alte Offizier fuhr fort:

»Im Mai 1850 ging das Kabinet der Tuilerieen aus den ihm von mir anonym vorgelegten Plan der Initiative in der orientalischen Angelegenheit ein und ließ durch General Aupick von der Pforte den Besitz der heiligen Orte fordern.

Gerade ein Jahr später nahm Herr von Lavalette die Frage auf's Neue auf und brachte im Herbst die Pforte zu einem Zugeständniß. Dies hatte, wie wir vorausgesagt, die Reclamationen des petersburger Hofes zur Folge, der auf die Vorrechte der griechischen Kirche bestand. Der Divan, von den russischen Forderungen in's Gedränge gebracht, verzögerte eine genugthuende Erklärung [8] und Marquis von Lavalette brach zu Ende des Jahres seine diplomatischen Beziehungen ab.

Auch das Jahr 1852 verging mit den angeregten Verhandlungen, die immer verwickelter wurden. Die Pforte, zwischen den beiden bedrohenden Mächten, suchte nach beiden Seiten hin einen vergütenden Ausweg. Wie das damalige Memoir der Regierung voraussagte, spannte bei der Erklärung des französischen Gesandten, zufriedengestellt zu sein, der russische seine Forderungen höher und erlangte jenen Firman zu Gunsten der Griechen, dessen Auslegung und Proclamation neue Verwickelungen hervorrufen mußte.

Hiermit war zugleich erreicht, daß die weiteren Aggressionen dem petersburger Kabinet anheim fielen und von Frankreich abgeleitet, so wie, daß die Interessen der englischen Regierung mit dem Auftreten der französischen verbunden wurden. Herr von Lavalette war in der Lage, im November zu drohen, daß bei einem Bruch der an Frankreich gegebenen Zusage er die Flotte herbeirufen müsse.

England, um weder Frankreich noch Rußland die Oberhand zu gewähren, nahm Theil an den diplomatischen Verhandlungen und erklärte die beiderseitigen Ansprüche für zu weit getrieben. Dies war der Augenblick, um Frankreich vollends herauszuziehen und den Zusammenstoß jener beiden mächtigen Feinde der Napoleoniden, Rußlands und Englands, vorzubereiten; und in der That, Herr Graf, ich muß gestehen, daß man dies sehr geschickt gethan hat.«

»Ah, Sie meinen die Erklärung unseres Gesandten unterm zehnten December, daß Frankreich keinen Anspruch auf ein Protektorat über die römisch-katholischen Unterthanen der Pforte mache, und die Erbötigkeit unsers Ambassadeurs in Petersburg, sich mit dem russischen Kabinet über die streitigen Punkte in der Frage der heiligen Stätten zu verständigen?«

»Ganz recht, Herr Graf. Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, damals mein vorletztes Memoir zu empfangen und dessen Versicherung zu vertrauen, daß Kaiser Nicolaus auf dem unbedingten Protektorat über die griechischen Christen in der Türkei, das ist bei einem Verhältniß von neun zu vier Millionen über die Türkei selbst, bestehen und seine Forderung durch eine unüberlegte Waffendemonstration unterstützen würde. Rußland dirigirte in der That bereits Truppen aus ganz Beßarabien und dem Chersones nach der Gränze der Fürstenthümer, und England ...«

– »England,« unterbrach die sonore Stimme des Verhüllten [9] zum ersten Male mit dem Tone der Ungeduld die Unterhaltung, »England, mein Herr, begann seinen Rückzug. Die Depeschen Lord John Russel's an den Gesandten in Paris und an Oberst Rose constatiren, daß das Kabinet von St. James die Schuld der ersten Drohung immer noch auf Frankreich schiebt, die beiderseitige Haltung mißbilligt und sich jeder Einmischung fern halten will!«

»Ich werde sogleich die Ehre haben, diese Anschuldigung näher zu erläutern,« entgegnete mit einer Verbeugung nach der Richtung hin, in welcher der Verhüllte stand, der alte Offizier. »Diese Haltung war von dem schwankenden Charakter des Lord John vorauszusehen. Aber sie wurde paralisirt, indem man in Petersburg die Wahl einer außerordentlichen Mission auf den Fürsten Mentschikoff lenkte und durch die Erklärungen, zu denen sich der Kaiser Nicolaus unvorsichtiger Weise hinreißen ließ. Diese sind Ihnen ohne Zweifel bekannt, Herr Graf?«

»Ich, weiß in der That nicht, was Sie meinen.«

»Dann haben Sie die Güte, diese Aktenstücke zu lesen. Es sind die genauen Abschriften der geheimen Berichte, welche Sir Seymour, der englische Gesandte in Petersburg, über vier Privat-Unterredungen eingesendet, die er am 9. und 14. Januar sowie am 20. und 21. Februar mit dem Kaiser Nicolaus hatte, desgleichen die eines Memorandums vom letzten Datum, was der Kaiser jenem Gesandten zustellen ließ.« Der alte Offizier zündete eine der auf dem nahen Altare stehenden, geweihten Lampen an und überreichte ein Heft Papiere, das der Andere hastig ergriff und mit großer Aufmerksamkeit durchflog, während auch der Verhüllte näher hinzutrat und über die Schulter des Grafen mitlas.

»In der That, mein Herr,« sagte der Letztere nach einer Pause von etwa zehn Minuten, während welcher ihm beim eifrigen Lesen der Depeschen – jener Aktenstücke, die später unter dem Namen der Enthüllungen des blauen Buches bekannt geworden sind – hin und wieder ein Ausruf der Ueberraschung entschlüpft war, »in der That, ich kannte zwar im Allgemeinen den Inhalt der Unterredung vom 9., doch diese wichtigen Details sind mir neu. Es scheint, Lord John spielte eine doppelte Karte, indem er uns die Kenntniß so bedeutsamer Entschließungen vorenthielt. Sie müssen auf Ehre eine Art Hexenmeister sein, um sich den Besitz so wichtiger Dokumente verschafft zu haben?«

»Dem Golde, Herr Graf,« entgegnete der Pole der halben [10] Frage, »ist in London Alles möglich, gerade wie in Paris den Frauen. –«

»Ich erlaube mir, bis zu dem Augenblick, in dem wir uns befinden, die Vorgänge weiter zu resümiren. Die Art und Weise, in welcher Graf Nesselrode officiell den Kabinetten von London und Paris die Instructionen des Fürsten Mentschikoff bezeichnete, verzögerten den Ausbruch der Differenzen. Danach sollten diese Instructionen sehr gemäßigt sein, beträfen nur die Montenegriner und die heiligen Stätten und hätten zum Zweck, ein Aecquivalent für jedes den Griechen genommene Privilegium zu erreichen. Trotz der Beweise, die ich Ihnen eben über die Absichten Rußlands vorzulegen die Ehre hatte, zögerte das englische Kabinet noch immer mit einer Einmischung, ernannte aber einen besonderen Gesandten in der Person des Lord Stratford. Sie kennen den Lord, Herr Graf, und wissen, daß bei seinem Ehrgeiz und seinem echt brittischen Charakter ein Kampf mit der Anmaaßung und dem Stolz des Fürsten Mentschikoff unmöglich ausbleiben kann, wenn der Letztere Forderungen stellt, die in den Augen des Lords mit dem brittischen Interesse im Orient nicht vereinbar sind. Das erste Auftreten des Fürsten in Constantinopel haben die Zeitungen gemeldet. Es war beleidigend und herausfordernd in dem Maaße, daß die Pforte den brittischen Gesandten aufforderte, die englische Flotte zu ihrem Schutz herbeizurufen und Oberst Rose an Admiral Dundas wirklich die Aufforderung gestellt hat, das Geschwader nach Vourla zu führen.«

»Aber der Admiral hat sich geweigert, der Oberst hat seine Aufforderung zurückgenommen, die englische Regierung hat, was Sie vielleicht nicht wissen werden, vorgestern den Obersten desavouirt und uns ihr Bedauern ausgesprochen, daß der Kaiser unserm Geschwader im Mittelmeer gleichfalls den Befehl ertheilt hat, in die griechischen Gewässer abzugehen.«

»Der Kaiser, mein Herr,« entgegnete der Greis, »ist ein kluger Politiker und hat sehr Recht gethan, die gute Gelegenheit zu benutzen, die ihm der Schritt des Obersten Rose geboten hat. Sie werden sich erinnern, daß mein Memoir auf eine solche Gelegenheit speculirte. Nach der Absendung der Flotte Frankreichs bleibt England Nichts als über kurz oder lang die Nachfolge.«

»Ich gestehe zu,« sagte der Graf, »daß es für ein großes Interesse haben muß, England in einen Krieg mit Rußland zu [11] verwickeln und seine ganze Macht im Orient engagirt zu sehen. Die Forderungen des Fürsten Mentschikoff können allerdings den Charakter von Demonstrationen gewinnen, die den Kaiser und das Kabinet von St. James zwingen würden, für eine Krise den Gesandten besondere Instructionen zu geben.«

Der Pole lächelte. »Euer Excellenz trauen mir noch immer nicht. Vorgestern, am 22., hat Seine Majestät ihrem Gesandten in Constantinopel bereits diese Instructionen zugesandt. Soll ich Ihnen die vier Fälle der Instruction noch bezeichnen? – Gestern ist die Note an Sie nach London abgegangen, worin die Regierung die Hoffnung an das englische Kabinet ausspricht, daß bei der Krisis in Constantinopel beide Gouvernements gleiche Haltung beobachten werden. Die Depesche wird Ihren Weg gekreuzt haben, Herr Graf, da Sie, durch den Telegraphen berufen, gestern Abend Dover verlassen haben.«

Der Graf trat erstaunt einen Schritt zurück, der Verhüllte aber ungestüm auf den Fremden zu, indem er durch die heftige Bewegung den verbergenden Mantel zum Theil fallen ließ. »Wer sind Sie, mein Herr? Sie sehen, ich habe ein Recht zu fragen, und ich will wissen, auf welche Weise die Geheimnisse des Staats in Ihre Hände kommen?«

Der alte Mann verbeugte sich ehrerbietig. »In Frankreich,« sagte er, »hat stets das Wort eines Edelmannes gegolten und ich bin im Vertrauen auf dasselbe hierher gekommen. Das Recht, nicht gekannt zu sein oder zu scheinen sei ein beiderseitiges

Der Andere hüllte sich wieder in den Mantel. »Nach Ihrem Belieben, mein Herr, doch ich glaube, Sie sind uns noch immer das Resultat schuldig.«

Der Pole zog nochmals Papiere hervor und überreichte sie dem wieder herangetretenen Grafen. »Hier finden Euer Excellenz das, was jede englische Zögerung aufheben wird. Es ist die geheime Instruction des Fürsten Mentschikoff und weist ihn an, auf unbedingte Anerkennung des Protektorats Rußlands über die griechische Kirche und somit auf Unterwerfung der Pforte unter die russische Oberhoheit zu dringen und einen Vertrag mit ihr abzuschließen, der 400,000 Mann und die Flotte von Sebastopol zu ihrem Schutz gegen die Westmächte stellt.«

Der Mann im Mantel riß ihm die Papiere aus der Hand [12] und durchflog sie eilig. »Das ist genug, mehr als genug!« sagte er hastig. »Lesen Sie, Graf.«

Der Pole überreichte ein zweites Papier. »Hier ist das Verzeichniß der sämtlichen Streitkräfte, welche Rußland in diesem Augenblick disponibel hat. Die Positionen der Truppen und die Dauer der Etappen sind genau verzeichnet, eben so die Streitkräfte und Vorräthe an den Ufern des schwarzen Meeres.«

»Gut, sehr gut! Aber was rathen Sie nun, mein Herr?«

»Der Kaiser, von dem unterrichtet, was ich so eben hier vorzutragen die Ehre hatte, wird seine Vorbereitungen treffen, um im Augenblick der Krisis eine entsprechende und die brittische Streitmacht überwiegende Landarmee nach Constantinopel oder an die Ufer des schwarzen Meeres werfen zu können. Die Bildung eines Nord- und eines Südlagers würde die Zusammenziehung der Truppen erleichtern. Während Frankreich ohne Mühe 100,000 Mann zum Schutz der Türkei an das andere Ende des Mittelmeeres senden kann, wird eine solche Anstrengung England in seinen besten Lebensquellen erschüttern. Es wird genöthigt sein, die Truppen aus Indien und den Kolonieen heranzuziehen, und indeß seine unzureichende Armee im Kampf gegen Rußland sich aufreibt, wird Frankreich kräftiger und mächtiger denn je als der wahre Hort Europa's und der Civilisation dastehen. Dann – ja dann, wenn England und Rußland sich gegenseitig geschwächt haben, wird es Zeit sein, die Maske fortzuwerfen und die Asche des großen Todten, der hier ruht, zu rächen an seinen beiden stolzen Feinden. Dann werden der russische Doppelaar und der brittische Leoparde sich krümmen und beugen unter den Krallen des napoleonischen Adlers, und das Blut des Kaisers wird wieder der Herr der Welt sein, wie es ihm und Frankreich gebührt.«

»Aber Oesterreich – Deutschland? – –«

»Oesterreich? – Es wird zuerst den Fuß des Siegers auf seinem Nacken fühlen, von zwei Seiten zugleich, an der Donau und am Po bedroht. Deutschland? – Will der Kaiser den Rheinbund? er wird im Nu zu seinen Füßen speichellecken. Und dies Preußen, hochmüthig und abgeschlossen in sich selbst, es wird zaudern und zaudern, bis ihm nur der Kampf bleibt und die eigene Existenz, und in diesem Kampfe wird es sich selbst verbluten. An dem wiedererstandenen Polen und Ungarn und an dem neugeborenen Italien[13] wird das kaiserliche Frankreich drei Stützen haben, die ihm die Welt unterjochen helfen.«

Der Mann im Mantel hatte, die Rechte fest auf die Stirn gepreßt, die entflammenden Worte des alten Offiziers angehört, während die Linke sich auf den Vorsprung der Gruft stützte. Der Mantel war von seinen Schultern gesunken, so stand er eine Weile stumm und still; dann wandte er sich mit einem stolzen Ausdruck zu dem Polen.

»Was immer auch Ihr Zweck sein mag, und ich glaube ihn in jenem schönen Traum von der Wiederherstellung Ihres Vaterlandes zu erkennen, – Sie haben gesiegt, und ich werde um jenes großen Todten willen Ihre Prophezeihung erfüllen, wenn Gott mir so lange das Leben läßt. – Leben Sie wohl, mein Herr, und nehmen Sie meinen Dank. Es ist hoffentlich nicht das letzte Mal, daß wir uns sprechen und ich bitte Sie, mir recht bald wieder Nachricht zu geben.«

Er grüßte den Fremden höflich aber vornehm, während der Graf ihm den Mantel wieder umhing, und wandte sich nach dem Ausgang der Kirche. »Sie gehen mit uns?« frug sein Begleiter den Offizier und verweilte einen Augenblick bei diesem. »Verzeihen Sie, Excellenz, ich habe hier noch ein Gebet zu verrichten. – In London werden Euer Excellenz das Weitere von mir hören und ich bitte Sie, jedem Boten zu vertrauen, der Ihnen zu seiner Beglaubigung dies Zeichen übergeben wird.« Er zeigte dem Grafen ein eigenthümlich geformtes kleines Kreuz von schwarzem Holz mit Silberstiften geziert. Der Graf neigte bejahend den Kopf, grüßte und eilte dem Vorangegangenen nach, um mit dem erhaltenen Schlüssel die Kirchthür zu öffnen.

Draußen fanden sie den General auf seiner übernommenen Wache. Mit gezogenem Hut begleitete der Veteran die geheimnißvollen Gäste bis an den harrenden Wagen und schloß selbst den Schlag. Der Graf legte zum deutungsvollen Zeichen den Finger auf den Mund, während sein Gefährte nur mit leichtem Kopfnicken Abschied nahm, und dahin rasselte die Equipage.

Der Mann im Mantel wandte sich, als der Wagen das Thor verlassen, zu seinem Begleiter. »Hat Maurepas auch die gehörigen Instruktionen und sind Sie sicher, daß uns dieser Mensch nicht entgeht, wenn er das Hôtel verläßt? Ich muß wissen, woran ich mit [14] diesem geheimnißvollen Treiben bin; eine solche Macht im Staate ist viel zu gefährlich, um sie unbeachtet zu dulden.«

»Es ist Alles nach Ihrem Befehl geschehen, Sire,« entgegnete der Graf, »auf allen Seiten sind die zuverlässigsten Agenten ausgestellt und sie werden dem Manne auf allen Tritten folgen. Morgen früh Sire, haben Sie den gewünschten Rapport. –«

Auf den Arm des nach dem Dom, um die Thür zu schließen, zurückkehrenden Generals aber legte sich im Schatten der hohen Mauern des Hofes eine Hand und hielt ihn zurück; es war der Pole. »Kennt General Beaupré wohl diesen Ring?« fragte er freundlich. »Ein Cadet der großen Armee gab ihn schwer verwundet in Leipzig dem Soldaten, der ihn aus dem brennenden Hause der Vorstadt und über die Brücke der Pleisse trug, wenig Minuten vorher, ehe sie gesprengt wurde.«

»Das war ich,« sagte erregt der General, »wie kommen Sie zu diesem Ringe, Herr, Sie sind doch nicht – –«

»Der polnische Lanzier, der Sie zufällig rettete, allerdings, wenn auch diese Züge Ihnen wenig mehr kenntlich sein werden. Unter braven Soldaten, General, bleibt immer Kameradschaft und Sie werden mir gewiß eine kleine Gefälligkeit nicht verweigern, um zu verhindern, daß Ihr Lebensretter vielleicht in eine Schlinge der geheimen Polizei fällt.« Er nahm den General unter den Arm und ging mit ihm einige Schritte im Dunkel auf und ab, leise zu ihm sprechend. Eine Viertelstunde darauf entfernte sich durch eine Seitenthür nach dem Latour-Maubourg unbeachtet ein Mann in dem Rock eines Aufwärters und schlug die Richtung nach dem Marsfelde ein.


In einem der belebtesten Stadtheile vonParis, – die Scene selbst verbietet natürlich die nähere Bezeichnung – bereitete sich in derselben Nacht ein geheimnißvoller Vorgang. Eine mittelgroße gewölbte Halle von eirunder Form, anscheinend unter der Erde, denn es fehlten alle Fensteröffnungen, war von einer Lampe und mehreren auf einer rothbehangenen und quer durch die schmale Breite laufenden Tafel stehenden silbernen Armleuchtern erhellt. Hinter der Tafel, um welche sieben Sessel sich reihten, verdeckte ein rother Vorhang das Ende des Gewölbes.

[15] Sechs der Sessel nahmen Personen in weite rothe Aermelmäntel gehüllt ein, deren Capüchons hauben-und larvenartig den Kopf bis zum Munde verdeckten. Der siebente Stuhl war leer, – auf dem Tische selbst lagen mehrere Papiere, mit deren Verlesung und Eintragung in ein Buch zwei der Mitglieder beschäftigt waren; keines der gewöhnlichen Wahrzeichen und Symbole geheimer Gesellschaften zeigte sich weiter in der Decoration des Gemachs, wenn eine in der Mitte gebrochene goldne Kröne nicht als solches erschien, die oben den Vorhang zusammenhielt.

»Die Berichte aus Amerika, England und Ungarn sind notirt,« sagte der, welcher dies Geschäft vollzogen. »Das Mitglied für Italien hat das Wort.«

Der Vierte in der Reihe an der Tafel erhob sich: »General Pepe berichtet aus Turin. Der Mann bleibt auch im hohen Alter Phantast und ist zu Nichts zu brauchen, sein Name aber wirbt uns zahlreiche Kräfte. Man hat in Turin und Genua eine Reihe von Verhaftungen vorgenommen, doch betreffen sie nur untergeordnete Personen. Auch an andern Orten Italiens, namentlich in Parma, tritt man in Folge der österreichischen Interventionen mit auffallender Strenge gegen die Verbindungen auf. Es ist Zeit, daß der mißglückte Stoß des Ungars Libényi auf den Habsburger durch eine festere Hand an anderm Orte corrigirt werde, damit die Männer auf den Thronen wissen, daß das rächende Verhängniß über ihnen schwebt. Das Jahr 1853 hat seine Warnung gehabt, ich schlage für das nächste Beispiel Ferdinand Karl von Bourbon, den Herzog von Parma vor, unsern erbitterten Feind. – Unsere Presse hat die Nachricht verbreitet, daß Mazzini auf der Retribution sich nach Malta eingeschifft hat, damit ist vorläufig die Aufmerksamkeit abgelenkt. Der Aufstand in Palermo ist zwar fehlgeschlagen wie der in Mailand und Comorn, doch meldet Baron v. Bentivoglio, daß die Organisation zur Verbreitung der Mazzinischen Proklamation vollständig geordnet ist und großen Erfolg zeigt. Die Sammlungen haben im Monat Februar ein Resultat von achtunddreißig tausend vierhundert Livres ergeben, die ich hiermit in Wechseln abliefere. Mit den Triester Dampfschiffen sind die befohlenen Verbindungen eingeleitet.«

Der Redner übergab mehrere Papiere und nahm wieder Platz. Während seiner letzten Worte hatte sich eine Seitenthür an der Tafel geöffnet, ein Mann, gleich den Anwesenden in einem rothen [16] Mantel verhüllt war eingetreten und hatte den leeren siebenten Sessel am Ende der Reihe eingenommen.

»Section Deutschland und Schweiz,« sagte der Secretair.

Der dritte Verhüllte nahm das Wort. »Die Berichte aus Wien lauten wenig befriedigend. Das Attentat vom 18. Februar hat die zaghaften Gemüther geschreckt und die Polizei doppelt aufmerksam gemacht. Libényi hat mit heroischer Ruhe den Opfertod erduldet. Die genauen Berichte über seine letzten Tage liegen vor. Man hat selbst die Gewissensbedrohung durch die feile Geistlichkeit erschöpft, um ihn zum Geständniß zu bringen, von wem die Sendung von 600 Gulden herrührt, die er kurz vor der That durch Anweisung des Londoner Hauses erhalten hat; der Brave schwieg. Weniger treu seinem Eide starb in Pesth der Verräther Andraffy, der die Pläne zum Aufstand in Comorn Kossuth's Schwester überbringen sollte und in die Hände der Schergen fiel. Er hat die mit Omer Pascha angeknüpften Verhandlungen über dessen Einrücken in Croatien verrathen, soweit er davon Kenntniß hatte, und dieser Entdeckung ist die augenblickliche Stellung des Wiener Kabinets gegen die Pforte zuzuschreiben. Man will den Divan um jeden Preis zur Vertreibung der Flüchtigen drängen. Die Finanzverlegenheit jedoch wächst immer ärger und man sucht nach neuen Hilfsmitteln. – In Berlin tritt die Spaltung der Conservativen immer mehr hervor und man arbeitet unsern Absichten in der kommenden Verwicklung damit in die Hand. Die Polizei hat eine Verbindung aufgehoben, deren unreife Organisation ein Kind der eingeborenen Demokratie war. Die Betheiligten wurden von den Wissenden des Bundes zum Theil bei der Flucht Kinkels benutzt, können aber die höheren Interessen in keiner Weise compromittiren. Es ist hier vorläufig Nichts zu machen, als die Zerwürfnisse mit Oesterreich möglichst zu erneuern und die Sympathieen des Heeres für den bevorstehenden Krieg von Rußland abzulenken. Dem russischen Gesandten liegt ein Memoir vor über die Influirung der Tagespresse – unsere Gegenanstalten sind getroffen. Die Sammlungen haben äußerst geringe Resultate gebracht, – man giebt dort nur öffentlich. – Die Regierung von Tessin ist im Begriff den österreichischen Anmaßungen zu weichen; ich habe die Tribune Suisse angewiesen, bei weiterer Nachgiebigkeit mit einer Revolution zu drohen. – Die Sammlung der Schweiz ergiebt Zwölfhundertzwanzig Franken; das[17] Gesamtresultat der Sammlung aus Deutschland ist noch nicht eingegangen.«

Er übergab die Papiere. Der Zuletztgekommene erhob sich nach ihm, ohne die Aufforderung abzuwarten. Wer der geheimnißdollen Zusammenkunft im Dom der Invaliden beigewohnt hätte, würde leicht in dem Sprecher den alten polnischen Offizier wieder erkannt haben. Ausführlich berichtete er über den Gang derselben, das Mißtrauen, das man ihm Anfangs gezeigt und den Eindruck, welchen die übergebenen Abschriften der wichtigen politischen Dokumente gemacht hatten. »Der Kaiser,« schloß der Greis seinen Bericht, »ist offenbar ein scharfsichtiger gewandter Politiker, aber wir haben ihn besiegt, indem wir uns an das verborgenste Geheimniß dieses verschlossenen Herzens gewandt haben. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht vorher schon die Pläne dieses Kopfes von der Vernichtung Englands und der Weltherrschaft der Napoleoniden geträumt hätten, – unser Bei stand hat sie ihm klar gemacht und die Möglichkeit der Verwirklichung ihm gezeigt. Er würde den Krieg hervorrufen, selbst wenn er keinen andern Gewinn davon hätte, als die britische Armee und die britische Flotte von seinen Schöpfungen verdunkelt zu sehen. Aber ich warne vor diesem Kopf! Er ist schlau und thatkräftig genug zu einem Versuch, die Bande, die ihn geheimnißvoll umschlingen, mit eigener Hand zu zerreißen. Möge der Augenblick nicht versäumt werden, wo sein Fall uns nöthig ist, ehe er uns zuvorkommt.«

Der einmalige scharfe Anschlag einer Silberglocke ließ sich hören und augenblicklich schwieg die Unterhaltung. Der Vorhang im Hintergründe öffnete sich ein Wenig und ein Mann, ganz gleich wie die an der Tafel verhüllt, nur daß die rothe Maske selbst den untern Theil des Gesichts verbarg, trat hervor. Die Sieben erhoben sich sämtlich.

»Die höchste Gewalt ist zufrieden, meine Herren, mit dem Resultat der Berichte,« sprach der Unbekannte mit einer milden, etwas zischenden Stimme, »namentlich erkennen wir die große Geschicklichkeit an, mit welcher der Vertreter der Sektion VII. heute seinen Auftrag für die französische Regierung gelöst hat. Das Geschick Frankreichs ist damit in unsern Händen und wir können seine Kräfte ohne Gefahr benutzen. – Zur rechten Zeit wird jene einschreitende Hand bereit sein, die stürzt, wie sie allein erhoben hat.«

Der zuletzt Gekommene der Sieben verbeugte sich; der Andere [18] fuhr fort: »Die Botschaften für London, Wien, Berlin, Petersburg und Constantinopel liegen bereit. Haben Sie die geeigneten Persönlichkeiten dazu ausersehen, je nach dem Grade der Wichtigkeit, welche die Mission hat?«

Der Secretair des Raths bejahte und überreichte ein Blatt mit den Namen und den persönlichen Notizen, das Jener genau überlas. »Warschau und Petersburg!« sagte er überrascht, – »der Vorstand der Section selbst will diese Mission übernehmen?«

Der Verhüllte, welchen der Leser als den Offizier aus dem Invalidendom erkannt hat, erhob sich. »Ich habe diesen Auftrag als Lohn für die wenigen Dienste erbeten,« sagte er, »die ich dem Bunde der Unsichtbaren geleistet. Ich glaubte, daß mir die Mitglieder der höchsten Gewalt das Vertrauen schenken würden, ich werde meine schwierige Aufgabe mit allen Kräften lösen. Ohnedies ist hierzu ein Mitglied des siebenten Grades nothwendig, um im Augenblick der Entscheidung den Befehl in die Hand nehmen zu können.«

»Sehr wahr, mein Herr, aber wir werden Sie kaum hier entbehren können. Auch sind Sie eine in Warschau sehr bekannte Persönlichkeit und stehen auf der Liste der Geächteten.«

Der alte Soldat nahm ein Papier aus dem Portefeuille und überreichte es: »Die Begnadigung des Kaisers und die Erlaubniß zur Rückkehr! Ich empfing sie heute von Herrn von Kisseleff.«

»Das ist allerdings Viel, doch« – eine behandschuhte Hand, die sich aus den Falten des Vorhangs hervorstreckte, reichte dem Sprechenden einen Streifen Papier, den dieser las und sofort am Licht einer Kerze verbrannte. »Die Majorität der höchsten Gewalt ist mit Ihrer Sendung einverstanden. Sie haben also die Vollmacht zur Reise und werden als Mitglied des Raths bis zur Summe von fünfzigtausend Rubeln disponiren können. Doch ist es Ihnen bekannt, daß von diesem Augenblick an, bis zur Beendigung Ihrer Mission, Sie aus dem Rath selbst scheiden und unter die Gehorchenden zurücktreten.«

Der Pole verneigte sich. »So nehmen Sie die nöthigen Papiere in Empfang und die Sonne der Freiheit leuchte Ihnen nach Osten.«

Er reichte dem Scheidenden die Hand, jeder der Beisitzer that dasselbe und der Pole verließ den Saal durch die erste Thür, während der Verhüllte dessen Sitz einnahm.

[19] »Smyrna und Constantinopel?« führ derselbe nach einem weitern Blicke in das Papier fort. »Nach diesen Notizen hält der Rath es für gut, den dahin bestimmten Gehorchenden von hier zu entfernen und in eine Lage zu bringen, in welcher er gehörig überwacht, dem Bunde bessere Dienste leisten kann, als hier. Welchen Grad zählt der Gehorchende?«

»Den vierten.«

»Das ist genügend, wir haben sichere Leute an Ort und Stelle. Lassen Sie ihn eintreten.«

Der Secretair drückte auf eine Feder, die zweite Thür gegenüber dem Tisch öffnete sich, und ein Mann, anscheinend in den ersten dreißiger Jahren, von offenen männlichen Gesichtszügen und festem ruhigen Auge, einfach aber gut gekleidet, trat ein und nahte mit einer Verbeugung dem Tisch.

»Sie wollen nach der Levante gehen, um als Arzt dort Beschäftigung zu suchen?«

»So ist es.«

»Seit wann sind Sie Mitglied des Bundes?«

»Seit fünf Jahren.«

»Gut, Sie werden die Briefe erhalten, die Sie auf Gefahr Ihres Lebens sicher zu überbringen haben. Die weiteren Instruktionen werden Sie an Ort und Stelle finden. Die Mittel der Reise sind hier.« Er reichte ihm zwei Goldrollen. »Wann reisen Sie?«

»Morgen früh.«

»Wir werden in Constantinopel von Ihrer Kunst den geeigneten Gebrauch machen. Bedenken Sie: Willenloser Gehorsam! Leben Sie wohl.«

Der Angeredete nahm mehrere Papiere in Empfang und entfernte sich durch dieselbe Thür, aus welcher er eingetreten.

»Die Person für Berlin und Deutschland!«

Ein neuer Druck der Feder öffnete die dritte Thür: eine elegant in schwarze Seide und Spitzen gekleidete Dame trat mit graciösen Manieren ein. Ein kühner interessanter Kopf blickte aus den umhüllenden Falten des kokett um das dunkle Haar geschlungenen, von einer prächtigen Brillantnadel gehaltenen Spitzenschleiers. Die dunklen geschwungenen Brauen über dem feurigen Gluthauge, die zierlich üppigen Formen von Busen und Hüften, der ganze Typus des zwar nicht mehr in der ersten Jugendfrische prangenden aber überaus interessanten und anregenden Gesichts[20] ließ die Südländerin nicht verkennen. Die sieben Männer erhoben sich und verbeugten sich artig vor der schönen Erscheinung.

»Sie gehen nach Berlin, Madame, um dort neue Triumphe zu feiern?«

»Senjor sind sehr galant,« entgegnete die Dame. »Ich habe das immer erfahren, seit ich in Frankreich bin, wenn ich auch leider die mächtigen Beschützer nicht kenne, die sich meiner angenommen und mich aus verabscheuten Fesseln befreit haben. Sie wissen, Senjor, daß ich ganz zu Ihren Befehlen stehe.«

»Wir wünschen vor der Hand Nichts, Madame, als daß Sie diese Empfehlungsbriefe in den verschiedenen Hauptstädten, die Sie berühren werden, abgeben, und die Personen, an die sie gerichtet sind, mit der bekannten Gewalt Ihrer Reize an sich fesseln. Sie wissen, daß wir mächtig sind und namentlich Schweigen verlangen. Denken Sie immer daran, daß selbst die Wände in unserm Solde stehen. Vor Allem, Madame, wenden Sie die Geschosse Ihrer Feuerblicke und die Macht Ihrer Reize gegen die Herren vom Militair und bilden Sie aus diesen den Kreis Ihrer Sclaven. Ist das besorgt, was für Madame bestimmt war?«

Der Secretair überreichte ihm ein sammetnes Etui, der Verhüllte schlug es auf und ein prachtvoller Brillantschmuck glänzte in dem Strahl der Kerzen. Die Augen der Dame funkelten bei dem Anblick in unbezähmbarer Begierde.

»Nehmen Sie,« sagte galant der Redner, »es ist ein vorläufiges Zeichen unsers Dankes und seien Sie gewiß, daß derselbe dabei nicht stehen bleiben wird.Au revoir, Madame, vielleicht ehe Sie es denken.«

Er erhob sich, während die Dame eine ziemliche Anzahl Briefe in Empfang nahm, und führte sie bis an die Thür zurück, die sich hinter ihr schloß. »Bei meinem Eide,« sagte der Verhüllte zurückkehrend, »ein entzückend schönes Weib. Sie wird uns treffliche Dienste leisten. Doch lassen Sie uns eilen, die Zeit ist vorgeschritten. Ich sehe, die nächsten für London bestimmten Personen gehören den untersten Klassen an?«

»Man hat um Persönlichkeiten geschrieben, die weniger als Führer und Wissende, an denen es in London nicht fehlt, denn als geeignet erscheinen, kameradschaftlich unter den Arbeitern und dem Volk selbst zu wirken. Die beiden Personen, die wir gewählt haben, sind sehr zuverlässig und geeignet; der Eine finster, brütend, [21] jedes Entschlusses und jedes Opfers fähig, ohne Familienbande und nur für die Revolution thätig; der Zweite ein Kind derselben, begeistert, einer jener pariser Proletarier, die mit Beranger's Liedern statt der Muttermilch gesäugt worden sind.«

Ein Zeichen befahl den Eintritt; aus der vierten Thür erschienen zwei Männer, sehr verschieden im Aeußern. Der jüngere mochte etwa 23 Jahre zählen, ein ächtes Kind des pariser Pflasters, dem, wenn auch von der Conscription durch eine glückliche Loosung befreit, doch das soldatische Blut des Franzosen aus Haltung und Bewegung leuchtete. Ein freies männliches Gesicht, von schönem Bart umschattet, ein etwas wild und hitzig blickendes Auge, die kräftige und doch gelenke Gestalt mit den ausgearbeiteten Händen, bekleidet mit der reinlichen Blouse, machte den jungen Mann zum Ideal eines lebensfrischen Repräsentanten der arbeitenden Klasse. Ganz im Gegensatz zu ihm stand sein Begleiter, anscheinend fünf bis sechs Jahre älter, nicht groß und dennoch von gebückter Haltung, das straff anliegende schwarze Haar fast bis zu den buschigen Augenbrauen herabgehend, unter denen tief liegende unheimliche Augen funkelten; im gelblichen Italienergesicht, um den kleinen gekniffenen Mund, lagen Züge unbeugsamer Entschlossenheit.

»Sie gehen nach London und Manchester,« redete der Verhüllte die Beiden an, »und werden dort der großen und heiligen Sache der freien Arbeiterverbrüderung wichtige Dienste leisten. Ich brauche Sie nicht an das Joch der Tyrannei zu erinnern, denn Sie fühlten es selbst an jedem Tage, an welchem Ihre Mühen und Ihr Fleiß die Geldkisten Ihres Fabrikherrn füllten. Nur die erhabene Fahne der socialen Republik kann in ihrem Schatten jedem freien Mann seine Geltung verschaffen. Werben Sie unter Ihren Brüdern in England, und bereiten Sie dieselben vor; denn ich sage Ihnen, der Anbruch des Tages ist nahe, an dem die Flamme der Völkerfreiheit über Berg und Thal, über See und Land leuchten und zum großen Kampfe rufen wird für die ewige Gleichheit!«

Die schwülstigen, wohlberechneten Worte verfehlten ihren Eindruck nicht, der junge Mann hob begeistert die Hand in die Höhe wie zum Schwur, der Italiener ballte die Faust, zwischen den zusammengebissenen Zähnen zischte die Drohung:

»Tod den Tyrannen!«

»Diese Papiere werden Ihnen sagen,« fuhr der Redner fort, [22] »an wen Sie sich in London zu wenden und wie Sie Ihre Instructionen zu erhalten und auszuführen haben. Im Namen der Freiheit und Gleichheit weihe ich Sie zu dem großen Werke des Bundes. Gehen Sie.«

Die Beiden wendeten sich nach der Empfangnahme der Papiere zur Thür, an der der Jüngere einen Augenblick zauderte, dann kehrte er rasch um und trat entschlossen nochmals zu dem Tisch:

»Morbleu, meine unbekannten Herren! Es drückt mir da Etwas das Herz und das möchte ich gern los sein, ehe ich die befohlene Reise zu den Beafsteaks antrete. Mein Alter hätte das Geld sparen können, das er in meiner Jugend darauf verwendet hat, mich in einer englischen Maschinenwerkstätte in die Lehre zu geben, dann hätte doch meine Schwester jetzt einen Nothpfennig. Ich kann das arme Mädchen wahrhaftig nicht so zurücklassen ohne Schutz und Hilfe, das Grisettenblut in ihren Adern ist gar zu leicht und die Verlockung oft groß genug.«

»Sie werden vor Ihrer Abreise einen Vorschuß von zweihundert Franken erhalten, den Sie von Ihrem guten Verdienst in England abtragen können,« sagte der Rothe. »Ihre Schwester wird im Auge behalten werden, gehen Sie unbesorgt.«

Der junge Arbeiter verneigte sich dankend, warf noch einen neugierigen Blick rings umher und folgte seinem Gefährten. »Ich glaube, der Vorstand der Section England,« sagte der Verhüllte, »hat da keine besondere Wahl getroffen. Der Mann gehörte auf die Barrikade, nicht in die Werkstätten.«

»Er ist ein trefflicher und für seinen Stand schwungvoller Redner,« wandte der Getadelte ein, »und wir finden wenig französische Arbeiter, die der englischen Sprache mächtig sind. Ueberdies ist sein Begleiter der Mann, der seine Fähigkeiten auf den bestimmten Punkt fesseln wird.«

»Sie mögen Recht haben, der Zweite ist eine Physiognomie, aus der sich Vieles machen läßt und der, was er erfaßt, nie aus den Augen verlieren wird. Ich kann den Namen nicht deutlich lesen, der Manu heißt?«

»Pianori. Er focht in Rom, brachte uns die letzten Depeschen von Turin und hält sich seitdem heimlich hier auf.«

»Lassen Sie den Letzten für heute erscheinen.«

Die fünfte Thür öffnete sich und ein elegant, ja überladen gekleideter Mann in mittleren Jahren, von einem gewissen Embonpoint, [23] wie es vielen unserer Börsencoryphäen so behaglich steht, trat unter Verbeugungen ein. Der Schnitt des Gesichts verrieth die orientalische Abstammung vielleicht aus dem zweiten Grad; die schmal zulaufende hohe Stirn den geübten Rechner und Zahlenmann, die rastlos sich bewegenden Finger und die kurz und scharf umherblickenden Augen zeigten den thätigen Geschäftsmann und Speculanten.

Ohne die Anrede abzuwarten, begann der Eingetretene: »Im Begriff, nach Wien abzureisen, erhielt ich die Ladung des Rathes und beeilte mich, dem Befehl nachzukommen. Darf ich wissen, welche Angelegenheiten meine Dienste erheischen?«

Der Verhüllte nahm ein kleines Buch in rothem Saffian, das der Secretair ihm reichte und durchblätterte es einige Augenblicke schweigend, dann frug er:

»Haben Sie zufällig unser Conto zur Hand, Herr Baron?«

»Gewiß, ich steckte es zu mir. Der letzte Abschluß vom vorigen Monat ist, wie ich ersehe, 75,000 Franken zu meinen Gunsten. Man hatte in dem Monat stark gezogen.«

»Ganz recht, mein Herr, indeß die anvertrauten Fonds ergeben eine Summe von Achtmalhundert dreiundsechszigtausend Francs, – so viel ich weiß in Metalliques und Bank-Aktien?«

Der Geldmann warf einen hastigen Blick auf den Redner. »So ist es, ich machte auch nur die Bemerkung in Beziehung auf das laufende Conto.«

»Ich vermuthete das. Doch, mein Herr, der Bund braucht in diesem Augenblick bedeutende Mittel, und ich wollte Sie ersuchen, die Werthe bis auf achtmalhunderttausend Francs auf Morgen Mittag 12 Uhr für uns disponibel zu halten. Wir brauchen grade österreichische Papiere und werden sie auf die gewöhnliche Weise in Empfang nehmen lassen.«

Der Banquier erbleichte leicht, faßte sich aber rasch. »Sie werden zu Ihrer Disposition sein.«

Ein scharfer durchbohrender Blick sprühte aus der verhüllenden Maske. »Ist das auch gewiß, Herr Baron, werden wir die Metalliques vorfinden?«

Das Gesicht des Befragten überzog sich mit fahler Blässe, dennoch wankte er nicht unter dem Schlage, sondern entgegnete mit fester Stirn: »Ich werde die Ehre haben, Ihnen meine Kasse zu öffnen, das Geld befindet sich darin.«

[24] Die Worte waren kaum ausgesprochen, als der Vorhang hinter der Tafel auseinanderrauschte und in einer dunkel behangenen weiten Nische zwei Männer sichtbar wurden, die dasselbe verhüllende Kostüm trugen, wie ihr Gefährte. Der Eine war eine große breitschultrige Gestalt, der Andere klein, offenbar schwächlich und verwachsen. Alle Mitglieder der Tafel standen auf, – der Geldmann vor ihr trat unwillkürlich einen Schritt zurück und beugte das Haupt.

»Einen Augenblick,« sagte die ernste dröhnende Stimme des Größern der neuen Zeugen, »ich möchte Sie fragen, Gehorchender, ob dieser Auszug über den gegenwärtigen Bestand Ihrer Kasse richtig ist? Danach ist dieser Bestand an Aktien der österreichischen Bank nur 2000 Gulden, baar vielleicht 40,000 Francs, die in diesem Moment wahrscheinlich in Wechseln in Ihrer Tasche oder in Ihrem Koffer sind; aber von den Ihnen anvertrauten Metalliques giebt es in Ihrer Kassette keine Spur.«

Der Baron war vernichtet. »Ich hatte Forderungen zu decken –« stammelte er endlich, »das Geld ist nicht verloren – ich habe Speculationen – gönnen Sie mir nur Zeit.«

Der Große lachte verächtlich. »Armer Narr, wenn wir das nicht wüßten, lebten Sie bereits nicht mehr, um hier von Ihrem Verhalten Rechenschaft zu geben. Merken Sie sich die Lection, der nächste Bruch des Vertrauens wird mit Ihrem Herzblut gesühnt! – Hätten Sie uns Ihre Absicht, auf die Escompten-Bank zu speculiren, mitgetheilt, so würden wir dem gar nicht widersprochen haben, und Sie hätten nicht auf eigene Rechnung sieben Procent an dem Verkauf der Papiere verloren. So wie es ist, tragen Sie den Schaden. Sie werden nach Wien reisen und das Escomptengeschäft in Ordnung bringen. Je mehr Aktien Sie erwerben, desto besser. Es ist nöthig, daß wir die Majorität der Stimmen benützen. – Doch haben wir noch ein anderes und besseres Geschäft für Sie. Dies Memoir wer den Sie, nachdem Sie es sich zu eigen gemacht, in einer Audienz an Herrn von Bach in Wien persönlich übergeben und ihm Vortrag darüber halten. Es betrifft den Vorschlag zum Ankauf der österreichischen Staatsbahnen für Rechnung einer zu bildenden Gesellschaft. In diesem Portefeuille finden Sie 2 Millionen Gulden in Wechseln auf Sina und Eskeles; fünfzigtausend davon werden Sie nöthigenfalls für die Beamten verwenden, von deren Empfehlung das Geschäft abhängt, den Rest stellen Sie dem Premier sofort zur Disposition als Anzahlung [25] auf den Kauf. Die weiteren Auseinandersetzungen und Bedingungen finden Sie in den Papieren.«

Der adlige Banquier ergriff erfreut das Portefeuille, prüfte aber als Geschäftsmann sorgfältig die darin enthaltenen Anweisungen. Dann steckte er Alles zu sich und versicherte hoch und theuer, daß man volles Vertrauen in ihn setzen könne.

»Sie werden selbst am besten dabei fahren,« sagte der große Verhüllte, »denn ich schwöre Ihnen, Ihr Leben ist keinen Schuß Pulver mehr werth, wenn Sie im Geringsten nochmals von der Ihnen vorgezeichneten Bahn abweichen. Jetzt, Herr Baron, reisen Sie mit Gott und – denken Sie Ihres Auftrags zu jeder Zeit und an jedem Orte.«

Der Agent verneigte sich dankend und verließ, etwas weniger sicher, aber leichtern Herzens, als er gekommen, das Gemach.

»Jetzt, meine Brüder,« nahm der zuerst Eingetretene der Drei das Wort, »ist unser Geschäft für heute beendet. Sie werden die nöthigen Anstalten treffen, daß unsere Missionaire genügend überwacht und geleitet werden. Seien Sie thätig in sämtlichen Sectionen, Sie wissen, wie wichtig die Gegenwart ist. Wenn ganz Europa erst in Krieg verwickelt worden, kommt die Zeit unserer Ernte. Die Monarchieen schwächen sich durch die Opferung ihrer Armeen; England wird seine Zuflucht wiederholen müssen, Fremdenlegionen in allen ihm zugänglichen Staaten zu bilden, deren Kern unsere Gehorchenden sein werden. Ist der Zeitpunkt der Erschöpfung gekommen, haben wir die Kämpfe zu dem Ende geleitet, das wir bezwecken, dann ist es Zeit, den Boden zu bestimmen, auf dem unsere Siege erfochten werden müssen, und dieser Boden wird zwei Welttheile umfassen. Wann diehöchste Gewalt im Einzelnen oder insgesamt Ihren Sitzungen wieder beiwohnen kann, ist leider unbestimmt; darum leben Sie wohl bis dahin.«

Der Verwachsene winkte mit der Hand, einen Augenblick zu warten. Ein leiser schrillender Ton ließ sich hören, und aus dem Druckapparat eines electrischen Telegraphen, der unter einer entsprechenden Scheibe an der Wand der Nische angebracht war, schob sich langsam ein Streifen Papier, mit Punktirzeichen versehen. Er nahm denselben, las die Chiffreschrift und sagte lachend mit offenbar italienischem Accent: »Graf Walewski hat sich an [26] den Tuilerieen beurlaubt und ist zu Mademoiselle Rachel gefahren. Dem Polizeiminister meldet man so eben, daß die Spione am Invaliden-Hotel keine Spur entdecken konnten. Mit dem Abendzug ist ein Courier von Petersburg für Herrn von Kisseleff eingetroffen, Fürst Oczakoff. Da haben Sie die neuesten Neuigkeiten.Buona notte!«

Die Lichter erloschen, im Dunkel vernahm man mehrere Thüren sich öffnen und schließen – dann folgte das Schweigen des Todes.

Das erste Blut
[27] Das erste Blut.

Entzückend schön, über die Beschreibung der Feder, über die irdischen Farben des Malers erhaben ist der Sonnenaufgang im Golf von Smyrna!

Der »Egytto« hatte während der Nacht auf Chios angelegt und eine Menge neuer Passagiere an Bord genommen. Erst als das Tagesgrauen über die fernen Berge Anatoliens herauf dämmerte, erhoben sich die Reisenden vom Verdeck, wo sie ihr improvisirtes Lager gefunden, oder kamen langsam aus den Cajüten und Sabinen zum Vorschein. Das Verdeck eines Levante-Dampfers bietet, nachdem er von Athen abgefahren, ein eigenthümlich seltsames Schauspiel, dessen bunte Conturen von Insel zu Insel an Mannigfaltigkeit gewinnen. Der Capitain läßt das Deck der Schanze mit einer vorbereiteten Bretterlage überziehen, um es vor den Spuren des Kochens, Bratens und Schlafens säuberlich zu bewahren. Eine besondere Abtheilung für die Frauen und Kinder wird abgegränzt; mit Teppichen und Ballen aller Art und Form nehmen die Ankömmlinge den kleinen ihnen gestatteten Raum ein; Kreise bilden sich um den Dreifuß, auf dem alsbald der Granatapfel schmort oder die Zwiebel und das Hammelstückchen zischt; die Frauen bereiten den Kaffee oder holen ihn in kleinen Schälchen von dem alten Moslem, der mitten auf dem Verdeck seine Bude gleich den Schilderhäuschen unserer Obsthöker aufgeschlagen hat. Ueberall strecken sich lange Pfeifen quer über den schmalen, von dem hochaufgethürmten Gepäck gelassenen Gang; um die Küche drängt sich eine lärmende Menge, vom Koch glühende Kohlen zum Anzünden ihrer Nargilehs oder Schibucks zu betteln; zwischen den Haufen [28] der plappernden, lachenden, gestikulirenden Griechen sitzt auf seinen Kissen in ernster Gravität der Muselmann, von seinem schwarzen Sclaven bedient; Weiber mit dem wundervoll zarten Teint und den unzierlichen Gestalten der Frauen der Cycladen schlürfen in ihren klappernden Holzpantoffeln umher. Das dunkle brennende Auge zwischen den gefärbten Wimpern, durch die eigenthümliche Schwärzung des untern Augenlides noch flammender gemacht, mißt frei und offen den Fremden, oder blickt neugierig unter dem Yaschmak hervor, dem Mousselinschleier, welcher die orientalischen Schönheiten verhüllt, und den die Bekennerin des Propheten nur in den vertrauten Gemächern des Harems ablegt. Dazwischen bewegt sich das Volk der Matrosen, meist sehnige, sonnverbrannte Figuren von den Küsten der obern Adria, hin und wieder ein Italiener aus dem Golf von Tarent, stößt ohne Unterschied der Person, wer ihm im Wege steht oder liegt bei Seite: den Armenier, der auf dem Hühnerkorb sein Gold zählt und mit einem Andern um den leichten venetianischen Dukaten oder den beschnittenen Ghazi feilscht, ebenso wie den türkischen Juden, der in seinem blauen Tuchtalar geschmeidig durch die Menge schlüpft. Für den europäischen Reisenden hört mit dem Schritt über Athen hinaus jede Bequemlichkeit und Gewohnheit der nördlichen Civilisation auf; der Platz auf dem Hühnerkasten, auf dem Bogspriet oder den Bänken des großen Decks, von dem aus behaglich hingestreckt er unterm Schutz des Zeltpavillons die Oliventerrassen der ionischen Inseln, die dunklen Felsenwände von Tschernagora und Albanien, den zauberhaften Golf von Lepanto betrachtet hat, ist besetzt, kaum findet er einen Raum an der Brustwehr frei, von dem aus er hinaus das trunkene Auge tauchen kann in die unermeßliche Fläche der Wässer, deren Lazurbläue mit dem im Licht zitternden Dome des Himmels wetteifert. Das widrige Schauspiel anderer Meere und Seereisen, die Seekranken, verderben ihm das Bild nicht. Dieses Volk lebt und stirbt am Strande, das blaue Meer ist sein Element, wie die Luft, – die Fahrt von einer der prächtigen Cycladen zur andern seine Lebensgewohnheit. Gern opfert der Reisende sein eignes dolce farniente, um diese Kinder des Südens das ihre verträumen zu sehen.

Aus den blauen Tiefen des Meeres wachsen Felsen empor, Felsen mit Rosen und Myrthen, mit dem dunklen Grün des Lorbeers und der Olive, mit dem schlanken Stamm der Cypresse und der [29] Platane. Smaragden sind es in ihrem dunklen Grün, Diamanten in dem gelben Strahl ihres Lichts, schaukelnd wie Schmuck auf dem üppigen Busen einer Lais! Edelsteine sind es, die die tobende Gluth des Vulkans aus dem innern Gewerk der Erde emporgeworfen an die Oberfläche des Tages, daß sie Kunde geben von den Zaubern der Tiefe; die Götterwelt der Alten bevölkert sie in der Erinnerung, – weiße Segel auf leichten Barken, mächtige Handelsschiffe und die Flaggen aller Nationen ziehen gleich Tauben und Schwänen durch ihre Buchten und Labyrinthe. –

Der erste rosige Strahl der Sonne tauchte am Horizonte empor und zitterte über die Fläche des Golfs. Glänzend stieg die Königin unserer irdischen Welt über die in den fernen Nebeln noch unsichtbare Königin der Städte Anatoliens empor. Neben dem ernsten etwa vier bis fünfunddreißigjährigen Mann in einfacher aber moderner europäischer Kleidung mit dem grauen breiträndrigen Filzhut, der schon seit einer Stunde an dem Bollwerk des Vorderschiffes lehnte, um das herrliche Schauspiel mit allen seinen hier so wunderbaren Farbenwechseln nicht zu verlieren, breitete ein Türke seinen Teppich aus und knieete mit dem Antlitz gen Mekka nieder, sein Gebet zu verrichten. Was an Moslems auf dem Verdeck war, folgte dem Beispiel; der große Haufe der Griechen und Franken kümmerte sich aber wenig um die Andacht der Ungläubigen und unterbrach keinen Augenblick seine Unterhaltung, ja viele der erstern spuckten verächtlich und mit grimmigen Seitenblicken nach dem Erbfeind ihres Glaubens in's Wasser. – Eine Hand legte sich auf die Achsel jenes Mannes, der die ihm fremde Andacht beobachtete; als er sich umwandte, blickte er in ein Gesicht, das ihm wohl bekannt schien, doch ließ die fremdartige Kleidung, der das Haupt bedeckende griechische Fez ihn im ersten Moment den Andern nicht gleich erkennen. Es ging ihm wie so häufig im Leben, man findet unter veränderten Umständen ein Gesicht, von dem man weiß, daß es uns bekannt und befreundet gewesen, ohne sich doch gleich zu erinnern, wo der Besitzer hinzuthun ist, wie zu benennen.

»Erinnert sich Doctor Welland wirklich nicht mehr des Comilitonen,« frug der Grieche, »mit dem er vor Jahren die Kollegien unter Dieffenbach gehört, oder haben die acht Jahre, die seitdem vergangen, Gregor Caraiskakis so ganz aus dem Gedächtnisse der Freunde seiner schönen Jugendtage verdrängt?«

Welland warf sich in die geöffneten Arme. »Die Schulbank [30] des Knaben, die Aula des Jünglings schlingt ein Band gemeinschaftlicher Erinnerungen, das wahrlich auch im Männerleben sich nicht vergißt. Verzeihen Sie mir, Caraiskakis, daß ich 500 Meilen von dem Orte, wo wir zusammen gelebt, und in der veränderten Tracht Sie nicht wiedererkannte. Glauben Sie mir, ich habe, während der Dampfer mich an den Küsten Ihrer klassischen Heimath vorübertrug, gar oft Ihrer gedacht, und nur die Kürze unseres Aufenthalts in Athen verhinderte mich, nach dem lieben Comilitonen alter Zeit zu forschen. – Aber,« fuhr er fort und sah aufmerksam in das Antlitz des Universitätsfreundes, – »warum die Wahrheit verhehlen, gewiß, Sie haben sich auch sehr verändert, Gregor, und diese Falten, diese Blässe, stimmen wenig mit Ihren Jahren und dem frischen, kecken Lebensmuth, den der Sohn des Helden vom Pyräus sonst in jeder Bewegung, in jedem Worte zeigte.«

»Sie haben Recht,« entgegnete der junge Mann, »ich fühle es selbst. Aber zuerst, – wie kommen Sie hierher nach der Levante, in die sich brauenden, drohenden Gewitter, Sie, den ich in Berlin in der Gewißheit eines brillanten Examens und einer baldigen guten Praxis oder einer Anstellung im Staatsdienst zurückließ? – Lassen Sie mich das erst hören.«

»Der Mentor, der sich Ihnen gegenüber so oft als älter und erfahrener gerirt hat, wußte sich selbst nicht zu leiten. Etwa zwei Jahre, nachdem Sie, lieber Freund, nach München und von dort, wie ich hörte, nach Griechenland zurückgekehrt waren, brach bei uns jene merkwürdige, mir selbst kaum erklärliche Revolte aus, die man die Märztage nennt. Sie kennen sie aus den Zeitungen. Ich war thöricht genug, mich daran zu betheiligen, nachdem ich mir bereits seit einigen Monaten eine kleine Praxis gegründet hatte. In der Zeit ging Alles drunter und drüber, auch meine Existenz. Meine Familie trennte sich im Zorn von mir; so packte ich mein Bündel und zog nach Frankfurt, wo das deutsche Reichsparlament tagte und tobte. Dort blieb ich bis zum Frühjahr 49 und ein eigenthümlicher Zufall, den ich Ihnen wohl später erzähle, führte mich nach der Platz und Baden, als der Prahler Miroslanski dort seine Lorbeeren zu pflücken dachte. Mir war die Sache zuwider, denn ich hatte viel gesehen und erlebt in der Zeit; aber es stand doch mancher eherne Mann mit aufrichtiger Gesinnung, mancher Jüngling mit glühender Phantasie und ehrlichem Herzen unter [31] den Freischaaren, und wenn ich auch nicht an ihrer Seite gegen meine Landsleute focht, so widmete ich ihnen doch meine Kunst und wirkte als Arzt unter den Verwundeten und Sterbenden. Der Fall von Rastatt trieb mich nach Straßburg, von da nach Paris. Ich hätte vielleicht wiederkehren können in meine Heimath, da ich nicht compromittirt genug war, um sie mir für immer versperrt zu sehen; gewiß hätte es nur einer Bitte bedurft; aber theils war ich mit meiner Familie ganz zerfallen und erhielt nur heimlich hin und wieder einen Brief von den Schwestern, theils fesselten mich viele Freundesbande an Paris. Das Flüchtlings-Comitee unterstützte mich und ich gründete mir unter den Verbannten aller Nationen eine Praxis, die wenigstens ihren Mann nährte. – Aber, ich will es Ihnen gestehen, es fehlte mir die Befriedigung, ich sehnte mich fort in die Ferne, auf ein Feld, wo ich mehr wirken und schaffen konnte, aus den erschlaffenden Mauern von Paris mit seinen tausend politischen und socialen Intriguen hinaus in die frische Natur. Schon wollte ich nach Algerien gehen, als ein Auftrag von Freunden mir einen anderen Weg wies. Ich erhielt Empfehlungen nach Constantinopel und an Herrn de Latour, den französischen Gesandten, der mir bei den jetzigen Verhältnissen gewiß leicht eine meinen Absichten entsprechende Stellung verschaffen wird. Vorläufig werde ich eine kurze Zeit in Smyrna verweilen.«

»Da ist unser Ziel dasselbe,« sagte freudig der Grieche, dem die etwas zurückhaltende und vorsichtige Erzählung vollkommen genügte. »Auch ich gehe nach Smyrna, mögen die Heiligen geben, mit gutem Erfolg. Selbst in anderer Beziehung ähnelt sich unser Schicksal, auch die Familie Caraiskakis ist ausgewiesen von hellenischem Boden, aus jener Heimath, die ihr Vater mit seinem Blut erkauft hat!«

»Sie sind verwiesen aus Athen?« frug erstaunt der Deutsche. »Aber König Otto hat Sie und Ihre Brüder ja selbst erziehen lassen als eine Dankespflicht für den Heldentod Ihres Vaters.«

»Wir haben auch über den König nicht zu klagen, er ist gut und will das Beste. Aber Sie kennen die Parteiungen nicht, die das arme Griechenland zerreißen und es immer am Emporblühen hindern werden. Nur wenn es galt, das Kreuz gegen unsern alten Erbfeind zu erheben, waren Griechen jedes Stammes einig, und selbst da noch trieben Neid und Ehrgeiz ihr zerstörendes Spiel. Wenn der Wille des Königs auch gut, so ruht die Regierung doch [32] größtentheils in Händen, die nur darauf bedacht sind, zur eigenen Bereicherung oder Unterdrückung der politischen Gegner alle Macht zu verwenden. Die Verwirrung wird gesteigert durch die Einflüsse der mächtigern Staaten Europa's. Wo an anderen Höfen die diplomatische Intrigue ihr verdecktes Ziel zu erreichen strebt, da tritt bei uns die offene drohende Forderung auf. Das arme gedrückte Hellas erliegt unter der Last des europäischen Protektorats. Blicken Sie hin nach Jonien, der proklamirten freien Republik! Der britische Schutz hat es in Fesseln geschlagen, ärger wie die indischen. Ich führe Ihnen nur die einzige Thatsache an, daß auf allen sieben Inseln nur eine einzige Druckerei ist, die englische Regierungsdruckerei, und daß kein anderes Blatt, als das Regierungsorgan, erscheinen darf. Der Gouverneur von Corfu ist mehr Herr in unserem Griechenland als König Otto, und seinem peremtorischen Verlangen und der Forderung des englischen Gesandten verdanke ich die Verweisung vom Festlande, die mich seit zwei Jahren auf den Inseln des Archipel umhertreibt, weil in einigen Artikeln der ›Elpis‹ ich die unterdrückten Brüder auf Corfu in Schutz nahm und die Auflösung des Senats kritisirte.«

»Wenn ich mich recht erinnere,« frug Welland, »so stammen Sie ja wohl ohnehin von den Inseln?«

»Von dem unglücklichen Chios, das trotz seines Märtyrerthums im Befreiungskriege der englische Machtspruch unter den Fesseln des Halbmondes ließ. Meine Mutter flüchtete mit uns aus den Mörderhänden des Kapudan Pascha auf's Festland, wo mein Vater bereits für das Kreuz kämpfte. Die Sehnsucht nach der Geburtsstätte ließ vor zwei Jahren meine Mutter mich begleiten, ich brachte sie nach Chios zu Verwandten und schweifte seitdem umher, von Insel zu Insel, durch die Klöster des Athos, Stambul hinauf und an den Küsten des Pontus. Ueberall, wo ich weilte, fand ich die Herzen nach Erlösung schlagend, die Faust sich ballend im ohnmächtigen Grimm. Ueberall mein Volk trotz des Tausimats und aller Fermans vom Moslem unterdrückt und geschlachtet. Glauben Sie mir, Welland, was ich gesehen und erlebt, würde Ihnen das redliche Herz in der Brust umkehren. Nur in Constantinopel und in den Küstenstädten, wo die europäischen Consuln residiren und ihre Anwesenheit die Pascha's im Zaume hält, haben die griechischen Christen geduldete Rechte; im Innern [33] des Landes herrscht der Jahrhunderte alte Druck noch in seiner vollen Willkühr und Barbarei.«

»Aber Ihre Geschwister? Sie erzählten mir so oft von ihnen.«

»Mein älterer Bruder steht im griechischen Heer an der Gränze, mein jüngster ist in diesem Augenblick in Zettinge und hielt die Schluchten der Tschernagora mit dem tapferen Bergvolk gegen Omer Pascha's Redif's. Beide sind ihrer Väter würdig und ich nenne sie mit Stolz meine Brüder. Wenn ich sie sehe, werde ich ihnen den Segen ihrer greisen Mutter bringen, denn ich komme von ihrem Sterbebett auf Chios, wo ich sie gestern unter den Platanen begrub, die auf den Trümmern meines väterlichen Hauses wachsen. Möge die blutgetränkte Erde der Heimath ihr leicht sein!«

Welland reichte dem trauernden Freunde die Hand. »Und Ihre Schwester?«

Des Griechen strömende Augen stammten auf. Ueber sein bleiches Gesicht flog die Zornesröthe heftiger Erregung und er streckte den Arm aus gegen die Stadt, die aus dem Duft von Licht und Wasser emporschwamm, überragt von dem Pagus, an dessen Seiten über die Kuppeln und Minarets der Türkenstadt sich die Cypressenwälder der Friedhöfe hinaufziehen, während hoch von der Spitze die Trümmer des alten genuesischen Kastells sich gegen den Himmel zeichnen.

»Ich gehe, sie zu schützen, oder – zu richten!« sagte er mit tiefer Stimme und wandte sich ab. Die drängende Menge umgab sie und verhinderte jedes weitere Gespräch. –

Ismir, – wie es die Türken nennen, – Smyrna im Munde der Geschichte, das Kind Alexanders des Großen – zehn Mal verwüstet von der Hand mächtiger Feinde, und zehn Mal wieder emporgestiegen aus seinen Trümmern, Smyrna, eine der sieben heiligen Kirchen Kleinasiens, dehnte sich vor den Blicken der Reisenden an seinem prächtigen drei Meilen breiten Golf aus. Wie fast alle Uferstädte Griechenlands und Kleinasiens an der Höhe der Berge terrassenmäßig emporsteigend, bietet es einen prächtigen Anblick. Rechts am türkischen Kastell vorüber mit seinen schläfrigen Schildwachen und unbehülflichen Geschützen fliegt der Dampfer gegen die Stadt, die von Bergen umgeben nur rechts am Ufer hin sich nach der Karavanenstraße öffnet, auf der in [34] langen Reihen die gekoppelten Kameele die köstlichen Früchte und Erzeugnisse des südwestlichen Asiens zum Stapelplatz des levantinischen Handels bringen. Rechts im Vordergrund die neue Kaserne, ihre Höfe in das Meer tauchend; darüber empor die Türkenstadt mit ihren zahlreichen Minarets und Kuppeln, den kleinen zum Terrassenbau so prächtig geeigneten Häusern, dem Grün der Büsche und der Bäume, den mäandrischen Windungen der Straßen; höher am Berge Pagus das armenische Quartier, links die Franken- und Griechenstadt mit den Flaggen der Consulate, den Kaffeehäusern Magazinen auf der Marina, – zur Seite einschneidend die Wässer des Golfs zwischen den Bergen, eine Bucht tief hinein, deren Ufer von den zierlichen Landhäusern des Dorfes Bournabat besetzt sind. Im Hafen und das ist der ganze Golf, ankern Hunderte von Schiffen aller Nationen, Kriegsfahrzeuge auf dem Wege von und nach Constantinopel, Handelsschiffe jeder Art und Größe, von der leichten Küstenschebecke bis zum Fregatten-Dreimaster, der die Erde umkreist und ihre Produkte sammelt. Dampfer kommen und gehen, von Beiruth und Alexandrien, von Malta und Athen, aus dem Bosporus her, – – das Meer ist belebt von den flatternden Wimpeln und Segeln und dem Schlag der Dampfmaschinen.

Auf der Höhe des Golfs lag eine österreichische Brigg vor Anker, der »Hussar«, und von der Gaffel wehte lustig im Morgenwinde der schwarze Doppeladler im gelben Felde. Bollwerk und Wandtaue waren besetzt von dem Schiffsvolk, das zur Begrüßung des Lloyddampfers die Hüte schwenkte; auf dem Hauptdeck standen die Offiziere um eine gedrungene markige Gestalt, den Commandanten Major Schwarz. Kaum daß der Egytto in einiger Entfernung näher der Stadt Anker geworfen, so hörte man auch auf der Brigg den schrillen Ruf der Bootsmannspfeife ertönen und mit der den Kriegsschiffen eigenen Schnelligkeit hob sich ein Boot vom Schiffsrand und wurde bemannt, um zum Dampfer zu rudern. Roch ehe dasselbe jedoch anlangte, umschwärmten zahlreiche Uferbarken das Dampfschiff. Die erste derselben brachte den türkischen Sicherheitsbeamten an Bord, der die Papiere des Schiffes zu prüfen und seine Ueberkunft aus pestfreien Gegenden zu constatiren hat. Auf seine Erlaubniß erst verschwindet die kleine gelbe Flagge vom Mast und das Schiff tritt in den freien Verkehr.

[35] Während der Beamte noch mit den Papieren beschäftigt war, und sein Khawaß in der malerischen weißen Tracht, den Leibbund mit einem Arsenal von Waffen gespickt, im Boote Wache hielt, daß kein Unberufener die Schiffstreppe besteigen möge, drängten sich die Boote, theils zur Aufnahme der Fremden, theils zum Handel bestimmt, um den Bord, und vielfache Nachfragen und Unterhaltungen in allen Sprachen des Südens wechselten hinauf und hinab. Welland saß auf dem Rande des Bugspriets und seine Blicke schauten mit Neugier auf das malerische Getümmel, in seiner Hand wehte zufällig oder absichtlich ein Taschentuch von hellgrüner Seide. Nach wenigen Augenblicken bemerkte Caraiskakis, der wieder neben dem Freunde stand, daß in einem der um das Schiff kreuzenden Boote zwei Männer scharf auf den Deutschen blickten, und der eine von ihnen nach wenigen eifrig gewechselten Worten ein eben solches Tuch aus der Tasche zog und wehen ließ. Welland erblickte es und machte mit der Hand ein Zeichen, das rasch erwiedert wurde, worauf der Nachen mit den Fremden sich an das Schiff drängte und dabei heftig mit dem Boot der Brigg zusammenstieß, das eben heranfuhr. In diesem Augenblick wandte sich Welland zufällig um und bemerkte, daß die Augen zweier Männer sein Thun scharf beobachteten. Der Eine war der Grieche, der Andere ein Passagier, der schon von Triest aus die Fahrt mitgemacht und mit auffallender Freundlichkeit sich an den Doctor zu drängen versucht hatte. Diesem aber gefiel des Mannes Wesen nicht, auch machte ihn ein zufällig hingeworfenes Wort des Capitains aufmerksam und hatte ihn gewarnt. So hatte er sein Benehmen auf den äußerlichen höflichen Verkehr beschränkt und namentlich den Fragen auszuweichen verstanden, die der Fremde, seiner Aussprache nach ein Wiener, obschon er sich für einen Ungar ausgab, nach Zweck und Ziel seiner Reise geschickt einzuflechten verstand. Eine leichte Röthe überflog Welland's Gesicht, als er sich so beobachtet und ertappt sah, doch wurde seine Aufmerksamkeit alsbald durch einen Streit abgezogen, der sich unten zwischen den beiden Booten erhoben hatte. In dem des Kriegsschiffs saß ein junger schlanker Schiffsoffizier in der österreichischen Midshipman-Uniform, und gebot heftig den beiden Ruderern des andern Bootes, an der Treppe Raum zu geben. Einer der beiden Insitzenden jedoch lachte höhnisch zu dem herrischen Befehl und hieß in italienischer Sprache, die in den Küstenländern des Orients, selbst [36] bis an die Ufer der Donau hinauf überall gesprochen und verstanden wird, seine Fährleute ihren Platz behaupten.

Der junge Offizier, an Gehorsam gewöhnt und über den Widerstand der Kahnführer erzürnt, erhob sich und ergriff eine neben ihm liegende Speiche, dieselbe zum Schlag halb gegen die feigen griechischen Ruderer, halb gegen den trotzigen Passagier erhebend. Wie ein Blitz flammte das Auge des Bedrohten auf den Oesterreicher und seine Hand fuhr nach der Brusttasche, aber der Zweite, Besonnenere, derselbe, welcher das Tuch gezeigt, riß ihn zurück und gab den Ruderern ein Zeichen, zu weichen. »Bist Du rasend, Jumagalli?« herrschte er dem Gefährten zu, »Dein Tollkopf wird uns noch verderben.« – Der Offizier bestieg mit dem ziemlich hörbaren Ausdruck »Gesindel!« die Schiffstreppe, ohne sich weiter um die Zurückgewiesenen zu kümmern, denn eben war das Zeichen gegeben worden, daß die Revision beendet und das Schiff in freien Verkehr gesetzt worden und er hörte nicht das. »Cospetto, Bursche, wir treffen uns wieder!« das der Italiener hinter ihm her fluchte. Der Andrang der Kähne von allen Seiten überfluthete jetzt die kleine Zwischenscene und bald war das Verdeck förmlich im Sturm genommen von all den Bootführern, Verkäufern und Agenten, die das Schiff umringt hatten. Während der junge Offizier von dem Schreiber des Schiffs ein Packet mit Briefen in Empfang nahm und von dem Wiener angesprochen wurde, hatten die beiden Männer mit den scharfgeschnittenen südlichen Physiognomieen, die in dem Kahne mit Welland die Zeichen gewechselt, sich diesem genaht und verkehrten an einer weniger beengten Stelle des obern Verdecks lebhaft mit ihm. Bald schienen die Drei sich verständigt zu haben; denn die Fremden winkten ihre; Kahnführer an Bord und diese brachten das wenige Gepäck des Deutschen in ihr Boot.

Ein Jeder hatte genug zu thun, sich in dem Gedräng um seine Habe zu bekümmern und die Zudringlichkeiten der türkischen und griechischen Bootsleute abzuwehren, die mit Gewalt sich der Reisenden zu bemächtigen suchten. Die Geschwätzigkeit und Unverschämtheit der Griechen trug gewöhnlich den Sieg über ihre Rivalen davon und bald flogen Boote mit den Reisenden, die theils in Smyrna bleiben, theils den Tag, während dessen das Dampfschiff auf der Rhebe ankerte, dort zubringen wollten, dem Strande zu.

Welland trat zu dem gleichfalls beschäftigten Jugendfreund und [37] reichte ihm mit einiger Verlegenheit die Hand. »Ich habe bereits Leute getroffen, Gregor,« sagte er, »an die ich empfohlen bin und mit denen ich Geschäfte habe. Sagen Sie mir Freund, wo wir uns heute Abend in dem mir fremden Smyrna treffen können, wir haben uns noch so Vieles zu sagen und können dann besser unsere weiteren Pläne besprechen.«

Caraiskakis drückte ihm eifrig die Hand. »Hüten Sie sich vor den fremden Flüchtlingen,« sagte er ihm eilig und leise. »Es sollen in Smyrna deren jetzt mehr als fünfhundert sich befinden und das niedere Gesindel ist zahllos und macht die Stadt und die Gegend unsicher. Mein Weg führt mich nach dem armenischen Quartier, und wenn ich kann, suche ich Sie heute Abend bei Sonnenuntergang auf der Terrasse des englischen Kaffeehauses um Hafen auf, das Ihnen jedes Kind zeigt.«

Damit trennten sich herzlich die Freunde und bald fuhr die Barke der Italiener mit Welland über die im Sonnenschein leuchtende und blitzende Wasserfläche zur Stadt. Ihren Weg kreuzte das Boot der Corvette, in dem der Wiener saß und dem Reisegefährten vertraulich zunickte. Am Quai des österreichischen Generalconsulats sahen sie es landen.


Smyrna, das wie viele andere orientalische Städte, aus der Ferne einen so prächtigen Eindruck macht, bietet im Innern dem Fremden den ganzen Typus des türkischen Schmutzes, der gränzenlosen Fahrlässigkeit und Unordnung. Nur das Frankenquartier mit seinen vielen Consulaten und den großen europäischen Handelsmagazinen, deren Durchgänge von der Frankenstraße her sich am Meeresstrande öffnen, und ein Theil der armenischen Stadt sind nach europäischen Begriffen einigermaßen erträglich. Die Straßen aber auch dieser Stadttheile sind krumm, eng und ungepflastert, doch Promenaden im Vergleich zu den Gäßchen und Winkeln der Türkenstadt. Keines der Häuser hat mehr als ein Stockwerk außer dem Erdgeschoß und die meisten sind nach orientalischer Art, also eng und unbequem mit flachen Dachterrassen und mauerumgebenen Höfen gebaut. Ein Quai am Hafen existirt eben so wenig wie in Constantinopel; die Höfe der meisten anliegenden Häuser laufen bis unmittelbar an das Ufer des Meeres und die einzelnen freien Strecken auf der [38] Marina, welche den Spaziergang der Bevölkerung Smyrna's an der See bilden, sind kaum 200 Schritt lang. Das Café anglais, ein Quadrat in die See hinausgebauter mit leichtem Geländer umgebener Vorsprung, liegt an der Südseite derselben.

Welland hatte aus verschiedenen Gründen die Einladung seiner neuen Bekannten nicht angenommen und seine Wohnung bei Madame Giraud aufgeschlagen, der behaglichen freundlichen Französin, die eine weitbekannte Pension – wie man die Kosthäuser im Orient nennt, – in der Frankenstadt hält. Er hatte eben seine Sachen geordnet, als seine beiden neuen Bekannten erschienen und einen Dritten ihm vorstellten, den Ungar Costa. Es war ein Mann von einigen dreißig Jahren, nicht groß, doch schlank gebaut, dabei von breiten Hüften und festen Muskeln. Sein keck geschnittenes Gesicht, von dunklem Bart umgeben, nahmen für ihn ein und Welland fühlte sich von Anfang mehr zu ihm hingezogen als zu den Italienern. »Sie haben, wie ich von meinen Freunden höre, Briefe für mich von Paris,« sagte der Ungar verbindlich; »ich habe so lange der Nachrichten entbehrt, daß ich voll Erwartung bin. Wollen Sie mir dieselben aushändigen?«

»Sie werden selbst wissen, daß einige Bedingungen vorher zu erfüllen sind,« bemerkte Welland und nahm ein sorgfältig verwahrtes Briefpacket aus seiner Brieftasche. Costa beugte sich zu ihm und flüsterte: »Die Flamme ist die Mutter des Lichts. Die Mariannen beten die Flamme an!«

Sie waren zur Seite getreten. »Das sind die Worte des dritten Grabes,« sagte Welland, »ich brauche die Losung des vierten.«

Costa flüsterte noch leiser als zuvor: »Flamme und Eisen machen Asche und Leichen. Asche und Blut düngen den Boden der Freiheit. Die Joseffiten sind die Blätter des Baumes. – Sind Sie befriedigt?«

Welland übergab ihm die Briefe. Der Ungar betrachtete ihn einige Augenblicke scharf, dann zog er ein kleines schwarzes Kreuz von Ebenholz aus der Tasche, das von eigenthümlicher Form dem des Ordens vom heiligen Grabe glich, und in das fünf breite silberne Stifte eingeschlagen waren; »Sie sehen,« sagte er leise, »daß Sie mir zu gehorchen haben, denn ich setze voraus, daß Ihre Mission mit dem vierten Grade endigt?«

[39] Welland verbeugte sich: »Ich stehe zu Ihrer Disposition, Signor Costa.«

Der Ungar winkte die Andern wieder herbei, setzte sich an den Tisch und schickte sich an, das Couvert zu erbrechen. Ehe er dies that, untersuchte er es sorgfältig von allen Seiten und betrachtete namentlich aufmerksam das Siegel, das ein wie oben beschriebenes Kreuz auf guillochirtem Grunde zeigte. Seine scharfen Augen schienen einen Umstand zu entdecken, der seine Besorgniß erregte.

»Auf Ihren Eid als Bundesbruder,« frug er, »ist dies Packet nie aus Ihren Händen gekommen, Signor?«

»Ich trug die Briefe stets in meinem Portefeuille und dies in der innern Brusttasche meines Rockes. Des Nachts verschloß ich sie in meine Kasette und stellte diese in die Kabine', in der ich schlief.«

Costa schüttelte den Kopf. »Das war zu viel Vorsicht, oder zu wenig,« sagte er, »man hätte uns einen mit der österreichischen Polizei vertrautern Mann schicken sollen. Der Brief ist geöffnet worden.«

Er sagte dies mit solcher Bestimmtheit, daß Alle erschrocken und neugierig näher traten, um selbst zu prüfen. Welland behauptete, es sei nicht möglich; doch der Ungar nahm eine Scheere, schnitt rings um das Siegel das Couvert durch, hob das erste dann in die Höhe und zeigte an seiner Doppellage, daß das Papier mit einer seinen erwärmten Klinge unter dem Rande aufgetrennt gewesen und später auf gleiche Weise wieder befestigt worden war. Dann sah er rasch die Papiere durch. »Zum Glück,« sagte er, »sind die wichtigeren Stellen in Zeichen geschrieben, deren Lösung wohl dem Dechiffrirbüreau in Wien arges Kopfzerbrechen machen dürfte, selbst wenn es gelungen wäre, Abschrift zu nehmen. Haben Sie auf Niemand Verdacht, Signor Wellando? Wer waren Ihre Mitreisenden?«

Welland fiel der Wiener ein. »Nur Einer derselben konnte es gewesen sein, die Andern waren unbedeutende Menschen. Der Mann versuchte sich auffallend an mich zu drängen, doch wies ich ihn zurück.«

»Wo schlief er?«

»Jetzt fällt mir auf, daß, obschon er auf dem ersten Platz reiste, er mehrmals sein Nachtlager auf den breiten Bänken unserer [40] zweiten Kajüte aufschlug, unter dem Vorwande, daß ihm in den engen Kabinetten die Hitze unerträglich sei.«

»Bassa manelka! verlassen Sie sich darauf, er ist der Spion. Wo ist er geblieben?«

»Er fuhr in einem Boot des österreichischen Kriegsschiffes, das an unsern Bord kam, an's Land.«

»Ich sah es am Quai des österreichischen Konsulats landen,« flocht einer der Italiener ein. »Ich beobachtete es genau, denn ich hatte ein kleines Rencontre mit dem Lassen, der es commandirte.«

»Sie werden uns sicher noch Unannehmlichkeiten mit Ihrer Hitze bereiten, Fumagalli,« sagte Costa streng. »Wir sind zwar augenblicklich die Herren in Smyrna, und die Autorität des Pascha's ist Null. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein, um die Aufmerksamkeit nicht auf hier zu lenken. – Signor Wellando, Sie werden in zwei oder drei Tagen mit mir nach Constantinopel gehen müssen; unsere Gegner sind thätig, und wir dürfen ihnen keinen Vorsprung lassen. Sie Fumagalli mit Bassitsch berufen die Ungarn und Italien auf morgen Abend nach dem Tempel des Jupiter, denn für heute bleibt uns keine Zeit. Eine Stunde vor Sonnenuntergang! Und nun Signor, ruhen Sie sich aus und schauen Sie sich diese sogenannte Königin Anatoliens an, Sie werden finden, daß sie einer Reinigung stark bedarf.«

Costa schied, die Italiener folgten ihm, nachdem sie dem Deutschen versprochen, ihn Einer oder der Andere am Abend zu einem Gange abzuholen, und ihm gerathen hatten, vor dem Essen ein türkisches Bad zu seiner Erholung zu nehmen.

Diese gewährte es ihm wirklich. Ein türkisches Bad ist einer der Genüsse, die wir Occidentalen leider nicht kennen, – es ist eine Wollust des Körpers, aus der man wie neugeboren hervorgeht. Stundenlang kann man sich unter der knetenden, streckenden, drückenden Hand des Badedieners einem behaglichen Gefühl überlassen, gegen das jenes dolce farniente des Italieners nur ein Schatten ist.

Am Tisch, der bei Madame Giraud vortrefflich ist und die Genüsse des Orients und Occidents vereinigt, waren Gäste aller Zungen. Man sprach und erzählte von den Verwickelungen in Constantinopel, von den beginnenden Aushebungen in Syrien und Egypten und der großen Unsicherheit der Gegend, ja der Stadt selbst, die Jan Katarchi, der Kameeltreiber, mit seiner Bande in [41] Schrecken zu setzen begann. Welland vernahm mit Erstaunen, daß eine Stadt von 150,000 Einwohnern von einem Räuber in fieberischer Angst gehalten wurde, der kaum 10–15 Mann zu seinem Gebot hatte.

Es war damals eine merkwürdige Zeit in Smyrna. Die Flüchtlinge aus Ungarn, Italien und Frankreich hatten sich in Masse an dieser Stätte uncivilisirter Freiheit und Nachlässigkeit gesammelt, es mochten ihrer wohl an 5- bis 600 sein. Dazu kam die abnorme Masse Gesindels, welche von dem griechischen Festland, den Inseln, dem ionischen Staat und namentlich von Malta und Egypten her sich hier zusammenfindet. Räuber und Mörder, denen der Galgen und die Garotte auf der Stirn geschrieben steht; Männer, die Menschenblut bei dem geringsten Streit oder für ihre Zwecke wie Wasser vergießen, füllten die Gassen und die Kaffeehäuser der Stadt. Verworfene Subjecte, deren Handwerk das Verbrechen, namentlich Malteser, diese Pest des Orients unter englischem Schutz, sprachen jeder Ordnung, jedem Gesetz Hohn. Längst hatten der Pascha und die türkischen Behörden die Aufrechthaltung einer gewissen Sicherheit, wie sie sich im Orient etwa erwarten läßt, aufgegeben. Den Mörder, den Räuber – und deren ergriffen die Khawassen des Pascha's täglich auf offener That in den Straßen der Stadt – reclamirte sofort der englische Viceconsul; denn der Vertreter der brittischen Macht lag Tag für Tag in Rum berauscht, – oder die Consule von Sardinien, von Griechenland oder sonst ein gefälliger Beamter, als Angehörige ihres Staates, und ließen sie nach einer Haft von kaum 24 Stunden wieder auf die menschliche Gesellschaft los. Um diesem Allem die Krone aufzusetzen, streiften die freien Räuber rings um die Stadt, und plünderten die Kravanen und die Reisenden. Ja, es war allgemein bekannt, daß Jan Katarchi, der berüchtigste und kühnste unter diesen Bandenführern, fast täglich frank und offen in den Straßen Smyrna's verkehrte, und jeder Grieche ihn zum Spion und Freund ward, da er kühn erklärt hatte, nur gegen die Feinde des Kreuzes, gegen die Moslems, die Engländer und Franzosen seinen Säbel erhoben zu haben. Obschon eine Menge Freiwillige ihm zuströmten, vermied er doch, die Zahl seiner Bande zu vermehren, mit der er ganz Smyrna bald der Art in Schrecken setzte, daß kein Mensch mehr wagte, die nächste Umgebung der Stadt allein zu überschreiten. Selbst in dieser hatte der Räuber schon, von allen Verhältnissen sorgfältig unterrichtet, wohlhabende oder [42] angesehene Personen aus der Mitte ihrer Familien aufgehoben, in die Berge geschleppt und schweres Lösegeld für sie erpreßt, oder er sandte ihre Ohren, oder gar ihre Köpfe zum Hohn des Pascha's in die Stadt zurück. –

Es war am Abend bei Sonnenuntergang, als Welland auf der Terrasse des englischen Kaffeehauses den Freund seiner Jugend traf. Finsterer Schmerz, ruhelose Gedanken lagerten auf den Mienen des Griechen. Er drückte schweigend dem Deutschen die Hand, und Beide setzten sich unter das Zeltdach an das äußerste Ende der niedrigen Barriere, die in die plätschernden Wellen des Golfs taucht. »Sie haben nicht Alles so gefunden, wie Sie gewünscht, lieber Freund,« sagte Welland vertraulich, »Sie empfinden Schmerz und Kummer, wollen oder können Sie mir nicht dessen Ursache mittheilen?«

Gregor Caraiskakis sah einige Augenblicke vor sich hin, dann strich er mit der Hand über die Stirn und entgegnete: »Sie sollen erfahren, was mich hierher nach Smyrna trieb. Sie wissen bereits aus meinen Erzählungen von der Heimath, daß meine Schwester und mein jüngerer Bruder aus einer zweiten Ehe stammen, die meine Mutter sechs Jahre nach dem Tode meines Vaters mit einem früheren Waffengefährten desselben schloß. Es war ein braver und gerechter Mann, der an uns beiden Aelteren, die wir im Pädagogium zu Athen auf Kosten des Staats erzogen wurden, wie ein aufrichtiger Freund handelte, und bei seinem Tode sein Erbe gleichmäßig unter uns Vier theilte. Meine Schwester Diona, jetzt ein Mädchen von 18 Jahren, kam, als man mich aus Athen verbannte und meine Mutter nach Chios zog, von dort aus zu armenischen Verwandten ihres Vaters nach Smyrna. Wir Brüder liebten das Mädchen innig, das, als ich es das letzte Mal sah, bereits zur schönen Jungfrau erblüht war, wie sie nur dieser milde Himmel erschafft. Eine Botschaft der erkrankten Mutter rief mich an ihr Sterbebett, und hier vermißte ich mit Staunen die Schwester, sie war von Smyrna nicht zurückgekehrt. Ihre Briefe, denn sie hat eine gute Erziehung genossen, was wenigen von unseren Mädchen zu Theil wird, – brauchten offenbar leere Vorwände zur Verlängerung ihres Aufenthalts, und verbargen sichtlich Vieles vor den Augen der Mutter. Ich konnte diese nicht verlassen; wie kurz auch die Entfernung war, – in wenigen Tagen ging es zu Ende. An ihrem Todestag erhielt ich zugleich einen Brief von Diona, [43] der verworren und schmerzlich aufgeregt von uns Allen einen leidenschaftlichen Abschied nahm. Mir ahnte Böses, – als das Grab unter den Platanen sich über meiner und ihrer Mutter geschlossen, eilte ich nach Kastron, und traf am andern Abend Ihr Schiff.« –

»Und hier?«

»Hier fand ich Diona verloren! – Freund, Sie wissen nicht, was unter diesem warmen Himmel, der das Blut heiß durch die jugendlichen Adern treibt und zur Nachsicht mahnen sollte, ein Fehltritt des unbewachten Mädchens für Folgen nach sich zieht! Bei uns besteht noch die Sitte der Väter, die die Jungfrau rein und unbescholten in das Haus des Gatten liefert, nicht jene Nachsicht und Vergebung, die in Ihrem kalten Norden gegen die Sünde des warmen Blutes geübt wird. Die Reinheit unserer Töchter und Schwestern ist ein Ehrenpunkt, der heilig gehalten wird; das gefallene Mädchen ist verstoßen und verflucht von ihrer Familie, wenn sie nicht die Pistole oder der Dolch des Blutsfreundes in rascher That straft. – Ja, Fremdling auf dem Boden meiner Väter, die Schwester des Gregor Caraiskakis ist die Maitresse eines Engländers geworden!«

Er schlug die Hände vor das Gesicht und barg das Haupt auf der Balustrade. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, noch ehe Welland ihm zu antworten vermochte. »Caraiskakis?« fragte eine tiefe Stimme in italienischer Sprache, während die frühere Unterhaltung deutsch geführt worden. »Wer spricht hier von Gregor Caraiskakis?«

Die Freunde blickten erstaunt um. Ein Mann mittlerer Größe, von gedrungenem kräftigem Bau, in fränkischer Kleidung, die ihm offenbar ungewohnt und unbequem war, stand hinter ihnen und mußte während der Erzählung an einem Tisch in ihrer Nähe Platz genommen haben. Ein kräftiges orientalisches Gesicht, von der Sonne tief gebräunt, wurde von einem ergrauenden Bart umschattet; der Mann mochte ungefähr 50 Jahre zählen. Ein Zug kecker Entschlossenheit und eiserner Willenskraft preßte seinen Mund zusammen, dunkle, rastlose Augen glühten mit vom Alter ungeschwächtem Feuer unter den dicken Brauen. Seine markige Hand spielte mit der den Orientalen eigenthümlichen Rastlosigkeit an der Stelle des Gürtels, gleich als sei sie gewohnt, dort den Pistolenknauf oder den Handjar zu finden.

[44] Welland hatte sich zuerst gefaßt. »Was wünschen Sie von uns, mein Herr?« fragte er.

»Verzeihen Sie, Signor,« sagte der Fremde, »dieser Herr nannte, wenn ich recht gehört, so eben einen Namen, den ich lange nicht vernommen habe, der mir aber lieb und werth ist. Ist ein Gregor Caraiskakis noch unter den Lebenden und kennen Sie das Kind?«

»Das Kind,« sagte der Deutsche lächelnd, »freilich nicht. Aber den Mann kenne ich, der aus dem Kinde geworden, und Sie auch. Dort sitzt er, mein Freund ist Gregor Caraiskakis.«

Der Fremde stürzte auf den jungen Griechen zu und faßte seine beiden Hände; sein Gesicht war lebhaft erregt. »Sie sind Gregor Caraiskakis?« fragte er hastig, »der Sohn von Michael Caraiskakis und Anastasia Maliolis in Chios geboren?«

»Derselbe!« entgegnete erstaunt der Grieche.

»Wo hatte ich auch mein Gedächtniß!« sagte der Mann, »das ist ja sein Gesicht, das sind ihre Augen! – Herr,« fuhr er fort, »halten Sie mich nicht für närrisch oder aufdringlich, daß ich mich freue wie ein Knabe, Einen Ihres Geschlechts wiederzusehen. Wenn Sie wüßten, wie sehr dies Herz noch an ihm hängt, wenn Sie erfahren, wie nahe ich ihm gestanden – sprechen Sie, Signor, ist Ihnen dies Gesicht denn ganz unbekannt geworden, haben Sie keine Erinnerung mehr für – – Doch nein,« fuhr er, sich umsehend auf der Terrasse, die sich mit Spaziergängern zu füllen begann, und auf der Costa mit mehreren Begleitern eben sich den Freunden nahte, fort, »jetzt nicht, hier nicht, diese Menge ist nicht für mich. Leben Sie wohl, Signor, Sie werden von mir hören!«

Damit wandte er sich ohne Gruß und ging langsam, wie absichtslos sein Gesicht mit dem Tuche verbergend, durch die Reihen der Gäste, welche hier ihren Sorbet, ihre Limonade oder Granita schlürften. Unter den zahllosen Barken, die am Ufer lagen, wurde sogleich eine von zwei Ruderern frei gemacht, als hätte sie auf ihm gewartet. Der Fremde stieß einen riesigen Mann in niederer griechischer Tracht zur Seite, der am Ufer lungernd ihm den Weg versperrte, und stieg in den Nachen, der sofort sich in Bewegung setzte und davonfuhr, während der Zurückgedrängte ihm aufmerksam noch und bald darauf mit einigen Männern in seiner Nähe sprach, eifrig nach dem bereits entfernten Kahne deutend. Caraiskakis [45] schien übrigens diesen Menschen zu kennen, denn während Costa den Deutschen ansprach und ihm mehrere Begleiter vorstellte, ging er zu dem Griechen.

»Andrea,« sagte er, »kanntet Ihr den Mann, der eben in jenem Boot davonfuhr?«

»Excellenza werden das selbst am besten wissen,« entgegnete mit übertriebener Höflichkeit und ausweichend der Angeredete, der Wirth eines griechischen Speisehauses, in dem Caraiskakis einstweilen wegen dessen Nähe am armenischen Quartier seinen Aufenthalt genommen. »Ich bin ein armer Mann und lebe und lasse leben. Excellenza haben ja selbst mit ihm geredet, und in Smyrna muß jetzt Keiner die Augen da offen haben, wo er sie besser schließen sollte. Messerstiche sind eine billige Waare in dieser Stadt. Doch Excellenza wollen mir eine Gegenfrage erlauben. Wer ist der Herr mit dem dunklen kurzen Rock und dem breiten Strohhut, der eben mit Ihrem Freunde spricht, mit dem sich Excellenza so lange unterhalten haben?«

»Ihr scheint ja genau hier aufzupassen, Andrea,« sagte verwundert Caraiskakis. »Wenn ich recht gehört im Fortgehen, nannte ihn mein Freund Signor Costa. Kennt Ihr, der halb Smyrna kennt, auch diesen Herrn nicht?«

»Bitte um Verzeihung, Excellenza,« entgegnete unterwürfig der Wirth, »aber ich war meiner Sache nicht ganz gewiß, obschon ich den Signor oft gesehen habe. Doch kann ich Ihnen gute Nachricht in Ihrer Angelegenheit zu heute Abend bringen, einer meiner Freunde ist der Sache auf der Spur.«

»Desto besser, Ihr wißt, es wird Euer Schaden nicht sein. In einer Stunde bin ich bei Euch.«

Damit kehrte der Grieche zu seinem Freunde zurück; an Andrea, dem Speisewirth, aber streiften in der rasch auf den Sonnenuntergang folgenden Dämmerung zwei Gestalten vorüber, deren eine Welland's scharfes Auge, wenn er sie beobachtet hätte, leicht für seinen wiener Reisegefährten erkannt haben würde. Der Zweite, eine robuste Figur mit einem österreichischen Orden im Knopfloch, winkte ihn nach einem der Durchgänge und frug:

»Habt Ihr das Wild gefunden?«

»Ja, Excellenza!«

»So sorgt dafür, – todt oder lebendig, Ihr kennt den Preis.«

»Ihr werdet zufrieden sein, Signor Cancellario, wenn nicht [46] heute Abend, so hoch sicher bis Morgen um diese Zeit, und sollte ich ihn aus einem Bett holen.«

»Auch den Andern vergeßt nicht,« fügte der Wiener hinzu, »es geht in Einem hin und er wird uns nothwendig sein. Doch bleibt der Erste die Hauptsache. Lebendig wo möglich – ich lege hundert Piaster zu.«

»Verlaßt Euch auf mich, Excellenz.«

Die Beiden betraten das Kaffeehaus.

Caraiskakis war unterdeß zu Welland gekommen, der sich lebhaft mit dem Kreis um ihn her unterhielt. »Ich muß Sie verlassen, lieber Freund,« sagte er, als sich dieser sogleich losmachte, »ich habe Ihnen zwar noch viel zu erzählen und Ihren Rath, vielleicht auch Ihren Beistand zu erbitten, doch sind mir eben Nachrichten versprochen, die ich nicht versäumen darf. Wenn es Ihnen genehm, hole ich Sie morgen zu einem Gang nach dem Bazar ab. – Noch Eins. Eben erkundigte sich ein Mann, der auch Ihnen vorhin am Ufer auffiel, bei mir nach Ihnen und Ihren Freunden. Er ist mein Wirth gegenwärtig, ein berüchtigter Mensch in Smyrna und ein so verworfenes Subject, wie irgend eines die Erde trägt. Aber ich brauche ihn augenblicklich und habe deshalb sein Haus vorgezogen. Doch wollte ich Sie aufmerksam machen, der Schurke frägt nie ohne Absicht.«

Welland zuckte die Achseln. »Ich bin noch so ganz unbekannt und deshalb wohl ungefährdet. Ich verlasse mich darauf, Sie kommen morgen, gebe Gott, mit erleichtertem Herzen.«

Er drückte dem Freunde die Hand und kehrte zu dem Kreise zurück; Caraiskakis aber wandte sich nach dem griechischen Quartier.


Es war bereits gegen Mittag, die Stunde der Siesta nahete, als Caraiskakis den Fremd abholte und mit ihm durch die mäandrischen Windungen der Straßen hinauf zum Bazar stieg, in dessen weiten Kreuzgängen sich alle Schätze des Morgenlandes und Abendlandes vereinigen. Züge von Kameelen begegneten ihnen, Menschen aller Zonen und Farben drängten sich nach dem Weltmarkt. Nach und nach wurden der Mittagshitze wegen die Gänge leerer. Welland kaufte einige Gegenstände in den verschiedenen streng gesonderten Abtheilungen des Bazars, unter Anderm einen vollständigen orientalischen Anzug und von einem Turkomannen einen trefflichen [47] Handjar, und sandte die Sachen durch die Kaufleute in sein Quartier. Schon während des Handelns war es dem Deutschen aufgefallen, daß ein Knabe in zerlumpter türkischer Kleidung sie unablässig verfolgte und aufmerksam beobachtete. Als sie nun durch die leeren Gänge zurückkehrten, trat ihnen der Bursche an einer Biegung nochmals entgegen. Welland glaubte, es sei ihm um den Bakschis – ein Trinkgeld – die gewöhnliche Forderung im Orient bei allen Gelegenheiten, bei denen man mit Türken verkehrt, zu thun und reichte ihm einige Para's, doch der Knabe schüttelte den Kopf und zeigte ihnen ein Stück schmuziges Papier, auf dem in griechischer, doch kaum leserlicher Schrift der Name »Caraiskakis« geschrieben stand. »Aha, wohl von Ihrem geheimnißvollen Freund,« meinte der Doctor und wies den Boten an den Gefährten. Gregor, den ganzen Morgen über zerstreut und noch düsterer als am Tage vorher, fragte ihn kurz nach seinem Begehr.

»Ich soll Euch bitten, Effendi,« sagte der Junge, »Ihr möchtet heute mit Eurem Freunde die Marina (den Quai) meiden und um Sonnenuntergang an der Karavanenbrücke sein, dort würde Jemand Eurer warten.«

»Thorheit,« entgegnete der Grieche, »meine Zeit ist gemessen und ich kann unbekannten Botschaften keine Folge leisten. Nach der Marina gehen wir eben.«

»Sie sollten die Botschaft doch nicht so leicht von sich weisen,« sagte Welland, »vielleicht betrifft sie einen Gegenstand, der Ihnen gerade von Wichtigkeit ist.«

»Das ist nur einer, – und von dem kann jener Mann Nichts wissen. Ich bitte Sie, hören Sie mich weiter, denn ich muß meine Geschichte von gestern vollenden und Ihre Ansicht hören, um so mehr, als Sie morgen schon, wie Sie mir sagten, Smyrna und mich wieder verlassen wollen.«

Er legte seinen Arm in den des Freundes und Beide gingen an das Ufer, wo sie, vom Seewind gekühlt, auf der kurzen Strecke umherwandelten. Später begegnete ihnen der Ungar Costa, nickte aber nur, da er sie im eifrigen Gespräch sah, dem Deutschen zu und setzte sich an einem entfernteren Kaffeehaus am Ufer nieder, eine Zeitung zu lesen und seinen Kaffee zu schlürfen.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt,« erzählte der Grieche, »wie meine Schwester Diona hierher gekommen und welches Unglück uns betroffen hat. Als ich gestern zu meinen armenischen Verwandten [48] kam, bei denen sie sich aufgehalten, fand ich sie dort nicht mehr vor. Die Familie war bestürzt über meine Ankunft und wollte offenbar nicht mit der Sprache heraus. Erst durch lange Bitten und Drohungen erfuhr ich endlich, daß meine Schwester vor etwa drei Monaten die Bekanntschaft eines Engländers gemacht, der sich hier aufhielt und daß sich das Verhältniß heimlich weiter gesponnen, bis die Familie dahinter gekommen und Diona strenger bewacht gehalten habe. Vor einer Woche etwa sei sie plötzlich verschwunden, mit ihr zugleich der Brite, und es sei alle Anstrengung vergebens gewesen, ihre Spur aufzufinden. Manche Umstände der Erzählung schienen mir verdächtig und nach einem heftigen Auftritt mit der Familie verließ ich das Haus. Ich kannte Smyrna von früher und wußte, daß hier für Gold Alles zu erlangen ist. Nach kurzem Besinnen nahm ich meine Wohnung bei jenem Speisewirth Andrea, einem berüchtigten Schurken, der aber die Fäden der meisten Verbrechen hier in der Hand hat – bei Gott,« unterbrach er sich, »da geht der Bursche eben wieder bis an die Zähne bewaffnet mit Einigen seines Gelichters umher! – Ich nahm also bei ihm meine Wohnung und schickte sein Weib auf Kundschaft aus. Bald wußte ich Alles! Meine Verwandten hatten, durch das verschleuderte Gold des Briten geblendet, die Bekanntschaft des Mädchens mit diesem begünstigt, ja, er kam täglich in ihr Haus und der Jungfrau Ruf war vernichtet, wahrscheinlich eher, als sie es wirklich verdient hatte. Erst als sie von meiner Ankunft auf Chios Nachricht erhielten, fanden sie es für gut, meine Rache fürchtend, dem Umgang ein Ende zu machen und Diona einzusperren. Es war zu spät; in einer Nacht waren Beide, das Mädchen und ihr Liebhaber, entflohen und meine Kundschafterin betheuerte mir, daß die Kuppler selbst keine Ahnung hatten, wohin. Verschiedene kleine Umstände, namentlich daß man den Verführer noch vor drei Tagen hier gesehen haben will, ließen mich argwöhnen, daß das Paar noch in der Nähe sich aufhält und ich bot nun alles Mögliche auf, seine Spur zu verfolgen. Der Schurke Andrea war mir förderlich; gestern Abend führte er mir den Mann zu, der das Paar über den Golf nach Bournabat in einer Barke geführt hatte. Hier bewohnten sie oder bewohnen sie noch ein wohlverwahrtes Landhaus, das dem englischen Viceconsul gehört, einem Mann von schlimmen Ruf, dem für Geld Alles feil ist und [49] der für blanke Dublonen schon die ärgsten Schurken vom Galgen gerettet hat.«

»Und haben Sie seit gestern Abend bereits Schritte gethan?«

»Heute Morgen führte mich derselbe Fährmann hinüber nach der Villeggiatura. Ich forderte Einlaß am Hause, aber ein englischer Diener weigerte denselben unter dem Vorwand, daß es gänzlich unbewohnt sei. Daß dem nicht so ist, sah ich aus dem Umstand, daß sich zwei Khawassen im Hofe umhertrieben. Ich war allein und konnte den Zutritt nicht erzwingen. Zur Stadt zurückgekehrt, eilte ich zu dem englischen Consulat und drang bis zu dem Gmeralconsul. Er war wie gewöhnlich gleich einem Vieh betrunken, sein Stellvertreter aber, jener Eigenthümer des Hauses, der alle Geschäfte und alle Macht in Händen hat, wies mich barsch zurück, wollte von Nichts wissen und drohte mich verhaften zu lassen.«

»Was gedenken Sie zu thun?« fragte theilnehmend der Doctor.

»Was ich thun will?« antwortete zähneknirschend der Grieche. »Sehen Sie hin auf jenes Boot, das, mit Männern besetzt, wie hier Hunderte umherlaufen, eben dem Strande naht, mit Männern, die nicht fragen nach dem Erlaubt und Gestattet, wenn es eine kühne That gilt, – mit einem solchen Boot und einem Halbdutzend solcher Bursche will ich morgen bei Nacht landen an der verschlossenen Thür, die die Schande meines Hauses birgt, und dann, bei dem Geist meiner Väter, will ich Gericht halten über die Beiden!«

»Um Gotteswillen, Gregor, thun Sie keinen unsinnigen Schritt, der Alles verdirbt und Sie in die größte Gefahr stürzen muß,« beruhigte Welland. »Gehen Sie zu dem griechischen Consul, er hat die Pflicht, einzuschreiten. Wenden Sie sich selbst an den türkischen Gouverneur, er muß Ihr Recht schützen.«

»Recht in der Türkei?!« hohnlachte Caraiskakis. »Wissen Sie nicht, daß ich verbannt bin von den Machthabern in Athen? Meinen Sie, daß der feige entnervte Moslem, der nicht den offenen Meuchelmord aus den Straßen seiner Stadt verbannen kann, Mädchenraub bestrafen wird an einem seiner hundert Herren, an Einem aus jenem Volke, das die wahre Pest des Orients durch seinen Uebermuth und seinen Druck ist, gegen die selbst das türkische Joch Milde genannt wird? – an einem Engländer? Wenn die Hand seines Allah aus den Wolken reichte, würden sich die Bekenner [50] des Halbmondes nicht so beugen, als vor der Tyrannei jener gekreuzten Flagge. Nein, ich selbst – – Heiliger Gott! was geht dort vor – der blutige Schurke Andrea mordet Ihren Freund!«

Ein wildes Geschrei ertönte von der etwas entfernten Stelle des Quai, an der sie den Ungar verlassen hatten, – Menschen drängten eilig hinzu, der Ruf nach Hilfe übertönte aus vielen Kehlen den Lärmen.

Eine schreckliche Scene hatte sich dort entsponnen. Sie ist historisch geworden in ihren empörenden Einzelnheiten.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Zahl der politischen Flüchtlinge zu jener Zeit sehr bedeutend in Smyrna war, und daß sie eine gewisse Herrschaft in der Stadt ausübten. Nächst London war Smyrna damals der offene Centralpunkt der Agitation. Oeffentlich gegründete Comitee's verhandelten die Revolution von Europa, und die große Thätigkeit der Einzelnen in der Erlernung der orientalischen Sprachen, die Bemühungen, unter der griechischen Bevölkerung sogenannte philharmonische Vereine zu gründen, an deren Spitze sie standen, wiesen darauf hin, daß die Emigration sich in Smyrna und im Orient überhaupt einen neuen Haltpunkt zu schaffen suche. In keinem Lande der Welt würden die Flüchtlinge bei einem ruhigen Verhalten weniger gestört worden sein; denn die lässigen türkischen Behörden kümmerten sich durchaus nicht um ihre Person, ja, der englische und amerikanische Consul beschützte sie bei jeder Gelegenheit. Der Zusammenhang dieser Agitation mit der mailänder Februar-Revolte war ganz offenkundig, und man sprach – gerade wie im Jahr 48 von Berlin und Wien, – am Tage des Ausbruchs in Mailand bereits davon in der asiatischen Handelsstadt. Da nur hauptsächlich alle diese Umtriebe und Angriffe gegen die österreichische Regierung gerichtet waren, forderte endlich der kaiserliche General-Consul von Wexbecker wiederholt von dem damaligen General-Gouverneur von Smyrna die Ausweisung der ohne Schutz einer Nationalität sich dort aufhaltenden Flüchtlinge, besonders die mehrerer in Oesterreich schwer gravirter Persönlichkeiten, die hier die Führer bildeten. Zu diesen gehörte auch Martin Costa, im ungarischen Revolutionskriege Adjutant Kossuth's und einer der thätigsten und entschlossensten Offiziere des Insurgentenheeres. Er war nach dem Uebertritt Kossuth's auf türkisches Gebiet mit diesem in Kintaia internirt, folgte ihm 1851 nach London und ging dann nach Amerika, von wo er unerwartet [51] zu Anfang des Jahres 1853 nach Smyrna zurückkehrte, wo er alsbald an die Spitze der Clubs und Verbindungen trat. Die österreichische Regierung hatte die sichere Kunde von neuen Bewegungen und da selbst das Einschreiten des Gesandten beim Divan und ein Befehl des Vezirs Ali Pascha den Gouverneur nicht aus seiner Unthätigkeit aufzuwecken vermochte, sah sich die österreichische Regierung veranlaßt, selbst einzugreifen und an ihren General-Consul bestimmte Befehle zu erlassen, auf Grund der ihr tractatenmäßig zustehenden Rechte die Verhaftung der Flüchtlinge österreichischer Nationalität vorzunehmen und sie an die kaiserlichen Militärbehörden auszuliefern. Wäre dies in der geeigneten offiziellen Weise geschehen: etwa durch die Bemannung der Brigg Hussar, oder durch die Khawassen des Consulats, so wäre trotz der Anwesenheit so vieler Flüchtlinge der Ausgang offenbar ein ganz anderer gewesen und hätte einen bedeutenden Schrecken verursacht. Die ungeschickte und eclatante Weise, mit welcher der Kanzler des Generalconsulats die Sache aber begann, den ersten Schlag in Folge besonderer am Tage vorher eingegangener Nachrichten gegen Costa richtend, kehrte das Resultat gegen die Behörde selbst.

Der Ungar saß ruhig und Nichts ahnend auf dem Quai, auf dem zu dieser Zeit nur wenig Menschen der Hitze wegen verkehrten, als der Kneipenwirth Andrea mit drei bewaffneten Gefährten seines Gelichters sich ihm näherte. Zugleich kam ein Boot mit vier berüchtigten Gesellen derselben Bande herangefahren und ein anderes mit zwei Ruderern bemannt hielt sich in der Nähe zur Aufnahme des Griechen. Andrea, den breiten Bund mit Pistolen und Dolchen gespickt, schlug von hinten den Lesenden auf die Schultern und frug: »Seid Ihr Signor Costa?« – Ueberrascht über die Frechheit sprang der Ungar empor, und maß den Wirth mit den Augen. Ehe er aber noch eine Erklärung fordern konnte, stürzten sich alle Vier auf den Erstaunten und suchten ihn zu Boden zu werfen. Ein wildes Ringen entstand, der Ungar lief »Verrath!« und so groß war seine Körperkraft, daß er sich aus den Händen der Angreifer losmachte, zwei derselben packte und rasch entschlossen sich mit ihnen über die Balken des Bollwerks ins Meer stürzte. In diesem Augenblicke war es, als Welland und Caraiskakis herbeieilten, zugleich von mehreren Seiten andere Personen. Aber auch das Boot der Banditen hatte sich genähert, und von seinem Bort versuchten die Einsitzenden, dem Ungarn, der sich [52] im Wasser von seinen Angreifern befreit hatte und zum Strande zurückschwamm, eine Schlinge überzuwerfen. Zwei Mal gelangte Costa an das Bollwerk und klammerte sich daran fest, um sich empor zu helfen, zwei Mal zerschnitt ihm der Handjar Andrea's die Finger und Arme, daß er blutend zurückfiel, während dessen Genossen mit Messer und Pistolen die andrängenden Menschen zurückhielten. Verzweifelt rang Welland mit einem der Banditen, einem kräftigen Mohren, aber immer wieder wurde er zurückgestoßen und sein Allarmruf erschallte vergeblich. Während dem war es den Mördern im Kahn gelungen, dem Unglücklichen die Schleife um den Hals zu werfen, und blutend, halberdrosselt, halbertrunken schleiften sie ihn an dem Strick durch die Wellen fort. Andrea pfiff dem zweiten Boot und sprang dann auf Welland zu, diesen hineinzuzerren, doch Gregor warf sich schützend vor den Freund und eine kleine Hand, die Hand des Knaben, der vorher die Freunde angesprochen, schlug zugleich die Pistole zur Seite, die der Anführer der Mörderrotte bereits ergriffen hatte. »Bei der Gebenedeiten des Himmels,« rief der Knabe, »Andrea, Ihr seid ein todter Mann, wenn Ihr einem der Herren ein Haar krümmt. Sie stehen unter seinem Schutz!« Er sprach dem Banditen den Namen in's Ohr.

Andra fuhr zurück. »Diavolo,« fluchte er, »da hätte ich mir eine schöne Geschichte auf den Hals geladen! Geht zum Henker, Signor!« Damit stieß er Welland von sich und sprang in die Barke, die alsbald das Weite suchte und dem ersten Kahn nachfuhr. Einige Pistolenschüsse knallten hinter ihm drein von herbeieilenden Gefährten des Gefangenen, aber er war schon zu fern. Man hatte gesehen, wie der Ungar endlich in das große Boot gezogen worden, wie beide zu der Brigg ruderten und der Gefangene an Deck gebracht wurde; die Aufregung war entsetzlich. Wie ein Mordio ging der Ruf von der Gefangennehmung Costa's durch die Straßen Smyrna's; von allen Seiten drängte man nach dem Quai. Italienische, ungarische, polnische und deutsche Flüche und Verwünschungen füllten die Luft, um Gregor und Welland, der mit aufregenden Worten den Hergang schilderte, drängte sich die Menge. Selbst Caraiskakis hatte über der empörenden Scene das eigene Leid für den Augenblick vergessen. Bassitsch, der Ungar, versammelte endlich die nächsten Bekannten um sich, und wechselte fliegende Worte mit ihnen, die das Aergste befürchten ließen, doch Welland drängte sich vor und ermahnte und bat, alle augenblicklichen [53] Schritte zu unterlassen und von der Berathung abhängig zu machen, die für die Stunde vor Sonnenuntergang auf dem Pagus angesetzt war. Er selbst erbot sich, als am Wenigsten durch seine Person bekannt, nach der Brigg zu fahren und zu versuchen, bis zu Costa zu dringen. Dies beruhigte ein Wenig die exaltirten Gemüther, rasch verbreitete sich unter den Flüchtlingen die Kunde, daß die Versammlung trotz des Geschehenen stattfinden werde, und während noch die Massen auf dem Quai auf und ab wagten, fuhr Welland, auf sein Bitten von dem Freunde und einem in Smyrna ansässigen deutschen Kaufmann begleitet, hinaus in den Golf, um sich der Brigg zu nähern. Seine Bemühung war jedoch vergeblich. Der Anruf der Schildwach befahl ihnen, sobald man sich auf Kabellänge genähert, beizulegen und als Welland sein Verlangen kund gab, den Gefangenen zu besuchen, erschien der Commandant der Brigg, Major Schwarz, ein alter fester Haudegen, auf dem Kastell und drohte ihnen, beim mindesten weitern Versuch, sich zu nahen, Feuer auf den Kahn geben zu lassen. Doch war er menschenfreundlich genug, auf ihre Fragen mitzutheilen, daß Costa zwar erschöpft und leicht verletzt, doch sonst ungefährdet an Bord gebracht worden und dort in strenger Haft sei.

Als das Boot zum Quai zurückkam, war die Sonne bereits im Abwärtssteigen und die Stunde der Versammlung in den mächtigen Trümmern des genuesischen Forts auf dem Berggipfel nahe.

»Sie müssen mich auch dahin begleiten, Gregor,« bat Welland den Griechen, »denn das Ungewitter, das wie ich glaube, sich dort oben zusammenbrauen wird, könnte leicht auch Ihnen behilflich sein zu Ihrem Zweck. Jedenfalls stehe ich Ihnen dann ganz zu Diensten.« So folgte Caraiskakis dem Freunde und diente ihm, da er hier bekannter war, zum Führer.


Ueber die türkischen und armenischen Begräbnißplätze, die sich an den Seiten des Berges emporstrecken, von Cypressen unk Platanen beschattet, schritten die Freunde eilig hinauf. Zu jeder andern Zeit würde sich Welland dem eigenthümlichen Eindruck und Schauspiel hingegeben haben, das die Friedhöfe der Moslems machen. Sie sind die Spaziergänge von Alt und Jung, Männern und Frauen während des Tages, der Aufenthaltsort, oft die Schlafstätte des Gesindels während der Nacht. Zwischen den schmalen [54] und aufrechtstehenden Leichensteinen, welche die Form umgestülpter Obelisken oder Säulen haben, auf deren Spitze ein Turban oder Fez den Rang des Verstorbenen anzeigt, während blaue und rothe Farben, Vergoldungen und Inschriften den Stein schmücken, spielen die Kinder, liegen die Müssiggänger und sitzen klatschend die Weiber. Hin und wieder ragen aus diesen Begräbnißplätzen noch Trümmer der alten hellenischen Mauern hervor, die sich nach dem Gipfel zu mehren. Pausanias setzt den Ursprung der Stadt in die Zeit Alexanders des Großen, der sie in Folge eines Traums für die von Ephesus gekommenen Smyrnäer gegründet haben soll. Unter der Römerherrschaft kam sie zur Blüthe, Tzachas machte sie im Jahre 1084 zur Hauptstadt seines neugegründeten ionischen Reichs; Johannes Ducas, der griechische Admiral, belagerte sie 1097. Zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts war die Stadt bis auf die Akropolis ein Trümmerhaufe, Angelus Comnenus aber stellte sie vor seinem Tode (1227) wieder her. Im vierzehnten war sie häufig der Schauplatz der blutigen Kämpfe der Ritter von Rhodus mit den Moslems;Tamerlan, als er auf seinem Zuge von den Kämpfen der Christen und Türken in der Stadt hörte, belagerte sie 1402 vierzehn Tage lang, nahm sie im Sturm und zerstörte sie auf's Neue.

All diese Erinnerungen zogen an den Beiden vorüber, als sie den riesigen Trümmern des Schlosses zueilten. Die Mauern desselben schließen einen beträchtlichen Raum ein, in ihrem Mittelpunkt finden sich die Reste einer alten Kirche, nach den Volksüberlieferungen: der alten Kirche Smyrna's. Desgleichen viele Cysternen, Gewölbe und Gänge, die einen ganzen unterirdischen Bau unter den Trümmern bilden sollen. Eine weite, herrliche Aussicht bietet sich von diesen Ruinen über Stadt und Meer, über die vom Hermuss durchzogenen Ebenen im Osten und die Flächen im Süden, die der Meles mit seiner Wasserleitung befeuchtet. Etwas weiter zur Seite, unfern der in die Felsen gegrabenen Stadien, wo der heilige Polycarp den Märtyrertod erlitt, stehen noch einige Trümmer des Jupiter-Tempels, und hier hatten die Flüchtlinge aller Nationen sich zur Berathung versammelt. Man hatte mit der Eröffnung derselben auf Welland gewartet, und er wurde genöthigt, von einem der riesigen Postamente herab nochmals die Erzählung der grausames Art und Weise zu wiederholen, in der Costa verhaftet worden. Welland sah sogleich, daß die Exaltation [55] der Menge durch die Einwirkungen Einzelner auf's Höchste gesteigert worden und daß eine besonnene Vermittelung dringend Noth that. Er knüpfte daher sofort an seine Erzählung den Vorschlag, daß die in der Angelegenheit zu thuenden Schritte einem Comitee übertragen werden möchten, daß dieses von dem österreichischen Consul die Freigebung Costa's verlangen, und durch Deputationen die Mitwirkung aller andern Consuln, namentlich der französischen und englischen, in Anspruch nehmen solle.

Doch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein der geweckten Leidenschaften. Fumagalli mit all dem lodernden Feuer seiner Landsleute, nahm den Platz des bedächtigen Deutschen ein und reizte mit flammenden Worten die Menge zu Thaten der Rache. »Wie es Costa ergangen,« rief er, »wird es auch uns gehen; Einen nach dem Andern werden die feilen Schergen der Tyrannei hinwegholen, um uns in Ketten in ihre tiefen Kerker auf dem Spielberg und Kufstein zu werfen, wo so viele edle Söhne der Freiheit lebendig vermodern. Zeigen müssen wir ihnen, daß wir Mann zu Mann stehen, Blut müssen wir haben zur Sühne, mit rothen Flammenzeichen wollen wir unser Gericht halten! Brüder, Freunde, edle Männer der Magyaren! Söhne des freien Italiens! – laßt uns hinunterziehen und die steinerne Zwingburg unsers Feindes, des österreichischen Consuls, mit gewaffneter Faust stürmen. Wenn die Lohe als Warnungszeichen unserer Rache über seiner Habe zusammenschlägt, wenn wir ihn und jedes lebende Wesen in seinem Hause gefangen halten und unsere Dolche ihre Brust bedrohen, wirb man uns den Verrathenen sicher ausliefern, und haben wir ihn erst zurück, dann Wehe den Elenden!«

Mit wildem Jubel erwiderte die Menge die Rede. Wahnwitzige Vorschläge aller Art wurden laut, der Ungar Cricca wollte die am Kastell liegende türkische Fregatte mit Gewalt nehmen und mit ihr den Gefangenen befreien, ein Anderer schlug einen Angriff bei Nacht mit Böten vor, ein Dritter gar, die Stadt an allen Ecken anzuzünden. Je abentheuerlicher und entsetzlicher die vorgeschlagene That, desto stürmischer war der sinnlose Beifall. Vergebens suchte in diesem Tumult Welland zur Ruhe und Ueberlegung zu mahnen; verzweifelnd wollte er sich abwenden und den Platz verlassen, als er im Gedränge einen Zettel in seine Hand gedrückt fühlte. Rasch wandte er sich um, doch unbekannte, nur mit der aufregenden Versammlung beschäftigte Gesichter zeigten sich [56] rings umher. Er flüchtete aus dem Gewühle und las den Zettel. Ein Kreuz, ähnlich dem, das Costa ihm gezeigt, war in flüchtigen Zügen mit Bleistift auf das Papier gezeichnet. Darunter standen die Worte: »Keine Gewalt! die Zeit ist noch nicht gekommen. Gehen Sie morgen zum amerikanischen Consul und verlangen Sie seinen Schutz für Costa als amerikanischen Bürger. Die Hilfe wird zur rechten Zeit bereit sein. Gehorsam!« – Welland trafen die Zeilen wie ein Blitzstrahl, freudig, daß sich eine Aussicht zeigte, den Gefangenen zu retten, überraschend, daß auch hier in so weiter Ferne eine unsichtbare geheimnißvolle Macht seine Handlungen zu leiten, Alles zu überwachen schien. Er drängte sich mit Gewalt zu Fumagalli durch und zog ihn bei Seite. »Wenn Sie nicht Alles absichtlich verderben und Costa's Blut über sich und uns Alle bringen wollen, so stehen Sie von diesen wahnwitzigen Handlungen ab!« sagte er ihm. »Gehen Sie meinetwegen mit einer Deputation zu dem österreichischen Consulat und fordern Costa's Freigebung, um die aufgeregte Menge zu beschwichtigen, aber keine Gewaltthat heute! Sie wissen, daß Costa dem Bunde angehört, im Namen dieses Bundes und als Ihr Vorgesetzter befehle ich Ihnen, den morgenden Tag abzuwarten. Bis dahin wird Hilfe zur Stelle sein, die den Ungar schützen kann, den wir heute nur verderben würden.« – Mit Widerstreben versprach der Italiener, die Menge zu beruhigen oder wenigstens so zu leiten, daß es bei den Drohungen bliebe und keine offenbare Gewaltthat die Lage verschlimmere. Von ihm erfuhr Welland auf seine Nachfrage auch, daß in der Wohnung Costa's sich nur wenige und unbedeutende Papiere vorgefunden und diese bereits in Sicherheit gebracht worden seien. Ein Paß war nicht darunter gewesen.

Während Fumagalli auf's Neue zu dem Kreis der Flüchtigen sprach, mit Hilfe seiner Vertrauten die Wahl eines Comitee's zu Stande brachte und dann vorschlug, nach der Stadt zurückzuziehen, suchte Welland den Freund auf und fand ihn unter den Trümmern des Schlosses am Rand einer Cisterne sitzen. Die Sonne verschwand eben am Horizont und in der beginnenden Dämmerung, die, wie es im Süden der Fall, rasch zunahm, hörten sie die wilden Revolutionsgesänge der abziehenden Haufen. Sie waren die Einzigen, die noch zurückgeblieben, und Welland mahnte trotz des erhabenen Eindrucks, den die Stille des Abends und der einbrechenden Nacht verbreitete, zum Aufbruch, da ihm die Erzählungen von [57] der Unsicherheit der Umgebung einfielen. Aber es schien bereits zu spät. Als sie den Ausgang suchten, streckte sich ihnen plötzlich ein Gewehrlauf entgegen und eine barsche Stimme rief sie in griechischer Sprache an. Sie sprangen zurück und griffen nach den verborgenen Terzerolen, die Beide trugen, doch ein leichtes Lachen machte sie sich umwenden, und sie erblickten hinter sich, aber in griechischer Tracht und auf eine lange Flinte gestützt, den Unbekannten, welcher sich gestern auf der Marina bei Caraiskakis Namen so ergriffen gezeigt hatte.

»Ich danke Ihnen, Signori,« sagte der Fremde mit leichtem Spott, »daß Sie meiner Einladung dennoch Folge geleistet. Freilich etwas spät – doch in diesem Lande kommt alles Gute spät, oft zu spät, meist gar nicht. Wollen Sie mir folgen, Sie sehen, jeder Widerstand ist unnütz, und bei Sanct Procopio, meinem Schutzheiligen, ich wollte mir eher die Augen ausreißen lassen von diesen türkischen Hunden, ehe ich zugäbe, daß Ihnen etwas Uebles widerfährt.«

Welland und der Grieche sahen sich um und sich von neun bis zehn dunklen Gestalten umgeben, deren Waffen im Sternenlicht funkelten, – Widerstand wäre thöricht gewesen – nach wenigen deutsch gewechselten Worten erklärten sich Beide bereit, dem Fremden zu folgen.

Dieser – offenbar der Anführer der gefährlichen Schaar – ertheilte derselben einige kurze Befehle und ging dann voran, von den beiden Freunden gefolgt, denen sorgsam zwei der Banditen jede unebene und gefährliche Stelle zeigten. Der Weg führte sie mitten in die Ruinen der alten Akropolis und nach kurzem Gang sahen sie aus einem der verfallenen Bogen den Schein eines Feuers leuchten. Sie traten durch die Pforte in einen kleinen von Mauern umgebenen Raum, in dessen Mitte ein Feuer brannte, von dem Knaben angeschürt, der ein Hammelviertel am Spieß briet. In der Nähe lagen auf riesigen Marmorquadern ein Schlauch voll des schwarzen aromatischen Brussaweins und andere zur Mahlzeit gehörige Gegenstände.

Der Fremde schritt zuerst auf den Stein zu, nahm einen Maiskuchen, bestreute ihn mit Salz und brach ihn in drei Theile, von denen er einen jedem der Freunde gab. »Nehmt und eßt,« sprach er, »der Gast ist dem Wirthe heilig.« Gregor und Welland aßen einige Bissen, und Beide, die schöne Sitte des Morgenlandes kennend, fühlten sich beruhigt.

[58] »Jetzt, Mauro,« sagte freundlich der Unbekannte zu dem Knaben, »entferne Dich und halte Wache, daß uns Niemand stört, ich habe mit diesen Männern zu reden.« Das Kind gehorchte; auf einen Wink des Mannes setzten sich die Freunde auf die umherliegenden Trümmer und harrten gespannt auf die Entwickelung.

Lange saß ihr seltsamer Wirth auf dem Stein vor ihnen, die braunen schwieligen Hände vor dem Gesicht, als zolle er mächtigen Erinnerungen seinen Tribut. Dann erhob er das Haupt, reichte dem jungen Griechen die Hand, und sagte: »Sei mir willkommen, Sohn des Michael Caraiskakis, meines unvergeßlichen Herrn! Sage, ist Einem Deines Geschlechts der Name und das Antlitz Johannes des Ipsaroten denn so ganz fremd geworden, daß er ihn nicht mehr wiedererkennt?«

»Janos!« rief der Grieche, und sprang empor – »Janos, der Mutter und Kind in der Mordnacht aus den Flammen trug? Janos, unser Retter und Freund! Heilige des Himmels, wo hatte ich meine Augen!« Er umschlang den Hals des Mannes, in dessen Augen Freudenthränen glänzten, der aber freundlich ihn von sich drängte.

»Janos! Ja wohl!« sagte er, »und damit Ihr Alles wißt – Janos Katarchi, Jan, der Kameeltreiber, Jan der Räuber und Mörder, vor dessen Namen jene ungläubige Brut dort unten zittert. Jan Katarchi steht vor Dir und heißt Gregor, den Knaben, den er einst auf den Knieen trug, willkommen, wenn dieser ihn noch kennen will'«

Gregor warf sich noch einmal an die Brust des treuen Dieners seiner Familie. »Sage, Jan der Palikare, Jan der Rächer, wie Dich jedes wahre griechische Herz dort unten nennt. Was geht mich Dein Name an, Dein Thun, oder daß Du vogelfrei im Kampf mit den Unterdrückern unsers Volks bist, und an Deinen Händen Blut klebt! Ist es nicht auch das Blut, das Du vor einunddreißig Jahren zu unserer Vertheidigung vergossen, bist Du nicht der Waffendiener meines Vaters, der mit ihm das Schiff des blutigen Wüthrichs gegen die Wolken sprengte, als diese ihre Blitze vergessen hatten gegen die tausendfachen Greuel! Es ist wahrlich eine Segnung der Heiligen in meinem Kummer, daß ich in diesem Augenblick einen Mann finde, der der Freund meiner Kindheit war, wie ich den Freund meiner Jünglingsjahre wieder gefunden!« Er reichte Beiden die Hand, die der Bandit trotz der [59] Abwehr Gregor's leidenschaftlich küßte. Dann zog der Mann des Bluts und der Verbrechen den Wiedergefundenen zu sich nieder an's Feuer und begann mit einer Hast und Unermüdlichkeit der Zunge, die dem Griechen, namentlich der untern Klassen eigen ist, ihm hundert Fragen über das Schicksal der Familie vorzulegen, während der Deutsche ein stummer, aber aufmerksamer Zuhörer der unerwarteten Scene blieb.

»Aber sage mir, Janos,« unterbrach endlich Caraiskakis den Strom der Fragen, – »wie kommst Du hierher? Wir glaubten Dich todt nach der letzten Nachricht, die wir von Dir erhalten, und betrauerten Dein Andenken.«

»Du weißt, Herr,« erzählte der Räuber, »daß ich an der Seite Deines tapfern Vaters am Piräus fiel, als wir fünf Jahre nach dem Blutbad von Chios unter Richard Church den Ersatz der Akropolis versuchten. Mein Leib deckte den theuren Leichnam und zeigte noch die Spuren der drei tiefen Wunden, die ich erhielt. Wie ich gehört habe, ziert ein Denkmal die Stelle, wo mein Herr für die Freiheit und das Kreuz am 4. Mai blutete. Mögen die Heiligen ihm im Paradiese gnädig sein! Als ich erwachte, lag ich nackt und bloß auf dem Schlachtfeld. Ein fränkischer Arzt erbarmte sich meiner, – schon damals im heiligen Kampf des Kreuzes gegen den Halbmond hatten sich ja Christen unsern Feinden verkauft! – und verband meine Wunden. Wider das eigene Hoffen genas ich, und mit hundert anderen Unglücklichen schickte mich Ibrahim Pascha als Siegesbeute seinem Vater nach Egypten. Dort litt ich fünf Jahre, was ein Sclave leiden kann, bis ich im Krieg des Vicekönigs gegen den Sultan mit nach Syrien geschleppt wurde. In dem Gewühl des Sieges von Konieh gegen Reschid Pascha gelang es mir, zu entkommen, – ich bettelte und schlug mich durch, bis ich die blauen Ufer unsers schönen Meeres mit seinen grünen Inselsternen wieder sah, und kam nach Chios. Zehn lange Jahre hatten nicht gereicht, die Spuren jener schrecklichen Verwüstung zu verwischen. Die herrliche Insel, des großen Homer Geburtsstätte, hatte man in den Händen der Ungläubigen gelassen, die Inglesi tragen die Schuld daran, wie ich mir sagen ließ, jenes Volk von Kaufleuten, das jetzt wieder auf der Seite unserer Unterdrücker steht, jetzt, wo der große Czaar im Norden das ganze Griechenland frei machen will von der Herrschaft der Ungläubigen. Deshalb hasse ich die [60] Nation, ich speie auf die Gräber ihrer Väter; denn Nichts sind sie besser, als die Moslems selber.«

»Hier hören Sie eine Stimme des Volks,« winkte Caraiskakis dem Freunde. »Wie aus dem Munde dieses Verbannten und Geächteten, so tönt es überall, wo Hellenen wohnen und Jeder träumt von einer neuen Aera des byzantinischen Reichs.«

»Auf Chios,« fuhr der Räuber fort, »war meines Bleibens nicht mehr. Vergeblich forschte ich nach der Familie meines Herrn. Der neue Name Deiner Mutter verbarg mir die Spur. So ging ich auf's Festland zurück und gewann mein Brot in Smyrna als Kameeltreiber bei den Karavanen, die aus dem Innern von Syrien und Turkomannien die Früchte und Teppiche bringen. Ich hatte Weib und Kind, – eine Tochter von sechszehn Sommer, und bei Sanct Polycarp dem Märtyrer, es war ein schönes und gutes Kind. Ich wohnte damals mit meiner Familie in Tschardak am Tschernek-Su, nährte mich redlich und friedlich und zahlte regelmäßig mein Kopfgeld. Ein junger Mann unsers Glaubens sah mein Kind und begehrte es zur Ehe. Der Tag der Hochzeit war bestimmt, da reitet der Musselim 1 an unserm Hause vorbei und sieht Nausika, die ihm Milch reichen muß. Am andern Tage läßt er mein Weib rufen, – ich war gerade mit den Karavanen nach Smyrna, – und frägt sie, ob sie ihm die Tochter verkaufen wolle. Mein Weib erschrickt und bittet ihn, abzustehen, da das Mädchen verlobt sei und man bloß meine Rückkehr erwarte, um sie in das Haus ihres Gatten zu führen. Der Musselim aber streicht sich den Bart, spricht, er brauche ein schönes Weib als Geschenk für seinen Gönner, den Mehemet Pascha in Stambul, und wenn sie das Kaufgeld nicht nehmen wolle, werde er das Mädchen umsonst holen. Darauf schickte er nach Vaso, meinem Eidam, steckt ihn trotz seines Glaubens unter den Nizam 2 und sendet ihn noch am selben Tage mit einer Schaar fort. Am Abend aber holen seine Khawassen das Mädchen, und als mein Weib stehend folgt bis an die Schwelle seines Hauses, mißhandeln sie die Aermste mit Stockschlägen, daß sie krank von den Nachbarn nach Hause getragen wird. Als ich fünf Tage später von Smyrna heimkehrte, fand ich mein Weib am Tode, mein Kind geraubt und den Musselim [61] verreist. Ich raufte das Haar und begrub mein Weib. Dann that ich einen Eid bei der heiligen Jungfrau, zündete mein Haus an, die Stätte meines Glücks, und ging davon.«

»Aber warum klagtet Ihr nicht, unglücklicher Mann,« sagte der Deutsche, »warum wandtet Ihr Euch nicht an die europäischen Consuln oder selbst nach Constantinopel?«

»An die Consuln?« hohnlachte der Räuber. »War ich ein ionischer Dieb oder ein maltesischer Mörder, daß ich auf ihren Schutz Anspruch gehabt hätte? Ich war ja nur ein Ipsarote, Einer der Millionen Christen, die diesen Henkern überlassen blieben mit Leib und Seele! – Gerechtigkeit in Smyrna oder Stambul gegen den Musselim, meinen Herrn! – Nein, Signor, ich that Besseres, das Einzige, was dem Manne bleibt. Ich lauerte am Wege in den Felsen neun Tage lang, bis der Musselim von seiner Fahrt zurückkehrte, und als er mir nahe war, schoß ich ihm die Kugel in Mitten seiner Khawassen durch das gierige Herz. – Seit dem, Gregor Caraiskakis, seitdem bin ich ein Räuber!«

»Und Deine Tochter?«

»Was liegt an meiner Tochter! Sie wird, wie hundert Andere, an das träge Leben im Harem eines unserer Herren im üppigen Stambul sich längst gewöhnt haben! Die Heiligen wissen, ob und wo sie athmet – für den Vater ist sie gestorben. Ich nahm den Sohn der Schwester meines Weibes mit mir, Ihr habt den Knaben gesehen, und bald waren einige Gefährten um mich versammelt, mit denen ich mein Rachewerk begann. Ihrer Verfolgungen kann ich spotten, denn tausend Freunde haben Augen und Ohren für mich in jener Stadt und im ganzen Paschalik.«

»Du schmähst auf den Türken, Mann, auf den Erbfeind Deines Glaubens,« sagte Gregor mit finsterem Ausdruck; »gehe hin zu Deinen christlichen Brüdern, den prahlenden Beschützern unserer Freiheit und unserer Religion, den Männern, die von den Rechten des Volks in ihren Parlamenten reden und das Glück der Völker im Munde führen! Der Moslem nimmt offen seinen Raub und sagt: ich bin Dein Herr! Der Brite aber stiehlt Dir Dein Gut wie Dein Land, wenn es ihm gefällt und macht Dir noch weiß, es geschehe zu Deinem eigenen Besten. Dir ist die Tochter genommen, mir die Schwester. Ist die Odaliske des Türken, nach seinen Sitten und seinem Glauben sein Weib, nicht besser als die Metze des reichen Briten?«

[62] Er sprang empor; die Faust des Räubers preßte seinen Arm: »Was sprichst Du da?«

Gregor wiederholte das, was er am Mittag dem Freunde erzählt hatte. Der Bandit jauchzte hell auf: »Ei! steht es so! – Du würdest das Vöglein ausgeflogen finden, mein Sohn, wenn Jan, der Kameeltreiber, nicht zufällig dafür gesorgt hätte. Unten im Golf liegt eine Felucke vor Anker, die der Inglesi gemiethet hat, um mit seinem Täubchen morgen in der Frühe auf und davon zu fahren. Ich habe gute Spione in Bournabat und hatte dem Franken ohnedem heute Nacht einen Besuch zugedacht, um ihn etwas leichter zu machen. Jetzt wird die Sache ernster. Wenn wir Deine Schwester nicht heule ihm abnehmen, ist sie verloren für Dich. Die Felucke führt nach Tenedos, wo in der Troja-Bai 3 die Flotten ankern. – He, Mauro!« Er pfiff gellend, der Knabe sprang wie ein Pfeil herbei; Jan befahl ihm, die Gefährten zu rufen bis auf die äußerste Wache gegen die Stadt. »Wir dürfen erst nach Mitternacht aufbrechen und wollen unterdeß unsere Mahlzeit halten. Ehe der Morgen graut, Gregor Caraiskakis, sollst Du Deine Schwester hier sehen.«

»Das ist mein eigen Geschäft,« erklärte Gregor, »ich nehme dankbar Deine Hilfe an, aber ich werde Dich begleiten. Und Du, Freund,« er reichte Welland die Hand, »wirst uns gewiß nicht verlassen?«

»Gewiß nicht in einer gerechten Sache,« entgegnete dieser; »aber Eines beding' ich mir aus, um Ihrer eigenen Ehre willen, Gregor: kein unnützes Blut, keinen Mord! Sie versprechen mir das Leben des Briten – – hören Sie erst Ihre Schwester, dann entscheiden Sie und fordern Rechenschaft, wenn es nothwendig ist. Im Licht des Tages werde ich Ihnen als Freund zur Seite stehen, und so allein können Sie vielleicht die Ehre des Mädchens wiederherstellen. Ich liebe selbst die Nation des Verführers nicht, aber den Muth, dem Gegner sich zu stellen, wird ihr Feind selbst nicht läugnen.« Gregor gab das geforderte Versprechen, nach einigen Einwänden auch der Räuber. Während die wilden Gestalten seiner Gefährten von verschiedenen Seiten herbeikamen und Alle um das Feuer zur Mahlzeit lagerten, besprach man das Unternehmen[63] und Mauro brachte Waffen aus den in weiten unterirdischen Gewölben und Gängen der Ruinen befindlichen Verstecken der Bande für die beiden Freunde. – –


Die dunkle Nacht lag über dem prächtigen Golf, und Ruhe und Stille über der großen Stadt, als in der Nähe der Mühlen am diesseitigen Strande zwei Barken abschoben, in denen sich acht wohlbewaffnete Männer und ein Knabe befanden, und ihre Richtung nach Bournabat nahmen. Es waren der Räuber Jan Katarchi und seine Gefährten, Gregor Caraiskakis und Doctor Welland. Jan saß mit diesen in einem der Nachen zusammen, den zwei Mann ruderten, die andern drei mit dem Knaben fuhren voraus. Alle waren mit Pistolen und Handjar bewaffnet, Gregor und der Doctor hatten ihre Kopfbedeckung mit einem Fez vertauscht, an dem vorn ein Stück grünen Schleiers zur Verhüllung ihrer Gesichtszüge befestigt war. Jan hatte auf diese Vorsicht bestanden, um späteren Folgen durch ein Wiedererkennen vorzubeugen. In den Kähnen lagen Stricke und Hacken und eine schwere Eisenstange, um nöthigen Falls die Thür zu erbrechen.

Auf der Mitte des Wassers sahen sie die Felucke ankern, welche am Morgen Sir Maubridge und die schöne Griechin nach Tenedos tragen sollte. Jan gab ein leises Zeichen, in aller Stille vorbeizufahren; die Ruderer hoben die Riemen, um sich nicht durch die phosphorleuchtenden Striche einer etwaigen Wache zu verrathen, und die Boote trieben in einiger Entfernung am Schiff vorüber, bis sie weit genug waren, um durch den Ruderschlag nicht mehr gehört zu werden; dann griff man wieder eifrig zur Arbeit, und nach einer Viertelstunde war man an der Gartenmauer des Landhauses, das Gregor im Dunkel als dasjenige erkannte, an dem er am Morgen vorher nach der Schwester geforscht. Der Räuber hatte rasch seine Dispositionen getroffen. Welland und zwei der Banditen wurden im Wasserhof zurückgelassen, in dem die Kähne angeschlossen lagen, mit dem Auftrag, hier den Bewohnern den Rückzug abzuschneiden. Einen Andern postirte Jan auf den Weg nach Bournabat, da das Landhaus des Viceconsuls fast das Ende des Dorfes bildete; er selbst mit Gregor, dem Knaben und zwei seiner Leute übernahm es, durch den Haupteingang einzudringen.

[64] An dem Thor angekommen, hob der Räuber den Jungen, der seine Lust an der ihm gewährten Rolle durch fast affenartige Behendigkeit und Geschicklichkeit ausdrückte, auf seine Schultern und ließ ihn einen der am Strick befestigten Haken über die Mauer werfen und an jener vollends emporklimmen. Oben auf derselben änderte Mauro bloß die Lage des Hakens und ließ sich an dem Seil in den Hof hinab, um von Innen das Thor zu öffnen. Während dem hatte Jan seinen beiden Begleitern Fackeln gegeben, um selbe zum Anzünden bereit zu halten. Gregor faßte den Schaft der Pistole in seinem Gürtel und spannte den Hahn.

»Capitano,« flüsterte dee Knabe durch die Spalte, »die Thür ist verschlossen, ich kann sie nicht öffnen und höre das Schnarchen des Khawassen.«

»Pesta!« fluchte der Sciote, »das ändert unser Spiel und wird blutige Arbeit geben. Sieh, daß Du in's Haus gelangst, Mauro, durch eine der Jalousien. Du hast zwei Minuten Zeit; beim heiligen Prokopio, sei flink, mein Junge!«

Wenige Momente darauf setzte er das Brecheisen zwischen die Fugen des Thors und warf sich mit seiner riesigen Kraft darauf. Zugleich flammten die Pechfackeln der beiden Räuber empor.

Ein türkischer Anruf tönte von Innern.

»Bismillah! Wer ist dort? Was wollt Ihr?«

»Jan Katarchi!« heulte der Ruf des Räubers durch die Luft und alle Vier warfen sich mit aller Manneskraft gegen das brechende Thor. Zwei Schüsse knallten ihnen entgegen, von denen der eine den Mann neben Katarchi in die Schulter traf, daß er zu Boden taumelte. »Nach der Barke!« herrschte ihm der Führer zu, und die Fackel dem Verwundeten entreißend, schleuderte er sie mit gewaltigem Schwunge hinauf auf das platte Dach des Hauses und war mit einem kühnen Satz über die Trümmer des Thors mitten im Hof. Im nächsten Augenblick parirte seine große Pistole den scharfen Handjarhieb eines Khawassen und er drückte die Waffe nach dem Türken ab. Aber eingebogen von dem kräftigen Hieb sprang das Rohr bei dem Schuß und die eisernen Splitter stoben umher.

»Diona! Diona!« schrie Caraiskakis, und ohne des zweiten muthig den Zugang des Hofes vertheidigenden Khawassen zu achten, sprang er wie ein Panther über den Hof und versuchte die [65] Thür des Hauses einzustoßen. Eine Kugel, die im nächsten Augenblick durch seinen hohen Feß fuhr, belehre ihn, daß die Bewohner bereits wach und zur Vertheidigung bereit seien. Emporblickend bemerkte er ein männlich schönes, nur etwas starres Gesicht, das von hochblondem lockigem Haar umgeben, sich mit furchtlosem Ausdruck aus dem Fenster des ersten Stockwerks gerade über der Thür heraus bog, um die Wirkung des Schusses und die weiteren Vorgänge im Hofe zu erspähen. Ein weißer voller Arm schlang sich um den Hals des Engländers und zog ihn halb mit Gewalt in das Haus zurück.

Im Hofe schlug sich Katarchi mit den beiden Khawassen, sein Untergebener war Caraiskakis zu Hülfe geeilt und suchte mit diesem die Thür einzudrängen. Ein Ruf des Bandenführers, der die Augen überall hatte, mahnte Gregor, zur Seite zu blicken. Aus einem Nebenfenster des Erdgeschosses, nahe der bestürmten Thür, lehnte sich ein vierschrötiger Engländer in Seenmannstracht bequem heraus und suchte für seine Flinte im Anschlag den Kopf des Griechen zu fassen. Die Gefahr war dringend und fast unabwendbar. Aber im Augenblick, wo der Finger des Briten den Drücker berührte, schwankte das Gewehr und der Schuß fuhr zur Seite vorbei, der Engländer aber verlor das Gleichgewicht und an den Beinen in die Höhe gehoben, stürzte er schwerfällig aus dem Fenster auf das Marmorpflaster des Hofes. Mauro, der gewandte Schelm, war durch eines der Fenster in's Haus geklettert und zum glücklichen Augenblick erschienen. Im nächsten hatte er die Thür entriegelt und Caraiskakis, sein Gefährte und der Räuberchef, der sich des einen Khawassen durch einen schweren Hieb in die Schulter entledigt hatte, stürzten in das Haus. Zugleich eilte aus dem Oberstock Sir Maubridge, von zwei anderen Dienern und dem Hausaufseher gefolgt, die Stiege herab, denn oben auf dem flachen Dache leckten und schlugen bereits die Flammen empor, die Jan's geschleuderte Fackel an dem trockenen Holzwerk entzündet. In dem linken Arm des Briten, halb getragen von ihm, hing ein griechisches Weib in wallenden Nachtgewändern, das bleiche Gesicht umflattert von den fessellosen wallenden Locken. »Diona!« wiederholte Gregor und das bleiche Frauenbild zuckte zusammen bei den bekannten Tönen und streckte die Hände nach ihm aus, – aber wie von unwiderstehlicher Macht dahingerissen, klammerte sie sich von Neuem an den Geliebten und der flammende Stahl trennte die Geschwister, [66] denn kühn und gewandt schwang Maubridge den Säbel in seiner Rechten gegen die Herandrängenden, und die drei Diener wehrten mit allen Waffen, die in der Eile zur Hand waren, den Angriff ab und sicherten seinen Rückzug. Zwei Mal hob Gregor die Pistole und visirte nach dem Verführer, zwei Mal ließ er sie sinken, denn des Mädchens Brust deckte opfernd den Geliebten. So tobte, der Kampf von Zimmer zu Zimmer, bis der hintere Ausgang des Hauses erreicht war und unter der Hand der Diener aufflog. »Hundert Pfund, wenn Ihr fünf Minuten die Thür haltet!« bot der Brite und warf sich mit seiner schönen Beute in's Freie, während die drei Engländer wie grimmige Bulldoggen sich vor den Ausgang stellten und den Gegnern das Weiße im Auge boten. Ein Schuß durch den Kopf aus Gregors Pistole streckte den einen der Diener zu Boden, dem Hauswart traf ein Messerstich des Buben Mauro in die Weichen, und während der dritte Gegner dem Räuberchef einen gewaltigen Boxerstreich versetzte, der diesen fast zu Boden warf, tönte draußen bereits der Ruf des Triumph's; Welland trug das ohnmächtige Mädchen auf seinen Armen hinab zum Ufer, indeß seine beiden Gefährten den zu Boden geworfenen Baronet mit Stricken zusammenschnürten. Hoch auf schlug die Flamme aus dem Landhause in den blauen Nachthimmel und beleuchtete die blutige Scene. Da eilte vollen Laufs der Bandit herbei, den Jan auf Posten gegen das Dorf gestellt hatte und verkündete das Nahen von Leuten. Im Nu waren Alle an den Booten versammelt, – drei der Männer schwer verwundet, auch Jan blutete aus einem Schulterhieb, – die Boote flott gemacht und besetzt, – in der nächsten Minute stießen sie vom Ufer und flogen in das bergende Dunkel, während hinter ihnen drein noch ein Schuß des entflohenen Khawassen knallte und die jeden Moment sich mehrenden Gestalten am Ufer hin und her eilten. Welland hatte das noch immer von Ohnmacht befangene Mädchen dem Freunde auf den Schooß gelegt und arbeitete rüstig mit zwei Rudern. In der Spitze des Kahns stand Jan, um die Bewegungen zu lenken, damit sie nicht zu nahe der Felucke kommen möchten. In der That war hier Alles wach geworden von dem wiederholten Schießen und dem Brande, der mächtige Rauchwolken in die Morgenluft emporqualmte. Man rief sie an, aber der Räuber antwortete gewandt, daß sie vor dem Angriff flüchteten und bald waren sie außer Schußweite. Im Hauch der frischen Seeluft [67] kam Diona wieder zur Besinnung. Zuerst fuhr sie empor und blickte wild um sich, wie den schützenden Freund suchend, – dann, indem sie den Bruder erkannte, warf sie sich in seinen Schooß und weinte heftig. In der Nähe des Ufers trennten sich die Kähne, und während der Banditenchef das Geschwisterpaar weiter hinauf nach seinen Verstecken führte, landete der Knabe den Arzt in der Nähe der Frankenstadt und geleitete ihn durch die noch einsamen Straßen bis zum Eingange seines Hauses. Am nächsten Abend versprach er ihn zu dem Freunde zurückzuführen.


In Smyrna selbst war der Abend und ein Theil der Nacht zwar ruhig und stürmisch, aber doch ohne Gewalthat der Flüchtlinge vergangen. Der Tiger hatte noch nicht Blut geleckt. Eine Deputation an Herrn von Wexbecker, den österreichischen Consul, war von diesem, der – nachdem die Sache einmal verfehlt angegriffen war – sich männlich und consequent benahm, abgewiesen worden. Die Flüchtlinge und der zahllose Janhagel von Smyrna, der sich ihnen angeschlossen, tobten durch die Frankenstadt, drohten das österreichische Consulat zu stürmen, warfen einige Fenster ein und ließen es bei den Drohungen. Noch bis tief in die Nacht wogte die Bevöllkerung auf und ab durch die Straßen. Bei der Alltäglichkeit von Feuersbrünsten in den großen türkischen Städten, wo die Regierung selbst oft ganze Quartiere abbrennen lässt, um die Bewohner zum zweckmäßigeren Neubau zu zwingen, war der Brand jenseits des Golfs zwar bemerkt worden, aber Niemand achtete darauf, noch weniger fiel es Jemand ein, Hülfe dahin zu bringen.

Am nächsten Morgen – Welland hatte von der Erregung der Nacht bis in den Vormittag hinein geschlafen, – begab er sich sofort zum amerikanischen Consul und reclamirte der erhaltenen Weisung gemäß Costa als amerikanischen Schutzangehörigen auf Grund eines Passes, den der Ungar von den Vereinigten Staaten erhalten haben sollte. Zu seiner Verwunderung fand der Arzt den Consul sofort bereit, auf das Verlangen einzugehen. Es schien, als ob er bereits darauf vorbereitet gewesen und er theilte ihm mit, daß am Morgen eine amerikanische Corvette von Constantinopel angekommen sei und im Hafen Anker geworfen habe, ein glücklicher Zufall, der ihrer Forderung den nöthigen Nachdruck [68] geben mußte. Eine Stunde darauf trat, durch einen Boten herbeigerufen, der Capitain der Corvette in Begleitung eines seiner Offiziere bei dem Consul ein und begab sich mit demselben zu Herrn von Wexbecker, um die Reclamation einzulegen. Der österreichische General-Consul empfing sie zuvorkommend, und obgleich er die Begründung der Ansprüche bezweifelte, erklärte er sich bereit, die Amerikaner an Bord des »Hussar« zu begleiten, um durch eine eigene Unterredung mit Costa ihnen genauere Information zu verschaffen. Welland erwartete in aufregender Spannung im Consulats-Gebäude ihre Rückkehr, und als er endlich das Boot von der Brigg wieder abstoßen, zur Corvette rudern und dann zum Lande zurückkehren sah, eilte er ihm auf die Marina entgegen. Der amerikanische Consul brachte jedoch schlechte Nachrichten. Costa hatte trotzig sich als Ungar erklärt und zwar angeführt, daß er sich einige Zeit in Amerika aufgehalten und von dort nach Smyrna gekommen sei, aber über seine Schutzangehörigkeit oder das Vorhandensein eines Passes keine, einigermaßen zum weiteren Einschreiten berechtigende Angaben machen können. Unter diesen Umständen hatten die Amerikaner von der Reclamation Abstand nehmen und den Ungar seinem Schicksale überlassen müssen, das er übrigens mit ungebeugtem Sinne trug. – Welland war sehr bestürzt über die Nachricht, der Consul jedoch führte ihn bei Seite und versicherte ihm, daß in der Angelegenheit noch Nichts verloren sei, da Herr von Wexbecker sich weiter bereit erklärt hatte, vor der Abführung Costa's mit dem nächsten Lloyddampfer nach Triest erst die weitere Entscheidung der beiden Gesandtschaften in Constantinopel abwarten zu wollen, an die sofort die nöthigen Berichte gesendet werden sollten. Der amerikanische Capitain war bereits angewiesen, sich jeder früheren Wegführung des Gefangenen nöthigenfalls mit Gewalt zu widersetzen. Für das Weitere, meinte mit schlauem Lächeln der Amerikaner, werde man schon in Constantinopel sorgen. Beruhigt schied Welland von ihm und wandte sich wieder zu Marina, um den Fremden Costa's diese tröstliche Nachricht mitzutheilen, denn rasch hatte sich die Kunde von der verweigerten Auslieferung in der Stadt verbreitetet. Eine Zeitung zur Hand nehmend, setzte er sich am Eingang des englischen Café's (Café Paulo) nieder.

Es war der Abend des 23. Juni. Das Belvedere des Caffeehauases begann sich nach und nach mit Fremden und Einheimischen zu füllen. Bald darauf traten Arm in Arm zwei junge Offiziere [69] von der österreichischen Brigg auf den offenen Raum, ließen sich an dem zweiten Tisch von Welland nieder und forderten Eis und Limonade. Es waren der Schiffslieutenantvon Auerhaummer und der Marine-Aspirant Baron von Hackelberg, der einzige Sohn des Feldmarschall dieses Namens. In dem Zweiten erkannte Welland den Offizier, welcher am Morgen seiner Ankunft zum Egytto gekommen und das Boot der Italiener zurückgewiesen hatte. – Die beiden jungen Leute, keck die allgemeine Mißstimmung herausfordernd, lachten und scherzten ziemlich laut und hatten, wie man später erfuhr, schon während des ganzen Morgens sich unachtsam durch die Straßen Smyrna's umhergetrieben. Viele Blicke ruhten mißbilligend oder ängstlich auf ihnen, dennoch ahnte Niemand die schreckliche Katastrophe, die folgen sollte.

Auch Welland hatte mit einer gewissen Unbehaglichkeit und Besorgniß die kecke Haltung der beiden hübschen jungen Männer bemerkt, und dies um so mehr, als kurz nach ihrem Erscheinen sein Wiener Reisegefährte sich für einige Augenblicke einfand, heimlich mit den beiden Offizieren sprach und einzelne auf ihn fallende Blicke zeigten, daß von ihm die Rede sei. Er wollte, um dem widrigen Eindruck zu entgehen, sich eben entfernen, als mit Lärmen und Geräusch, offenbar sehr erregt, eine neue Gesellschaft den Platz betrat und am Tische neben Welland, gegenüber dem der Offiziere, Platz nahm. Es warenFumagalli, der Ungar Bassitsch, dessen Hand fortwährend in der Brusttasche spielte, Lepicq, ein französischer Fechtmeister, zwei andere lombardische Flüchtlinge, Budoli und Cugini, und der Pole Sczukowski. Aller Blicke hafteten sogleich auf den beiden Oesterreichern und Fumagalli gellte ein wildes Lachen auf, indem er Bassisch auf die Schulter schlug und offen auf den Baron wies. »Per bacco amico, da haben wir unser Vöglein von vorgestern! Jetzt kann ich Revange nehmen!« – Die Offiziere hatten Besonnenheit genug, die offenbare Beleidigung nicht zu bemerken, und unterhielten sich leise, während die Angekommenen ringsum die Stühle besetzen, so daß kein Ausgang offen blieb, und Welland rasch zu dem in der Nähe befindlichen Wirth des Café's, Signor Paulo, trat und ihm einige Worte zuflüsterte.

»Bassa manelka!« fluchte Bassitsch. »Grogk hierher! Rasch!«

Der Arzt aber nahete sich der Gesellschaft und suchte durch [70] ein geschicktes Manöver die Mitte zwischen den beiden Tischen zu decken.

»Zum Teufel, Doctor,« schnob der ersichtlich schon angetrunkene Ungar, »gehen Sie mir da aus dem Wege, Sie geniren mich im Anblick der verfluchten Röcke, die wir an der Theiß und Donau manch liebes Mal geklopft haben. Ein Kossuth! und der Teufel hole die deutschen Tyrannenknechte!«

Der Wirth, der das Verlangte gebracht, war am Tische der beiden Marine-Offiziere vorübergegangen, und sich dort ein Geschäft machend, flüsterte er ihnen zu:

»Meine Herren, ich rathe Ihnen dringend, sich zu entfernen, es ist hier nicht geheuer für Sie und ich stehe für Nichts.«

Eine kurze und leise Berathung zwischen den jungen Leuten folgte, dann standen Beide rasch auf und versuchten fortzugehen. Welland hatte in diesem Augenblicke ihnen den Rücken zugekehrt und war bemüht, Bassitsch, der ihm der Gefährlichste schien, zu beschäftigen. Er gewahrte deshalb nicht, wie das schwarze Auge des Italieners Fumagalli jeder Bewegung des Aspiranten folgte, gleich dem Blick der Schlange, mit dem sie die ängstlichen Windungen ihres Opfers belauert. Fumagalli hielt den Fuß weit vorgestreckt, so daß er damit den Ausgang zwischen den Stühlen versperrte. Der Baron von Hackelberg war voran; obschon er die offenbare Herausforderung des Lombarden erkannte, hatte er Geistesgegenwart genug, seine Ruhe zu bewahren, faßte mit der Linken an die Mütze und sagte höflich:

»Signor, erlauben Sie, daß wir passiren!«

»Zur Hölle!« gellte die Stimme des Lombarden, der wie ein Raubthier emporsprang und sich auf den Offizier warf. Einen hellen schlanken Blitz sahen die Umsitzenden zucken und sich zwei Mal in die linke Brust des jungen Mannes vergraben, daß die Mordfaust gegen die Uniform stieß. Der Baron taumelte, wie von dem Stoß außer Haltung gebracht, zurück an das Geländer, dann faßte er es mit beiden Händen, stieß einen einzigen lauten, kreischenden Schrei aus und schwang sich mit krampfhaftem Sprung hinüber in's Wasser, das ihn spurlos verschlang. Zugleich waren die umsitzenden Flüchtlinge, wie als hätten sie auf dies Mordsignal gewartet, aufgesprungen und stürzten sich mit ihren schweren Stöcken und Dolchen aus den Lieutenant von Auerhammer, ehe dieser noch im Stande war, sein Seitengewehr zu ziehen. Mehrere Hiebe [71] über den Kopf warfen ihn zu Boden, drei Dolchstöße verwundeten ihn, zum Glück nur leicht. Wie ein Rasender rang Bassitsch mit dem deutschen Arzt, der im Innersten empört um Hülfe gegen die Mörder rief. Zu zweien Malen rang der Ungar die Rechte los und schoß jedes Mal ein Pistol gegen den schon am Boden liegenden Offizier ab, zu dessen Beistand jetzt einige Caffeegäste herbei geeilt waren, die mit erhobenen Stühlen und was zur Hand war, die wüthenden Mörder zurücktrieben. Aber die Bemühungen Welland's machten den Schuß unsicher, und nur die zweite Kugel streifte leicht den Verwundeten.

»Zum Teufel mit Euch!« tobte Bassitsch; »Ihr seid auch ein deutscher Verräther, der unsre Feinde schützt!«

»Seid Ihr toll, Signor Dottore?« knirschte Fumagalli und riß den Arzt zurück. »Wer ein Freund der Freiheit ist, steht zu uns, nicht zu Jenen!«

Welland stieß ihn von sich. »Meuchelmörder! Wenn das Euer Kampf für die Freiheit ist, wünschte ich Euch nie gesehen zu haben. Fliehet, da es noch Zelt ist!«

In der That drängte eine immer größere Menge herbei; die blutige That hatte das bessere Gefühl des Publikums wach gerufen und Drohungen gegen die Mörder ließen sich hören. Vor der Ueberzahl zogen sich diese zurück, und die blutigen Waffen schwingend, jubelnd über die gräßliche That, zerstreuten sich auf der Marina, während Welland und zwei Smyrnaer Kaufleute den Verwundeten rasch in eine Barke trugen und hinaus in's Meer rudern ließen, um ihn so vor einem neuen Angriff zu retten. Hier auf der See verband der Arzt die Wunden des Offiziers und brachte ihn aus der Ohnmacht zum Leben zurück. Dankbar drückte der junge Mann ihm die Hand und wurde dann von den Kaufleuten zugleich mit der Kunde des Mordes nach dem Schiffe gebracht, indeß Welland in einem anderen Nachen nach dem Ufer zurückkehrte. Dort hatten unterdeß die Nachsuchungen nach der Leiche des jungen Barons von Hackelberg begonnen. Der österreichische General-Consul mit den Khawassen des Consulats und der gesamten bewaffneten Dienerschaft war herbeigeeilt, bald darauf traf ein Boot mit Marinesoldaten vom »Hussar« ein und die Nachforschungen nach dem Unglücklichen dauerten bis spät in die Nacht, aber erfolglos. Erst am anderen Mittag gelang es, seine Leiche zu finden. Sie lag genau auf demselben Fleck auf dem [72] Meeresgründe, an welchem er sich im Todeskampfe in's Wasser geworfen, mit den Händen fest an die Steine des Grundes geklammert. Der zweite Stich des Mörders hatte das Herz durchschnitten.

Zwei Tage darauf wurde die Leiche beerdigt; die Mannschaft der Brigg und das Personal des österreichischen General-Consulats folgten. Von den anderen Consuln, denen allen Anzeige und Einladung zugegangen war, hatten nur der sardinische und der preußische, letzterer aus einer jüdischen Familie stammend und in den Jahren 1849 und 50 ein gewandter Agent des Minister-Präsidenten, Muth und Ehre genug, zu folgen.

Am Abend des Mordes und während der nächsten Tage durchzogen die Banden der Flüchtlinge triumphirend und herausfordernd die Straßen in der Nähe des österreichischen Consulats und drohten, dieses zu stürmen, so daß ein Commando der Marinemannschaft darin Posten nehmen mußte.

Als Welland, an's Ufer zurückgekehrt, nach der nahen Behausung eilte, fand er dort bereits den Knaben Mauro seiner harren, und eilig trat er mit ihm den Weg zu dem Freunde nach dem Versteck des Räubers an. Er begann zu begreifen, daß auf diesem Boden und in diesem Kampf der entfesselten Leidenschaften das Leben des Einzelnen ein werthloses, kaum beachtetes Ding sei, das nicht das Gesetz, sondern die eigene Kraft schützen müsse. Unter banger Besorgniß, auch dort, wohin er ging, Schlimmes zu finden, nahete er durch die Cypressen der Friedhöfe den mächtigen, aus den Schatten des Abends sich erhebenden Ruinen.

Fußnoten

1 Besika-Bai.

2 Der türkische Gouverneur einer Stadt.

3 Die Landwehr.

Die Doppelgänger
[73] Die Doppelgänger.

In den glänzenden Salons der Fürsten Lieven, dieses weiblichen Talleyrand's der letzten Jahre, in der Straße Saint Florentin 2, bewegte sich die glänzende Versammlung in jener ungenirten Weise, der höchsten Circles von Paris. Es war der Abend allgemeinen Empfangs, und was die Weltstadt an Notabilitäten der Administration und Diplomatie, der Kunst, der Wissenschaft und der Börse, so wie von Fremden bot, begegnete sich auf diesen Parkets mit den Lions und Lionnes der Mode. Die Salons der Fürstin hatten in dieser Zeit ihre wichtige politische Bedeutung; denn alle Parteien fühlten sich hier gewissermaßen auf neutralem Felde, und bei der immer ernster sich gestaltenden Spannung zwischen den Höfen von Frankreich, England und Rußland bot sich hier eine Gelegenheit zu Besprechungen und Verhandlungen, die weniger für den offiziellen diplomatischen Verkehr geeignet, doch oft tief einschneidend und von weithin tragender Wichtigkeit waren. Die Fürstin, ganz geschaffen für die politische Intrigue, wußte mit dem ihr eigenen Tact die feindlichen Parteien zu beschäftigen und aus all' dem bunten und wechselnden Verkehr ihre Vortheile zu ziehen.

Jeder Fremde von durch Geburt, Rang, Reichthum oder Ruf ausgezeichneter Lebensstellung, der zu jener Zeit in Paris war, weiß, daß zugleich diese Soireen die reichhaltigsten und angenehmsten an geselligen Vergnügungen waren, die man finden konnte, und daß neben der politischen Intrigue hier manches geheimnißvolle und interessante Band der Herzen sich knüpfte, manches Rendezvous hinter dem Rücken des im Nebenzimmer verkehrenden Gatten oder der wachsamen Familie gegeben wurde. Bei den in dieser Beziehung [74] ohnehin laxen Sitten und Begriffen der pariser Gesellschaft, die nur auf gewisse äußere Gesetze der Schicklichkeit basirt ist, sind die Versammlungen der vornehmen Kreise oft der Kuppler für Verbindungen und Speculationen jeder Art.

In einem mit grünem Damast ausgeschlagenen, nur durch die erhobene Portiere von diesem getrennten Nebencabinet des großen Salons, in dem getanzt wurde, saßen auf einer üppigen Causeuse zwei Männer. Der Eine von ihnen, einige Jahre älter als der Andere und etwa sechs- bis achtundzwanzig zählend, trug die prächtig-phantasische Uniform eines Capitains der Garde-Zuaven, jenes Elitecorps aus den gewandtesten und verwegensten Kriegern Algeriens. Sein Gesicht war das männlich-schöne, muthige eines ächten französischen Soldaten mit Zügen, die jene Aristokratie der Geburt zeigen, welche Namen und Wappen nur bestätigen, nicht verleihen können. Auf der breiten Brust mit der silbergestickten blauen Jade prangte das Ritterkreuz der Ehrenlegion, von dem Janin unter Louis Philipp einst schrieb: Il est une honte, de l'avoir et de ne l'avoir, das seitdem aber wieder neue Würde gewonnen. Neben ihm, mit dem Lorgnon vor dem Auge, saß einer jener hocharistokratischen Flaneurs in den Modecirkeln von Paris, denen ihr vornehmer Name und ihre elegante Toilette trotz ihrer ruinirten Verhältnisse überall Eintritt verschafft, ja die mit einer scharfen und witzigen Zunge begabt, als Chronik des Tages überall willkommen oder gefürchtet sind. Am Spieltisch eben so zu Hause wie im Boudoir der Damen, an der Tafel des Ministers wie in den galanten Soireen der demi monde leben diese Männer ein rechenschaftsloses Leben des Genusses, das entweder an einem Degenstich im Gehölz von Boulogne oder an einer Pistolenkugel endet, die falsche Wechsel und den Arrestbrief des Gläubigers quittirt. Zuweilen auch, denn mit dem alten Namen voll legitimistischer Bedeutung verbindet sich oft Talent, Geist und Herz, reißt ein unerwarteter Schlag sie aus diesem Leben luxuriösen Müßigganges und wirft sie in eine Bahn, wo alle Eigenschaften des glänzenden französischen Geistes sich ehrenvoll entwickeln.

Alfred de Sazé, einer der Modekönige des Tages, gehörte zu den Leuten, denen es nicht an diesen höheren und besseren Eigenschaften fehlte, die aber nur wie Lichtblicke auftauschen aus dem tödtenden Firniß seiner modernen Erziehung.

Am anderen Ende der Causeuse, auf einen Sessel gestützt, [75] lehnte ein noch sehr junger Mann in russischer Uniform, dessen eigenthümlicher, wunderschön geformter Kopf sofort auffiel, während sein Auge unruhig und zerstreut umherschweifte und er nur hin und wieder auf die pikanten Plaudereien seines Nachbars zu hören schien. Braunes Haar in wirren Locken umgab ein Gesicht, das in kühnem Oval vorspringend eine überaus schöne leichte Beugung der Nase zeigte, während dunkle hochgezogene Brauen das glänzende Auge einrahmten. Die eigenthümlichste Schönheit dieses Gesichts bildeten jedoch Mund und Kinn, der erstere, von einer halb aufgeworfenen Oberlippe bedeckt, die in ihrer Mitte das glänzende Weiß der Zähne durchschimmern ließ; das Kinn, von kräftiger runder Contour und von jenem seltenen und stets einen energischen unbeugsamen Charakter voll mächtiger Gefühle oder Leidenschaften verrathenden Schnitt, welcher nicht im scharfen Winkel gegen den Hals zurücktritt, sondern bei dem die Linie des Halses am Vorderkinn selbst ihren Anfang zu nehmen scheint und gleichsam gewölbt nach der Brust zu sich herabsenkt. Das Gesicht, von jenem durchsichtig rothen Teint gefärbt, den man Blutteint zu nennen pflegt und der z.B. in jüngeren Jahren das ähnliche Antlitz der Königin Victoria auszeichnete, war zu auffallend, um je wieder vergessen zu werden, und hatte bei dem Mangel jeden Bartes zugleich ein Aussehen, das den Beschauer an stolze Frauenschönheit erinnerte.

»Sie sind aber auch der unaufmerksamste Zuhörer, den man sich denken kann, Fürst,« sagte lachend der Lion zu dem eben beschriebenen jungen Mann. »Seit einer halben Stunde bin ich bemüht, mit einem Pinsel, der dreist mit Hogart oder Cruickshank wetteifern kann, Ihnen die Silhouetten der werthen Gäste Ihrer noch wertheren Frau Tante zu geben. Was ich Ihnen da erzähle, würde das Glück eines Memoirenschreibers machen und von unseren Feuilletonisten verschlungen werden, aber Sie sind und bleiben zerstreut und scheinen selbst den Vicomte angesteckt zu haben. Er betrachtet Sie mit Blicken, als wären Sie die Fürstin, Ihre schöne Schwester, der er bekanntlich stark den Hof und die sich eben, wie ich sehe, von Oberst Wassilkowitsch zum Contretanz führen läßt.«

Er unterbrach sich lachend und sah die beiden Nachbarn neckend an.

»Ah, meine Herren, hab' ich endlich den rechten Punkt getroffen? – Sie sind ja Beide ganz roth und erregt. Wäre es [76] wahr, Fürst, daß Sie eifersüchtig sind auf Ihre Schwester wie ein Türke? und Sie, Mèricourt, kann dies starre lauernde Gesicht, das ich,valga me Dios! wahrhaftig auch nicht liebe, einen berühmten Krieger, wie Sie, so leicht in Harnisch bringen?«

Der Capitain legte ihm die Hand auf den Arm.

»Keine Scherze, de Sazé,« sagte er ernst, »der Gegenstand ist zu hoch dazu.«

»Bon! So wende ich mich zu einem geeigneteren Bilde. Sehen Sie, Fürst, dort jene lange hagere Gestalt mit der hohen fabelhaft weißen Cravatte? Daß es Einer unserer neuen Herzensalliirten ist, ein Exemplar, das uns Azincourt und Waterloo, Malplaquet und St. Helena vergessen machen soll, brauche ich nicht erst zu sagen. Man wittert den reisenden Briten auf hundert Schritt. Der Mann – Lord Scherkliffe, Parlamentsmitglied und Besitzer einiger solider Grafschaften – macht jetzt Aufsehen in unserer guten Stadt Paris, und wenn er das glattrasirte Kinn in die Loge der italienischen Oper steckt, wenden alle Damen die Gläser nach ihm. Wissen Sie, warum? Er ist ein Othello ganz neuer Art. Lord Scherkliffe ist einer der ersten Gemäldekenner unserer Zeit und beschäftigte vor etwa fünf Jahren einen jungen Maler in Rom, einen Italiener, der bereits durch seine Bilder auf allen Ausstellungen einen bedeutenden Namen erworben hatte. Der gute Lord besaß neben seinen Millionen eine blonde Lady, der aber der römische Künstler besser gefiel, als der langweilige Bildernarr, ihr Gemahl. Erst nach mehreren Monaten überzeugte sich dieser, daß er auch hier den Narren gespielt, empfahl sich höflich seinem Protegé, dem Maler, und reiste mit der verliebten Dame nach Hause, wo er sie manierlich ihren Eltern ablieferte, nachdem er ihr die in Rom gemachte Entdeckung mitgetheilt. Dann ging er auf Reisen und besuchte Deutschland, Rußland, Italien, und sammelte überall zu enormen Preisen Gemälde. Mit einem ganzen Wagen voll kam er nach Rom, besuchte seinen alten Freund und kaufte alten Freund und kaufte ihm die neuesten Werke seines Pinsels ab. Kaum war er im Besitz derselben, so verlangte er Genugthuung für seine Hahnreischaft und forderte den Erstaunten auf Pistolen. Man schlug sich, und mit dem ersten Schuß lähmte der Engländer dem Künstler den linken Arm. Nach einem halben Jahre kam er wieder und bestand auf einem zweiten Duell. Der Künstler mußte sich fügen und die Kugel des beleidigten Eheherrn traf sein rechtes Handgelenk, so [77] daß die Hand amputirt werden mußte. Als die Kur glücklich vorüber war, erschien der Lord am Krankenbett seines Feindes und sagte ihm gelassen: ›Ich habe jetzt meine Rache befriedigt. Sie sind als Künstler zu einem lebendigen Tode verdammt.‹ – ›Sie irren sich,‹ entgegnete der Unglückliche; ›meine Werke werden Ihre Bosheit überleben. Der Ruhm meiner Madonna in Paris, meiner Auferstehung in der Gallerie von Petersburg und zahlreicher anderer Werke vermögen Sie nicht zu vernichten. Ich kann nicht mehr malen, aber meine Bilder werden meinen Namen lebendig erhalten.‹ – Der Lord zeigte ihm ein Papier. ›Ist diese Liste Ihrer Bilder vollständig?‹ – Mit Staunen bejahte der Künstler. – ›So bin ich im Besitz aller Ihrer Werke, selbst die Skizzen habe ich nicht vergessen. Es hat mit viel Mühe gemacht und viel Geld gekostet, aber ich habe meinen Zweck erreicht. Wollen Sie mich nach Hause begleiten, um sich zu überzeugen? mein Wagen wartet.‹ – Der Unglückliche begriff und bat um Gnade. – ›Sie haben meinen ehelichen Frieden gestört, ich vernichte den Ihren,‹ sagte Scherkliffe eisig. ›Sie sollen das Gefühl mit sich umherschleppen, daß keine Spur Ihres Namens und Ihres Talents auf der Welt zurückbleibt.‹ – Nach einer Stunde brachte ein Diener dem Verstümmelten eine große Urne voll Asche, – sie enthielt Alles, was von seinen Werken auf der Welt übrig war.«

»Das ist teuflisch!« rief der Capitain.

»Ein Mann, der zu hassen und zu lieben versteht!« versetzte der junge Russe.

»Halt, mein Fürst!« plauderte Sazé weiter, »das verstehen wir wahrhaftig auch, nur auf andere Weise. Sehen Sie dort Marschall St. Arnaud? Die Fama bezeichnet ihn bereits als Commandeuer en chef, wenn Ihre Maje Majestät unsern kleinen Neffen des großen Onkels im Invalidendom zum Aeußersten zwingt. Der liebe Marschall scheint eine neue Intrigue des Prinzen zu wittern, der gern für seine Reputation einige nothwendige erste Lorbeeren pflücken möchte, und hofft ihr hier auf die Spur zu kommen. Wissen Sie, daß dieser unser lieber General vor kaum Jahresfrist seinem Busenfreund den Säbel durch den gestoßen hat, bloß weil dieser ihn bei Madame, seiner Frau, in zarter Situation getrossen und aus dem Hause geworfen hatte?«

Méricourt lachte.

»Sie sind die boshafteste Zunge, die mir noch vorgekommen [78] Sazé,« sagte er. »Ich darf die Ehre der Armee durch Sie nicht so gefährden lassen.«

»Eh bien, mein lieber Vicomte, ich bin nicht schwierig. Gehen wir von der Armee zur Diplomatie über. Unser getreuer Verehrer der Rachel ist freilich nicht hier und intriguirt jenseits des Kanals, aber ich kann Ihnen Ersatz geben. Sehen Sie da den Herrn der eben mit Persigny spricht, Oberst Fleury geht gerade an ihm vorüber. Nun wohl! Der liebe Graf hat kürzlich sein diplomatische Probestück abgelegt und wird sicher Carriére machen. Sie kennen Madame Fontaille, unsere allerliebste Soubrette? Nicht? Auch gut; sie ist die Schönheit des Tages und unsere Börsenkönige ruiniren sich um sie. Der Graf ließ sich ihr im Zwischenakt der großen Oper vorstellen und bat um Erlaubniß, am nächsten Abend eine Tasse Thee bei ihr tête à tête trinken zu dürfen. Madame antwortete ungenirt: ›Ich nehme zu einer Tasse Thee ein Pfund Zucker, aber von dem, der zehntausend Francs das Pfund kostet. So theuren Zucker möchte ich Ihnen freilich nicht umsonst geben und mir doch auch nicht von Ihnen bezahlen lassen. Mir fällt ein Ausweg bei! Bringen Sie die zehntausend Francs in Banknoten mit und wir werden mit diesen die Flamme unter dem Theekessel heizen. Dann beweisen wir Beide gleiche Uneigennützigkeit.‹ – Der angehende Diplomat findet im Augenblick keinen passenden Rückzug und sagt zu, erzählt aber die Sache einigen Freunden, die diesen Thee allzu gezuckert finden. Ich selbst sagte ihm: Madame die zehntausend Francs geben, es ist theuer, aber es passirt! Sie verbrennen, das wäre Tollheit! Sie richten damit Ihre Carrière zu Grunde, denn kein Minister des Aeußern wird einen Narren zu Ambassadeur machen! – Am anderen Abend begab sich der liebe Graf, mit dem Päckchen wohlgezählter Banknoten richtig zu der Schauspielerin. Man plaudert und erwartet den Thee. ›Sie bestehen also auf dem Autodafée?‹ – ›Gewiß und hier sind die Bankbillets.‹ – Der Graf übergiebt ihr zehn ächte Billets zu tausend Francs. Madame griff fieberhaft danach. ›Nicht wahr, es ist doch schade darum?‹ – ›Ei, so verbrennen Sie sie nicht.‹ – ›Nein, es ist ausgemach, wir bleiben bei unserem Progamm!‹ und sie legt das Päckchen auf einen Tisch, der mit hunderterlei Nippsachen bedeckt ist. Der künftige Vertreter des Kaiserreichs spielt plaudernd mit diesen Kleinigkeiten, nimmt Eines und das Andere in die Hand und im Augenblick als [79] man den Thee bringt, ist die Escamotage, oder Prestidigitaton wie Houdin sagt, geschickt ausgeführt. Die Flamme des Weingeistes leckt mit ihrer blauen Zunge nach dem versprochenen Opfer; Madame ist äußerst erregt und lebendig, tanzt von einem Ort zum andern, erfaßt endlich das Päckchen, schwingt sich im Kreis umher und im Hui – wirft sie ein anderes in die Flamme, die sogleich die leichten Blätter verzehrt; das Pseudopäckchen aber ist geschickt in einer vorsichtig zwischen Blumen zurechtgestellten Vase verschwunden. – Kaum hört sie nach Mitternacht den Wagen des Glücklichen fortrollen, so eilt zu dem Versteckt, das die geretteten zehntausend Francs bergen soll und zieht hervor – ein Päckchen jener den Banknoten so zierlich nachgeahmten Adreßkarten! – Es heißt, die Dame habe bittere Rache geschworen, Monsieur le Comte aber ist, wie Sie sehen, auf dem besten Wege.«

Méricourt und Fürst Iwan lachten.

»Der Graf ist kein Gentleman,« sagte der Letztere. »Man täuscht ein Weib nicht um solche Bagatelle.«

»Pah! Bagatelle!« entgegnete lustig Sazé. »Das man Fürst Oczakoff sagen, der seine Silber-und Goldminen im Ural besitzt und auf seinen Steppenländern die Bauern nach Tausenden zählt, aber nicht wir Franzosen, die höchstens im Börsenspiel noch Millionaire werden können. Doch da ist die Quadrille zu Ende, lassen Sie näher treten.«

Die drei jungen Männer erhoben sich und traten an den Eingangbogen zum Salon, durch den eben eine Dame am Arm ihres Tänzers hereinrauschte. Es war die Fürstin, Iwanowna Oczakoff, die Zwillingsschwester des vorhin Beschriebenen. Das Spiel der Natur hatte eine wahrhaft fabelhafte Aehnlichkeit zwischen beiden Geschwistern erzeugt. Nicht nur Wuchs und Gesicht, selbst Stimme und Minenspiel waren an den beiden zusammen erzogenen schönen Erscheinungen ganz dasselbe ja, man versicherte, daß diese Aehnlichkeit sich auf die kleinsten Details des Lebens, bis auf die Handschrift ausdehnte. Nur ein zarterer Alt-Accord unterschied die Stimme, das lange, üppige Lockenhaar, auf dem ein goldgestickter smyrniotischer Fez schwebte, den Kopf der jungen Fürstin von dem ihres Bruders. In den Augen der Dame lag der ganze that- und willenskräftige und dennoch hingebende Charakter ihres Bruders. Eine köstliche Robe von grünem Moirée hob die volle [80] Gestalt der nordischen Schönheit, die seit vier Monaten die junge Aristokratie von Paris zu ihren Füßen sah.

Es war in der That wohlthuend in dieser kalten pikanten Modewelt, in diesem Wogen herzloser Berechnung, politischer Intrigue und ehrgeiziger Gedanken, die aufrichtige Liebe und Herzlichkeit zu sehen, mit welcher das junge Mädchen den Arm ihres Begleiters verließ und auf den geliebten Bruder zueilte.

»Warum nicht beim Tanz, Iwan?« fragte sie zärtlich. »Sie machen sich eines Vergehens schuldig, meine Herren, indem Sie meinen Bruder von einem Vergnügen abhalten, das er sonst leidenschaftlich liebte. Aber freilich, seit einiger Zeit scheint er für alles Vergnügen ganz verloren, und ich weiß wirklich nicht, ob die hohe Politik oder welcher Dämon sonst ihn mir ganz verwandelt hat.«

»Apoll und Diana müssen doch durch Etwas unterschieden sein, gnädigste Fürstin,« sagte Sazé galant; »aber Sie haben Recht, auch mir ist heute seine Zerstreutheit aufgefallen. Wenn man die Königin der Schönheit als Schwester besitzt, so hat man nicht das Recht, sich selbst und seinen Launen anzugehören.«

»Marquis, Sie sind und bleiben der unnütze Schwätzer. Aber meine schwesterliche Liebe scheint Sie Alle in einer interessanten Unterhaltung gestört zu haben, denn auch der Herr Capitain spielt den Ernsten und ist nicht einmal so galant, mich an das Versprechen zu erinnern, das ich ihm gegeben.«

Der Offizier blickte sie an, ein rascher verstohlener Wink des Arges bedeutete ihn und er entgegnete mit einer Verbeugung:

»Ma Princesse thun mir Unrecht, Sie wissen, daß Sie keinen aufmerksameren Sclaven als mich haben.«

Iwanowna, den Arm in den ihres Bruders geschlungen, der mit ihrem Begleiter sprach, lächelte schelmisch.

»Ich will es für diesmal glauben, obschon der tapfere Zuavenführer und Löwentödter sich den Rang von einem nordischen Barbaren, wie Ihr Frankreich uns zu nennen beliebt, hat ablaufen lassen. Aber ich übe Großmuth und habe den nächsten Tanz für Sie aufbewahrt, wenn nicht Iwan etwa sein Vorrecht geltend machen will.«

»Ich tanze heute nicht, Iwanuschka,« sagte der Bruder zärtlich, »Du mußt mich dispensiren.«

»Da sehen Sie, thut der leidige jüngste Attaché nicht wirklich, [81] als hätte er das Gleichgewicht Europa's auf seinen zwanzigjährigen Schultern zu tragen? – Doch à propos, meine Herren, kann mir Einer von Ihnen Auskunft geben, wer der würdige Palikare ist, der heute im Salon meiner werthen Tante Aufsehen macht?«

»Wenn Sie als Belohnung Ihrem unterthänigsten Verehrer die Quadrille nach meinem Freund Méricourt versprechen wollen, Fürstin,« meinte Sazé, »so verrathe ich Ihnen das diplomatische Geheimniß seiner Vergangenheit.«

»Geschwind, geschwind; Sie sehen ja, ich sterbe vor Neugier.«

»Bemerken Sie wohl, gnädigste Fürstin,« plauderte der junge Mann, »daß Commandant Kalergis den Feß sorgfältig über das linke Ohr gezogen und deshalb trotz seiner französischen Sympathieen das griechische Costüm trägt. Seine jetzigen Alliirten, die Türken, schnitten das Ohr ihm ab, als er den Todten spielte nach der Schlacht am Pyräus, und das übriggebliebene kostet ihm baare 12,000 Piaster Lösegeld. Aber er hat die Summe reichlich wieder eingebracht in verschiedenen Münzsorten. Denn schon 1843, als Herr Kalergis von der Emeute des 15. September nach Hause zurückkehrte, hatte sich die russische Gesinnung, mit der das Haus Ihres Gesandten Katakasi verließ, in eine englische verwandelt. Er hatte wohl begriffen, daß er seine Rolle schlecht gespielt; der Zweck der Emeute gegen König Otto war verfehlt, die Rubel waren eingesteckt, es handelte sich jetzt darum, sich für englische Pfunde zu verkaufen. Großbritannien machte ihn zum Militair-Obercommandanten von Athen, aber der 4. August jagte ihn schmachvoll davon. Als der Lord-Ober-Commissar ihm später den kleinen Vorschuß von 10,000 Thalern nicht bewilligen wollte, um Coletti's Regierung zu stürzen, warf er sich Frankreich in die Arme. Man sagt, daß der Kaiser große Pläne mit ihm vor hat. Gegenwärtig hat er seinen Sohn hierher gebracht, den der Kaiser auf seine Kosten erziehen läßt.«

»Ein echter Grieche, – feil jedem Gebot!« sagte Méricourt.

»Entschuldigen Sie, Capitain,« bemerkte Wassilkowitsch; »Herr Kalergis ist ein Landsmann unserer schönen Freundin. Er ist Russe von Geburt, aus Taganrog, wo seine Mutter noch lebt. Seine erste Erziehung erhielt er in Petersburg, wo ihm noch reiche Verwandte, theils als Kaufleute, theils im kaiserlichen Dienst, [82] wohnen. Erst im Jahre 1821, beim Ausbruch der Erhebung, kam er nach Griechenland.«

»Also politischer Marodeur; jedenfalls verspricht der Charakter noch viel für die Zukunft.«

»Und der Herr im Fez mit dem großen Stern des Christusordens auf der Brust, mit dem Herr Kalergis eben spricht, wer ist das?«

»O, Sie irren, mein Lieber,« sagte de Sazé; »das ist nicht der Christusorden, sondern ein unbekanntes Gestirn aus dem Firmament von Tausend und Einer Nacht. Haben Sie denn aus unserm Constitutionel noch nicht von Leo, dem Prinzen von Armenien, dem von Rußland schnöde beraubten Thronerben des halben Vorder-Asiens, gehört? – Da sehen Sie die mysteriöse Person in Natura vor sich. Der Prinz von Korikos, défenseur de l'Eglise d'Orient, wie er sich in den Journalen nennen läßt, hat kürzlich in London eine etwas scandalöse Affaire gehabt, und die Rücksichtslosigkeit der Queens-Bench hat ihn bewogen, London mit seiner Abreise zu strafen. Ich weiß wirklich nicht, – wenn es nicht Herr Kalergis sein sollte, – wer die Unverschämtheit gehabt haben kann, diesen Herrn hier im Salon Ihrer Fürstin Tante vorzustellen, nachdem er so offenkundig etwas starke Proclamationen gegen Ihren Czaren und Ihre Regierung durch alle Welt verbreitet hat.«

Die ersten Streiche des Orchesters erklangen und machten dem Gespräche ein Ende; Méricourt bot der schönen Fürstin den Arm, sie in den Salon zu führen, während Sazé forteilte, noch eine Tänzerin in dem Kreis der Damen zu finden. Fürst Iwan und der Oberst blieben zurück.

Der Letztere war eine jener hageren Gestalten, die eben durch ihre Magerkeit groß erscheinen. Er zählte einige vierzig Jahre, sah aber wie ein Fünfziger aus; spärlicher, nur durch die Kunst der Toilette gefärbter Haarwuchs über der hoch-kahlen Stirn, ein graues, oft in's Grünliche spielendes Auge und ein aufgeworfener Mund über massivem glänzendem Gebiß machten den Eindruck lauernder Ruhe bei einem brutal-sinnlichen Charakter. Die Uniform war mit Orden beladen, da Graf Wassilkowitsch, zugleich durch Reichthum ausgezeichnet, zu verschiedenen politischen Missionen gebraucht worden. Er war einer der Begleiter des Fürsten Woronzoff, der zu dieser Zeit – im letzten Stadium vor dem Ausbruch des Zwiespalts – nach Paris gekommen war.

[83] Die beiden Russen standen am Eingang des Salons und schauten der Quadrille zu, Beide dasselbe Paar, wiewohl mit sehr verschiedenen Blicken und Gefühlen, verfolgend. Während Iwan träumerisch an der graziösen Schönheit der Schwester sich weidete, hing das Auge des Obersten verzehrend an der üppig-schönen Gestalt und wurde zum kalten Giftstrahl, wenn es sich auf ihren Tänzer wandte und die lebhafte Unterhaltung beobachtete, die Beide pflogen. Endlich kehrte er sich zu seinem Gefährten und sagte mit jener Höflichkeit, unter welcher oft der Hohn schlecht verborgen ist:

»Auf mein Wort, Fürst, ein herrliches Paar! Es wird den Kaiser, unsern Herrn, freuen, zu hören, daß die Fürstin Oczakoff dazu beiträgt, die Bande wieder fester zu knüpfen, deren Zerreißen uns in diesem Augenblicke eben nicht ganz angenehm wäre.«

»Wie meinen Sie das, mein Herr?« fragte, sich rasch nach ihm wendend, der junge Mann.

»Ei, mein Lieber, ich meine, was die ganze Welt spricht, daß unser französischer Freund auf dem besten Wege ist, Ihren Landsleuten in der Gunst Ihrer schönen Schwester den Rang abzugewinnen, ja, man behauptet, man dürfe der französischen Kaiserstadt bereits zur Gewinnung einer unserer ersten Erbinnen gratuliren. Der Vicomte soll ein Liebling des Kaisers sein.«

»Die Hand meiner Schwester ist kein Gegenstand der Politik,« sagte kurz und rauh der Fürst. »Die Fürstin Iwanowna Oczakoff wird nie ihr Herz einem Franzosen schenken.«

Wassilkowitsch lachte.

»Da scheint sie nicht den Geschmack ihres Bruders zu theilen. Herr von Méricourt erzählt wenigstens viel von der Vergötterung, die Fürst Iwan einer interessanten Grisette des Marais zu Theil werden läßt.«

Eine dunkle Röthe überflog das Gesicht des jungen Mannes, als er plötzlich so unerwartet sein innerstes sorgfältig bewahrtes Geheimniß dem Spott Fremder Preis gegeben sah. »Das ist erl – –« Der Fürst recollirte sich im eisigen Bild seines Gegners. »Das ist nicht möglich! Der Vicomte ist ein Ehrenmann!«

»Das kann er immerhin sein und doch den künftigen Schwager gern vor einer Mesalliance bewahren oder wenigstens der schönen Schwester sich dienstbar zeigen wollen, die, wie man sagt, eine gewisse Herrschaft über den Zwillingsbruder ausübt, bloß weil [84] sie die Erstgeborene ist. Doch ohne Scherz, Fürst, lassen Sie uns offen reden, ich bin Ihr Landsmann und uns verbinden gleiche Interessen gegen diese Fremden. Sie werden auf Ihren Wegen belauert.«

Der junge Mann faßte krampfhaft seinen Arm. »Beweise, Graf, Beweise!«

»Ei, die sollen Sie haben! Sie erinnern sich, Fürst, der letzten Soiree, die Herr von Kisseleff am Dienstag dem Fürsten Woronzoff und Herrn von Persigny gab. Ich war zufällig und ungesehen Zeuge des Auftrags, den Ihre schöne Schwester an Herrn von Méricourt ertheilte, Sie zu beobachten und zu erforschen, woher seit Kurzem Ihre seltsame Gemüthstimmung komme und was Ihre häufigen heimlichen Abwesenheiten zu bedeuten haben, deren Zweck Sie so sorgfältig zu verbergen suchen. Sie können denken, Fürst Iwan, daß ein so galanter Verehrer, wie dieser Franzose, mit Vergnügen Alles versprach und Wort gehalten hat.«

»Pest!«

»Erinnern Sie sich vorgestern nicht eines Ganges durch die Rue Montmartre zur Ecke der Straße Saint Joseph?«

»Sie haben Recht, ich begegnete dem Vicomte und vermochte mich kaum von seiner verwünschten Höflichkeit loszumachen.«

»Nun wohl, Fürst, Herr von Méricourt kennt die elegante Einrichtung des zweiten Stockes im Hause Nr. 10 der Rue Joseph sehr wohl und weiß, wer der vornehme Fremde ist, der die hübsche, nur – wie der Vicomte sagt – allzu leichtfertige Bewohnerin unterhält und Tag und Nacht bei ihr ist. Ich hörte ihn vor hin gegen Sazé darüber spötteln, ehe Sie erschienen. Blicken Sie hin und sehen Sie, wie angelegentlich und eifrig der Franzose sich mit Ihrer schönen Schwester unterhält. Ich wette tausend Imperials, daß er eben seinen Bericht abstattet.«

Der junge Mann erröthete und erbleichte abwechselnd vor innerer Aufregung. Der schöne und üppig geformte Mund zuckte. »Der Spion soll mir büßen!«

»Wissen Sie, was man sogar behauptet, Fürst? Sie sollen mit Ihrer kleinen Grisette verkleidet den bal mabille, ja sogar die grande chaumière frequentiren und ein flotter Tänzer dort sein.«

Diesmal war der Schlag zu arg, ein dunkler Purpur überzog das schöne Gesicht des jungen Mannes und der Zorn wich der Schaam; er schlug die Augen zu Boden.

[85] »Ei was,« lachte der Oberst, »wäre es wirklich wahr, Jugend muß austoben und es wäre ein Geniestreich, in den sich kein Unberufener zu mengen hat. Kommen Sie, Iwan, die Quadrille geht zu Ende und wir würden nur mit unserer Migraine die Conversation stören.«

Er nahm ihn am Arm und führte ihn durch einen Seitenausgang in die Nebenzimmer. An einem Büffet nahmen sie Champagner und traten dann auf des Grafen Vorschlag zum Spieltisch im benachbarten Salon. – – –

Die schöne Fürstin hatte keine Ahnung von dem Gift, das eben in des geliebten Bruders Ohr ausgegossen wurde. Dennoch bezog sich auch ihre Unterhaltung während der wechselnden Touren des Tanzes auf denselben Gegenstand. Das Verhältniß zwischen der Fürstin und dem tapferen Capitain war ein ganz anderes, als es die giftigen Worte des Russen angedeutet. Der Vicomte gehörte allerdings zu den eifrigsten Anbetern der nordischen Schönheit und wurde durch ihre Achtung und ihr Vertrauen ausgezeichnet vor der zahlreichen Schaar der Bewerber. Darauf hatte sich jedoch die Gunst der Fürstin bis jetzt beschränkt und wenn sein dunkles auf ihr ruhendes Auge, oder ein unbewachtes, aber tiefgefühltes Wort ihr auch längst verrathen hatten, daß seiner Huldidigung eine wahre Liebe zum Grunde liege, daß er um sie werbe als den schönsten Preis des Lebens, so hatte doch das fragende Wort noch nicht seine Lippe überschritten, keine ernsteres Zeichen ihm die wohl selbst noch unklaren Gefühle ihres eigenen Herzens kund gethan. Doch verstanden sich Beide, wie sich kräftige und hohe Seelen immer verstehen.

»Haben Sie Gelegenheit gehabt, meine Bitte zu erfüllen, Herr von Méricourt?« fragte die Fürstin. »Sie verzeihen meiner Besorgniß, aber sie ist in den letzten Tagen nur noch vermehrt worden. Sie selbst haben gesehen, wie verändert der Fürst sich zeigt und nur mit großer Mühe konnte ich ihn bestimmen, mich heute zu begleiten.«

»Vergeben Sie, Fürstin,« erwiederte der Offizier, »wenn ich leider noch wenig Fortschritte in Ihrem Auftrag gemacht habe. Daß es an meinem Eifer nicht gelegen, werden Sie ohne meine Versicherung wissen. Aber der Fürst, Ihr Bruder, sonst so offen und zugänglich, ist nicht bloß für seine liebenswürdige Schwester, sondern auch für seine aufrichtigen Freunde jetzt ein verschlossenes [86] Buch. Vergebens machte ich ihm meinen Besuch, er war nicht zu Hause, und als ich ihm vor einigen Tagen in der Straße Montmartre zu Fuß begegnete und ihn zu einer vertraulichen Unterredung zu bewegen suchte, ließ er mich fast merken, daß ich ihm lästig sei und entfernte sich so bald als möglich von mir.«

»Und wissen Sie, wohin er ging? So viel ich gehört habe, ist der Stadttheil kein solcher, wo mein Bruder Geschäfte oder Freunde hat?«

»Dies ist allerdings möglich, doch kann ich der schönen Besorgten auch darüber keine Auskunft geben, da ich natürlich mit meinen Fragen nicht indiscret sein wollte und sogleich meinen Weg fortsetzte.«

»Hegen Sie denn gar keine Vermuthung, Vicomte, was diese häufige Abwesenheit, diese stets allein unternommenen Gänge zu bedeuten haben? Selbst dem treuen Wassili, der ihn von Jugend auf nie verlassen, hat er streng verboten, ihm zu folgen und ihm befohlen, sein Ausbleiben mir so viel als möglich zu verschweigen.«

Der Capitain lächelte.

»Ich glaube, Fürstin Iwanowna hegt allzugroße Besorgnisse. Paris ist der Ort so mancherlei Zerstreuungen und es wäre leicht möglich, daß irgend eine Liaison das lebenswarme und empfängliche Herz des Fürsten gefesselt hätte.«

»Aber warum denn dies geheimnißvolle, ihn aufreibende Treiben? Ich bin natürlich nicht seine Gouvernante und maaße mir nicht an, in das Thun Ihrer Männerwelt zu dringen. Doch wenn er der Schwester gegenüber auch schweigt, warum gegen seine Freunde? Ich habe mir sagen lassen, daß in solchen Herzensangelegenheiten die Herren nur allzu offenherzig gegen einander sind.«

»Das mag bei jenen Thorheiten der Fall sein, Fürstin, welche die Modewelt galante Verbindungen nennt, aber nie bei einer ernsten und wahren Neigung des Herzens. Es sollte mir leid thun, wenn eine solche schon sich seines jungen Gemüths bemächtigt hätte, denn bei seinem energischen und feurigen Charakter würde er sich ihr mit ganzer Seele hingeben. Und wie schwer eine solche selbst das erprobte Mannesherz verwunden, welche Schmerzen sie auf starke Seelen legen kann, das empfinde ich selbst zu tief, um mei nen jungen Freund nicht davor bewahrt zu wünschen.«

Ein rascher wie fragender Aufschlag ihres schönen Auges traf jenes des Capitains, das mit Innigkeit auf dem schönen Mädchen [87] haftete. Eine leichte Röthe überflog Wangen und Stirn – – die Wogen des Tanzes unterbrachen das Gespräch.

Als der Vicomte sie zur Gruppe zurückführte, die sich um die Dame des Hauses gebildet und de Sazé nahte, die Fürstin an ihr Versprechen zu mahnen, neigte sie sich vertraulich zu ihm und bat:

»Versuchen Sie noch einmal heute Ihr Heil bei Iwan und sorgen Sie wenigstens für seine Zerstreuung. Die Gesellschaft, in der wir ihn vorhin verlassen, – und ich sehe Beide nicht mehr an dem vorigen Platz, – ist keine, die ich für ihn liebe. Gehen Sie, Vicomte, und denken Sie, daß ein Ritter der Ruhe seiner Dame alle Dienste leisten muß.«

Ein anmuthiger Wink des Fächers verabschiedete ihn; er ging, den Fürsten aufzusuchen, während Iwanowna sich dem Damenkreise anschloß. – –

Der nächste Contretanz war vorüber, am Arm ihres Tänzers de Sazé durchging die Fürstin den zum blühenden Garten umgewandelten Corridor, welcher die vorderen Salons mit dem hinteren Flügel verband. Plötzlich stockte der zierliche Fuß, kaum vermochte sie, die Hand erhebend, ihrem sie mit Galanterieen überschüttenden Cavalier zuzuflüstern: »Marquis, sehen Sie – um Gottes willen, was ist vorgegangen?«

Auf sie Beide zu, durch den Eingang, welcher zum Spielzimmer führte, kam der Zuaven-Capitain. Sein männlich schönes Antlitz war dunkel geröthet, das Auge blitzte, doch zeigte die ganze Gestalt eine ernste ruhige Fassung. Wenige Schritte hinter ihm aus einer Gruppe von Herren, welche sich um die Thür versammelten, folgte Fürst Iwan am Arme des Obersten, der ihn fest zurückhielt. Das Gesicht des jungen Russen zeigte jene Wachsbleiche, die leidenschaftliche Charaktere im Augenblick der höchsten Erregung zu befallen pflegt. Sein Auge irrte scheu umher, offenbar war er mit sich selbst unzufrieden, wenn auch der fest gekniffene Mund seine Entschlossenheit bekundete. Nur der Oberst bewahrte seine gemessene Haltung und ein boshafter Blick leuchtete aus seinen Augen, als er die Begegnung mit der Dame bemerkte, bei der die Herren an der Thür sich sofort in's Zimmer zurückzogen.

Sazé begriff im Augenblick, daß etwas von Wichtigkeit vorgefallen und führte die Fürstin zu einem der Sitze, die unter Rosen- und Camelienbüschen versteckt zu Lauben gestaltet waren. Der [88] Capitain trat auf ihn zu und während er mit einer Verbeugung die Dame begrüßte und sein Auge sichtlich das ihre vermied, das fragend und ängstlich auf ihm ruhte, sagte er mit fester Beherrschung der Stimme:

»Gestatten Sie, Durchlaucht, daß ich Ihnen für einen Augenblick Ihren Cavalier entführe, ich habe ihm nur eine kurze Bitte vorzutragen, und er ist sogleich wieder zu Ihren Befehlen.«

Der Fürst war herangekommen und trat zu seiner Schwester.

»Geniren Sie sich nicht, Herr von Sazé,« sagte er hochmüthig, »ich werde Sie bei meiner Schwester ersetzen.«

Er bot ihr den Arm, die junge Fürstin jedoch beachtete die Geberde nicht, sondern wandte sich zu den beiden Franzosen.

»Da der Zweck unseres Ganges erfüllt ist und ich meinen Bruder gefunden habe,« sprach sie verbindlich zu de Sazé, »so wären Sie allerdings Ihrer Ritterschaft ledig, Herr Marquis. Ich habe dagegen noch die Verpflichtung, Ihrem Freunde zu danken, der zuerst meinen Auftrag übernommen hat, und bitte ihn, mich zu der Fürstin, meiner Tante, zurückzuführen. Sie müssen mit seinem Vertrauen sich schon bis dahin gedulden.«

Damit legte sie die seine Hand auf den Arm des Vicomte und ging mit ihm voran. Sazé folgte und begriff rasch die Aufgabe, die ihm geworden, indem er das Paar von den beiden nachfolgenden Herren trennte. Dennoch waren sie zu nah, als daß die Fürstin eine Frage an ihren Begleiter hätte thun können. Aber das nervöse Zittern ihres Armes fühlte er in dem seinen und den leisen Druck, mit dem sie sich auf ihn stützte. Nur als sie durch den Eingang des Salons schritten und das Gedränge der Anwesenden sie für einige Augenblicke von den Folgenden schied, schlug Iwanowna rasch das Auge empor und flüsterte hastig:

»Was ist geschehen, Vicomte? ich muß Alles wissen, ich bin zu jeder Stunde für Sie morgen zu sprechen!«

Méricourt aber neigte sich wie dankend zu ihr nieder und entgegnete mit tiefbewegter Stimme:

»Leben Sie wohl, Fürstin, mein Traum ist vorüber.«

Einen Moment lang preßte er ihren Arm an seine Brust, dann zog er sich mit einer Verbeugung zurück und grüßte im Vorübergehen höflich und gemessen die beiden Russen. Die Fürstin sah, wie er auf dem Wege durch den Saal Sazé's Arm nahm [89] und mit ihm am Ausgang verschwand. Als sie sich beklommenen Herzens umwandte, bemerkte sie den höhnisch lauernden Blick des Grafen Wassilkowitsch auf sich ruhen.

Kaum eine Viertelstunde später ertönte am Portal der Ruf nach der Equipage der Fürstin Oczakoff. Fürst Iwan war schon vorher aus der Soiree verschwunden und allein nach Hause zurückgekehrt, um den Fragen der Schwester auszuweichen.


Es war in einer für die pariser Aristokratie noch frühen Stunde des nächsten Morgens, als in dem von dem Fürsten bewohnten Hôtel der Allée des Veuves vor der jungen, in weißem Morgenkleide auf der Bergère ihres eleganten Toilettenzimmers ruhenden Fürstin der Diener ihres Bruders, der Leibeigene Wassili, stand, herbeigerufen von seiner SchwesterAnnuschka, dem russischen Kammermädchen der Fürstin. Beide Geschwister, der Bruder um fünf, die Schwester um drei Jahre älter als das Zwillingspaar, das mit ihnen die Milch derselben Mutter getrunken, ein in Rußland noch überaus heilig gehaltenes Band, hatten demselben von Jugend auf gedient und dadurch eine entsprechende Erziehung genossen. Mit der aufopferndsten Treue hingen die Beiden an den fürstlichen Geschwistern.

Wassili, der Leibeigene, war ein hochgewachsener kräftiger Mann, wie sie das Innere von Rußland so häufig hervorbringt. In seinem markigen festen Gesicht spiegelte sich Zuverlässigkeit und entschlossene Hingebung. Hinter der Fürstin, ihm gegenüber, stand seine Schwester, hübsch und blauäugig, die langen blonden Zöpfe um den Kopf gewickelt, indem sie ihn mit lebhaften Geberden zur Rede antrieb, die er nur unwillig zu stehen schien.

»Also Dein Herr ist die ganze Nacht nicht zu Bett gewesen?«

»Nein, Mütterchen.«

»Und was hat er gethan während der Zeit?«

»Ich weiß es nicht, Mütterchen.«

»Glaube ihm nicht, dem schlechten Menschen, Durchlaucht,« mengte sich Annuschka in das Gespräch. »Er wäre ein schlechter Diener, und das ist Wassili nicht, wenn er sähe, daß sein Herr unruhig, und seine Augen hätten ihn nicht auf jedem Schritt verfolgt. Er will nicht sprechen, Durchlaucht, er hat mich schon früher [90] gescholten, wenn ich ihn in Deinem Auftrage fragte, und meint, das hieße seinen Herrn verrathen.«

Wassili schoß einen ärgerlichen Blick auf die Schwester, schwieg aber verstockt. Die Fürstin richtete sich auf.

»Höre, Wassili,« sagte sie ernst, »ich würde nicht in meines Bruders Geheimnisse zu dringen suchen, wenn es nicht sein eigenes Wohl gälte. Es ist Wichtiges vorgefallen, Du mußt mir Rede stehen und darfst bei allen Heiligen nicht das Geringste verheimlichen. Ich befehle Dir also, ich, Deine Herrin, mir zu sagen, was Iwan bis zum Morgen gethan hat.«

»Er hat mich zu Bett geschickt.«

»Aber Du hast gelauscht?«

Wassili kraute sich verlegen in den dichten Haaren.

»Er schrieb, Mütterchen,« sagte er endlich, »der Herr hat viel geschrieben.«

»Und dann?«

»Dann ist er unruhig umhergegangen und ...« Er zögerte.

»Wirst Du reden, Wassili!« fuhr ihn die Schwester an; »siehst Du nicht, wie Du die Herrin bekümmerst?«

»Ja, Annuschka,« sagte ausweichend der Russe, »ich kann doch bei meinem Schutzheiligen nicht dafür, daß der Fürst seine Pistolen aus dem Schrank genommen hat. Ich versichere Dich, er schloß sie richtig in seinen Schreibtisch ein, nachdem er sie lange betrachtet hatte.«

Die Fürstin winkte mit der Hand.

»Genug, genug! – Ist der Fürst jetzt allein?«

»Er war es, Mütterchen, aber – –«

»Was?«

»Ich sollte sagen, er schlafe noch, wenn Du nach ihm fragst, und dann, er sei ausgegangen.«

»Hat er Dir sonst einen Befehl gegeben?«

»Ja, Mütterchen. Der Herr erwartet Besuch, und ich soll ihn sogleich in das Zimmer führen, wo die vielen Bücher stehen.«

Die Fürstin erhob sich.

»Geh' auf Deinen Posten, Wassili, und achte sorgfältig auf Alles, was geschieht und wer aus- und ein geht bei meinem Bruder. Ich lade die Schuld auf Dein Haupt, wenn das Geringste vorgeht, das ich nicht sofort erfahre.«

Sie warf einen leichten Mantel um die Schultern, während [91] Wassili, von der Schwester zur Thür gewinkt, mit dem demüthigen, aber in seiner Einfachheit schönen Gruß der niederen Russen verschwand. Dann verließ sie durch eine andere Thür das Zimmer.

Die Fürstin nahm ihren Weg zu den Gemächern ihres Bruders, die, durch den gemeinschaftlichen Salon und die Nebenzimmer von den ihren getrennt, nach dem Garten hinauslagen. Eine kleine Tapetenthür, welche direkt in das Toilettzimmer des Fürsten führte und zur Unterhaltung des unbelästigten Verkehrs zwischen Bruder und Schwester bisher gedient hatte, fand Iwanowna jetzt von Innen verschlossen. Im Begriff, auf einem anderen Wege durch das eben von Wassili bezeichnete Zimmer zu gehen, hörte sie fremde Stimmen von Außen und sprang rasch hinter die Portiere eines angrenzenden Kabinets, deren Schnuren sie löste.

Die Falten bewegten sich noch, als Wassili mit einem Herrn eintrat. Die Fürstin erkannte durch die Oeffnung des Vorhanges den Marquis de Sazé, was ihre Befürchtungen bestätigte und sie ihren Platz behaupten ließ.

Wassili ging, den Besuch zu melden, und augenblicklich erschien der Fürst und nöthigte seinen Gast, Platz zu nehmen. Er sah überwacht und blaß aus, beherrschte aber vollkommen seine Mienen.

»Sie werden errathen, Durchlaucht,« eröffnete der Marquis die Unterhaltung, sobald der Diener sich entfernt hatte, »in welcher unangenehmen Angelegenheit ich Ihnen so zeitig meinen Besuch aufdränge. Diese Zeilen des Herrn Capitain de Méricourt ertheilen mir unbeschränkte Vollmacht.«

Der Fürst lehnte mit einer Handbewegung höflich die Durchsicht ab und verbeugte sich zustimmend.

»Ich muß Ihnen gestehen, Fürst,« fuhr de Sazé fort, »ich begreife eigentlich das Vorgefallene nicht, und mein Freund, der Vicomte, eben so wenig. Wollen Sie sich herablassen, uns einige Erläuterungen zu geben, so wird sich das Mißverständniß gewiß aufklären, und Sie werden als Mann von Ehre nicht anstehen, meinem Freunde in Gegenwart eines der Zeugen der Beleidigung Ihre Entschuldigung zu machen.«

»Ich bedaure, Herr von Sazé,« sagte der Fürst.

Doch der Andere unterbrach ihn:

»Einen Augenblick noch, Durchlaucht, ehe Sie Ihre unwiderrufliche Meinung aussprechen. Sie wissen, daß es nicht Sitte der Franzosen ist, in einem Ehrenstreit die Hand zu bieten, und [92] namentlich eine solche Beleidigung, wie dem Capitain widerfahren, anders als durch Blut zu sühnen. Ich bitte, würdigen Sie also das wackere Benehmen Ihres Gegners, der in Berücksichtigung der bisherigen Verhältnisse mit jeder billigen Erklärung zufrieden sein will.«

Der Fürst entgegnete steif und frostig:

»Obschon noch sehr jung, mein Herr, bin ich doch vollständig mit den Gesetzen eines Edelmannes vertraut und würde gerade in Berücksichtigung der Verhältnisse dem Herrn Vicomte nicht zumuthen, mit einer Entschuldigung zufrieden zu sein, die ich ohnehin nicht zu machen gesonnen bin. Darf ich Sie um Ihre weiteren Aufträge bemühen?«

»Ich habe die Ehre, Ihnen die Forderung des Capitains de Méricourt zu überbringen.«

»Ich bin zum ersten Male in Paris und mit Ihren Gewohnheiten daher noch einigermaßen unbekannt. So viel ich weiß, pflegt man dergleichen Angelegenheiten rasch abzumachen?«

»Gewöhnlich ehe die nächste Sonne untergeht; sollten Sie jedoch Zeit wünschen ...«

Der junge Mann richtete sich steif empor.

»Ich bitte, Herr Marquis!«

»Also heute, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Ihre Waffen?«

»Natürlich Pistolen, ich verstehe mich nur wenig auf Ihre Degen.«

»Ich werde die Ehre haben, mit Ihrem Secundanten das Weitere zu ordnen. Wollen Sie mir Ihre Befehle deshalb ertheilen?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr Marquis. GrafWassilkowitsch hat in Erwartung eines solchen Besuchs meine Vertretung bereits übernommen und wird die Ehre haben, Sie in seiner Wohnung zu empfangen.«

»So bleibt mir nur noch, mich Ihnen zu empfehlen, Durchlaucht. Leben Sie wohl; ich bedaure, diesmal sagen zu müssen, à revoir!«

Der Fürst zwang sich, zu lachen.

»Unter Freunden, Marquis, sollte man sich dergleichen Bedauern eigentlich übel nehmen. Wollen Sie nicht eine Cigarre? – Sie wissen, ich führe echte Manilla.«

[93] Der Marquis nahm die gebotene Cigarre und steckte sie in Brand, Fürst Iwan folgte seinem Beispiele und geleitete ihn nach einigen gleichgültig geplauderten Worten bis in's Vorzimmer. Als er hierauf rasch in sein Kabinet zurückgekehrt war und Wassili ihm wenige Augenblicke nachher folgen wollte, fand er in der Mitte des Zimmers die Fürstin, bleich, die Hand auf das klopfende Herz gedrückt. Sie hob den Finger drohend in die Höhe.

»Bei Deinem Leben, Wassili, keinen Laut, daß Du mich hier gesehen!«

Damit verschwand sie.


Capitain Méricourt bewohnte den Garten-Pavillon hinter dem Hause seines Schwagers in der Rue Avenue de Bourdonnaye, wenn er sich in Paris aufhielt. Ein Vorzimmer, ein kleiner Salon, mit Waffen aller Art und Jagdtrophäen, darunter mehreren riesigen Löwenhäuten, geschmückt, und zwei Kabinets nebst einem Gemache für den arabischen und französischen Diener des Vicomte, bildeten das Gelaß dieses Hauses, in dessen unmittelbarer Nähe eine Gartenpforte durch die Mauer nach einer kleinen Seitenstraße führte und so den Bewohnern des Pavillons den ungenirten Ein- und Ausgang gewährte.

Es war kaum eine Stunde nach dem obigen Rencontre, als ein Fiaker in der Seitenstraße vor dem Zugang des Gartens hielt und zwei tief verschleierte Frauen ausstiegen. Die Eine von ihnen läutete auf das Zeichen der Andern die Glocke und nach kurzem Harren öffnete Mulei, der junge arabische Diener des Capitains, die Pforte. Als er zwei Frauen vor sich sah, verneigte er sich nach maurischer Sitte und nöthigte sie, einzutreten.

»Ist Capitain de Méricourt zu sprechen?« fragte die Zweite der Verschleierten, anscheinend die Gebieterin.

»Der Bey befindet sich in seinem Zimmer, Herrin. Wen befiehlst Du, daß ich ihm verkünden soll?«

»Sage Deinem Herrn,« erwiderte die Verschleierte, »daß eine Dame ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünschte, die keinen Aufschub gestattet. Ich würde ihm nur wenige Minuten rauben.«

Der Maure verneigte sich nochmals mit über die Brust gekreuzten Händen und bat die Frauen, ihm in das Vorzimmer zu [94] folgen. Dann verschwand er hinter dem schweren persischen Teppich, kehrte aber schon nach wenigen Augenblicken zurück und nöthigte die Fremden in den Salon. Beide traten ein.

Das Gemach bildete ein nur mittelgroßes Achteck und empfing sein Licht von der Kuppel, von der ein schöner Bronceleuchter herabhing. Löwen- und Pantherfelle bildeten die Teppiche vor den orientalischen Divans, welche die vier Seitenwände einnahmen, die nicht durch Thüren unterbrochen waren. Prächtige orientalische Waffen, von der langen Luntenflinte des Arabers bis zum kostbaren Handjar von tunesischem Stahl, die Keule des Ashanten und der lange Bogen der Dayaks, mit dem wallenden Burnus und dem verschlungenen Turban des Kabylen, Antilopenhörner und Büsche von Straußfedern, die Schädelketten der Bewohner von Bornu mit mächtigen Elephantenzähnen, dazwischen Gruppen prachtvoller moderner und antiker europäischer Waffen, türkische Sättel und Zaumzeug mit prächtigen Teppichen und zahllosen fremdländischen Geräthschaften bildeten in einzelnen Gruppen-Decorationen an den Wänden den eigenthümlichen Schmuck des Gemachs. Auf den Tischen zur Seite standen und lagen zwischen Schaalen und tunesischen Kunsterzeugnissen türkische Pfeifen, Schibuks und Nargilehs in buntem Gemisch.

Nach wenigen Augenblicken trat der Capitain aus dem Nebengemach ein. Ein weites orientalisches Gewand von weißer Wolle diente ihm zum Morgenrock und fiel, von einem mit Gold durchwirkten tunesischen Shawl um die Hüfte gehalten, über die faltigen Beinkleider von Purpurwolle, während ein Burnus von gleichfalls weißer Farbe mit Gold durchwirkt um seine Schultern hing. Das weite faltige Costüm kleidete die Heldengestalt des Offiziers und den kräftigen männlich schönen Kopf bewundernswerth.

»Entschuldigen Sie, meine Damen,« sagte der Vicomte höflich, indem er sie einlud, Platz zu nehmen, »daß ich Sie noch in Morgen-Toilette empfange, ich wollte Sie jedoch nicht warten lassen und stehe deshalb zu Befehl.«

Die Eine der beiden Frauen hob den dichten schwarzen Schleier, der ihr Gesicht verhüllte.

»Die Fürstin! – Mein Gott – Sie hier?«

Iwanowna wandte sich zu ihrer Begleiterin.

»Verlaß uns auf einige Augenblicke, Annuschka, ich stehe unter dem Schutz der Ehre des Herrn Vicomte.«

[95] Die Milchschwester der Fürstin verschwand in das Vorgemach.

Méricourt ergriff die Hand der Dame und führte sie zum Divan. Die seine zitterte lebhaft, die Röthe hoher Erregung lag auf seinem schönen Gesicht.

»So viel Glück und so viel Schmerz in einem Moment, Fürstin, es ist zu viel, selbst für eine Männerbrust.«

Das Antlitz des jungen Mädchens war bleich, aber eine aufopfernde feste Entschlossenheit lag in jeder Miene, selbst ihre Stimme zitterte nicht.

»Sie wissen, Vicomte, warum ich komme.«

Der Franzose beugte sich mit schmerzlichem Lächeln auf ihre Hand, die er gefaßt hielt.

»Sie werden sich noch heute mit Iwan, meinem Bruder, schlagen?«

Eine leichte Neigung des gesenkten Hauptes gab ihr die Antwort.

»Méricourt, Sie werden es nicht thun, – um meinetwillen.«

»Es ist unmöglich, Fürstin, mein Leben steht zu Ihren Diensten, nicht meine Ehre als Edelmann. Ihr Bruder verweigert jede Erklärung.«

»Ich weiß es, ich war ungesehen Zeuge seiner Unterredung mit Herrn de Sazé. Sagen Sie mir – wie kam es dahin?«

»Bei meiner Ehre, Fürstin,« sagte der Offizier aufathmend und seinen Blick zu dem Mädchen erhebend, »ich bin schuldlos daran, ich weiß es selbst nicht, und daß mir noch auf Erden das Glück zu Theil geworden, Ihnen mündlich das sagen zu dürfen, was Sie morgen durch den kalten Buchstaben meiner Abschiedsworte an Sie erfahren hätten, – das erfüllt den geheimsten Wunsch meines Herzens. Ein böser Dämon muß Ihren Bruder regiert haben. Seine Worte, seine Beleidigungen sind mir unerklärlich. Ich fand ihn mit dem Obersten beim Spieltisch und geselle mich zu ihm. Der Fürst war offenbar sehr aufgeregt und als ich ihn fragte, ob ich ihn am Morgen zu einem Spazierritt abholen dürfe, wie wir früher verabredet, entgegnete er heftig: er werde allein reiten, er brauche weder einen Vormund, noch – –«

»Sprechen Sie!«

»– noch einen Spion!«

»Mein Gott!«

»Ich war im ersten Augenblicke so bestürzt, daß mir fast die [96] Fassung fehlte. Einige Gesichter wandten sich gegen uns – man weiß, Fürstin, daß ich keine Memme bin und bei Beleidigungen ruhig bleiben darf. Ihr Bild, Iwanowna, stand vor mir. – ›Sie reden irre, Fürst,‹ sagte ich und faßte seinen Arm, ›Sie haben mich wahrscheinlich nicht verstanden. Kommen Sie, lassen Sie uns plaudern.‹ – Ihr Bruder riß sich los. ›Ich habe Sie sehr wohl verstanden, mein Herr,‹ sagte er barsch, ›und wenn Sie meine Worte nicht verstehen wollen, so werden Sie vielleicht Das verstehen.‹ – Fürstin, er – –«

»Zu Ende, zu Ende!«

»Er hob die Hand gegen mich, einen Moment zwar nur, aber – er hob die Hand!«

Der Capitain war bleich geworden bei der Erzählung.

»Der Unglückliche!«

Diesmal war es die Dame, die das Haupt vor dem Manne in unsäglichem Schmerz beugte.

Der Capitain schwieg, das Gefühl der schweren Beleidigung machte dem innigen Mitleiden Platz bei dem Blick auf das erschütterte Mädchen.

»Ich wiederhole Ihnen, Fürstin,« sagte er endlich, »ich weiß noch immer nicht, was dieses Benehmen Ihres Bruders hervorgerufen hat, nur ein Mißverständniß oder eine Verleumdung kann die Veranlassung sein, doch leider ist die Sache nicht mehr zu ändern. Sie kennen selbst das Weitere.«

»Das ist Wassilkowitsch's Werk!« rief die Fürstin; »jetzt ist mir Alles klar und mein Widerwille vor diesem Manne hat mich nicht betrogen. Ich weiß, Vicomte, wie edel, wie großmüthig Sie gehandelt haben! Ich weiß, daß nach den Gesetzen der Ehre unter Militairs eine solche Beleidigung nur durch den Tod des Beleidigers gesühnt werden kann, und dennoch haben Sie dem Unglücklichen die Hand zur Sühne geboten und nur seine Entschuldigung verlangt, Sie, der tapfere Offizier, der Spiegel stolzen Rufs für alle Soldaten ...«

»Ich bin es nicht mehr, Fürstin,« unterbrach sie Méricourt. »Heute Morgen habe ich Herrn von Saint Arnaud meine Entlassung eingereicht.«

»Wie, Sie haben – –«

»Es war nöthig, Fürstin, der Offizier konnte jene Sühne unmöglich bieten. – Es war Ihr Bruder, Iwanowna!«

[97] »Und dennoch Alles vergeblich, – ich kenne seinen eisernen Sinn von Kindheit auf, er würde sich eher zerreißen lassen, als durch eine Entschuldigung selbst das erkannte Unrecht gut machen.«

Sie hatte sich erhoben und ging leidenschaftlich im Salon umher.

Der Vicomte schwieg und folgte ihr mit trauerndem Blick.

Plötzlich blieb die Fürstin vor ihm stehen, ihre großen Augen voll und klar auf ihn gerichtet.

»Das Duell darf nicht vor sich gehen, es darf nicht! – Er ist mein einziger Bruder, der Letzte aus dem Hause der Oczakoff, einer der neun Familien, die von Ruriks Stamme sind, edler selbst als die Romanoffs. Ich darf ihn nicht sterben lassen! – Eugen,« es war das erste Mal, daß sie ihn bei diesem Namen nannte und es durchzuckte den jungen Mann wie ein electrischer Strahl, – »Eugen, werden Sie zum Engel des Erbarmens an uns, wie Sie bereits zum Helden geworden sind. Fliehen Sie das Duell – weigern Sie dem Thoren, ihn zu strafen, kommen Sie, fliehen Sie mit mir. – Eugen, ich liebe Sie, und jeder Athemzug meines Lebens soll Ihrem Glück gewidmet sein!«

Der junge Offizier sank vor ihr nieder, er preßte stöhnend im bittern Kampf ihre zarten Hände auf sein brennendes Gesicht.

»Sie verlassen Ihr Frankreich,« fuhr Iwanowna fort, »Sie gehen mit mir in das herrliche Land, wo mildere, süßere Lüfte wehen, als hier, wo der Oleander blüht und die Orange sich in den blauen Fluthen des Meeres spiegelt. Nach Taurien folgen Sie mir – nicht blos der Kaiser hat dort seine erhabene Phantasie, das Paradies Orianda, – an den Felsenvorsprüngen der Yaila-Alpen prangen noch viele Stätten eben so herrlich, eben so schön, von deren Klippenhöhe vielleicht Iphigenia einst hinüberschaute zum fernen Vaterlande, wo Orestes die Schwester von der grausen Pflicht befreite. O, mein Freund, werfen Sie es von sich das Vorurtheil dieser sogenannten Civilisation, die von Ihnen verlangt, das Blut Ihres Bruders zu vergießen, des einzigen Wesens, was gleich Ihnen mir theuer ist – –«

Der Vicomte hatte sich emporgerichtet, auf der ehernen Stirn stand der eherne Männerentschluß.

»Sein Sie ruhig, Iwanowna, diese Hand wird nicht geröthet sein von dem Blute Ihres Bruders!«

»Sie gehen mit mir, Sie opfern mir Alles, Alles, Eugen?«

[98] »Ich gebe Ihnen Alles, was ich habe, Iwanowna, nur Eines bewahren Sie mir, das ist, den unbefleckten Namen der Méricourt, den Namen meines Vaters. Es giebt noch ein anderes Mittel, – bei meiner Liebe zu Ihnen, Ihr Bruder wird unverletzt von dannen gehen!«

Die Fürstin stürzte auf ihn zu.

»Was sinnen Sie? – Das ist Mord an Ihnen selbst! Meinen Sie denn, daß der thörichte Knabe Ihren Edelmuth würdigen wird? Sein Leben wäre Ihr Tod – geht das Duell vor sich, so oder so – sind wir auf ewig getrennt.«

Der Capitain wandte sich ab.

»Es ist kein anderer Weg – Sie haben einen Namen zu vertheidigen, Iwanowna, auch der meiner Väter ist mir heilig und darf nicht entehrt werden, selbst um den himmlischen Preis nicht, den Sie mir gezeigt haben.«

Sie warf sich schluchzend am Divan nieder; er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand in die seine.

»Warum trauern, Iwanowna,« sagte er freundlich, »nachdem Sie mich so unaussprechlich glücklich gemacht? Warum trauern, daß uns ein persönliches Mißgeschick trennt, wo uns das Geschick der Völker in jedem Augenblick unwiderruflich zu trennen drohte. – Denken Sie, wie unendlich leichter es mir sein wird, jetzt der Kugel Ihres erbitterten Bruders die Brust zu bieten für Sie, als wenn das eherne Geschick der Schlachten uns gegenüber gestellt und die kalte Berechnung der Politik Ihres Kaisers und seiner Nesselrode's und Kisseleff's den Freund dem Freunde, den Bruder dem Bruder den Stahl in's Herz stoßen hieße!«

Die Worte, die Namen, schienen die Fürstin berührt zu haben, – einen Augenblick schwieg sie wie nachdenkend, dann raffte sie sich rasch empor. Sie schien ihre volle, eine kurze Zeit von der doppelten Aufregung gestörte Energie wiederzugewinnen.

»Wann soll das unglückliche Duell vor sich gehen?«

»So viel ich weiß, gegen Abend, – um sechs Uhr.«

»Eugen, wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?« sie hob die Hände gegen ihn.

»Jede, die sich mit meiner Ehre verträgt.«

»Sie ist auch die meine und wird unverletzt aus Allem hervorgehen.« Sie drängte ihn freundlich zum Seitentisch, auf dem das Schreib-Necessaire stand. »Schreiben Sie an Herrn de Sazé, [99] nur einige Zeilen, daß das Duell erst morgen früh um dieselbe Stunde stattfinden könne, – nehmen Sie irgend einen Vorwand – die Ordnung Ihrer Angelegenheiten –«

»Aber ich darf nicht – ich kann nicht – Sie sinnen eine List ...«

»Bei dem Grabe meiner Mutter, ich sinne Nichts gegen Ihre Ehre! Ist das Leben zweier Menschen nicht einen kurzen Aufschub von zwölf Stunden werth? – Galt Ihnen das Geständniß meiner Liebe so wenig?«

Er reichte ihr die Hand.

»Es ist unnöthig, daß ich schreibe, – der Marquis hat versprochen, in einer halben Stunde hier zu sein und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihr Wille erfüllt werden soll, daß Arrangement wird sich leicht treffen oder ändern lassen, ohne aufzufallen. – Fürstin, ich ahne Ihren Grund – Sie wollen Ihren Bruder bewegen – möge Gott seinem Engel zu dem Werke des Friedens helfen. Ich werde glücklich sein, diese Lösung von Ihrer Hand annehmen zu können.«

Sie sah ihm trübe lächelnd in die heiterer gewordenen Augen.

»Meinen Dank, mein Freund, meinen innigen ewigen Dank! – und jetzt – mein Lebewohl!«

Sie wandte sich rasch nach der Thür, er eilte ihr nach, aber sie selbst kehrte sich an dieser noch einmal zu ihm. Ihre Hände faßten die seinen – ihre Augen hafteten auf den seinen, Minuten lang, innig und zärtlich, und doch wie unter dem Flor einer tiefen Traurigkeit. Er zog sie näher, – unwillkürlich – im stummen Glück – ruhten ihre Lippen einen Moment auf den seinen voll und heiß – dann rauschte die Portiere hinter ihr zusammen – sie war verschwunden!

Der Vicomte trat in's Seitenzimmer, die theure Gestalt noch ein Mal zu sehen; eben eilte sie mit Annuschka, von dem Araber begleitet, durch die Pforte – im nächsten Augenblick rollte der Wagen davon. –

Als der Fiaker in die Rue de Grenelle gebogen war, befahl Annuschka dem Kutscher:

»Nach der Faubourg St. Honoré 33, Hotel der russischen Gesandten.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Fürst Iwan, – durch ein Billet des Grafen Wassilkowitsch [100] von der veränderten Bestimmung des Rendezvous in Kenntniß gesetzt, – hatte eben seinen gewöhnlichen Besuch im Palais und Büreau der Gesandtschaft gemacht und wollte sich entfernen, als Herr von Kisseleff, der damalige Vertreter Rußlands in Paris, ihn in sein Kabinet rufen ließ. Etwas beunruhigt folgte er dem Boten, sah sich aber in seiner Besorgniß getäuscht, da der Gesandte ihn auf's Freundlichste empfing, mit keiner Sylbe ein Kenntniß des vorgefallenen Zwistes an den Tag legte und ihn einlud, mit ihm en deux zu speisen, da mehrere geheime Depeschen zu erledigen wären, wegen deren er für die nächsten Stunden seiner Hülfe in Anspruch nehmen müsse.

Im Ganzen war es dem jungen Mann nicht unlieb, einen Vorwand zu finden, der ihm erlaubte, nicht in sein Hotel zurückzukehren und so den Fragen der Schwester auszuweichen. Vor Abend hatte er ohnehin keine Bestimmung über seine Zeit getroffen, und die Stunden vor einem Duell allein zu verbringen, ist eben für Keinen angenehm. So fügte er sich also gern und die Arbeit zerstreute ihn. Aber Stunde auf Stunde verrann, der Gesandte, der von Zeit zu Zeit das Kabinet verließ und ihn bei der Arbeit einschloß, häufte immer neue Manuscripte vor ihm, und die Zeit nahete, zu der er versprochen hatte, an einer anderen Stelle zu sein.

Abgespannt und ärgerlich warf er endlich die Papiere zur Seite. Die Depeschen waren vollendet und er nahm seinen Hut, um sich zu entfernen. Die Uhr im Kabinet zeigte eben halb Zehn, als Herr von Kisseleff wieder eintrat und die letzten Unterschriften vollzog.

»Ich muß Sie noch einen Augenblick bemühen, Fürst,« sagte er artig; »die Secretaire haben bereits das Hotel verlassen und ich bitte Sie, die Papiere zu couvertiren.«

Der Fürst gehorchte. Der Gesandte legte noch eine eigenhändige Depesche dazu und das Briefpacket wurde fertig gemacht. Herr von Kisseleff schellte.

»Ist der Wagen bereit?« fragte er den eintretenden Jäger.

»Zu Befehl, Excellenz.«

Der Diener trat ab.

»Jetzt, Fürst, muß ich Sie darauf aufmerksam ma chen, daß diese Depeschen, wie Sie sich selbst überzeugt haben, von der höchsten Wichtigkeit sind. Den Telegraphen können wir in dieser [101] Angelegenheit nicht benutzen, die Gründe liegen auf der Hand. Sie werden daher auf Ihr Ehrenwort dieses Paket nicht von Ihrer Seite lassen, bis Sie es dem Herrn Staatskanzler selbst übergeben haben.«

»Wie? ich – –?«

»Allerdings, Sie selbst. Ich bin genöthigt, Sie damit als Courier nach Petersburg zu schicken, da ich augenblicklich Niemand weiter zur Disposition habe, dem ich so wichtige Interessen anvertrauen könnte. Sie werden mit dem Zug um eilf Uhr nach Brüssel abreisen.«

»Aber Excellenz – das ist unmöglich! Ich bin nicht im Geringsten vorbereitet.«

»Das ist unnöthig, – es ist Alles gethan; die Fürstin, Ihre Schwester, hat für Alles gesorgt und wird Sie begleiten.«

Er öffnete die Seitenthür, Iwanowna trat ein im Reisekleide.

Dem jungen Manne schwirrte und dunkelte es vor den Augen. Das Blut schoß in Strömen ihm zum Kopf, er fühlte, daß er überlistet worden.

»Ich werde Paris nicht verlassen, mein Herr! Ich habe morgen früh eine Ehrenverpflichtung und will nicht das Spielwerk einer Intrigue sein, die ich durchschaue.«

Iwanowna eilte auf den Bruder zu, sie hing sich an seinen Hals.

»Iwan, bedenke, was Du thust!«

Der Gesandte trat dicht an ihn heran.

»Fürst Oczakoff, ich befehle Ihnen im Namen des Kaisers, ohne Widerrede zu gehorchen. Sie werden auf der Stelle abreisen. Denken Sie an Sibirien!«

Der junge Mann knirschte. Er wand sich in den umschlingenden Armen der Schwester.

Herr von Kisseleff legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte in freundlicherem Tone:

»Es ist unbedingt nöthig, daß Sie reisen, Fürst, um Ihrer selbst willen. Ich weiß Alles; Sie haben eine bittere Uebereilung begangen und wollen dieselbe durch ein Verbrechen wieder gut machen. Der Kaiser würde Ihnen nie verzeihen, wenn in diesem kritischen Augenblick, wo Alles auf dem Spiele steht, Ihre thörichte Heftigkeit einen Eclat mit dem französischen Kabinet herbeiführte. Ihre Ehre und Ihr Name müssen gewahrt werden, und deshalb zwinge ich Sie im Namen des Kaisers, abzureisen. Ihr Secundant [102] hat bereits Stubenarrest; ich selbst werde Ihre Entschuldigung und Rechtfertigung bei Ihrem ehrenwerthen Gegner übernehmen.«

Der Fürst beugte das Haupt. Er sah, daß ihm jeder Ausweg abgeschnitten war und er sich fügen müsse.

»Ich werde reisen, hätte aber von Euer Excellenz mehr Rücksicht erwartet.«

»Sie sind ein thörichter junger Mensch,« sagte der Gesandte achselzuckend. »Danken Sie der Aufopferung Ihrer schönen Schwester, daß Sie mit so vieler Rücksicht behandelt und aus jeder Ihrer unwürdigen Stellung hier mit Ehren gezogen werden.« Er hob warnend den Finger »Uebrigens könnten Sie leider bald Gelegenheit erhalten, Ihre Rauflust vielleicht selbst an Ihrem heutigen Gegner, den ich achte und schätze, auf einem würdigeren Felde zu kühlen.«

»Haben Euer Excellenz noch Etwas zu befehlen oder bin ich entlassen?«

»Nichts weiter. Ich habe Ihr Ehrenwort, daß Fürst Oczakoff diese Depeschen richtig und ohne Zeitverlust in Petersburg abliefern wird?«

»Mein Ehrenwort!«

»Fürstin! Sie sind mir Zeuge und Bürge für Ihren Herrn Bruder. Ich wollte Sie erst selbst zum Bahnhof begleiten, verlasse mich aber ganz auf Sie.«

»Die Ehre meines Bruders ist die meine. Leben Sie wohl, mein Herr, und genehmigen Sie nochmals meinen innigen Dank.«

»Auf glückliche Reise also, Fürst, und ohne Groll. Ich muß Sie verlassen, denn ich habe Berichte zu empfangen. Es ist etwas Wichtiges vorgegangen; man hat heute Abend ein Attentat auf den Kaiser Napoleon entdeckt und es sollen viele Verhaftungen in der komischen Oper vorgekommen sein. – Leben Sie wohl!«

Er reichte Beiden die Hand, die Fürst Iwan schweigend und zögernd annahm, und geleitete sie bis zum Vorsaal. Diener des Fürsten standen hier bereit, im Hofe des Palais harrte eine Chaise.

»Wir finden unseren Reisewagen bereits auf dem Bahnhofe, Iwan,« sagte die Fürstin freundlich; »Wassili und Annuschka werden uns allein begleiten, die Anderen folgen.«

Der Fürst verharrte noch immer in mürrischem Schweigen, [103] während der Wagen durch die Straßen rollte. Plötzlich als er auf den Place de la Madeleine bog, faßte er die Hand seiner Schwester.

»Iwanowna,« sagte er zärtlich, »ich habe mich in den Willen des Gesandten und in Deinen Wunsch gefügt, und ich schwöre Dir, willig abzureisen, ohne einen Versuch in Betreff des Ehrenhandels zu machen, den Dein Scharfsinn und Deine Liebe entdeckt und verhindert hat. Aber ich habe eine Bitte an Dich, von deren Erfüllung mein Leben abhängt.«

»So habe Vertrauen zu mir; Du weißt, wie das meine nur in dem Deinen besteht.«

Der Fürst zeigte seine Uhr.

»Es ist zehn Uhr,« sagte er; »um Eilf geht der Zug. Wir haben noch eine volle Stunde Frist. Gieb sie mir – ich kann nicht scheiden von Paris, ohne eine an dere Verpflichtung gelöst, ohne Jemand, wenn auch nur einen einzigen Augenblick, gesprochen zu haben, der mich zu dieser Stunde bereits erwartet.«

»Iwan, Du hintergehst mich!«

»Bei dem Grabe unserer Mutter – nein! Aber ich schwöre Dir eben so, daß keine Macht der Welt mich lebendig aus Paris bringt, wenn Du mir diese Bitte verweigerst. Schwester – ich will – ich muß sie noch ein Mal sehen!«

Die Fürstin schaute ihn an – ihr Herz gedachte der eigenen Liebe, die sie vielleicht auf Nimmerwiedersehen verlassen.

»Wann wirst Du am Bahnhof sein?«

»Eine Viertelstunde vor der Abfahrt. Bei der Unbeflecktheit unseres Namens! ich vertraue Dir diese Papiere an, Du kennst ihre Wichtigkeit und was sie mich kosten. Und jetzt – jede Minute ist verloren. – Dank, Iwanowna, tausendfachen Dank. Du rettest mich vor Verzweiflung.«

Er rief den Kutscher, der Wagen hielt, Iwan öffnete den Schlag.

Die Fürstin hielt ihn zurück.

»Noch einen Augenblick! Iwan, Du gehst nur zu einer Dame?«

»Bei meiner Seligkeit! Meine Ehre ist Dir und dem Gesandten verpfändet.«

Er verschwand im Gedränge an der Kreuzung der Straßen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[104] Auf dem Nordbahnhof wogte das Leben und Treiben der Reisenden, der Commissionaire, Beamten und Packträger.

Die große Uhr am Hauptgebäude hatte drei Viertel auf Eilf geschlagen. Die Fürstin saß im Coupé mit Annuschka, Wassili stand am Schlage, alle Drei schauten aufmerksam nach den Eingängen, mit jedem anrollenden Wagen den Fürsten erwartend.

Die Glocke läutete zum ersten Male. Es war zehn Minuten vor Eilf.

Das schöne Gesicht der Fürstin begann sich zu verfinstern, in der kleinen Falte zwischen den Brauen, im Strahl des Auges lag der Unwille, gepaart mit der ängstlichen Besorgniß.

Wassili und Annuschka bemühten sich, diese durch allerlei Vermuthungen zu zerstreuen.

Wagen auf Wagen rollte heran – keiner brachte den Fürsten. Die Minuten schienen mit Windeseile zu entfliehen.

Es litt die Fürstin nicht länger im Waggon, – sie trat auf den Perron; die Uhr in ihrer Hand zitterte vor der innern Aufregung.

Drei Minuten vor Eilf!

Eine eisige Entschlossenheit, jener Zug unendlicher Willenskraft, der um den herrlichen Mund lag, verbreitete sich über das ganze Gesicht. Sie winkte Wassili heran und legte die Hand auf seine Schulter.

»Höre wohl an, was ich Dir sage. Es handelt sich um Tod und Leben, – um die Ehre der Oczakoff! – Ich kann nicht glauben, daß Fürst Iwan sein Wort gebrochen – ich kenne ihn, sein Wort ist ihm heiliger, als das Leben. Kommt er nicht, so muß ein unvorhergesehener Zufall, ein Unglück geschehen sein. Der Zug geht ab, ich mit ihm. Das Wort und die Ehre der Oczakoff müssen rein bleiben im Vaterlande!«

Ihr Busen hob sich keuchend, sie rang mit der Erregung – Wassili, der leibeigene Milchbruder, horchte schweigend den Worten.

»Hier ist meine Börse, Wassili – für's Erste genug. Du bleibst hier und weichst nicht aus Paris, bis Du Iwan ermittelt und gefunden. Ich kenne Dich, Wassili, und weiß, daß sein Leben das Deine ist. Sage ihm, er solle rasch und heimlich folgen, ich hätte unterdeß seine Ehre gewahrt. Kein Wort im [105] Hotel, Wassili, von dem Verschwinden des Fürsten – bei Deinem Leben! bei dem Leben Deiner Schwester: Iwan ist abgereist mit mir!«

Die Glocke erklang zum dritten Male – kein Iwan zu sehen! – sie sprang in den Waggon, – mit gekreuzten Armen stand der Diener vor der Thür, die der Conducteur eben schloß.

»Lebe wohl! Treu und verschwiegen!«

– Dahin brauste der Zug! – –

Die Blutbrüder
[106] Die Blutbrüder.

Unterhalb Ragusa, wo Richard Löwenherz auf der Rückkehr aus Palästina landete, um österreichische Treue zu erfahren, – wo Dalmatien im prachtvollen Golf von Cattaro endet, hat der Kaiserstaat im Wiener Congreß eine schmale Küstenstrecke bis zur Bucht von Antivari sich vorzubehalten verstanden, die ein tapfres, in der neueren Geschichte vielgenanntes Heldenvolk – die Montenegriner oder Czernagorzen – von der natürlichen Gränze seiner Berge, dem adriatischen Meere, trennt. Die Politik der europäischen Staaten hat damit ein Volk, das seit vier Jahrhunderten den Kampf gegen den Halbmond führt, isolirt und von seiner zeitgemäßen Entwickelung abgeschnitten: – sein Heldenthum, seinen in dieser Zeit der Verflachung und des Eigennutzes spartanisch erhabenen Charakter vermochte sie ihm nicht zu nehmen, und Oesterreich selbst unterlag noch vor wenigen Jahren im Kampfe gegen das kleine Bergvolk.

Czernagora, – das Land der schwarzen Berge, – Montenegro in der Sprache der Italiener und der Diplomatie, bildet mit der Berda das kleine, kaum 80–90 Quadratmeilen große, Berg- und Felsengebiet, das zwischen der Herzogewina im Norden, Bosnien im Osten, Albanien und dem Paschalik von Scutari im Süden, hundert Angriffen der Türken siegreich widerstanden hat und schon seit dem Jahre 1703 als gänzlich von der Pforte losgerissener unabhängiger Freistaat zu betrachten ist. So nahe den sogenannten civilisirten Staaten Europa's, ist dies Volk doch in Sitten, Denken und Fühlen ein ganz anderes, verschiedenes. Nur das corsische ähnelte ihm, ehe die französischen Präfecturen es um seine Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit betrogen haben.

[107] Die Bevölkerung von Czernagora, Uskoken – die Geächteten, – wie sie sich mit Stolz nannten und noch nennen, stammt von den flüchtigen Serben, die dem Blutbade von Kossowo und auf dem Amselfelde entronnen, mit dem Sultan Amurath I. am 5. Juni 1389 das große serbische Reich vernichtete. Seitdem sind die schwarzen Berge der Zufluchtsort aller kühnen Flüchtlinge aus Bosnien, Serbien, Albanien, und nicht blos der gemißhandelte Rajah, dessen rächende Hand den tyrannischen Unterdrücker erschlug, auch der abenteuernde Moslem selbst, der für seinen Kopf oder seine Freiheit fürchtet, flüchtet hierher und findet Schutz und Aufnahme. So ergänzt sich diese kühne Bevölkerung, fortwährend decimirt durch ihre inneren und äußeren Kämpfe, durch ihre Blutrache und ihre Privatfehden, immer wieder durch neuen Zuwachs aus den kühnsten und kräftigsten Elementen des Slaventhums. Der Nationalzug, das historische Erbe des Volkes, ist der nie ruhende, fortglühende Haß gegen den Halbmond; seine Historie, welche seine Piesmen 1 besingen, besteht in den Schlachten und Kämpfen mit diesem. Iwo der Schwarze, von dem das Land den Namen führt, schlug schon 1450 den furchtbaren Mohamed II. bei Keinowska und erbaute den Hauptort des Landes, Cetinje. Von jener Zeit ab dienten die Czernagorzen dem Norden Italiens als Damm gegen die Eroberungen des damals so furchtbaren und gefürchteten Halbmondes. Mit ihrer sicilianischen Vesper, der schrecklichen Blutnacht zu Weihnacht des Jahres 1703 unter dem Vladiken Danilo Petrowitsch Nieguschi, in der alle Moslems im Lande erschlagen wurden, befreiten sie sich von dem Zeichen der Abhängigkeit, dem Haradsch oder Kopfgeld. Seitdem wüthete der gegenseitige Kampf fast ununterbrochen fort. Der Aufruf Czar Peters des Großen an die orientalischen Christen zur Theilnahme am Kriege gegen den Sultan machte das Volk zuerst in Europa bekannt. Die Czernagorzen allein hatten damals den Muth, sich zu erheben, und das Heer des Seraskiers Achmed Pascha, an 50,000 Mann stark, wurde von den tapferen Bergbewohnern bei Czarew-Laz geschlagen. Von jener Zeit her schreibt [108] sich der russische Einfluß und die Sympathie für das Czarenreich in Montenegro. Seitdem auch suchte und erhielt derVladika, das geistliche und politische Oberhaupt des Landes, seine Bischofsweihe in Petersburg.

Zwei Jahre nach der eben erwähnten Niederlage überzog Kiuprili Pascha mit 120,000 Mann das Land und verwüstete es mit Feuer und Schwert, indem er verrätherisch den selbstgebotenen Frieden brach und die übergebenen Geißeln mordete. 1727 rächten die Krieger der Berge diesen Verrath durch den Sieg über Tschengitschbeck. Am 25. November 1756 schlug der Vladika Wassili Petrowitsch den Wessier von Bosnien in den Pässen von Brod. – Die französische Republik wurde nach den Siegen in Egypten über die Türken von allen Griechen-Sclaven als Befreier begrüßt; als aber Napoleon I. mit dem Sultan ein Bündniß schloß, sahen sich auch die Czernagorzen in ihren Hoffnungen getäuscht und wandten sich auf's Neue zu Rußland. Dem petersburger Vertrage zum Trotz übergaben die Einwohner von Cattaro ihre Stadt dem russischen Admiral Seniawin; mit russischen Hülfstruppen belagerten die Czernagorzen General Lauriston in Ragusa, erlitten aber hier eine Niederlage. 1813 eroberten sie Budva und am andern Tage, den 12. September, Troitza durch Sturm von den Franzosen, und obschon im Frühjahr 1814 Kaiser Alexander, in treuloser Diplomatie vergessend und opfernd die Dienste und Ansprüche seiner tapfern Bundesgenossen, ihren Hafen Cattaro an Oesterreich abtrat, wollten sie doch von dem alten Schutzherrn nicht weichen, bis die letzte Patrone verschossen war.

Im Jahre 1820, als der durch seine Grausamkeit berüchtigte Wessier Dschelaluddin auf's Neue einen Versuch machte, das Bergland zu unterjochen, errang Vladika Peter I. einen vollständigen Sieg. Dieser und sein ihm folgender Neffe, Peter II., der 1830 in Petersburg zum Bischof geweiht wurde und des Großwessiers Mehmed Reschid regelmäßige Truppen – 7000 Mann – mit 800 Bergkriegern schlug, sind die Regeneratoren Czernagora's und haben Bedeutendes für sein Emporblühen und seine Kräftigung gethan. 1840 und 41 erfochten die Montenegriner wiederum zahlreiche Siege gegen den berüchtigten Wessier der Herzogewina, Ali, dann beschränkte sich der Kampf auf die gewöhnlichen nie rastenden Gränzfehden, bis zur Zeit unserer Geschichte der Serdar von Bosnien, Omer Pascha, von Norden [109] und Osten, Osmann, der Pascha von Skadar (Scutari), von Süden aus gegen sie zu Felde zog.

Das Land ist in vier Nahien oder Bezirke eingetheilt: Czernitza, Lieschanska, Rietschka und Katunska-Nahia; der letztere ist der nördlichst gelegene. Jeder dieser Bezirke oder Grafschaften umfaßt eine Anzahl Plemen oder Stämme, deren das ganze Volk vierundzwanzig zählt. Hierzu kommt noch das Gebiet der Verdas, der sieben Berge, welche Montenegro umgeben, und deren Bewohner mit dem Freistaat verbündet sind. Jeder der Stämme besteht aus Familien oder Brüderschaften, Brastwo, die eine Gemeinde bilden, deren Glieder sich alle unter einander als Verwandte betrachten. Der Vladika, das geistliche Oberhaupt, seit hundert Jahren aus dem Stamme Njegosch, regiert mit einem Senat von Cetinje aus das Land, und zwar selbstständig, nachdem Peter II. die neben dem Vladikat bestandene Einrichtung eines Gobernatore oder Regenten in Civildingen abgeschafft und die Familie Radonitsch, in der das Amt erblich war, vertrieben hat.

Nach dem Tode Peters II. trat sein zum Nachfolger von ihm erwählter Neffe Danilo Petrowitsch Njegosch Ende Februar 1852 die gewöhnliche Reise nach Petersburg an, angeblich um die Weihe als Bischof sich ertheilen zu lassen. Doch schon von Wien aus that er dem Senat kund, daß er der geistlichen Würde zu entsagen und die Meinung des Volks darüber zu hören wünsche, um dann die Ermächtigung des Czaren zu suchen. Die zum 21. Mai nach Cetinje einberufene Volksversammlung sprach sich einstimmig für die vorgeschlagene Trennung der weltlichen von der kirchlichen Macht und für die Vererbung der Fürstenwürde im Mannesstamme des Hauses Njegosch aus, und Fürst Danilo ließ nach seiner Rückkehr in Cetinje dem versammelten Volke ein Schreiben des Czaren Nikolaus vorlesen, in welchem dieser, als Oberhaupt der griechischen Kirche, Danilo Petrowitsch zur Annahme der weltlichen Fürstenwürde und zur selbstständigen Ernennung des Bischofs ermächtigte, der in Zukunft der Kirche in Montenegro vorstehen sollte. Dies offene Eingreifen des Czaren, das Montenegro fast als eine russische Provinz erscheinen ließ, reizte die Pforte zum Einschreiten, die immer noch nicht die thatsächliche Unabhängigkeit des kleinen Freistaats anerkannt hatte und die Montenegriner nie anders als Rebellen betrachtete, die [110] nur die Unzugänglichkeit ihres Gebiets und die geringe Macht der Pascha's vor Unterjochung schützte. Die Pforte zog unter Omer Pascha in Bosnien Truppen zusammen, um die Montenegriner zum Gehorsam zu bringen. Fürst Danilo kam ihr zuvor; er züchtigte mit 1000 Kriegern den abgefallenen Stamm Piperi; 30 Czernagorzen aus dem Stamme Ceklin überfielen am 11. November die kleine türkische FestungZabljak und nahmen sie. So entspann sich der Krieg.

Fürst Danilo räumte zwar, auf Anrathen Oesterreichs, am 25. December wieder die gewonnene Veste und zog sich in die Gränzen seines Landes zurück, aber die Pforte, die vor Kurzem die ewig revoltirenden Begs Bosniens und der Herzegowina durch Ströme von Blut unter der eisernen Zuchtruthe Omer's zum Gehorsam gebracht hatte, wollte die Gelegenheit nicht versäumen, das unabhängige Montenegro zu unterjochen, und seine Truppen schlossen es von allen Seiten ein. Eine Proclamation des Serdars drohte die völlige Ausrottung aller Bewohner und seine Taktiki's (regelmäßige Truppen) und Arnauten schienen die Drohung alsbald wahr machen zu wollen und begingen die scheußlichsten Grausamkeiten gegen Frauen, Kinder und Hilflose. Im kleineren Kriege blieben freilich die leicht beweglichen, mit allen Schluchten und Schlupfwinkeln ihres Gebirges vertrauten Montenegriner überall Sieger und brachten den Türken nicht unerhebliche Verluste bei. Am 10. Januar griffen die Türken die Distrikte Piwa und Zupa an; in der Nacht zum 16. brachen die Montenegriner in das türkische Lager ein und Fürst Danilo drängte am 18. den Feind aus dem Zetathal wieder zurück. Dagegen erstürmten am 19. die Türken das befestigte Haus des Wojewoden Jakob Wujatich von Grahowo und nahmen ihn mit vierzig Gefährten gefangen, und Omer Pascha eroberte das tapfer vertheidigte Dorf Martinis unweit Spus am 24. und bedrohte Cetinje. Doch schon am 27. wandte sich wieder das Kriegsglück. Die Bergvölker schlugen die Moslems bei Limajani, widerstanden dem Sturme Selim Pascha's auf die Dörfer Boljevice, Limajani und Sotonica am 5. Februar und auf das Dorf Gedinje in der Czernitza Nahia am 16. Das Lager Omer's selbst war in der Nacht zum 9. bei der Brücke von Uzicki Most in der Nahia Bielopavelska vom Fürsten mit 3000 Kriegern überfallen und das türkische Heer mit großem Verlust in wilder Flucht bis Spuz [111] zurückgejagt worden, und die Türken mußten sich nach Lesine zurückziehen und am 25. Februar gänzlich Montenegro räumen, da Oesterreich an der serbischen Gränze Truppen zusammenzog und durch seinen außerordentlichen Gesandten, Feldmarschall-Lieutenant Grafen Leiningen in Constantinopel, von Rußland unterstützt, die Einstellung des Krieges, strenge Untersuchung der Beschwerden der bosnischen Christen und die Entfernung der ungarischen Flüchtlinge aus Omer Pascha's Heer forderte. Die Pforte mußte nachgeben und Graf Leiningen verließ am 14. mit der verlangten Note Constantinopel.

Zugleich begann die Differenz mit Rußland in der Frage der heiligen Stätten; der Czar stellte seine Forderungen, Fürst Mentschikoff traf damit am 28. Februar am Bosporus ein und bald war die Pforte in der Nothwendigkeit, ihre Streitkräfte an andere Punkte verlegen zu müssen. Am 24. Mai ertheilte Omer Pascha in Scutari dem türkischen Heere den Befehl zum Aufbruch nach der Donau und nur drei Bataillone verblieben im Paschalik und wurden nach Scutari, Podgoriza und Antivari vertheilt. Fürst Danilo hatte sich, um durch ein näheres Schutzbündniß seine Macht zu stärken und verschiedene Veranlassungen zu Gränzstreitigkeiten zu beseitigen, am 25. April nach Wien begeben und war nach einem überaus freundlichen Empfang am 7. Mai nach Cetinje zurückgekehrt. Bald darauf auch verbreitete sich die Nachricht, daß ein russischer Emissair, der OberstBerger, in Montenegro eingetroffen sei, und während die Angelegenheiten in Constantinopel sich immer drohender verwickelten und bald zum offenen Bruch führten, wuchs in allen griechisch-slavischen Provinzen die Gährung unter der christlichen Bevölkerung immer höher und mächtiger, und auch an den Gränzen Czernagora's brach trotz der bestimmten Befehle des Fürsten Danilo der kleine Plänklerkieg mit seinen gegenseitigen Raub- und Abenteuerzügen auf's Neue aus.

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Wo der prächtige felsenumgürtete See von Skadar (Scutari) sich hinabzieht gegen das gleichnamige Bollwerk des türkischen Albaniens, noch jenseits der von den Montenegrinern in Besitz genommenen Inseln Sanct Nicolaus, Stavena und Morakowitsch, liegt ein Felseneiland, wild und rauh, wie die Gebirge der Czernitza selbst, gleichsam als Vorposten gegen die türkische Veste, häufig von einzelnen Streiftrupps der unruhigen Bergbewohner besucht, theils [112] um hier auf den Oko's 2 die schmackhafte Ukljeva zu fangen, theils um von hier aus ihre ewigen Gegner, die Türken, zu beobachten.

Ein köstlicher milder Juli-Abend lag auf den blitzenden Wellen des schönen See's, die der scharfe Wind aus den Schluchten des Sutorman von Süden her in leichte Bewegung setzte. Unter einer schroff am See emporsteigenden Klippe, geschützt durch einen mächtigen Felsblock vor dem Luftzug und den Späherblicken, lagerte eine bunte Gruppe, aus fünf Personen bestehend, um ein kleines Feuer, an dem ein Holzspieß mit den schmackhaften Weißfischen des See's briet, während die zu der Gruppe gehörende Frau das Castradina, das Lieblingsgericht der Czernagorzen aus geräuchertem Fleisch auf serbische Art bereitete. Hoch oben auf dem Felsen, nach der gewöhnlichen Sitte seines Volkes auf Wachtposten, lag eine sechste Gestalt in den zottigen braunen Mantel des Hochlands gehüllt, Auge und Flinte gegen die Seite von Skadar gekehrt und auf der weiten Fläche des See's jedes kreuzende Boot, ja selbst die dahin streifende die Wellen berührende Möwe bespähend.

Das Haupt der Gruppe am Felsen war ein Greis von wahrhaft furchtbarem Aussehen. Das weißwollene Hemd, Hals und Brust offen lassend und in der Mitte von einem Gürtel zusammengehalten, in dem eine lange Pistole hing und der säbelgleiche Handjar mit schwer von Silber beschlagenem wohl einen Fuß langen Griff steckte, umschloß einen Körper von wahrhaft riesigen Formen. Um die Schultern von kolossaler Breite hing die Struka, der braune zottige bis über die Hüften reichende Mantel der Czernagora. Das Bein war zur Hälfte von einem kurzen türkischen Beinkleide bedeckt, während an den Füßen die Opanka befestigt war, jene leichte elastische Sandale, die sich vorzüglich eignet, um Berge hinan zu klimmen und von Fels zu Fels wie der Gemsenjäger zu springen. Das Charakteristische an der Figur des Alten zeigte der mächtige Kopf, der auf diesem Riesenleibe saß. Der Scheitel war halb kahl bis auf die Mitte des Schädels, nicht durch den Mangel an Haaren, sondern nach der Sitte des Volks rasirt, [113] denn rechts und links und von der hinteren Hälfte fiel mähnenartig ein starks graues Haar in langen Strängen und Flechten auf den Stiernacken herunter und vereinigte sich um Mund und Kinn mit einem gleichen rauhen Bart, den der Alte von Zeit zu Zeit wohlgefällig strich. Stirn und Gesicht bildeten dazu ein förmliches Gewebe von Runzeln, Falten und Narben, aus dem über der langen schnabelartig gebogenen Nase ein dunkles rastloses Auge mit einem Glanz und einem unstäten Ausdruck funkelte, der häufig etwas Wahnwitziges an sich trug. Das andere Auge war erblindet, von einem Schlag ausgelaufen, und die leere Höhlung erhöhte das Unheimliche des Gesichts, das durch einen breiten Mund mit glänzenden wolfsartigen Zähnen gleichfalls nicht gewann. Dies Haupt war von der beim Volke eingebürgerten Kopfbedeckung beschattet, dem tücherumwundenen Fez, der dadurch die Form eines Turbans gewinnt. Die furchtbarste Beigabe des Gesichts aber war ein im Rauch gleich den Köpfen der Neuseeländer getrocknetes Menschenhaupt, das in seiner ganzen Scheußlichkeit an einer starken durch den Schädel gezogenen Schnur gleich einem Amulet oder einer Zierrath um den Hals und auf der Brust des Alten hing. Hinter dem Greise am Felsen lehnte seine lange am Schaft reich mit Silber beschlagene Flinte von alterthümlicher Form.

Der übrige Theil der Gesellschaft bestand aus einem neben ihm sitzenden jungen Mann von 20 bis 21 Jahren, von edler klassischer Gesichtsbildung in einfacher griechischer Tracht; einem türkischen Arnauten im malerischen, nur bei dem Individuum stark mitgenommenen, ja zerlumpten rothen Costüm des Volksstammes der Gueguen; und in einem jungen Burschen von etwa 14 bis 15 Jahren, der gleichfalls die Kleidung der Czernagorzen trug und dessen Züge eine unverkennbare Aehnlichkeit mit denen des Alten hatten. Dasselbe, nur gemildert zu den Formen wirklichen Reizes, war bei der jungen Frau der Fall, die sich mit der Zubereitung des Mahles beschäftigte. Ueber den lang herabfallenden mit Bändern durchflochtenen Zöpfen lag zierlich das weiße italienische Kopftuch mit dem herunterhängenden Schleier, dem Zeichen der Zeichen der verheiratheten Frau. Ein eng und faltenreich um den Hals schließendes Hemd mit weiten bunt gestickten Aermeln, die Schürze von rother Wolle, darüber das Ueberkleid ohne Aermel von weißem Tuch mit blauen Schnüren geziert, vorn offen, Brust und Schürze mit dem am Gürtel hängenden Einschlagmesser frei lassend, Socken und [114] Sandalen an den Füßen, bildeten ihren charakteristischen nicht unzierlichen Anzug.

»So sagst Du also, Beg,« setzte der Arnaut das Gespräch fort, »daß der Christensultan in Moskwa das schwarze Hochland frei machen wird von den Gläubigen?«

»Du redest, wie es ein Moslem versteht, KhanHassan Lekitsch,« entgegnete der Greis. »Die Kinder der Czernitza sind nie die Sclaven des weißen Czaren 3 in Stambul gewesen, seit Iwo's meines Ahnherrn, Zeiten, der unter Obod's 4 Trümmern am Busen der schwarzäugigen Wila's 5 schläft, die über ihn wachen und ihn dereinst auferwecken werden, sobald es Gottes Wille ist, seinen geliebten CzernagorzenCattaro und das blaue Meer wiederzugeben. Dann wird der unsterbliche Held wiederum an die Spitze seines Volkes treten und die Schwabi 6 vertreiben, gleich wie er die Bekenner des Halbmondes von unseren Bergen vertrieben hat.«

»Aber Beg, Du weißt, daß ich selbst zu den Gläubigen gehöre.«

»Was kümmert das Iwo, den Einäugigen?« sagte der Greis in heiliger Einfalt. »Bist Du nicht unser Gastfreund und hast von unserm Brote gegessen? Was kümmert mich Dein Glaube, Khan, wenn Du Treue hältst dem Volke der Czernagora.«

»Du sprichst es, Beg, und es muß wahr sein. Aber sage mir, wie ist es mit dem Volk der Moskowiten?«

»Höre mich, Khan Hassan, und merke auf meine Worte, denn solche hat mit der Pope Petrowitsch gesagt. In Stambul, das Deinem weißen Czaren gehört, steht eine mächtige Kirche, von den Heiligen des Himmels gebaut und darin viele heilige Dinge, die gehörte den Christen, unsern Brüdern. Aber der weiße Czar hat sie ihnen geraubt und läßt jene den Haradsch zahlen und viele schwere Steuern. Er schlägt die Männer und hält sie mit dem Antlitz in's Feuer, bis sie ihm sagen, wo sie ihr Geld verborgen halten, und den Weibern und Mädchen schneidet er das Gewand [115] über dem Knie ab und giebt sie seinen Kriegern zur Beute, also daß er jeden Stamm der Rajahbrüder vertilgen will von dem Erdboden. Darob ergrimmte der schwarze Czar, unser Vater in Moskau, und er hat seine Krieger marschiren lassen in das Land unserer Väter an dem großen Strom, an dem der Heiduck wohnt und der Serbe und der Bulgare, daß der Serdar, unser Feind, eilig unsere Berge hat meiden müssen und gegen den neuen Feind ziehen. Der schwarze Czar aber, welcher uns so befreit hat, er verkündet uns, daß er unsere Rechte mit denen unserer Griechenbrüder zugleich vertheidigen und den Sultan aus Stambul wieder verjagen wird weit über's Meer in's Land, woher seine Väter gekommen sind.«

»Aber der Vladika hat Frieden gemacht mit dem Sultan,« entgegnete hartnäckig der Türke, »und ich habe gehört, daß er ein Verbot an alle Plemen erließ, die Wassen zu erheben.«

»Du redest Thorheit, Khan! Kann denn die Welle der Moratscha rückwärts fließen? Kann der schwarze Kalogeri 7 seinen Kindern verbieten, nicht für den Czaren in Moskau zu kämpfen, nachdem er selbst die Weihe von seiner Hand empfangen hat? Wisse, Khan, ich habe selbst in Cetinje auf dem Markt den Wojwoden gesehen, den der schwarze Czar an seine Junaks 8 in Czernagora geschickt hat, um sie zum Kampfe zu laden. Sie nennen ihn den Oberst Berger, und dieses Kreuz hab' ich von seiner eigenen Hand erhalten.«

Er zeigte ihm eine der russischen Denkmünzen, wie deren viele an die tapferen Krieger des Hochlandes vertheilt werden und die er am Halse neben dem Schädel trug.

»Meinst Du,« fuhr der Greis fort und sein eines Auge leuchtete wild, »daß Beg Iwo Martino witsch in seiner Jugend umsonst Troitza gestürmt und den Helden Campaniole mit seiner Kugel erlegt habe, oder daß er gegen den grausamen Dschelaluddin vor dreiunddreißig Wintern gefochten und die Taktiki's des Mehemed bei den Kula's von Martinitsch getödtet habe, um in seinen alten Tagen von Gott, dem großen Würger 9, auf seinem Lager [116] gefunden zu werden? Sieh dieses Haupt auf meiner Brust, es gehörte einst dem Pascha des verfluchten Podgoritza, Namik-Halil, und seit einundzwanzig Jahren trag' ich den Todfeind an meinem Halse, der mein erstes Weib und meine Kinder in's Feuer des Kula's meines Stammes warf. Meinst Du, daß ein Uskoke, der also haßt, je den Säbel ruhen lassen wird gegen den Türken? Hab' ich nicht mitgefochten wieder bei Martinitsch, als uns in diesem Jahre der Würger von Bosnien, Omer Pascha, mit Krieg überzog? War ich nicht dabei, als wir in der Mordnacht von Plamenzi den Moslem aus seinem Lager schlugen, und hat mein Schwiegersohn, Gabriel der Zagartschane 10, nicht gefochten und gelitten mit dem tapferen Wojwoden von Grahowo, dessen Seele die Heiligen gnädig sein mögen, und schmachtet jetzt dort hinter den Wällen des blutigen Skadar?«

Er schaute grimmig umher, wie als suche er nach Einem, der den Widerspruch wage. Die Frau, von seinen letzten Worten erregt, brach in eine leidenschaftliche Klage aus.

»Warum sahen meine Augen den Tag, da Gabriel, mein tapferer Gatte, in die Hände des Selim Pascha fiel, nachdem Gott ihn aus der Hand des grausamen Derwish hat entkommen lassen? Wohl sehe ich neben mir den Blutbruder meines theuren Herrn, der an seiner Seite gestritten und mit ihm gefangen gelegen, aber Nicolas Grivas der Mainote sitzt ruhig hier im sichern Schatten der Felsen, indeß Gabriel Zagartschani im Thurme von Skadar modert, aus dem uns Hassan der Moslem allein die erste Kunde gebracht hat.«

Der junge Mann in griechischer Tracht, der bisher stumm und melancholisch brütend neben dem alten Beg gelegen hatte, fuhr empor bei dem bittern Spott und eine dunkle Röthe übergoß sein schönes offenes Gesicht.

»Was redest Du, Weib?« sagte er heftig. »Habe ich nicht mein Blut vergossen, wie Dein Gatte, mein Freund, am Tage [117] des Kampfes? Hab' ich nicht Hunger und Kälte getragen mit ihm, und als wir in's Türkenlager brachen, gefochten an seiner Seite?«

»Das hast Du, Nicolas Grivas, – aber ich sehe Dich nicht liegen auf dem Schlachtfelde, wundenbedeckt, zur Vertheidigung Deines Bruders! ich sehe Dich nicht, gefesselt gleich ihm, in dem moderathmenden Kerker von Skadar! Ich frage Dich nur, wo ist der Bruder, mit dem Du den Blutbund beschworen, und siehe, Du kannst mir nicht antworten: Frau, da ist er, oder ich bringe Dir mindestens das Haupt dessen, der ihn erschlagen hat!«

Grivas rückte unruhig hin und her.

»Du thust mir Unrecht, Stephana, und weißt sehr wohl, daß ich mein Blut willig opfern würde für den Freund. Mein Bruder Andreas Caraiskakis hat wahrlich keinen Feigling in Euer Land geschickt, daß er Euch beistehen sollte mit seinen geringen Kenntnissen und seiner jungen Hand im Kampfe gegen den Sultan. Kann ich dafür, daß das Gewühl des Ueberfalls mich in dem Dunkel der Nacht vom Freunde trennte und ich fern war, als er im Eifer der Verfolgung verwundet wurde und von den treulosen Albanesen nach Scutari gebracht ward? Bin ich nicht mit Lebensgefahr sofort in die Höhle des Löwen gegangen, als Hassan Khan uns die erste Nachricht von dem Leben unseres Freundes gebracht hatte, um zu suchen, wie ich ihn retten könne, und bin ich nicht bereit, in einer Stunde auf's Neue das Werk zu wagen?«

Die Frau legte freundlich ihre Hand auf seine Schulter.

»Zürne nicht, Nicolas Grivas, über den Schmerz eines Weibes. Ich weiß, Du bist ein Junak, ein Tapferer, die Helden meines Volkes rühmen den Knaben der Juganen 11, der zu uns kam, mit uns für den Krieg zu streiten. Aber Du hast nicht das Auge der Adler von Czernagora, das auch im Dunkeln den Bultbruder bewacht. Auch ist es trübe und matt, seit Du von Skadar wiedergekehrt bist zu uns, als läge ein mächtiges Leiden auf Deinem Herzen. Dennoch vertraust Du uns nicht und mischest Deinen Kummer nicht mit dem meinen.«

Der Grieche stützte finster das Haupt in die Hand und schwieg. Des Weibes Blicke ruhten aufmerksam auf ihm, aber sie wagte nicht, weiter zu fragen, bis Hassan der Arnaut, der mit unendlicher [118] Seelenruhe alle Schmähungen auf seine Glaubensgenossen mit angehört hatte, den Rauch seiner Pfeife von sich blies und die Vermuthung aussprach:

»Ich meine, der Giaur hat in die blauen Augen der Houri's von Scutari geschaut und sein Herz ist getroffen worden gleich dem Reh der Wälder. Bei Allah, die Weiber in meiner Heimath sind schön, und viele von ihnen haben den bösen Blick, der niemals den wieder verläßt, den er ein Mal getroffen hat. Nimmer hätte ich das Land gemieden, wenn mich nicht der Zorn übermannt hätte, daß ich den Aga Mehemet zu Tode schlug.«

In Grivas Wangen stieg verräterisch das Blut während der gemächlichen Rede des Arnauten, indem er Aller Blicke auf sich gerichtet fühlte.

»Ei wohl, Khan,« sagte Stephan, »Du magst Recht haben, und wenn der junge Junasch wirklich einer Taube begegnet ist, die sein Herz gerührt hat, ei, so mag er das Recht der Otmitza 12 üben, wenn er glücklich heimkehrt, und sich die Braut holen.«

Der Alte schaute sie finster von der Seite an.

»Die Otmitza hat schon Unheil genug gebracht, denn sie führte den Sohn des Geschlechts, mit dem wir in Blutrache leben, in unsere Brastwo 13. Bei den Gebeinen des heiligen Märtyrers Basilius in Ostrog 14, ich weiß nicht einmal, ob ich Recht daran thue, zuzugeben, daß dieser junge Mensch, mein Gastfreund, in den Rachen des Wolfes geht, bloß um einen Mann zu retten, dessen Blut der Familie Martinowitsch eigentlich verfallen ist und längst hätte von uns vergossen werden müssen.«

»Vater,« rief die Frau entsetzt, »was redest Du da? Du sprichst von Deinem Eidam, dem Gatten Deines Kindes!«

Der Greis starrte vor sich hin, die fixe Idee seines Familienhasses schien in ihm wieder aufzusteigen und seinen Geist zu verdüstern.

»Was Kind!« murmelte er vor sich hin. »Die Blutrache hat seit hundert Jahren zwischen dem Geschlecht der Zagartschani und der Martinowitsch Zahn um Zahn genommen, so will es das [119] alte Gesetz, und der Vater Deines Mannes hat unsern Djewer 15 zuletzt erschlagen, ohne daß sein Blut bis jetzt gerochen ist.«

»Aber es ist das Blutgeld gezahlt und der Streit ist ausgeglichen, als mich Gabriel heimlich davongeführt und Ihr auf des Popen Bitte dann Eure Einwilligung zur Heirath gabt und Gabriel zum Schwiegersohn nahmt.«

»Blut ist Blut,« sagte der Alte, »und der Schatten des Vetters hat mich manch liebe Nacht gemahnt, wenn die Wila's draußen auf der Livada 16 tanzten und der Vampyr umherging mit den blutigen Augen vor der Hahnenkräh. Iwo ist alt und hat einen Eid gethan, nur das Blut der Moslems noch zu vergießen, aber er hat einen Knaben, in dessen Adern das schwarze Blut der Familie rollt, und er wird die Pflicht seines Stammes nicht vergessen.«

Der junge Mann, sein Sohn, der bisher geschwiegen und nur auf jedes Wort aus dem Munde der Aelteren gelauscht hatte, richtete sich funkelnden Auges vom Boden empor.

»Befiehl, Vater Iwo, und Bogdan wird gehorchen, gält' es auch das Blut seines nächsten Freundes.«

Er zog wie betheuernd den Yatagan in seinem Gürtel halb aus der Scheide, doch die Schwester, wild erregt von der herzlosen Blutgier, die zur Sühnung einer alten Familienfehde selbst das Leben des eigenen Verwandten bedrohen konnte, sprang wie ein Blitz auf die Flinte des Alten zu und schwang die schwere Waffe gleich einem Rohr um das Haupt.

»Seid Ihr Wölfe aus dem Epyrus,« zürnte sie, »oder die grausamen Tiger des todten Wüthrichs von Janina 17, daß Ihr das eigene Blut schlachten wollt, statt es zu retten aus Türkenhand? – Bei allen Heiligen im Himmel, wer mir an den Gatten will, der hat es zuvor mit mir zu thun, und er wird sehen, ob die Tochter der freien Berge die Waffe zu führen versteht!«

Grivas war aufgesprungen.

»Gebt Euch zufrieden, Stephana, Vater und Bruder haben es so schlimm nicht gemeint, und es ist nur der alte böse Geist, der zuweilen über den tapferen Sinn des Begs kommt. Du [120] weißt, daß Keiner eiliger war, als er zur Tscheta 18, da uns die Kunde kam von Deinem Gatten.«

Der Alte strich sich wohlgefällig lachend den Bart.

»So gefällst Du mir, Kind, ich erkenne mein Blut in Dir wieder und weiß, daß das Weiß seinem Manne anhängen muß. Aber spute Dich jetzt, wenn die Sonne sinkt hinter die Berge, und wenn die Dämmerung naht, muß der Grieche im Kahn sein, um zeitig in Skadar zu landen.«

Die Frau stellte die hölzerne Schüssel mit der Castradina vor sie hin und Alle setzten sich um das Mahl und stillten ihren Appetit. Dann löste der junge Martinowitsch die Schildwacht auf dem Felsen ab, um dem Gefährten, einem Vetter der Familie, gleichfalls sein Theil zukommen zu lassen.

Während dessen beriethen die Männer den gefährlichen Zug des jungen Griechen zur Befreiung seines Freundes, mit dem er vor dem Heldenkampf von Grahowo die uralte Sitte der Blutbrüderschaft eingegangen war, ein Band, das zwei Männer zu jeder Aufopferung und Hingebung verpflichtet. Die Blutbrüderschaft wird nach den Gebräuchen des Volkes entweder für's Leben oder für eine gewisse Zeit, z.B. für die Dauer eines Krieges oder einer Fehde, geschlossen. Während dieser verlassen sich dann die so Verbundenen keinen Augenblick, Gefahr und Ruhe, Speise und Noth theilen sie gemeinschaftlich. Ein Lager umfängt sie, Schulter an Schulter stehen sie im Kampf, und nur der – gewöhnlich aber gemeinschaftliche – Tod scheidet den Einen vom Andern und legt dem Ueberlebenden die heilige Pflicht auf, den gefallenen Bruder blutig zu rächen und für seine Hinterlassenen, wenn er Familie hat, zu sorgen. Unauslöschbare Schmach trifft den, der seinen Blutbruder in der Gefahr verläßt oder, ohne ihn gerächt zu haben, aus dem Kampfe allein zurückkehrt.

In ähnlichem Fall war Nicolas Grivas, der jüngere Stiefbruder der beiden Caraiskakis, gewesen. Die heldenmüthige Vertheidigung des befestigten Hauses des Wojwoden Jakob Wujatich von Grahowo gegen die Türken unter Dervish Pascha ist durch die Zeitungen bekannt. Am 19. Januar erstürmten die Türken das Haus, und der tapfere Wojwode fiel, nachdem er noch eine Felsengrotte lange gehalten und nur auf die drohende Gefahr der [121] bereits begonnenen Unterminirung unter dem Versprechen ehrlicher Kriegsgefangenschaft die Waffen streckte, mit vierzig Gefährten – darunter Grivas und sein Blutbruder Gabriel, der Schwiegersohn des berühmten Beg Martinowitsch – in die Hände der Türken. Aber die Moslems, treulos und grausam wie in allen diesen Kriegen gegen die Montenegriner, hielten das gegebene Wort schlecht und unterwarfen die Gefangenen den furchtbarsten Leiden. An Pfähle gebunden, der Kleider größtentheils beraubt und bei dem Mangel an Lebensmitteln im Lager selbst oft die nothdürftigste Nahrung entbehrend, mußten sie die kalten Wintertage und Nächte zubringen. Der Brand trat bei Vielen alsbald zu den Wunden und endete ihre Leiden. Es ist historisch, daß einem Bruder des Wojwoden das Bein abfror. Der Wojwode selbst starb im März an den Folgen der erlittenen Behandlung. In einer Nacht war es jedoch vier der Gefangenen, darunter den beiden Freunden, gelungen, während eines furchtbaren Unwetters zu entfliehen und sie gelangten durch das österreichische Gebiet glücklich zu den Ihren, wo ihnen jedoch nur kurze Erholung gegönnt war; denn der Kampf wüthete auf allen Seiten und sie nahmen alsbald wieder Theil an demselben und rächten die Leiden ihrer Gefangenschaft bei dem siegreichen nächtlichen Ueberfall an der Brücke Uzicki Most und bei Frutack, wo die Türken über 500 Gefangene, 400 Todte und eine große Beute mit der Kriegskasse selbst verloren. Im Gedräng des Kampfes waren hier jedoch die Freunde von einander gekommen, und Gabriel der Zagartschane, von seiner heimischen Pleme in der Katunska-Nahia also genannt, fiel auf der eifrigen Verfolgung der Feinde nach Spuz, am Bein verwundet, in ihre Hände und wurde von dem Heere auf dem Rückzug nach Scutari mitgeschleppt, während seine Waffengefährten glaubten, daß er im Kampfe geblieben. Grivas, dessen Suchen nach der Leiche des Freundes vergeblich gewesen, brachte die traurige Kunde seiner Frau, die während des Zuges nach Grahowo zu ihrer Familie in der Nahia Rietschka zurückgekehrt war. Nur der Ruf der bewiesenen Tapferkeit und Aufopferung schützte den jungen Griechen hier vor Schmach, da er ohne sichtbare Beweise vom Tode des Blutbruders und der für ihn geübten Rache heimgekehrt war. Dennoch sah er sich überall von mißachtenden Blicken angeschaut und kehrte bald zurück nach Cetinje, wo er im Stabe des Fürsten mit seinen auf der Militairschule zu Athen erworbenen Kenntnissen schon früher [122] Hilfe geleistet. Plötzlich, gegen das Ende des Monats Juni, rief ihn eine Botschaft der Wittwe des Freundes zurück nach der im unwirthbarsten Gebirge belegenen Kula 19 des alten Martinowitsch. Zu seinem freudigen Staunen vernahm er hier die Nachricht, daß ein aus Scutari wegen eines begangenen Todtschlags geflüchteter Arnaut der Familie, um sich bei ihr die Gastfreundschaft zu sichern, die Kunde gebracht hatte, daß Gabriel am Leben und unter den Gefangenen in Scutari sei. Die Familie hatte alsbald die heilige Pflicht geübt, dem Blutbruder als dem Nächstverpflichteten Kunde zu senden, und Grivas war sogleich bereit, das Werk der Befreiung zu wagen. Eine Tscheta aus den engeren Mitgliedern der Familie wurde hinab zum See von Skadar beschlossen und man lagerte bereits seit acht Tagen auf einer der von den Montenegrinern den Türken entrissenen Inseln des prächtigen Gewässers. Von hier aus hatte der junge Grivas bereits ein Mal sich nach Scutari gewagt, um das Terrain zu recognosciren, denn offenbar konnte hier zur Befreiung des Gefangenen nur List, nicht Gewalt helfen.

In der That war es ihm auch durch die Andeutungen, die der Arnaut und der Beg ihm gegeben, gelungen, sich über das Gefängniß des Freundes zu orientiren, und glücklich kehrte er wieder zu den Genossen zurück, um mit ihrer Hilfe die Befreiung selbst zu versuchen. –

Nachdem das Mahl eingenommen, waren die Vorbereitungen zur Abfahrt des verwegenen Abenteurers, der auch dies Mal die Fahrt allein unternehmen sollte, bald getroffen. Unter der Fustanelle 20 trug er einen langen, mit Knoten und Haken versehenen Strick um den Leib, ein Feile und ein scharfes Messer in den Gamaschen der Füße eingeknüpft, im Gürtel die gewöhnlichen Waffen der Albanesen. Während der einäugige Greis mit dem Moslem hinunter ging zum Ufer, den schmalen Kahn vom Segelboot zu lösen, in dem die Gesellschaft gekommen war, trat Stephana zu dem jungen Mann.

»Der heilige Johannes schütze und segne Deine Fahrt und Dein Unternehmen, Nicolas Grivas,« sagte sie feierlich. »Gern [123] möchte ich an Deiner Seite stehen, und wahrlich, ich wollte Dir kein schlechter Beistand sein im Augenblick der Gefahr, aber ich fühle, meine Gegenwart könnte Alles verderben. Doch hilft List und Muth oft nicht allein, wirksamer als Kugel und Stahl ist das gelbe Metall. Hier, Freund meines Gatten, nimm, was mein davon ist. Ohne den Theuren nützt mir der Schmuck Nichts; gewinne ich ihn wieder, so ist er mein bester Schmuck. Nimm!«

Sie drang ihm eine jener Schnuren von zusammengereihten kleinen Goldmünzen auf, welche die slavischen Frauen so häufig zum Schmuck des Hauptes benutzen und in die Haare flechten. Grivas fühlte die Wichtigkeit der Gabe für seinen Zweck und nahm sie dankend.

»Noch Eines frage ich Dich,« fuhr Stephana fort und legte freundlich die Hand auf seine Schulter. »Vertraue mir, der Frau, was Dich sichtlich drückt, seit Du von Skadar zurückgekehrt bist. Hast Du Etwas Schlimmes von Gabriel, meinem Gatten, erfahren, oder ist die Vermuthung des Khan wahr und hat die Liebe Dein Herz getroffen?«

Der junge Mann bedeckte die Augen mit der Hand. »Liebe, Stephana? ich weiß es nicht, aber wenn es die Liebe ist, so muß sie etwas Schreckliches sein. O, daß ich Dir diese Augen beschreiben könnte, die ich nur ein einzig Mal geschaut und die sich für ewig glühend in mein Gehirn gebohrt haben, daß ich nicht mehr fühlen und denken kann. Kennst Du die grauenvolle Sage Deiner Heimath vom Vampyr, Frau, der im Mondlicht bleich umherstreift und sich an die Herzen der Lebenden sangt, jeden Blutstropfen unersättlich verschlingend? So saugt allnächtlich dies Bild mit den glühenden Augen an meinem Herzen. Stephana – ich liebe – einen Vampyr!«

Die junge Frau schlug das Kreuz. »Um der Heiligen willen, Mann, fasse Dich – Du redest ruchlosen Wahnwitz!«

»Wahnwitzig möcht' ich werden, und der Wahnwitz hätte mich gen Skadar getrieben, auch wenn die Pflicht gegen den Freund mich nicht dahin geführt!«

Der Ruf des Alten ertönte vom Ufer herauf – der Nachen war bereit, die Sonne im Untergehen.

»Bete für mich – bete für meine arme Seele! Nur der Himmel kann retten, die den Unterirdischen verfallen sind!«

[124] Wenige Worte noch mit den Gefährten, und die kräftigen Ruderschläge entfernten ihn vom Ufer.


Es war nach Mitternacht, im Silberglanz des Mondes, als Nicolas Grivas eine halbe Stunde entfernt von den Wällen von Scutari, östlich vom Hafen der Festung, unter wildem Felsgestein und Gebüsch nach angestrengtem Rudern landete und den Nachen, so gut es die Gelegenheit bot, dort verbarg. Dann ging er eine Strecke landein, suchte sich einen vor den schädlichen Mondstrahlen geschützten Platz und legte sich nieder zum Schlaf. Mit Sonnenaufgang war er munter, nahte sich vorsichtig der Stadt und schlenderte dann mit den zahlreichen Gruppen der albanesischen Landleute und Arbeiter sorglos durch das geöffnete Thor.

In einem der türkischen Caffeehäuser in der Nähe der Befestigungen des Hafens, in denen, wie er von Hassan wußte, Andreas gefangen saß, nahm er sein Morgenbrot und verweilte, bis ein regeres Treiben die Straßen belebte.

Die rothe Tracht der Gueguen oder Myrditen mit dem Waffen-Arsenal im Gürtel, oder dem malerischen Harnisch, der an die Ritterzeiten und die Tscherkessen erinnert; die Toja der Toxiden mit dem Waffenrock, dem Gürtel und den Sandalen aus der Römerzeit, während der schlanke, erhabene Wuchs ihrer Frauen, das rein griechische Profil und die großen, blauen, seelenvollen Augen unter den lang herabhängenden, blonden oder kastanienbraunen Haaren ein Bild klassischer Schönheit giebt; die Frau von den Ufern der Drinna, die Flinte auf der Schulter, den Handjar im Gürtel und den Korb mit den Früchten oder Geflügel, die sie zu Markte bringt, auf dem Kopf; dazwischen die kleine, dunkle Gestalt desJapis aus den Schluchten und Felsen am adriatischen Meere; die Männer von Suli mit dem Adlerblick und der stolz emporgetragenen Stirn; der türkische Soldat des Nizam in seiner dunkelblauen unkleidsamen Tracht mit dem flachen Fez; der geschäftige Grieche und Jude und dazwischen der gravitätische Moslem, – alle diese hundert bunten Gestalten mit dem den Griechen-Slaven eigenen lebhaften Drängen und Schreien gaben ein überaus lebendiges buntes Bild, durch das sich Grivas zum Khan des Maltesers Girolamo drängte, in dem, nahe am [125] Bazar gelegen, die Müssiggänger der Festung, die Fremden und die Offiziere der Besatzung zu verkehren pflegen. Gegenüber dem Khan war der Aufgang zur Citadelle, in deren Ringmauern sich die Gebäude des Paschalik befanden. Nicolas nahm vor dem Khan einen Sitz ein, und statt mit einem oder dem Anderen ein seine Zwecke vielleicht förderndes Gespräch anzuknüpfen, schaute er unverwandt nach dem Thor der Citadelle, an dem die Wachen müßig lehnten.

So hatte er bereits zwei Stunden gesessen, als durch das Thor zwei Frauen in türkischer Kleidung die Festung verließen, die Gestalt in den verhüllenden Feredschi 21 verborgen, während das Haupt unter dem weißen Schleier, Yaschmack genannt, verschwand, den, aus einem langen Streifen Mousselin bestehend, die muhamedanischen Frauen, sobald sie ihre Gemächer verlassen, um den Kopf wickeln und unter dem Kinn befestigen, so daß er das ganze Gesicht verbirgt und nur einen etwa drei Finger breiten Streifen für die Augen frei läßt. An der grünen Farbe des Mantels war leicht zu erkennen, daß die Eine die Herrin, die Andere eine Sclavin war. Die Gestalt der Ersteren erschien trotz der verhüllenden Kleidung groß und stolz und hatte nicht den durch die doppelten Pantoffeln gewöhnlich hervorgebrachten schleppenden und unsicheren Gang. Die Dame trug vielmehr unter den weiten türkischen Beinkleidern rothe mit Gold gestickte Stiefel, und jede ihrer Bewegungen zeigte eine bei den Orientalen ungewohnte Rastlosigkeit und Energie. Die beiden Frauen gingen allein, aber deshalb nicht unbegleitet. Ein seltsamer und schauerlicher Gefährte bewachte jeden ihrer Schritte, – ein gezähmter Wolf, der gleich einem Hunde, die rothe lechzende Zunge aus dem Rachen hängend, neben ihnen her trottete.

Die Erscheinung war zu auffallend, um unbemerkt vorüber zu gehen, und obschon der Grieche eben nur Augen für sie hatte, konnte er doch wahrnehmen, wie die Besucher des Caffeehauses sich von ihr unterhielten, und mehrmals hörte er den Namen Fatinitza aussprechen. Er hatte sich vom Sitz erhoben, als er die beiden Frauen bemerkt, und stand dicht an der Straße, die sie vorüberführte. Schon von Weitem hatte ihn in dieser Stellung [126] der Blick der Türkin getroffen, der mit einem seltsamen verzehrenden Ausdruck auf ihm haften blieb. Starr und ruhig, lag doch eine wahrhaft unheimliche Gluth im Hintergrunde dieses schwarzen Auges, das sich förmlich an ihn festzusaugen schien. Seine ganze Kraft und Selbstständigkeit schien unter dem Ausdruck dieses Blickes zu schwinden, und dennoch vermochte er nicht, den seinen davon abzuziehen.

Wenn das unheimliche Auge dieser Frau wirklich eine Freude auszudrücken vermochte, so zeigte sie sich bei dem Erblicken des jungen Griechen. Man sah durch die Oeffnung des Schleiers den sichtbaren schmalen Theil des bleichen Gesichts lebhaft erröthen und ihre Hand ließ unwillkürlich den Zipfel des Mantels fahren, der zurückfallend eine der Tracht der Mirditen ähnliche Kleidung zeigte, in deren Gürtel ein leichter Handjar und eine zierliche Pistole von französischer Arbeit steckten. Der Mantel verhüllte sie im Augenblick wieder, und nur ein leises Neigen des Kopfes, als sie dicht an ihm vorüberging, und der Ausdruck des Auges zeigten dem nach orientalischer Sitte stumm und ehrerbietig grüßenden jungen Manne, daß er wiedererkannt sei. Starr und lange schaute er nach, als die beiden Frauen im Zugang des Bazars verschwanden, ohne daß er zu folgen wagte.

»Bei Allah!« sagte eine Stimme hinter ihm, »Du bist ein kühner Christ, daß Du Dich unterfängst, der Wölfin von Skadar so keck in die Augen zu schauen. Nur wenige der Moslems wagen, die Tochter Selim's zu begrüßen.«

Als Grivas sich umschaute, sah er einen greifen türkischen Kaufmann in ärmlicher Kleidung vor sich, der ihm jedoch bekannt schien, denn er begrüßte ihn alsbald und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen.

»Kennst Du die Frau, Ali Martinowitsch,« redete er ihn an, »so sage mir, wer sie ist.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Laß Dich warnen, Jupane,« entgegnete er, »daß Du nicht in die Klauen dieser Wölfin fällst. Es istFatinitza, die einzige Tochter des Selim Pascha, der in Skadar gebietet, von einer Mirditin ihm geboren und der Apfel seines Auges. Aber ihr leibhaftiger Vater ist der Scheitan 22, denn sie liebt das Blut,[127] gleich der Wölfin, die sie selbst in den Schluchten des Sutorman aus dem Nest geholt und gezähmt hat. Schon viele der jungen Männer, schön und kühn wie Du, haben ihr Ende gefunden durch diese Frau, und Niemand weiß, wo ihre Gebeine bleichen. Man sagt Böses und Geheimnißvolles von ihr, das die Lippe nicht wieder zu erzählen wagt. Es sollte mir leid thun um Dich, der mir das Zeichen des Begs, meines Blutsfreundes, gebracht hat.«

In der That gehörte der Moslem zu dem Stamm des alten Czernagorzen. Als Stanischa, der Sohn Iwo's des Schwarzen, nach der abenteuerlichen Vermählung mit der Tochter des Dogen von Venedig und seiner Rache an dem schönen Wojwoden Djuro – wie sie die Piesmen so romantisch erzählen – zu den Moslems floh und zum Islam übertrat, waren ihm viele Tapfere seiner Heimath gefolgt. Obschon seitdem eine bittere Feindschaft zwischen den Nachkommen der Abtrünnigen und den christlichen Czernagorzen herrschte, hätte doch Keiner aus der Familie Buschatli – diesen Namen führen die Nachkommen Stanischa's in Skadar, wo dieser von den Moslems als Pascha eingesetzt worden, – einen der alten Blutsfreunde des Hochgebirges an einen Türken verrathen. Es bestand und besteht vielmehr eine gewisse, man könnte sagen Gastfreundschaft, die sie verpflichtet, in privaten und Familien-Dingen sich gegenseitig zu Dienst zu sein, unbeschadet der allgemeinen Feindschaft. So besaß auch der Beg in dem alten Kaufmann einen Stammverwandten und häufig schon hatten Beide in den gegenseitigen Kriegen sich Dienste erwiesen. An ihn hatte der Alte daher schon bei der ersten Fahrt nach Skadar den jungen Griechen gewiesen, und der Kaufmann hatte ihm versprochen, auf Grund der Mittheilungen Hassan's weitere Nachforschungen und Vorbereitungen zu treffen.

Nicolas Grivas gedachte der ihm obliegenden Pflichten und ermannte sich aus seinem Brüten.

»Fürchte Nichts,« sagte er zu dem Alten, »dieses Auge machte nur einen betäubenden Eindruck auf mich, gerade wie das erste Mal, als ich es umherstreifend in der Vorstadt der Gärten 23 im Schatten der Kastanienbäume auf mich gerichtet sah und ihm [128] unwillkürlich folgen mußte, bis die Thore des Kastells mir den Weg versperrten. Ich bin ein Mann und hier, um den Blutbruder zu retten. Hast Du erforscht, was ich Dir aufgetragen und wie eine Botschaft zu dem Freunde gelangen kann?«

Der alte Mann bejahte, forderte aber den Griechen auf, ihm nach seinem Hause zu folgen, da hier ihr Gespräch leicht belauscht werden könne. Nicolas schien sich zwar nur ungern von dem Platze zu trennen und die Rückkehr der Frauen aus dem Bazar abwarten zu wollen, Ali aber, der den scharfen Blick der Türkin scheute und nicht im Gespräch mit dem von ihr bemerkten Fremdling betroffen sein mochte, drang auf ihre Entfernung, und so folgte ihm der junge Mann durch die engen Straßen bis zu einem kleinen Häuschen, in dem die Familie des Alten wohnte. Hier theilte derselbe ihm mit, daß ihre ersten Nachrichten richtig und der gefangene Czernagorze in einem Kerker des alten Thurmes eingeschlossen sei, der als vorspringendes Werk der Citadelle seine dicken Mauern in die Wasser des Sees tauchte. Gabriel war von seinen Wunden zwar gänzlich wieder hergestellt, wurde aber streng bewacht und litt Entbehrungen aller Art. Das hatte Ali von einem der Kerkerdiener erfahren, den er als der Bestechung offenbar zugänglich schilderte. Seine eigene Armuth hatte ihm jedoch nicht gestattet, diese zu versuchen, und er stellte nun Grivas das Weitere anheim. Mit Dank erkannte jetzt dieser den Werth der Gabe Stephana's, und indem er sie dem ehrlichen Gastfreund einhändigte, bat er ihn, sein Heil alsbald damit bei dem Gefängnißwärter zu versuchen. Der Alte verließ ihn, indem er ihm auf's Dringendste anbefahl, nicht aus dem Hause zu gehen und durch sein Umherstreifen keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Nach zwei Stunden kam er wieder; er hatte den Mann gefunden und dieser war bereit, für die Schnur der Goldmünzen dem Gefangenen zur Flucht zu helfen. Doch gab es nur eine Weise, diese auszuführen, da die Ausgänge der Citadelle selbst stets von Wachen besetzt und gefährlich zu passiren waren. Der Kerker des Czernagorzen lag im dritten Stockwerke des Thurmes, das Fenster war deshalb nur leicht vergittert und der Mann hatte es übernommen, dem Gefangenen Feile und Strick zu bringen, um sich mit deren Hilfe durch die nach dem See zu schauende Fensteröffnung zu retten. Nicolas sollte mit einem Kahn sich um [129] die zwölfte Stunde der Nacht in der Nähe des Thurmes halten und den Flüchtling aufnehmen. Die ganze Nacht blieb ihnen dann, sich in Sicherheit zu bringen.

Grivas entledigte sich der scharfen Feile, die er im Leder der Gamaschen trug, und des Strickes um seine Hüften, und der Alte trug Beides gleich verborgen zu dem Helfer, der die Hälfte der besprochenen Belohnung im Voraus empfangen hatte und den Rest erhalten sollte, nachdem er seine Aufgabe erfüllt. Gegen Abend sollte Nicolas die Stadt verlassen, wie er gekommen war, und im Schatten der Nacht mit seinem Kahn dem Thurme nahen, um zur bestimmten Stunde bereit zu sein. Weitere Hilfe vermochte ihm der Gastfreund unmöglich zu leisten, und das Folgende blieb dem Muth und Glück der beiden Blutbrüder überlassen.

Es war gegen Abend, als Nicolas Grivas von dem Gastfreund Abschied nahm, um die Stadt vor dem Schluß der Thore zu verlassen und sein Unternehmen zu beginnen. Mit seinen besten Segenswünschen entließ ihn der Moslem, der jedoch nicht wagte, in seiner Begleitung weiter sich sehen zu lassen. Der Grieche wandte sich zum Thor; aber unwillkürlich zog es ihn noch ein Mal hin in die Nähe der Unheimlichen, die so eigenthümlichen Einfluß auf ihn zu üben begann. Er ging nach Ghirolamo's Khan und setzte sich wiederum dort nieder, nach den Mauern starrend, welche die seltsame Erscheinung bargen, die man die »Wölfin von Skadar« nannte.

Plötzlich entstand ein Lärmen in seiner Nähe. Ein Tschokadar 24 war in Streit mit einem Albanesen gerathen, im nächsten Augenblick blitzten, wie dies bei solchen Scenen gewöhnlich ist, die Handjar's, und ehe Nicolas den Platz verlassen konnte, sah er sich mitten in den Knäuel gerissen und in den Streit verwickelt. Tschauschi's 25 sprangen herbei, und nach kurzem Gezänk ward er ergriffen und mit zwei andern der Gäste zum Thor der Citadelle geschleppt, wo ihnen die Hände gefesselt wurden. In Begleitung ihres Anklägers, des Tschokadars, wurden sie alsbald vor den Pascha geführt.

Durch den Hof, der die Zenanah – die Wohnung der Frauen – von den öffentlichen Gebäuden trennte, gelangten die [130] Gefangenen über mehrere Stufen in die Halle, wo Selim-Bey, der Pascha von Albanien, saß. Die Halle selbst bot ein seltsames Gemisch orientalisch-üppiger Ausstattung mit dem rohen Mangel des Kriegerlebens, da der Bey ein tapferer Soldat war und sich bereits in seiner Jugend in dem Kriege gegen die Kurden ausgezeichnet hatte. Später bekleidete er mehrere hohe Stellen in Epirus und Macedonien, und seit der Verbannung des rebellischen Mustapha's, des letzten Pascha's aus der Familie Butschali im Jahre 1833, das Paschalik von Scutari, wo die fast ununterbrochene Fehde mit den unruhigen Nachbarn seine kriegerischen Talente und seine Thätigkeit in Bewegung hielt. Die seidenen Kissen der Divans wechselten als Sitzte mit gegerbten Wolfs- und Bärenhäuten oder den einfachen Kordgeflechten ab; zwischen den zahlreichen Dienern und Müßiggängern aller Art strichen Soldaten des Nizam umher, oder saßen rauhe Krieger der umwohnenden arnautischen Stämme, mit denen der Pascha einen regen Verkehr unterhielt.

Es war die Stunde des Abendgebets und der Muezzim hatte vom Minaret herab den Ezan 26 eben ertönen lassen. Alle Moslems verrichteten andächtig ihr Gebet, während die Christen gleichgültig zusahen und kaum ihr Gespräch unterbrachen. Es ist dies die Zeit, nach welcher ein Muselmann selten noch ein Geschäft vornimmt, sondern sich gemächlich in die innern Gemächer seines Hauses zurückzieht. Als daher die drei Gefangenen vor den Bey gebracht wurden, befahl er anfangs, sie bis zum andern Morgen auf der Wache zu behalten und sie dann ihm oder dem Mollah 27 vorzuführen. Nicolas Grivas jedoch, dem es galt, um jeden Preis sich wieder frei zu sehen, rief laut die Gerechtigkeit des Pascha's an und erklärte, den Schutz des griechischen Consuls für die ungerechte Haft in Anspruch nehmen zu wollen.

In diesem Augenblick öffnete sich im Hintergrunde der Halle neben dem Sitz des Bey's eine Thür, und die verhüllte Gestalt einer Frau, von dem zahmen Wolfe begleitet, trat ein und setzte sich auf ein Kissen hinter dem Pascha. Nicolas erkannte sofort Fatinitza. Obschon es im Orient etwas Ungewöhnliches ist, daß[131] sich Frauen in die Berathungen und Gesellschaft der Männer drängen, schien die Gegenwart des jungen Mädchens hier doch nicht aufzufallen. In der That war man gewöhnt, sie bei jeder Gelegenheit – selbst unter den Mühseligkeiten der Feldzüge und im wüsten Treiben des Lagers – an der Seite ihres Vaters zu sehen, und theils die den Frauen mehr Freiheit gestattenden Gebräuche der slavisch-griechischen Weststämme, als jene der wirklichen Orientalen, theils die unbegränzte Nachsicht und Liebe, die der Bey für dieses sein einziges Kind bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, hatten jede Schranke für das Thun und Lassen des Mädchens aufgehoben. Ihr unbezwinglicher Eigenwille, der dämonische Charakter, der ihr innewohnte und aus dem dunklen Auge hervorbrach, regierten das Haus ihres Vaters und hatten längst jeden Zwang abgestreift.

Zu den Füßen Fatinitza's legte sich der Wolf und leckte mit seiner glühenden Zunge ihre Hand. Eine seltsame bedrückende Stimmung schien sich mit ihrer Anwesenheit über die ganze Versammlung verbreitet zu haben.

Der Pascha rief die Wachen zurück, welche die drei Verhafteten wieder fortführen wollten, und wendete sich zu dem Griechen.

»Du hast es eilig, junger Mann, meine Gerechtigkeit anzurufen,« sagte er ernst. »Wer bist Du?«

Der Grieche wollte mit seinem Namen antworten, als er den Finger des Mädchens erhoben und auf die Stelle gelegt sah, wo der Schleier ihre Lippen bedeckte.

Er verstand das Zeichen und sagte daher, ohne seinen Namen zu nennen, daß er ein griechischer Unterthan und auf einer Reise gen Ragusa nach Scutari gekommen und hier verhaftet worden sei, ohne daß er wisse, warum.

»Wo ist der Kläger?« fragte der Pascha, »und wessen sind diese drei Männer beschuldigt?«

Der Tschokadar trat vor und verbeugte sich vor seinem Herrn.

»Hoheit,« sagte er unterwürfig, »Dein Knecht war in dem Caffeehause des italienischen Wirths vor den Thoren Deines Hauses, als ich plötzlich eine Hand in der Tasche meiner Jacke fühlte und, danach fassend, gewahrte, daß mir ein Beutel mit fünfzig Piastern 28 entwendet worden. Dieser albanesische Dieb stand dicht bei mir [132] und kein Anderer konnte es gethan haben. Ich ergriff den Mann, indem ich ihm sagte, ich wolle die Gräber seiner Väter verunreinigen, wenn er mir mein Geld nicht zurückgeben würde, er aber zog seinen Handjar und bedrohte mich.«

»Bak alum 29!« bemerkte der Bey, sich den Bart streichend. »Habt Ihr das Geld bei dem Manne gefunden?«

»Allah bila versin 30!« rief der Ankläger, verächtlich den Zipfel seiner Jacke schüttelnd. »Das sind Leute, Hoheit, welche die ganze Welt in dem Winkel ihres Auges tragen! Er ist kein Esel, Hoheit, wenn auch sein Vater und seine Mutter solche waren. Ich habe deutlich gesehen, wie er den Beutel seinen beiden Helfershelfern dort zugesteckt hat.«

»Haif, haif 31! Was sagt Ihr dazu?«

Der Erste der Angeschuldigten, ein Albanese aus dem Küstenlande, spuckte verächtlich aus.

»Er ist der Sohn einer Hündin und lügt wie ein Hund! Ich habe diese Männer nie gesehen, und die Hand soll verdorren, die ich nach dem Eigenthum eines Rechtgläubigen ausstrecke.«

Der Zweite war ein Grieche aus der Stadt selbst. Er berief sich auf seine Bekanntschaft mit vielen der Anwesenden und meinte, der Tschokadar müsse sich in der Person geirrt haben, als er ihn beschuldigte. Er bot Bürgschaft an und bat, daß man ihn untersuchen möge.

Der Pascha wandte sein Auge auf Grivas.

»Und Du? Was für Koth wirst Du uns zu essen geben?«

»Der Mann hat sich versehen, oder er ist ein Narr,« antwortete der Grieche kühn, »Ich verlange, Hoheit, daß Du ihn bestrafst für seine Frechheit, unschuldige Leute anzuklagen.«

»Allah bilir 32! Du redest hohe Worte; aber ein Pascha ist kein Esel, der sich von jedem hergelaufenen Dschaur 33 betrügen läßt. Untersucht seine Kleidung und seht zu, ob Ihr den Beutel bei ihm findet.«

Die Khawassen fielen über den jungen Mann her, der im [133] Gefühl seiner Unschuld sich willig der Untersuchung darbot. Zu seinem großen Staunen und Schreck jedoch brachte der Tschokadar selbst, der bei dem Durchsuchen sehr diensteifrig half, den Beutel alsbald aus den Falten seines Gürtels zum Vorschein und hielt den Fund mit lautem Geschrei in die Höhe, während die Türken ringsum in den Lieblingsruf: Allah kerim! (Gott ist groß), ausbrachen.

»Was sprichst Du nun, Sohn einer ungläubigen Hündin?« zürnte der Pascha. »Bringt ihn hinaus in den Hof und gebt ihm fünfzig Stockstreiche zur Strafe für seine Frechheit!«

Der Grieche war Anfangs sprachlos gewesen über den so unerwarteten Beweis, der sich gegen ihn gefunden. Dann, als er das rasche und schmachvolle Urtheil vernahm, kehrte seine Besonnenheit zurück und er vertheidigte sich mit aller Lebhaftigkeit seiner Nation gegen den Verdacht, indem er anführte, es müsse ihm im Gedränge des Streites der ihm unbekannte Dieb den Beutel heimlich eingesteckt haben, wenn nicht der Ankläger selbst etwa aus Bosheit dies bei der Durchsuchung gethan habe. Ein eigenthümlicher spöttischer Strahl in dem Auge Fatinitza's, den er während seiner Worte auffing, bestärkte seinen letzteren Verdacht.

Als daher der Pascha, ohne seiner Widerrede viel zu achten, nochmals das Zeichen zu seiner Fortführung gab, wehrte er die Khawassen mit Gewalt zurück, sprang auf den Pascha zu und rief:

»So wahr Du ein Krieger bist, Selim-Bey, halte ein und untersuche die Wahrheit, oder laß mich lieber tödten, als solche Schmach erdulden. Ich bin ...«

Wiederum, mit Blitzesschnelle, sah er das Türkenmädchen das frühere Zeichen wiederholen. Zugleich neigte sie sich zu dem Ohre ihres Vaters und flüsterte ihm einige Worte zu. Der alte Selim neigte zustimmend das Haupt.

»Awret der! 34« sprach er, »aber ihr Rath ist gut. Kannst Du einen Bürgen stellen in dieser Stadt, der Dich kennt, Christ?«

Grivas dachte an den alten Kaufmann, aber zugleich fiel ihm ein, daß er durch dessen Nennung leicht ein weiteres Nachforschen und eine Entdeckung herbeiführen könnte, die den alten Mann in Ungelegenheit und Gefahr bringen mußte. Er verneinte.

Der Türkin schien dies unerwartet zu kommen. Wieder wandte [134] sie sich zu dem Pascha und flüsterte ihm in's Ohr. Der Bey nickte.

»Es kann etwas Wahres unter dem Unrath sein, den Du sprichst, Grieche.« sagte er dann. »Wir wollen die Sache morgen weiter untersuchen. Bis dahin, da Du keinen Bürgen stellen kannst, mußt Du im Gefängniß bleiben. Geht! – Diesen beiden unreinen Thieren aber,« er deutete auf die zwei anderen Gefangenen, »gebt eine Tracht Schläge, weil sie uns nach dem Gebet belästigt haben und werft sie vor das Thor. Fort!«

Eine entschiedene Handbewegung ließ die Wachen sich schnell der Gefangenen bemächtigen und vergeblich war alles Protestiren des Griechen; er wurde mit den Anderen hinausgezerrt. Nur als er am Eingang noch ein Mal den Blick zurück wandte, sah er Fatinitza zum dritten Male wie beruhigend das Zeichen machen.

Während die Wachen ihn über den Hof führten, kam der Tschokadar, sein Ankläger, ihnen nach und änderte mit einem überbrachten Befehl ihre Richtung. Ihr Weg wandte sich nun in die Gebäude längs des See's und durch einen gewölbten Gang wurde der Gefangene in eine ziemlich geräumige Zelle gebracht, deren stark vergittertes Fenster auf die Gewässer sah. Durch dasselbe erblickte Grivas auch rechts zur Seite den in die Fluthen vorspringenden Thurm, auf dessen Höhe das Gefängniß des Freundes war, zu dessen Rettung er hierher gekommen. Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner Seele, als er bedachte, wie sein Unstern, oder diesmal vielmehr die eigene Schuld ihn nöthigte, den Blutbruder auf's Neue ohne Hilfe in der Todesgefahr zu lassen und Nichts für seine Rettung thun zu können. Seine Phantasie malte ihm das Bild des Czernagorzen vor, wie er zwischen Himmel und Erde über den dunklen Fluthen hing, vergeblich nach dem Waffengefährten durch die Nacht spähend. Sie malte ihm Stephana's lauten Vorwurf, die verächtliche Geberde des greisen Häuptlings, die Schande, die ein tapferes Volk auf seinen Namen häufte, – und das Alles um den Blick eines Weibes, das mit dämonischer Natur alle seine Seelenkräfte gefesselt hielt, ohne daß er noch ein Wort mit ihr gewechselt, wie der Blick der Schlange den Vogel gebannt halten soll in seinen Zauberkreis, daß er nicht die rettenden Schwingen zu regen vermag, bis der tödtende Zahn ihn erreicht.

Vergeblich krampfte er in die eisernen Stäbe der Fensteröffnung, [135] – das feste Metall aus den riesig dicken Mauern zu reißen, hätte es der Kraft eines Giganten bedurft; selbst wenn er die Feile noch besessen, die er dem Freunde gesandt, hätte die Arbeit einer Nacht nicht hingereicht, die dicken Stäbe zu durchbrechen. Verzweifelnd warf er sich auf das Holzgestell, das an einer Wand zum Lager diente, und brütete über seinem Schmerz, mit tausend Verwünschungen sich und die Verlockung beladend, während draußen die Nacht immer tiefer und dunkler über See und Berge sank.

So mochte er stundenlang gelegen haben, als er aus seinem Schmerz durch einen Lichtstrahl erweckt ward, der an der gegenüber liegenden Wand seines Kerkers sich brach. Erstaunt richtete er sich empor und bemerkte, daß der Strahl aus einer kleinen etwa handbreiten Oeffnung in der Wand über seinem Lager kam. Zugleich fühlte er seine Sinne befangen durch einen warmen wohlriechenden Duft, der durch jene Oeffnung zu quellen schien und seinen Kerker erfüllte.

Er stieg auf die Holzwand, sein Auge reichte gerade an die fensterartige, mit einem feinen Drahtgitter verschlossene Oeffnung und seine Blicke umfaßten trunken und verzehrend das ungeahnte Schauspiel, das sich ihnen bot.

Der Raum, den sie überflogen, bildete ein mit Marmorfließen ausgelegtes Badezimmer, jene üppige Anstalt des Orients, die eine wollüstige Neugebärung der Körper ist und aus dessen Pflege einen Cultus schafft. In der Mitte des Fußbodens war ein kleines Bassin mit warmen, wohlriechenden Wässern gefüllt, welchen die Aphrodite dieses Ortes eben entstiegen zu sein schien. In einer Nische, auf einem Marmorbett, von feinen linnenen Tüchern halb verhüllt, in dieser Verhüllung tausend Reize verrathend und entdeckend, lag die Herrin der Gemächer, Fatinitza, die Wölfin von Skadar, bedient von fast ganz entkleideten schwarzen Mädchen, die ihre Glieder salbten und rieben, und auf Haupt und Busen den Strahl des warmen, weichen Wassers sich ergießen ließen, während Andere das üppige rabenschwarze Haar kämmten und trockneten, oder mit weichem wollenem Gewebe Brust und Arme frottirten. Das Haupt zurückgebeugt, den Mund über den glänzend weißen Zähnen halb erschlossen, die dunklen dämonischen Augen nur in jener schmalen Spalte geöffnet, aus der Verlangen und Sehnsucht zu lauschen pflegt, lag das Mädchen in den Händen ihrer Frauen. Zum zweiten Male sah der Jüngling unverhüllt dies Antlitz, das [136] einen so gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Das Oval desselben war in jenem vorspringenden Bogen gewölbt, welcher dem Antlitz etwas Adler- oder Geierartiges zu geben pflegt. Dennoch war jeder ihrer Züge einzeln zart und rein. Unter der fast schnabelförmig gebogenen Nase mit den weitaufgeschlagenen Nüstern, den Zeichen ungezähmter Leidenschaft, öffnete sich ein überaus zierlich und willenskräftig geschwungener Mund. Schief gesenkte starke Brauen, wie bei dem Wolf und Fuchs, senkten sich von den Schläfen zur Nasenwurzel, und so seltsam und unheimlich der Ausdruck dieses Kopfes an sich war, so lag doch ein eigenthümlicher fesselnder Zauber in ihm, eine medusengleiche erstarrende und zugleich entflammende Gewalt. Ueppig schlanke Glieder von jener matten, bräunlich weißen Porzellanfarbe, die manchen Brünetten, namentlich den Maurinnen, eigen ist, trugen diesen Kopf und die hundert Wendungen und Bewegungen, welche die Sclavinnen im üppigen Spiel diesem wollustathmenden Körper gaben, enthüllten mit jedem Augenblick neue Reize vor den gefesselten Augen des Jünglings.

Seine Schläfe glühten, seine Pulse klopften in wil dem Schlage, und gährend in der unsäglichen ungestillten Brausekraft der frischen Jugend tobte das Blut durch seine schwellenden Adern. Der Odem in seiner Brust schien zu stocken, das eigene Leben still zu stehen und sich in den Augen allein concentrirt zu haben. So stand und starrte er lange, er merkte es kaum, daß das verlockende Bild sich änderte und verschwand, daß Dunkel wieder die Geburtsstätte so verzehrenden Reizes verhüllte; nur die hohe, unbeschreiblich herrliche Gestalt, der halb aufgeschlagene Blick, der, als die Herrin unter dem den Ausgang verhüllenden Teppich verschwand, verlangend, fragend, verheißend die Stelle streifte, an der sein trunkenes Auge ruhte, blieb in seinem Gedächtniß. Was kümmert den Trunkenen die Welt rings umher? Erst als an der Pforte seines Kerkers ein Schlüssel rasselte, als der helle Strahl einer Blendlaterne durch die geöffnete Thür fiel, erwachte er aus diesen Träumen und sah ein Mohrenmädchen vor sich stehen, das ehrerbietig den Salem 35 gab und ihm zu folgen winkte.

»Wohin?«

Die Schwarze schüttelte das Haupt und legte den Finger auf ihre Lippen – Nicolas erbebte bei dem Zeichen.

[137] »Nicht von der Stelle gehe ich, bis ich weiß, wohin Du mich führst!«

Das Mädchen bemühte sich, zu sprechen, – ein stammelnder unheimlicher Laut zeigte ihm, daß sie stumm. Aber ihre Geberden sprachen lebendig, wie sie auf das Herz deutete, weit, wie empfangend, die Arme öffnete und dann die Hände flehend und bittend ihm entgegen faltete.

Ihm dunkelte und glühte es ahnend vor den Augen und Sinnen, das Blut wollte seine Kehle ersticken – halb bewußtlos winkte er »Voran!« und mit leisen, kaum hörbaren Tritten schlich das Paar durch die Gänge der Feste. Ein Schnauben und Sträuben erhob sich, wo sie stehen blieben. Im Schein der Lampe sah der Grieche den Wolf quer vor der Thür gelagert, ihn mit seinen rothen Feneraugen unheimlich anstarrend. Die Sclavin zog ihn bei Seite und öffnete die Thür.

»Da hinein!« winkte ihr Finger.

Der junge Mann betrat halb taumelnd das Gemach – hinter ihm schloß sich die Pforte.

Um ihn her war eine halbe Dämmerung. Er sah sich in einem orientalisch ausgestatteten Gemach von halb ovaler Rundung, dessen hohe Jalousieen hinaus nach dem See zu gehen schienen, denn durch die halb geöffneten hörte er die Wellen rauschen. An den Wänden hingen Waffen im bunten Gemisch, zur Jagd wie zum Kriege. Durch den halb erhobenen Teppich eines breiten Bogens in der Seitenwand strömte das matte Licht, welches das Vorgemach erhellte. Er stand still, er faßte mit beiden Händen nach dem klopfenden Herzen – er wagte kaum zu athmen – und deutlich durch die geheimnißvolle duftschwangere Stille klang ihm das Plätschern der Wellen.

»Dschel 36

Mit einem Sprunge, wie der entfesselte Tiger nach seiner Beute, war er auf den leisen Ruf am Zugang des Gemachs und schlug den Teppich zurück.

Da lag es vor ihm – weiß und üppig in seinen rothen Draperieen, über die das Milchglas einer Ampel an silbernen Ketten ein weiches milderndes Licht goß, während das wohlriechende Oel ihrer Flamme das Gemach mit wollüstigen Düften durchzog. [138] Auf einem Tische von Rosenholz zur Seite glänzten und blitzten in silbernen und goldenen Schaalen cyprischer Wein, die duftenden Confitüren von Chios, die herrlichen Früchte des Orients.

»Dschel!«

Vor ihm, vor seinen Augen, auf einem breiten Divan, von weichen Wolfsfellen überdeckt, lag eine Gestalt, in die langen Falten eines großen Feredschi von der weißen zarten Wolle der Thibetziege gehüllt, das Haupt auf den sich aus der Decke hervorstehlenden Arm gestützt, die unwiderstehlichen Augen auf ihn gerichtet.

Er stürzte zu ihren Füßen nieder.

»Bana bak ai gusum! Ai dschänum, stambul 37!« bat in tiefen Gutturaltönen die Stimme der Türkin.

Der Jüngling begrub sein Gesicht in die weichen Falten des Mantels, seine Lippen glühten auf den Wellenlinien dieser Formen. Durch sein weiches lockendes Haar spielte die Hand des Türkenmädchens, kosend, verführend. Ihre Augen bohrten sich in die seinen, als sie sein Haupt zurückbog, – sein Gehirn schien zu brennen unter diesen verzehrenden aussaugenden Strahlen.

»Böser Christ, warum hast Du Fatinitza so lange harren lassen? Hat das Heben ihres Schleiers Dir nicht damals schon verkündet, als sie Dir zuerst begegnete im Haine der Gärten, daß sie Dein war vom ersten Augenblick? – Mußte ich Dich erst fesseln und führen lassen vor das Antlitz des Bey, meines Vaters, und Dich werfen in den Kerker, um Dich in süße Liebesarme zu holen? Uriel, der Engel der Finsterniß, schwebte über der Wölfin von Skadar, so lange ihr Junges fern blieb von der liebenden Brust.«

Ein Strom von Feuer brannte in ihrem Kuß auf seinen Lippen, er breitete die Arme aus nach dem süßen, dämonischen Weibe – –

Da klang es in dem Nebengemach hell und scharf, – eine französische Uhr, ein Geschenk ihres Vaters, schlug die Stunde vor Mitternacht, und wie ein eisiger Strahl fuhr die Mahnung durch die Seele des Jünglings.

»Habe Erbarmen mit mir! Bei dem Kreuz des Herrn, laß mich heute frei!«

»Was kümmert mich Dein trügendes Zeichen!« lockte wiederum [139] die sonore schmeichelnde Stimme; »was kümmert uns Dein Gott! Hat nicht der Engel der Nacht eben die süße Stunde des geheimnißvollen Lebens der Geister verkündet, wo sich die sonst Getrennten zusammenfinden? Warum denn stößt Du mich von Dir, o Christ, warum willst Du nicht trinken Lippe auf Lippe, Liebe in Liebe, was Fatinitza Dir bietet?«

Er hatte das Antlitz verhüllt, vor seinem Geiste stand noch ein Mal das bleiche Bild des Blutbruders, hangend zwischen Himmel und Erde in seiner Todesnoth, oder kämpfend mit den dunklen Wässern des Sees.

»Weib, ich liebe Dich, ich vergehe in Dir! Aber bei der Barmherzigkeit Deines eigenen Himmels, laß mich fort in dieser Stunde, und mein Leben soll Dir gehören. Ich muß, ich muß!«

»Dschel!«

Er warf sich vor ihr nieder auf die Knie.

»Hilf Du selbst mir aus diesem Zauber, der mich umstrickt. Löse Du selbst mich aus diesen Banden, die meine Sinne hier gefesselt halten? Gieb mir das Mittel, hinaus zu gelangen aus diesen Mauern, und dann – – Er ruft! – Er ruft!«

Wie ein lang gezogener schneidender Ton schien aus weiter Ferne ein pfeifender Laut hereinzudringen durch die Oeffnung der Jalousieen..

Die Augen schließend, riß er sich los aus den umstrickenden Armen, und empor, dem Ausgange zustürzend, der hinaus führte auf den schmalen Gitterbalkon, hängend über den Tiefen des Sees.

Mit einem Sprunge, wie die Löwin, der man ihr Junges raubt, war die Mirditin empor und warf sich ihm entgegen quer vor den Ausgang, die Hände zu ihm emporgestreckt, das glühende Auge wild auf das seine gebannt. Weithin war die verhüllende Decke geschleudert – wie sie dem Bade entstiegen – in allem Geheimniß des himmlischen Leibes lag sie vor ihm.

Seine Sinne dunkelten – das Gedächtniß, – jede Erinnerung der Männerbrust schwand – nur seine Augen lebten noch –

Und der starre dämonische Strahl der ihren schien sich aufzulösen in weiche schmelzende Akkorde, der drohende Tigerblick wurde zum sanften, schmachtenden, lockenden Frauenauge, und wiederum zischte es sehnsüchtig, betäubend durch die rothen gehobenen Lippen:

»Dschel! Dschel!«

[140] Da beugte er sich nieder und hob die reizende Gestalt des Weibes empor wie leichten Flaum und drückte sie an die keuchende Brust und trug sie auf seinen Armen zurück zum weichen üppigen Lager.

Ihre Hände umschlangen ihn, fest, unauflöslich, wie für Leben und Ewigkeit, und zogen ihn nieder – –

Ueber die Wellen des Skadarsees strich klagend der Windeshauch aus den Schluchten des Sutorman – am Thurme von Skadar zwischen Himmel und Wässern stieg an den Knoten des schwankenden Seils ein bleicher Mann herab und lauschte durch die Nacht nach dem Hilfe verkündenden Zeichen des Freundes! –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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Fußnoten

1 Die Heldengedichte und Volkslieder, oft von den Helden, die sie feiern, selbst verfaßt. Sie pflanzten sich im Volke fort und sind jetzt meist in dem seit etwa fünfundzwanzig Jahren erscheinenden Staatskalender von Cetinje: Grlitza (Turteltaube) abgedruckt.

2 Warme Quellen des See's. Man findet hier die obengenannten kleinen Fische oft in solcher Menge, namentlich gegen den Winter, daß, wenn man das Ruder in eine solche Fischbank hineinsenkt, dasselbe aufrecht stehen bleibt.

3 Benennung für den Sultan.

4 Eine im Türkenkrieg zerstörte Veste an der Mündung des Czernojewitsch.

5 Christliche Nymphen, Schutzgeister des serbischen Volkes.

6 Die Deutschen.

7 Die frühere Benennung des Vladika von der schwarzen geistlichen Kleidung, die er den griechischen Mönchen (Kalogeri) ähnlich trug.

8 Junak – ein Tapferer.

9 Der Tod außer der Schlacht wird von diesen Tapferen als das größte Unglück betrachtet; die Verwandten sagen von einem Kranken, der eines natürlichen Todes starb, er sei von Gott, dem großen Mörder, getödtet worden (od boga, starok kronika). Der größte Schimpf, den man gegen einen Montenegriner ausstoßen kann, ist in den einfachen Worten enthalten: »Ich kenne die Deinigen, alle Deine Vorfahren sind in ihrem Bette gestorben.«

10 Eine der neun Plemen (Stämme) der Katunska-Nahia.

11 Bewohner des Südens.

12 des Weiberraubes.

13 Brüderschaft, Gemeinde.

14 Eines der drei Klöster von Czernagora, im jetzigen Kriege von den Türken unter Skender-Beg (Graf Jelinski) erstürmt und geplündert.

15 Vetter.

16 Wiese.

17 Ali Tebelin, der berühmte Pascha von Janina.

18 Streifzug.

19 Kula, befestigter Thurm.

20 Der von den Griechen und Arnauten getragene hemdartige Rock, der vom Gürtel bis auf die Kniee fällt und aus einer Menge künstlich zusammengefalteter Leinenstücke besteht.

21 Der deckenartige weite Mantel, den die türkischen Frauen tragen. Er ist von leichtem einfarbigem Zeug und gleicht einem großen Tuch.

22 Der Teufel.

23 Die südliche Vorstadt Scutari's, an deren Außenseite sich eine Reihe Batterieen befindet, wärend sie durch eine Krümmung des Flusses und eine kleine Ebene von der Stadt selbst getrennt ist.

24 Diener; ihre Zahl richtet sich nach dem Range ihres Gebieters.

25 Polizeidiener.

26 Ruf zum Gebet.

27 Kadi, Mollah: türkische Richter; Kadi-askar, der Oberrichter; Mufti, ein Rechtsgelehrter.

28 Ein türkischer Piaster = 20 Pfennigen.

29 Wir werden sehen.

30 Gott sende ihm Unglück!

31 Schande, Schande!

32 Gott allein weiß es.

33 Ungläubige.

34 Es ist ein Weib!

35 Gruß.

36 Komm!

37 Sieh mich an, Licht meiner Augen, o Du meine Seele!

Die Wölfin von Skadar
[141] Die Wölfin von Skadar.

– – – –

Das leichte Geräusch brechenden Holzes störte die Stille der Nacht – aber nicht die schweren Athemzüge der Schlummernden.

– – –

Dann wieder Alles lauschende Stille.

Sein Haupt ruhte an ihrer schwellenden Brust. Der halb geöffnete Mund des schlafenden Weibes mit den spitzen weißen Zähnen schien noch Triumph zu athmen über den errungenen Sieg. Zwischen den Brauen in der scharf geschnittenen Falte lag die ganze Leidenschaftlichkeit ihrer Seele. – –

Ein Schatten glitt unter dem Teppich hervor – wiederum eine lange Pause – dann legte sich eine kalte Hand auf die glühende Stirn des Griechen.

Eine unwillige Bewegung der Störung – die Lippen murmelten den Namen »Fatinitza«, dann schlief er weiter.

Eine zweite Berührung erweckte ihn. Träumerisch schlug er die Augen empor, in jener schwelgenden Ermattung des Genusses.

Vor ihm stand Gabriel der Zagartschane!

Er wollte emporfahren, die dunkle Gluth der Schaam, des gebrochenen Männereides überfluthete sein Gesicht – doch ernst und schweigend winkte der Czernagorze ihm Vorsicht, auf die lockende Genossin seines Lagers deutend. Dann trat er zurück in das Vorgemach, leise, unhörbar, wie er gekommen, und winkte dem Freunde zu folgen.

Es gelang Nicolas, sich langsam aus den umschlingenden Armen der Türkin zu winden und vom Lager herabzugleiten auf den Boden, ohne daß seine Bewegungen sie erweckten. Einige [142] Augenblicke darauf huschte er in das Nebengemach, wo der Flüchtling stand und aus dem Arsenal an der Wand sich vorsichtig prüfend bewaffnete. Ein Blick zeigte dem Griechen, wie der Kühne hier herein gelangt. Die Jalousie des schmalen Altans war geöffnet, die verdeckenden leichten Gitterstäbe waren an einer Stelle gebrochen.

Der Czernagorze wandte sich zu ihm.

»Zum zweiten Male ist der Ruf des Blutbruders in der Stunde der Gefahr vergeblich nach dem Genossen erklungen; zum zweiten Male fehlte Nicolas Grivas, als Andreas der Zagartschane seiner Hilfe bedurfte. Wird er auch zum dritten Male seine Stimme nicht hören, wird er seinen Kampf theilen um Leben und Freiheit, oder will er ruhen in den Armen der Liebe und den Freund allein sein Heil versuchen lassen?«

Der Jüngling beugte sich beschämt.

»Verdamme mich nicht, Gabriel, meine Seele war umnachtet, mein Wille gelähmt. Ich theile mit Dir Tod und Leben!«

»Wohl! ich danke Dir für die rettende Feile und das Seil, die Du mir gesendet. Aber es war um ein Stockwerk zu kurz und vergeblich schaute ich mich um nach der versprochenen Hilfe. Da lenkten die freundlichen Wila's mein Auge auf diesen Altan, und indem ich mich am Seil hin und her schwang gleich dem Vogel in der Luft, wie ich oft als Knabe gethan, wenn ich die Felsennester der Möwen ihrer Brut beraubt, gelang es mir, die Stäbe zu erreichen und Fuß zu fassen. Das Uebrige weißt Du. Hast Du Deinen Kahn in der Nähe?«

»Ich war gefangen wie Du, heute Abend durch meine Unvorsichtigkeit. Nur die undurchdringlichen Mauern des Kerkers konnten mich fern von Dir halten. Der rettende Kahn liegt mindestens eine halbe Stunde weit außerhalb der Stadt unter den Felsen.«

»Dann giebt es nur einen Weg für uns. Wir müssen schwimmend aus dem Bereich der Festung zu entkommen suchen. Bist Du bereit?«

»Ich bin's!«

»Diese schweren Waffen nützen uns Nichts,« flüsterte der vorsichtige Krieger, »laß uns von uns legen, was uns hindert. Suche wie ich einen leichten Yatagan und birg ihn in Deinem Gürtel.«

Indem der Grieche nach der bezeichneten Waffe faßte, stieß er an eine zweite, und diese fiel klirrend zu Boden.

[143] Erschrocken blickten Beide empor – der Teppich vor dem Zugang des Schlafgemachs wurde zur Seite gerissen, in demselben, wie der Tiger zum Angriff bereit, kauerte das nackende Weib, die gluthsprühenden Augen auf die Freunde gerichtet.

»Verräther!«

Der einzige Laut zischte durch ihre Lippen; mit einem Sprunge warf sie sich nach der Thür, aber der Czernagorze stürzte ihr zuvor und umfaßte mit aller Kraft ihren Leib. Ein wildes Ringen begann zwischen den Beiden, eine übermenschliche Stärke und Geschmeidigkeit schien die Muskeln und Glieder dieser Frau zu stählen, gleich einem Proteus wand sie sich in dem starken Männerarm und rang Brust gegen Brust. Aber kein Laut, kein Ruf der Hilfe entschlüpfte ihren Lippen, nur der keuchende Athem, der zischende Ton der Wuth begleitete diesen Kampf.

An der Thür jedoch scharrte und kratzte es wüthend und immer wüthender. Das grimmige Raubthier witterte die Gefahr, den Kampf seiner Gebieterin, und versuchte, ihr zum Beistand zu eilen.

»Mach' ein Ende! komm zu Hilfe! ich vermag diesen Teufel in Weibergestalt nicht länger zu bändigen.«

Zwei Mal hatte Nicolas Grivas den Stahl für den Blutbruder erhoben gegen das dämonische Weib, das eben noch an seinem Herzen gelegen, – zwei Mal traf ihn mitten in der Furie des Ringens ein kalter verächtlicher Strahl ihres Auges – und Hand und Waffe sanken machtlos nieder. Da, wie ein Ausweg des Himmels, fiel sein Auge auf einen zur Seite am Boden liegenden persischen Shawl, und im Nu hatte er ihn aufgerafft und schlang ihn um Kopf und Schultern des Mädchens. Gabriel hob sie zugleich empor, im nächsten Augenblick hatte er sie auf das eben verlassene Lager geworfen und keuchend umschlangen Beide die wild sträubenden Glieder mit Tüchern und Decken, wie die Hand sie erreichen konnte, und zogen die Knoten um sie fest. Auch jetzt noch entfloh kein Schrei ihrem Munde, nur das Athmen der Wuth vernahmen sie durch das dicke Gewebe des den Kopf umhüllenden Shawls.

Aber draußen am Eingange des Gemaches tobte und wüthete es fort, mit gewaltiger Kraft sprang der Wolf an der Thür empor und stieß ein klagendes Geheul aus, daß es weit durch die Räume des alten Gemäuers scholl.

[144] Gabriel riß den Freund mit sich fort, der zitternd auf das Werk seiner Hände schaute, die gebundene verhüllte Gestalt, die jetzt ruhig und bewegungslos, gleich als erkenne sie das Nutzlose jedes weiteren Sträubens, auf den Kissen lag.

»Sie stirbt! sie erstickt!«

Doch der Czernagorze drängte ihn zum Altan.

»Was kümmert uns ein Weiberleben! Hinunter! Hörst Du nicht, daß von dieser Bestie Geheul schon die halbe Feste in Allarm ist? Mir nach, Blutbruder, und die Heiligen seien uns gnädig!«

An der Pforte donnerten Waffen und Hände, – unter den gewichtigen Schlägen sprangen die Riegel – –

Mit weitgestrecktem Sprunge warf sich der Czernagorze vom durchbrochenen Altan hinab in die dunkle Fluth, im nächsten Augenblick folgte ihm der Grieche.

– – –

Als Beide emportauchten, glänzte heller Lichtschein von der Oeffnung des Balkons über die Fläche des Wassers – im Umwenden glaubte der Jüngling Gestalten darauf zu sehen, darunter einen weißen fliegenden Mantel, einen Moment nachher blitzte ein Schuß, die Kugel fuhr über ihnen hin in's Wasser.

»Nieder!« rief der Czernagorze ihm zu, »halte Dich rechts!« Und die Schwimmer sanken auf's Neue fast auf den Grund und strichen weit aus.

Als sie Luft zu schöpfen nochmals emportauchten, waren sie außer dem Bereich der augenblicklichen Gefahr, aber weit entfernt davon, gerettet zu sein. Die Richtung, die sie zu nehmen gezwungen worden, führte sie hinaus in den See. In den verlassenen Festungswerken wurde es lebendig, Lichter bewegten sich an den Oeffnungen hin und her, ehe sie noch zehn Minuten weiter getrieben waren, auch am Strande, und ein Kanonenschuß donnerte über die Fläche des Wassers, Allarm rufend und die Schildwachen zur Aufmerksamkeit mahnend.

Mit allen Kräften griffen die beiden rüstigen Schwimmer aus, denn sie wußten, daß jede Minute Verlust war, und daß es um Tod und Leben gälte, so rasch als möglich über den Rayon der Festungsmauern hinaus zu gelangen, ehe sie auf dem Wasser verfolgt werden könnten, und den verborgenen Kahn zu erreichen.

Aber die Kleider, deren sie sich nicht hatten entledigen können, [145] zogen immer schwerer und schwerer und hinderten ihre Anstrengungen, und die Kräfte des Czernagorzen waren durch die Entbehrungen der Haft geschwächt. Rüstiger schwamm der junge Grieche, an der See geboren und Herr des Elements, und ermunterte den Freund zu neuen Anstrengungen.

Doch weit rechts noch lag das rettende Ufer und kaum noch war Zuflucht dort zu hoffen, denn in kurzen Zwischenpausen dröhnten die Allarmschüsse fort.

Gabriel war ermattet.

»Rette Dich selbst, Blutbruder, und grüße Stephana und die schwarzen Berge!«

Er sank; aber der Grieche war hinter ihm d'rein und hob ihn empor.

»Bei der gebenedeieten Mutter Gottes von Ostrog,« flehte er, »verliere den Muth nicht, Hilfe ist nahe – ich höre Stimmen!«

Und gleichsam als Antwort auf den Scheidegruß des tapfern Czernagorzen hallte sein Name durch die Nacht über die Wellen, und hinterdrein klang der Schlachtruf der Familie Martinowitsch, ihr heilig' Erbtheil seit der Mordnacht der Weihnachten von 1703: Sve Oslobod 1!

»Hier Czernagora!« tönte der Gegenruf des Griechen, wie er sich aus den Wellen hob. Triumph! Rettung! Durch die Nacht strich ein weißes Segel daher – ein jubelnder Schrei klang vom dunklen Bord, – Arme streckten sich nach ihnen aus – das waren Freunde.

Am Steuer stand der alte Beg, Hassan und der Vetter arbeiteten wie rasend an den Rudern – Stephana's, Bogdan's Arme streckten sich den Schwimmenden entgegen.

»Muth!«

In der nächsten Minute hob Nicolas den erschöpften Freund über den Rand des Bootes in die Arme seines Weibes und warf sich selbst ihm nach.

»Wendet! Fort!«

Erschöpft lagen die Beiden auf dem Boden des rettenden Fahrzeuges, das unter dem kräftigen Druck des Alten sich von der Festung ab- und den Bergen zuwandte.

[146] Stephana's Angst und Ungeduld hatte die Hilfe gebracht, indem sie den alten Beg bewog, mit dem Boote während der Nacht sich den Festungswerken zu nähern, statt an der bestimmten Bucht des östlichen Ufers des Kahns mit den glücklich Entkommenen zu harren. Als der erste Allarmschuß über den See donnerte, wußte die Familie, daß die Flucht vollzogen, und der kühne Eifer trieb sie vorwärts, die eigene Gefahr verachtend.

So war die Hilfe im glücklichen Augenblick erschienen.

Die Czernagorzenfrau bedeckte den Gatten mit ihren Küssen. Im schwarzen Hochland sind die Weiber treu und voll aufopfernder Liebe. Obschon sie wegen ihrer wunderbaren Thatkraft von ihren Männern zu den schwersten Arbeiten gebraucht werden, erleidet ihre Stellung dadurch doch keine Erniedrigung, und die Frau ist in moralischer Hinsicht keinesweges bloß das Spielzeug des Mannes, wie dies nur zu oft in civilisirten Ländern der Fall ist. In Czernagora ist das Weib wahrhaft unverletzbar; Fleiß, Keuschheit und Muth sind die drei schönen Tugenden, die sie zieren. Darum vertraut sie sich auch ohne Bedenken selbst dem Fremden, in der Gewißheit, daß er sich keine Unziemlichkeit gegen sie erlauben werde. Wagte er es dennoch, ihre Schaamhaftigkeit zu verletzen, so würde der Tod des einen oder des anderen Theils die gewisse Folge davon sein. Ein czernagorzisches Mädchen liebt nur in der Aussicht auf Heirath, den treulosen Verführer aber trifft der Tod.

Diese heilig bewahrte Schaam und Sitte des Volkes wird das Furchtbare der nachfolgenden Scenen charakterisiren.

Ueber dem Wiedergewonnenen hinweg reichte Stephana dem Griechen die Hand und konnte nicht enden in lobpreisenden Dankesworten für seine That. Auch der alte Beg und die Andern bezeugten ihm Dank und Achtung für die bewiesene Aufopferung und Treue, und mehr als ein Mal drohte das Gefühl bitterer Schaam ihn zu überwältigen. Das war um so lastender der Fall, als der alte Glaware 2 den Hergang der Flucht zu wissen verlangte, und Gabriel, der sich an der Brust des treuen Weibes erholt hatte, eilig das Wort ergriff, den Freund aus der Verlegenheit zu ziehen, und der Familie kurz erzählte, wie Nicolas ihm Feile und Strick gesandt hatte, wie er verhindert worden sei, mit dem Kahne zu seinem Beistande zu erscheinen, und nun mit ihm [147] zusammen schwimmend die Flucht versucht habe, daß diese aber durch einen Zufall zu früh entdeckt worden und ihre Verfolgung nach sich gezogen.

Die Berathung, wie dieser am besten zu entgehen, nahm jetzt Aller Aufmerksamkeit in Anspruch. Der alte Beg war der Ansicht, daß sie jeder Gefahr glücklich entgangen seien, da der Pascha von Scutari schwerlich um der Flucht eines einzelnen Gefangenen willen viel Aufhebens machen und außergewöhnliche Mittel zur Verfolgung in Bewegung setzen würde. Gabriel und Nicolas jedoch schauten einander bedenklich an und waren der Meinung, man dürfe keine Anstrengung versäumen, um so rasch als möglich die czernagorzischen Ufer zu gewinnen. Ohne den Namen der Wölfin von Skadar auszusprechen, wußte der Grieche doch seine Besorgniß auch Stephana mitzutheilen, und sie gewann um so mehr Begründung, als die Gesellschaft bald darauf von der Höhe des Thurmes, dessen Kerkern Jene so glücklich entronnen waren, ein mächtiges Feuerzeichen emporlodern sah, ein Signal, das sonst gewöhnlich nur bei den Kriegsüberfällen üblich war, um den verschiedenen Posten entlang der Seeufer die Anwesenheit des Feindes zu melden. In Zeit von einer halben Stunde stammten links nach Antivari hin und rechts gegen das Hochgebirge bereits mehrere ähnliche Feuer an den beiden Ufern und verkündeten die Aufmerksamkeit in den verschiedenen Kastells.

Der See von Skadar hat eine Länge von nahe an sieben Meilen bei einer wechselnden Breite von etwa zwei. Nur das nördliche und nordwestliche Ende, an dem sich die Moratscha und der Czernojewitsch in den See ergießen, wird von Czernagora selbst begränzt, und zwar im Norden von der Rietschka Nahia, im Nordwesten von der Czernitza Nahia. Die nördlich gelegenen Inseln gehören, wie bereits erwähnt, zwar zum Gebiet von Montenegro, sind aber nur zu Zeiten, namentlich während des Fischfanges, bewohnt. Man beschloß daher, die rechte Seite des Sees zu halten und die Ufer der Rietschka zu gewinnen, der heimischen Nahia des Alten, wo sein Ruf im Augenblick die Männer der zunächst wohnenden Plemen im Fall der Bedrohung herbeiführen konnte.

Nachdem man dies gethan, wurden die Wachen bestimmt, um stets mit erneueten Kräften an den Rudern arbeiten zu können. Der alte Beg erklärte, das Steuer nicht verlassen zu wollen, – seine eisernen Muskeln widerstanden jeder Anstrengung.

[148] Die erste der Wachen hielten der Grieche, Hassan Lekitsch der Arnaut und der Vetter, Iowan genannt. Die beiden Letzteren waren an den Rudern beschäftigt, der Erste hielt das Seil des Segels, das sich noch immer lustig im beginnenden Morgenwinde blähte. Es mochte jetzt zwei Uhr nach Mitternacht, oder die vierzehnte Stunde des Tages, wie man auch hier nach italienischer Sitte rechnet, sein, und über die Bergspitzen begann der erste Schein der Dämmerung zu brechen, während noch die tiefen Schatten der Nacht über dem See lagen.

Der Einäugige summte leise in jener unangenehmen monotonen Sangesweise der griechischen und orientalischen Stämme die Piesme vor sich hin, welche den Zug des Czernojewitsch Iwo zum Dogen des großen Venedigs und die Hochzeit des falschen Stanischa, des schönen Wojwoden von Dulcigno, Obrenowo Djuro, mit der Tochter der Inselstadt meldet, wie die Rache des echten Bräutigams und seine Flucht nach Schabljack.

Grivas dagegen träumte von der schrecklichen Scene, der er entronnen. Vor seinen geschlossenen Augen stand mit dem flammenden, verächtlichen, rachesprühenden Blick die Wölfin von Skadar. Dazwischen kehrte in seine Erinnerung das schwelgende Bild ihres Reizes zurück, und er beugte, im Innern vernichtet und von widerstreitenden Gefühlen zerrissen, das Haupt.

Die zweistündige Wache mochte zu Ende sein, – die Sonne war bereits aufgegangen und ihre Strahlen brachen durch die Schluchten der im Osten sich emporstreckenden Bergkämme, als Hassan den Hellenen aus seinem Hinbrüten weckte und ihm einen Wink gab, sich umzuschauen.

»Blicke mein griechischer Bruder nach der Seite, wo die Sonne sich in's Meer senkt, und sage mir, was er über den leichten Nebeln sieht, die dort noch das Ufer verhüllen. Der junge Falke der Maina hat scharfe Augen!«

Grivas schaute angestrengt nach der angedeuteten Stelle.

»Das ist sicherlich ein dunkler Rauch, welcher sich über die Nebel bewegt. Sollten wir so nah' einer der Inseln sein und dort Beistand finden?«

»Mein Bruder täuscht sich. Siehst Du nicht, daß der Rauch sich bewegt?«

»Was habt Ihr? Nach was späht Ihr aus?« unterbrach sie der Beg.

[149] »Birschik jok 3! wir werden nur verfolgt,« entgegnete gleichmüthig der Arnaut. »Der Bey hat jenes höllische Schiff uns nachgesandt, das der Scheitan erfunden und das allein läuft, ohne Segel und Ruder.«

»Du meinst ein Dampfschiff?«

»Ne apalum, was kann ich thun? Der Bey hat von den Franken seit dem Kriege das Schiff machen lassen, und er hat Leute, die es führen.«

In der That war in dem letzten Kriege die Nothwendigkeit rascher Verkehrsemittel immer dringender an den Tag getreten, und die türkische Regierung hatte auf die Vorstellungen Omer Pascha's eines der kleinen eisernen Lustdampfboote, welche zwischen dem Bosporus und Constantinopel fahren, nach Dulcigno gesandt, wo es von französischen Maschinisten auseinander genommen und die Bojana aufwärts bis Scutari transportirt, dort aber wieder zusammengesetzt worden war. Den Czernagorzen war zwar die Beschaffenheit und Schnelle der Dampfschiffe nicht mehr unbekannt, da sie von der Höhe ihrer Berge fast täglich dieselben die schöne Adria durchziehen sehen können, doch war eben der türkische Dampfer auf dem nördlichen Theil des Sees noch zu wenig benutzt worden, um ihnen weitere Besorgniß einzuflößen, und der Grieche hatte bei der aufgeregten Stimmung seines Gemüths wenig oder gar nicht auf die Anwesenheit des Schiffes zwischen den Festungswerken von Scutari geachtet.

Jetzt wurde ihm jedoch die Gefahr, die sie bedrohte, im Augenblick klar und er setzte sie dem alten Krieger deutlich und rasch auseinander. Während Gabriel und Stephana, die Arm in Arm im Vordertheil des Bootes schliefen, und der junge Martinowitsch geweckt wurden, verzogen sich die letzten Nebel und man erblickte deutlich den Dampfer in Entfernung von kaum noch einer Meile in südwestlicher Richtung hinter den Flüchtenden, doch offenbar seinen Cours am westlichen Ufer entlang haltend.

Grivas und Gabriel begriffen sehr wohl, daß man bei der Entdeckung der Vorbereitungen zu ihrer Flucht auch überzeugt gewesen sein würde, selbst wenn man dasselbe später nicht bemerkt haben sollte, daß ein Fahrzeug der Flüchtigen in der Nähe harre, und daß ihre Flucht demnach zu Wasser fortgesetzt werde. Wäre [150] es den Beiden gelungen, in der beabsichtigten Weise um Mitternacht zu entkommen, so konnte die Flucht nicht vor dem nächsten Morgen bemerkt werden, und dann waren sie außer dem Bereich jeder Verfolgung.

Jetzt war es freilich anders. Die Richtung des Dampfers, der offenbar mit voller Kraft fuhr, zeigte die Absicht, die Flüchtigen, wenn sie sich nach der Czernitza Nahia gewandt haben sollten, vorher zu erreichen, oder im entgegengesetzten Fall sie von diesem näher belegenen Ufer Montenegros abzuschneiden und nach der andern Seite, dem türkischen Gebiet, zu drängen.

Offenbar konnte man in dieser Entfernung noch nicht das kleine Boot bemerkt haben und es galt, dies wo möglich zu verhindern. Eine kurze Berathung folgte, ob man das leicht verrathende Segel einziehen und sich nur auf die Kraft der Ruder verlassen, oder den noch immer günstigen Morgenwind benutzen sollte. Beides war gefährlich, denn kaum die Hälfte des Weges war zurückgelegt. Der Beg entschied sich für die weitere Benutzung des Segels, da ohnehin die erste der zu Montenegro gehörenden Inseln, Stavena, bereits vor ihnen lag und man hoffen durfte, an ihrer Wetterseite der Beobachtung des Feindes zu entgehen. Alle halfen an den Rudern und bald schoß das Boot unter den Felsenufern der Insel dahin.

Der Beg wandte das Steuer noch mehr nach Osten und so gelang es ihnen, anscheinend unbemerkt nach weitern zwei Stunden des Ruderns, während dessen der Morgenwind erstorben war und man das Segel eingezogen hatte, die zweite der Inseln, Sanct Nicolaus, anscheinend unbemerkt zu erreichen. Das Dampfschiff war unterdeß weit heraufgekommen und hatte den Fahrstrich des Bootes bereits überholt, hielt sich aber immer noch am jenseitigen Ufer. Hier unfern der nördlichen Spitze der Insel, in einer kleinen ziemlich geschützten Felsbucht beschloß der Beg, Halt zu machen und den Tag zu verbringen; denn da sich über die Insel hinaus der See bedeutend verengt, wäre es fast nicht möglich gewesen, der Aufmerksamkeit der Verfolger ferner zu entgehen, während wenn diese, wie zu erwarten stand, ihren Weg fortsetzten, die Flüchtlinge ganz ungestört hier sich verborgen halten und das schützende Dunkel der Nacht abwarten konnten.

Das Boot lag gesichert in der Felsenbucht, in seinem Innern ruhten die Männer von der Anstrengung des Morgens und der [151] sich steigernden Hitze des Tages. So vergingen mehrere Stunden, ohne daß sie belästigt wurden. Bogdan, zuerst als Späher auf eine der Felsspitzen geschickt, hatte berichtet, daß das Dampfboot hinter der letzten der Felseninseln, Morakowitsch, verschwunden sei. Das hohe Ufer verhinderte ihn, zu bemerken, daß der Dampfer, nachdem er einer Barke begegnet war, von der er die Kunde erhielt, daß kein Boot aus dieser Seite des Sees entkommen sein konnte, an der letzten Insel hielt und Bewaffnete aussetzte, um dieselbe nach den Flüchtlingen zu untersuchen.

Gabriel hatte jetzt die Wache und war an's Ufer gestiegen; die Gesellschaft saß nach ihrem einfachen Mahl, aus der trocknen Castradina und Maiskuchen bestehend, noch immer im Kahn, um jeden Augenblick bereit zu sein. Nur der alte Beg hatte seltsamer Weise den Antheil an der Speise von sich gewiesen, er saß still in sich gekehrt, mit starrem Blick, gleich als habe er ein zweites Gesicht, und summte wieder leise die Piesmen seines Stammes vor sich hin, deren so manche die Thaten seiner eignen Jugend feierten. Plötzlich fuhren Alle empor bei dem nahen Knall eines Schusses. Wenige Angenblicke darauf stürzte in kühnen Sprüngen von Fels zu Fels Gabriel bleich und blutend zur Bucht, noch ehe seine Stimme sie erreichen konnte, zur Flucht winkend. Im Nu war Alles in Bewegung, das Boot abgestoßen und dem Eingang zugetrieben. Hier, wo die Ufer zusammentraten, sprang Gabriel in das Fahrzeug.

»Fort, fort, um aller Märtyrer willen, die Ungläubigen sind uns auf der Spur! Sie sind zurückgekehrt und durchsuchen die Insel; ein Trupp hat mich entdeckt, als ich nach dem Schiff spähte.«

Mit erneuter Kraft warfen sich Alle auf die Ruder, auch Gabriel, dem die Kugel nur leicht die linke Hüfte gestreift hatte. Das Boot flog in das freie Gewässer, aber ein wildes Jauchzen, der Knall vieler Gewehre verkündeten ihnen, daß sie auch bereits entdeckt worden.

Während der rasenden Arbeit sich umschauend, erblickte Grivas auf der Höhe der Felsen die Verfolger, drohend die Gewehre durch die Luft schwingend, deren Kugeln die Flüchtlinge nicht mehr erreichen konnten; unter den Gestalten der Männer den wehenden Feredschi einer Frau. Ihr ausgestreckter Arm deutete nach der Küste, ihre Befehle jagten die Arnauten nach allen Seiten.

[152] Fatinitza, die Wölfin von Skadar, Fatinitza die Rächerin, war auf ihrer Spur!

Die Lage der Verfolgten war noch immer keine so verzweifelte, als es im ersten Augenblick geschienen hatte. Durch den Zeitverlust, den ihre Gegner nothwendig beim Wiedereinschiffen auf den Dampfer und das Herumbringen desselben um die Ausbuchtungen der Insel erleiden mußten, war ihnen ein bedeutender Vorsprung gesichert. Ueberdies ist dieser Theil des Sees wegen der vielen aus dem Grunde sich erheben den Felsen und Klippen schwieriger für größere Schiffe zu befahren. So gelang es den Verfolgten denn wirklich, die Ostseite der dritten Insel zu erreichen, während die Türken, denen die Schwierigkeiten des Fahrwassers gleichfalls bekannt waren, an der Westseite des langgestreckten Eilands hinfuhren, um an dessen Spitze im freien Wasser den Czernagorzen den Weg zu verlegen.

Ueber die Felsen der Insel hin konnten die Verfolgten die Rauchsäule des Schiffes bereits in gleicher Linie mit ihrem Boot streichen sehen, als der alte Glaware das Steuer wandte und quer über den Seearm nach einem Vorgebirge des östlichen Ufers abhielt. Auf seinen Wink strengten Alle ihre Kräfte an den Rudern auf's Neue an und das Boot flog über die Wellen. Die Entfernung der Insel vom Ufer betrug hier eine starke halbe Meile. Während das Dampfboot etwa in gleicher Entfernung um die Nordspitze der Insel bog und die weitere Flucht nach der noch anderthalb Meilen entfernten Mündung des Czernojewitsch – dem sichernden Ufer der Rietschka Nahia – versperrte, war das Boot der Czernagorzen bereits auf Büchsenschußweite am Ufer und näherte sich einer Einbuchtung, als aus dem Gestein des Ufers plötzlich leichte Rauchwolken emporkräuselten und Schüsse ihnen entgegenblitzten. Zwischen den Felsen zeigten sich die weißen Pferde der Albanesen, Posten erschienen auf den Vorsprüngen.

»Das Segel auf!« befahl der Beg, dessen eines Auge in dieser von Minute zu Minute sich mehrenden Gefahr wieder kühn und fest umherblitzte. »Gelingt es uns, das Vorgebirge zu umfahren, ehe jenes dem Teufel verschriebene Schiff heran kommt, so gewinnen wir das Ufer. Diese Kinder des schwarzen Hundes sollen die freien Söhne der Berge nicht fangen, denn um auf jene Seite des Vorsprungs zu gelangen, brauchen sie Zeit.«

[153] Die Moslems auf dem Dampfschiffe begriffen zwar das Manöver der Flüchtlinge, doch war es ihnen nicht möglich, vor diesen das Vorgebirge zu erreichen, und nach einer rasenden Anstrengung von etwa zehn Minuten schoß das Boot gesichert zwischen den Klippen der nördlichen Seite hin, um sich eine bequeme Landungsstelle zu suchen, während ohne Resultat mehrere Karonadenschüsse vom Bord des Dampfers nach ihnen abgefeuert wurden.

Als das Boot das Ufer berührte, das noch von keiner Wache des Feindes besetzt war, sprangen Alle eilig heraus, das Fahrzeug seinem Schicksale überlassend und eilten nun, ihre Waffen mit sich nehmend, in die Schluchten der Zenta.

Jowan, dem diese Gegend von früheren Fischerfahrten bekannt war, machte hier den Führer. Sie waren ungefähr eine Viertelmeile diesseits der kleinen Feste Zabljak gelandet, die in den Kriegen zwischen Montenegro und den Türken von Alters her eine so bedeutende Rolle gespielt und auch zu Anfang des letzten Krieges von den Czernagorzen wieder genommen und beim Abzug am 25. December zerstört worden war.

Seit dem geschlossenen Frieden hatte man zwar versucht, die Befestigungswerke wieder herzustellen, doch war dies erst zum geringen Theil gelungen und nur ein kleiner Posten hielt sie besetzt, so daß man hoffen durfte, ohne Gefährdung sie zu umgehen, wenn nicht vorher schon der Befehl zu ihrer Verfolgung dort eingetroffen. Von der nächsten Höhe, die sie gewonnen, sahen sie jedoch, daß das Dampfschiff jetzt seinen Lauf nach der halbzerstörten Feste genommen und sie beinahe erreicht hatte. Es galt demnach, sich tiefer in das Gebirge zu werfen, um auf dem Umweg das von Zabljak noch eine starke Meile entfernte Gebiet von Montenegro nach Ueberschreitung der Ziewna zu gewinnen.

Es war bereits hoch am Nachmittag, als sie hier die Fortsetzung ihrer Flucht begannen und in die Berge östlich von Fabljak drangen, so viel als möglich die Richtung nach Norden beibehaltend, um sich ihrem Ziel zu nähern. Aber ihre Vorsicht und ihr Muth waren vergeblich, denn die Furie, die auf ihren Fersen war, verstand zu wohl ihren Vortheil, um ihnen Zeit und Raum zum Durchbruch zu gönnen, und fand in einer vor wenigen Tagen von Podgoritza her in die kleine Feste eingerückten Reiterabtheilung neue Hilfe. Der Offizier ihres Vaters, welcher mit einem Haufen wilder Albanesen sie auf dem Dampfer begleitet hatte, war ihrem [154] Willen blindlings gehorsam, und ehe eine Viertelstunde nach der Landung vergangen war, flogen ihre Boten bereits nach den Reiterposten, welche durch die schnellen Sendboten des Paschas von Skadar her entlang der ganzen Küste des Sees noch während der Nacht und des Morgens zum Fange der Flüchtigen aufgeboten worden waren, und deren nächster jenseits des Vorgebirges bereits die Czernagorzen an der Landung verhindert hatte. Zugleich brach ein starker Hause aus der Feste auf, um das Ufer der Ziewna und Moratscha zu besetzen und so den Füchtigen den Weg abzuschneiden.

Die Folgen zeigten sich bald. Als der kleine Trupp der Czernagorzen gegen Abend, von dem Beg geführt, aus den Bergen brach, um den ersten Fluß zu überschreiten, wurden sie vom Ufer her mit Flintenschüssen empfangen, und selbst die tollkühne Tapferkeit des greisen Führers mußte die Uebermacht der Gegner anerkennen und ihr weichen. Unter einer alten Steineiche sammelten sich die Sieben und hielten Berathung, während immer drohender das Netz der Verfolger sich um sie zusammenzog.

»Die Stunde ist gekommen,« sprach feierlich der alte Glaware, »da wir Bog, dem großen Würger, gehorchen müssen. Wir wollen kämpfen und sterben, wie unsere Väter gethan. Das Haus Iwo's wird untergehen in diesen Bergen.«

»Du redest weise und recht, Vater,« sagte Gabriel, »aber bedenke, ob es nicht möglich ist, uns hier auf irgend einem festen Punkt zu halten, bis uns Hilfe käme von unsern Stammverwandten. Der erste Flintenschuß eines Moslems weckt hundert Mal das Echo an den schwarzen Felsen von Czernagora.«

Der Alte schwieg brütend.

»Weiter hinauf im Gebirg,« sprach Jowan, »steht die Kula, die früher einem Gliede der Gradjani gehörte, das in's Niederland gezogen war. Wenn wir sie erreichen, können wir einem Angriff widerstehen. Nur den Boten gilt es zu unseren Brüdern zu finden.«

Der Greis blickte ihn finster an. »Willst Du den Glawaren der Martinowitsch lehren, was er auf diesem Felde zu thun hat, das sein Fuß hundert Mal im Kampfe durchmessen, ehe Du den eigenen Namen lallen konntest? Was geschehen soll ist beschlossen. Höret!«

Alle drängten sich um ihn.

Der Einäugige nahm den schrecklichen Mumienkopf von seinem [155] Halse und betrachtete ihn. »Namik Halil, mein Todfeind, ich sende Dich jetzt, um das Blut derer zu retten, die Du im Leben gehaßt und verfolgt hast, denn unversöhnlich ist die Rache der Martinowitsch. – Gabriel, mein Sohn durch den Leib meiner Tochter, nimm Abschied von Deinem Weibe, denn sie und das Kind« – er deutete auf Bogdan – »werden den Gang wagen, um die Krieger der Rietschka zu wecken mit der Botschaft ihres alten Führers.«

»Vater!« baten Stephana und der Jüngling erschrocken.

»Still! die Kinder der schwarzen Berge wissen zu gehorchen, wenn der Glaware ihres Hauses spricht. Ihr Beide werdet Euch hier unter dem Felsen verbergen, bis der Schatten der Nacht hereinbricht. Dann werden die Feinde fern sein auf unserer Spur und Ihr könnt ungehindert davon schleichen. Du, Bogdan, eilst zu den Kula's der Lubotini und Kozieri und rufst sie zu den Waffen; Du, Stephana, bringst dies Haupt zu den Wohnungen unserer Brüder, der Gradjanen 4, an den Ufern der Czernojewitsch und sagst ihnen, Iwo Martinowitsch sende es zum Zeichen, daß er des Knalls ihrer Flinten benöthigt sei in der Stunde der Gefahr. Die Frauen wandern frei durch diese Berge, selbst der Moslem ehrt ihr Recht, und die Gefahr ist gering für Dich. Wäre es auch anders – Du bist aus dem Blut meines Stammes. Sagt den Männern der schwarzen Berge, in der verlassenen Kula des Popowitsch Gradjani würden sie uns finden, mit unserm schnellen Blei die Ungläubigen zu Boden streckend. Wenn Ihr Euch eilt, kann die Hilfe zur Stelle sein, ehe die Sonne ihren Strahl über die Berge der Zenta auf die grünen Wellen des Sees wirft. Ich habe gesprochen! Die Wila's mögen Euch und uns gnädig sein!«

Alle wußten, daß gegen die Entscheidung des Beg keine Einrede galt. Auch war der Auftrag, der den Beiden geworden und bei dem vielleicht dessen selbst unbewußt der Glaware von dem geheimen Wunsch mit geleitet sein mochte, sein Blut und seinen Namen zu erhalten, offenbar weniger gefährlich, als die Aufgabe, [156] die den Männern blieb. Stephana, das grausenvolle Sendzeichen des Vaters in ihre Schürze bergend, und der junge Bogdan knieeten vor dem Familienhaupt nieder, seine Hand küssend; der Greis machte in jener eigenthümlichen Weise der griechischen Völker mit seinem linken Daumen segnend das Zeichen des Kreuzes über sie und entfernte sich rasch. Stephana warf sich an die Brust des nur eben wieder gewonnenen Gatten und schien sich kaum von ihm losreißen zu können. Aber die drängende Gefahr gewährte hier keine Zeit und die Czernagorzenfrau wußte deren Werth zu schätzen. Noch im Arm ihres Mannes reichte sie dem Griechen die Hand und bat ihn, den Geliebten nicht zu verlassen. Dann verschwand sie rasch mit dem Bruder in eine ginsterbedeckte Felsenspalte, während die Männer dem Beg nacheilten.

Schweigend setzten diese einige Zeit ihren Weg fort, absichtlich an einer geeigneten Stelle sich einem im Thale unten bemerkten Posten der Verfolger zeigend, was von diesem mit einigen nutzlosen Schüssen beantwortet wurde. Nach einer weiteren halben Stunde gelangten sie aus eine sich in leichter Abdachung nach Süden senkende Vergebene, zum Theil mit Gebüsch und wilden Kastanienbäumen besetzt, auf der, an eine schützende hohe Felswand gelehnt, die halbzerstörte Kula stand, die sie zu ihrem Zufluchtsort erwählt hatten. Dieselbe war ein viereckiges thurmartiges Gemäuer von Kalksteinen, in der Hauptmauer noch wohl erhalten und nur das obere Stockwerk mit dem Gebälk eingestürzt. Kein Feind war zu sehen, und rasch nahmen sie von der Ruine Besitz, häuften Schutt und Balken vor den Zugang und machten die schmalen Fensteröffnungen in den dicken Mauern für die Vertheidigung frei. Der Platz bot für kühne und standhafte Männer einen nicht üblen Zufluchtsort, und Alle empfanden dies, als sie nach rasch vollendeter Arbeit sich um den Häuptling am Boden lagerten und nochmals ihre Waffen untersuchten, während Jowan an einer der Schießscharten scharfen Auges Wache hielt über die Umgebung.

Die Sonne begann bereits hinter den jenseitigen Bergspitzen zu verschwinden, als der Czernagorze das Zeichen gab, daß die Feinde nahten. Im Augenblick waren alle Fünf auf ihrem Posten, alle mit den langen Flinten des Hochlands bewaffnet, da Bogdan die seine, als am raschen Lauf ihn hindernd, an Gabriel gegeben hatte. Ein ziemlich starker Trupp berittener Arnauten sprengte [157] die Bergebene herauf und machte etwa zwei Büchsenschüsse von dem Gemäuer Halt. Offenbar glaubten die Türken, daß sie auf der Spur ihrer Gegner seien, denn sie prüften sorgfältig die ganze Fläche, jedes Gesträuch, jedes Felsenversteck durchspähend und bald nahte ein kleiner Haufe den Ruinen der Kula, mißtrauisch die Verrammelung des Zugangs betrachtend, die Waffen zum augenblicklichen Gebrauch in Händen.

Der greise Beg ließ sie bis auf etwa sechszig Schritt herankommen, dann stieß er mit seiner donnernden Stimme den gefürchteten Schlachtruf seiner Familie aus und gab Feuer. Gabriel, Grivas, Jowan und auch der Arnaut Hassan folgten seinem Beispiele, und drei der Reiter stürzten von den Pferden, während die Andern erschrocken Kehrt machten und davon sprengten, der Eine gleichfalls verwundet im Sattel schwankend. In wenigen Augenblicken waren unter dem tobenden Allahruf die Türken außerhalb der Schußweite unter den Kastanienbäumen versammelt, die Pferde wurden gekuppelt und angebunden, während zwei der Reiter mit der Kunde davon jagten, daß die Flüchtigen gefunden seien, und der Führer der Schaar vertheilte seine Leute über die Fläche, von allen Seiten das Gebäude im weiten Halbkreise umgebend.

Während die kurze Dämmerung, die im Süden Tag und Nacht scheidet, hereinbrach, begann das Gefecht, und die Schüsse der Plänkler knatterten munter gegen die Oeffnungen des Gemäuers, aus dem hin und wieder ein Schuß aus den langen Flinten der Czernagorzen antwortete, wenn Einer oder der Andere der Moslems unvorsichtig sich zu weit vorwagte. Der Schein des Vollmonds, der den ersten Theil der Nacht erhellte, zeigte klar alle Gegenstände rings umher. Plötzlich übertönte ein wilder Jubelruf der zurückgebliebenen Türken das einzelne Knallen der Flinten. An der Spitze eines zweiten Trupps heran jagte eine Frau im weiten, weiß durch die Nachtluft flatternden Mantel, den Schleier um das Haupt gewunden, die Büchse in der Hand, im Gürtel Pistolen und Handjar, – vor dem weißen Araber her in mächtigen Sprüngen mit gesträubtem Haar der Wolf, ihr Begleiter.

Um das Pferd der kühnen Reiterin sammelte sich die Schaar, Befehle flogen von ihren Lippen nach rechts und links, in drei Haufen theilte sich der wohl an fünfzig Mann starke Trupp, und langsam, lautlos rückten sie jetzt von drei Seiten gegen den Thurm.

[158] »Bei Allah!« sagte Hassan zu den Kampfgefährten, »wir werden einen schweren Stand haben. Kennt Ihr den Teufel in Weibergestalt, der sie zum Angriff führt? Es ist Fatinitza, die Wölfin von Skadar, von der das Volk erzählt, daß sie das Blut ihrer Feinde trinkt. Es ist unser Kismet 5, hier zu sterben.«

Der alte Beg grinste in teuflischem Hohnlachen.

»Ist es die Wölfin von Skadar, so will ich sie fällen, wie das Thier, dessen Namen sie führt!«

Die Flinte lag an seiner Wange, der Finger berührte den Drücker, doch vergebens schnappte der Hahn auf die Pfanne, das Gewehr versagte, – zum ersten Male seit langen Jahren.

Der Greis setzte es erstaunt und abergläubisch zu Boden.

»Bei Bog, dem großen Würger, – sie ist gefeht.«

»Ich sagte es Euch vorher, Beg Iwo! Sie hat den bösen Blick und keine Menschenhand kann sie verletzen. – Aber zur Wehr, Männer; die Krieger des Halbmonds sind über Euch und Allah will es, daß ich gegen die eigenen Brüder fechten soll.«

Der Moslem erfüllte wacker die Pflicht des Gastfreundes. Seine Flinte war die erste, die knallte und einen seiner früheren Kameraden zu Boden streckte. Der Einäugige, Nicolas, Gabriel und Jowan empfingen die auf ein Zeichen der schönen Megäre gegen den Bau Heranstürzenden mit einer Salve. Jede Kugel fand ihren Mann, aber über die Leiber der Fallenden sprangen mit wildem Geschrei die Albanesen vorwärts und das Handgemenge begann an jeder Oeffnung der Mauer. Pistolenschüsse, die Hiebe der Yatagans und der Säbel klangen hin und her; an den engen Oeffnungen der Fenster mit leichter Mühe von Jowan und dem Lekitsch – Khan zurückgeschlagen, drängte sich der Hauptangriff zur weitklaffenden Oeffnung der ehemaligen Thür. Ueber die Balken, Steine und Brandtrümmer versuchten die blutigen Arnauten in's Innere zu dringen, in ihrer Mitte, Allen voran, keine Gefahr scheuend, Fatinitza, während das Geheul des Wolfes grimmig durch das Toben des Gemenges scholl.

»Sve Oslobod!« klang der Kampfruf des Alten, dessen gewichtige Hiebe, wo sie niederfielen, Tod und Verderben brachten, da – als seine Faust mit der schweren Waffe wieder erhoben, warf sich das Mädchen ihm entgegen, ihr dämonisches Auge traf [159] das seine und ihr Handjarhieb seine Stirn, daß er blutig zurücktaumelte.

»Maschallah! Der Sieg ist unser!«

Aber eine Hand erfaßte ihren Arm, als sie hereinspringen wollte in den vertheidigten Raum – eine zweite umschlang ihren Leib, Auge blitzte in Auge, der funkelnde Blick des Weibes und das finstre Auge des Mannes, mit dem sie ihr Lager getheilt, – und weit hin mit gewaltigem Stoß schleuderte er über die Trümmer hinweg die Geliebte, daß ihr Körper den Boden maß und heulend der Wolf sich auf die Gefallene stürzte.

Die rasche That des Griechen entschied den Sieg; die Arnauten ließen bestürzt ab von dem Sturm und eilten zu der Gebieterin, die sie forttrugen; die Schüsse der Czernagorzen, die Luft und Zeit gewannen, jagten die Letzten davon.

Eine Pause schien auf den blutigen Kampf zu folgen. Alle Vertheidiger des Thurms mit Ausnahme des Moslem waren verwundet und verbanden jetzt die leichten Verletzungen, so gut es gehen wollte, sich der auf den Charakter und die Sitte ihrer Gegner gegründeten Hoffnung hingebend, daß das Mißlingen des ersten Anlaufs ihnen für lange Zeit Ruhe schaffen würde, in der die Hilfe erscheinen konnte. Auch drüben unter dem über Schußweite entfernten Haufen der Verfolger war es still, man sah nur, wie sie Holz an verschiedenen Stellen zusammenschleppten, um Feuer ringsum anzuzünden, damit bei dem frühen Untergang des Mondes im Schatten der Nacht ihre Beute nicht entweichen, oder im blutigen Ueberfall ihnen unbemerkt nahen könne.

Nur das Stöhnen, die Seufzer der Verwundeten, die zu schwer verletzt worden, um sich von der blutigen Stätte des Kampfes fortschleppen zu können, unterbrach die Stille um die Ruinen.

Der alte Beg, die treue Flinte zwischen den Beinen, saß auf einem Stein; das Mondlicht, durch eine der Oeffnungen hereinbrechend, überglänzte das narbenbedeckte wilde Antlitz. Der Hieb Fatinitza's war durch den dicken Bund des Turbans gebrochen worden und hatte nur schräg seine Stirn getroffen, von der unter der umgelegten Binde dicke Blutstropfen hervorquollen und das Gesicht durchfurchten, ohne daß er sich die Mühe gab, sie zu trocknen. Sein eines Auge, von dem überstandenen Kampfe entflammt, blitzte feurig umher.

»Bei den Gebeinen der heiligen Märtyrer von Ostrog, wir [160] haben diese Hunde zurückgejagt, wie unsre Väter am Berge Perjnick 6 den stolzen Seraskier jagten drei Sonnen lang. Die Wila's würden uns sicher zum Sieg verhelfen, wenn der böse Geist nicht das Weib unter sie geführt hätte mit dem schlimmen Blick. Mir ahnet Böses, Khan Hassan Lekitsch!«

»Ich spucke auf diese Weiber!« sagte der Moslem verächtlich. »Möge daß Grab ihrer Mütter besudelt werden, sie haben einem Manne noch nie Gutes gebracht. Es ist unser Schicksal, Beg.«

»Du irrst, Khan,« meinte der Glaware, »nur die Frauen mit dem bösen Blick bringen Unheil, die guten haben uns die Wila's zum Segen gegeben und wir ehren die Mutter unserer Kinder. Die Ungläubigen freilich geben ihnen nur halbe Seelen. Reiche mir das große Horn, Zagartschane, das meine ist leer und die Waffen müssen bereit sein.«

»Was meinst Du, Vater?«

»Das Horn, das große Horn mit dem Pulver, das Bogdan Dir gegeben hat, der es trug,« sagte der Alte ungeduldig.

»Um Gott, – Bogdan hat mir Nichts gegeben, – ich habe das Horn nicht!«

Der Greis sprang empor. – »Das Horn! das Horn!« rief er wild. »Unser Leben hängt von dem Pulver ab!«

Alle suchten ängstlich umher und befragten sich gegenseitig – das Stierhorn mit dem Pulvervorrath des Alten fehlte, – Bogdan, der es getragen, hatte in der Eile der Trennung vergessen, es mit der Flinte an Gabriel zu geben. Die Männer, die noch vor wenigen Minuten dem wilden Feinde kühn in das Weiße des Auges geschaut, sahen sich erbleichend an – es ist etwas Furchtbares selbst für den Tapfersten, in der Stunde der Gefahr sich der Waffe beraubt zu sehen.

»Wie viel Pulver haben wir noch?«

Man sah nach – zwei der Flinten, die Gabriel's und Jowan's, waren noch geladen, auch ein Pistol enthielt noch den Schuß – die Pulverflaschen des Griechen und des Moslems waren leer.

Der Beg stützte finster das Haupt in die Hand.

[161] »Mein eigen Blut ist mein Verderben, – der greise Adler der schwarzen Berge hat die Krallen verloren, er ist ein Kind in der Hand seiner Feinde!«

Und wie antwortend hoch über ihnen klang ein Rabenschrei durch die Luft und das Echo des Felsens trug ihn nieder.

Der Beg und Gabriel richteten sich empor, ihre Augen schienen das Dunkel durchbohren zu wollen, die Nerven ihres Gehörs gespannt, wie sie, dem Wilde gleich, das den Jäger wittert, durch die Nacht lauschten.

Und wieder – aber leiser und näher klang der Schrei des Raben.

Gabriel warf sich an die Brust des Freundes, der alte Primore 7 schwang jubelnd die Flinte um das Haupt.

»Stephana! das ist Stephana – das treue Weib! – Sie haben unsere Noth errathen, sie bringt uns das Pulver!«

Da krachte in der Nähe ein Schuß – wildes Geschrei auf allen Seiten – über die Berghalde flog eine weiße Gestalt in rasendem Lauf nach den Schatten des Thurmes zu – an dem Eingange harrten die Freunde und rissen mit blutenden Fingern Balken und Steine zur Seite.

»Stephana!«

»Gabriel!«

Aber aus den Schatten rings umher, gleich Gespenstern, tauchten die dunklen Gestalten der Albanesen auf allen Seiten empor, zwischen ihr und den rettenden Mauern, – ein wilder verzweifelter Schrei, und in den rohen Armen der Männer wand sich die treue Czernagorzenfrau.

»Hinaus! Rettet mein Weib!«

Ueber die eigene Verschanzung empor klimmten die Verfolgten. Ihnen entgegen donnerte eine Salve der Türken – weit aus breitete der wackere Hassan Lekitsch die Arme und drehte sich rund um sich selbst, ehe er zu Boden stürzte.

»Kismet! – Lebt wohl Ihr Brüder – die Houri's des Paradieses winken mir!« – so starb er.

Der Beg riß Gabriel und den Griechen zurück.

»Ein Weib für fünf Männer – und ob es der eigene Saamen ist, das Hochland bedarf seiner Krieger!«

[162] Er warf sich vor die Oeffnung, die Anderen zurückwehrend. Gabriel verhüllte das Gesicht, vor Schmerz wild aufstöhnend. –

Stephana, das treue Weib, das den Freunden das zurückgelassene Pulver bringen wollte und das Dunkel des untergehenden Mondes abgelauert hatte, wurde auf den Armen der Moslems zurückgeschleppt zu den Füßen der Wölfin von Skadar. In ihrem Gewande fand man das Pulverhorn, das sie in die Hände der Feinde geliefert.

»Wer bist Du, Weib?«

»Stephana Zagartschana, des Mannes Frau, den Ihr schmählich gefesselt hieltet in Skadar.«

»So bist Du das Weib des Flüchtigen, der meinem Vater entronnen?«

»Du sagst es, blutige Bula 8. Der Mund einer Czernagorzenfrau redet nimmer Lüge.«

»Und Dein Mann befindet sich in jenem Thurme mit dem Schändlichen, dessen Verrath ihn befreit hat?«

»Geh' hin und frage selbst.«

»Spiele nicht mit der Wölfin von Skadar, Weib, denn wisse. Dein Schicksal ist ein schlimmes und Dein Blut wird büßen für das, was Jene gethan. Keiner darf athmen, der sagen mag, er hätte Fatinitza's Schmach gesehen. Was wolltest Du bei den Verlorenen?«

»Die Tochter des Iwo Martinowitsch, des großen Beg der Rietschka, fürchtet den Tod nicht. Sie gehört zum Gatten und Vater in der Stunde der Gefahr.«

Ein wilder Jubelruf brach im Kreise der Arnauten aus, als sie hörten, daß der berühmte Krieger des Hochlands in ihrer Gewalt sei. Trotz der furchtbaren Lage, in der sie sich befand, schwellte Stolz die Brust der edlen Czernagorzenfrau, als sie diese Anerkennung für den Ruf ihres Vaters vernahm.

Einer der Albanesen zeigte das Pulverhorn, das man bei der Gefangenen gefunden.

»Bei dem Propheten, Herrin, ich glaube, daß diese Tochter eines Hundes den Männern dies Pulver bringen wollte, woran es den unreinen Thieren von jeher gefehlt hat. Allah bilir, Gott allein weiß es.«

[163] »Geht und schaut in die Mündung der Flinten meiner Tapfern, sie werden Euch Antwort geben,« entgegnete die Czernagorzin kühn. »Aber eilt Euch, denn die Söhne der schwarzen Berge nahen, um ihren großen Beg zu suchen und hörten seinen Ruf nach den Kriegern.«

Die finstre Falte zwischen den Brauen des Türkenmädchens zog sich dunkler und drohender. »Dann ist es Zeit, daß Dein Schicksal erfüllt werde. Bindet das Weib!«

Mehrere der Arnauten warfen sich auf die Unglückliche und schnürten ihre Arme zusammen.

»Mein Pferd!«

Der Schimmel stampfte unter ihrem Druck. Am Sattel sprang lechzend der Wolf in die Höhe.

»Zu den Waffen, Tapfere von Skadar! Nehmt die Brände, daß sie leuchten zu dem Fest, das wir Jenen bereiten wollen, auf daß man erzählen möge von Fatinitza's Rache, so lange die schwarzen Berge stehen. Bringt das Weib.«

Fatinitza voran nahte sich der Zug der Kula, aus der vier Männer ihm bleich und finster entgegenstarrten.

Etwa sechszig bis siebenzig Schritt von dem Thurm entfernt stand ein junger, weitästiger Kastanienbaum. Vor ihm befahl die Türkin die mitgebrachten Brände zusammen zu werfen, daß die Flammen hoch aufloderten und einen weiten Lichtschein umherwarfen, in welchem den Männern im Thurm keine Einzelnheit der furchtbaren Scene entgehen konnte.

»Schnürt sie an den Baum, das Antlitz den Rebellen zu!«

Der Befehl ward vollzogen.

»Reißt ihr die Kleider ab, – geschändet soll sie vor Euch stehen! – Wie ich es vor Jenem stand!« setzte die zuckende Lippe leise hinzu.

»Barmherzigkeit, Du bist ein Weib!« Es war die einzige Bitte, die dem Munde der unglücklichen Frau sich entwand. – Barmherzigkeit? – Bei dem Löwen der Wüste, bei dem Tiger der Dschungeln suche Barmherzigkeit, nicht bei den Männern Albaniens.

Gleich Bestien warfen sie sich auf die Czernagorzin und rissen und schnitten die Gewänder herunter, daß der keusche Leib unverhüllt vor den rohen höhnenden Blicken der Männer stand. Die Wölfin von Skadar trieb das Pferd bis dicht zu der entehrten [164] unglücklichen Frau und schaute mit finsterem Blick auf sie nieder. Dann streckte sie drohend die Hand nach der Kula.

Da blitzte und krachte ein Schuß aus dem dunklen Gemäuer.

– – –

In der Kula standen die Männer starren Auges, den Blick unverwandt auf den herankommenden Zug gerichtet, die Faust um die treue Flinte geklammert, als wollten die Finger sich in das Eisen krampfen. Nur das tiefe Stöhnen des unglücklichen Gatten unterbrach die unheimliche Stille.

»Das Pulver! das Pulver!« murmelte der Greis vor sich hin.

Man sah Stephana an den Baum schnüren; die Flamme zu ihren Füßen ließ deutlich jeden ihrer Züge erkennen, fast den Strahl ihres Auges, wie er Hilfe suchte bei den nahen Freunden.

Jetzt warfen die Arnauten sich auf ihr Opfer.

»Sie morden sie – hinaus, ihr zu Hilfe!« raste der Zagartschane, doch nochmals riß die Hand des Greises ihn zurück.

»Noch nicht – sie schänden nur das Blut der Martinowitsch.« Seine Stimme war hohl, fast klanglos.

Gabriel taumelte.

»Verdammniß über den Teufel in Weibergestalt! Fahre zur Hölle!«

Seine Flinte lag an der Wange, der Schuß knallte, – doch noch schneller als sein Finger am Drücker war die Hand des Griechen, die den Lauf in die Höhe schlug.

»Halt ein! Du tödtest sie

Die Kugel schrillte hoch durch die Luft.

War es Stephana, war es Fatinitza, die Nicolas Grivas mit den Worten und der That meinte – nur Gott weiß es.

»Fluch Dir und ihr Blut über Dich! Zerrissen sei das Band des unseren!«

Gabriel warf die Flinte zu Boden und wandte sich mit einer erhabenen Geberde der Verachtung von dem bisherigen Freunde. –

Nur ein Schuß noch blieb in der Hand der Verfolgten. Der alte Beg streckte die Rechte nach der Flinte aus, die Jowan hielt:

»Gieb!«

– – –

Die Arnauten waren auseinander gestoben bei dem Schuß der waffenlos Geglaubten. Nur Fatinitza hielt mit eherner Ruhe.

[165] »Seit wann haben die Tapferen von Skadar Furcht vor dem Blei der schwarzen Hunde? – Hierher, Abdallah!«

Der Mohr, den sie gerufen, nahte dem Pferde. Er empfing ihre Befehle und fletschte in teuflischer Bosheit die thierischen Züge, indem er langsam das Messer aus seinem Gürtel zog und zu der Gefesselten trat, deren Auge zum Himmel erhoben war, deren Lippen ein Gebet zum Allmächtigen sprachen.

»Dschidelim! Eile Dich! ...«

Ein wilder Schmerzensschrei riß sich trotz der heldenmüthigen Entschlossenheit von den Lippen der Aermsten – –

– – –

»Vater! – Sie martern mein Weib zu Tode!«

Der Alte schauerte – sein Auge starrte wie in einer Vision, die seinen Geist zu umnachten begann.

»Die Engel im Himmel werden dem Blute Iwo's beistehen in seinem Märtyrerthum. Einer der Moskowiten, mit denen ich bei Ragusa focht, war im Lande gewesen, fern über der großen See, und erzählte, wie da die gefangenen Krieger gemartert werden von ihren Feinden und doch ihr Triumphlied singen unter den Schmerzen des Todes. Ist die Christenfrau aus Iwo's Stamm weniger muthig als die Heiden der Wälder über der Salzsee?«

»Es ist ein Weib – laß mich hinaus, Vater –«

»Zurück, Knabe, und vernimm das Todtenlied der Martinowitsch!«

Und mit lauter eintöniger Stimme begann der Greis das Heldenlied: Sve Oslobod. –

– – – – –

»Giftige Nattern säugte der Busen des Czernagorzenweibes, so möge er weiter die Bestien der Wildniß nähren! D'rauf, Scheitan!«

Der schwarze Henker warf das blutrauchende Fleisch der abgeschnittenen Brust dem lechzenden Wolfe hin und senkte mit teuflischen Vergnügen das Messer zum zweiten Male in den Leib der Märtyrerin 9!

»Vater! Gabriel! – Um der ewigen Barmherzigkeit willen, den Tod!«

[166] Und wieder krachte ein Schuß – der letzte der Czernagorzen! – aber diesmal taumelte der schwarze Mörder zu Boden und das Haupt der Gemarterten fiel auf die Schulter nieder – im Tode brechend dankte ihr Auge noch hinüber nach der Kula: dieselbe Kugel hatte Henker und Opfer durchbohrt. –

Auf das Bollwerk des Thurmzuganges sprang die riesige Gestalt des einäugigen Greises, wahnwitzig schwang seine Hand die noch rauchende Flinte um das Haupt.

»Hierher, blutige Mörder von Skadar! Hierher, feige Söhne des falschen Propheten! Die Männer der schwarzen Berge rufen nach Euch!«

Und Fatinitza warf ihr Roß gegen die Kula.

»Zum Kampf! Allah il Allah! zum Kampf!«

Von allen Seiten klang das furchtbare Angriffsgeschrei und die Schaar stürmte gegen die kleine Heldenzahl, Schüsse knallten, Waffen blitzten, Stöhnen der Wuth und des Schmerzes, über die Steine und Balken klommen die Albanesen; hinein in's dichteste Gewühl stürzte sich der Zagartschane – wie sein Schatten hinter ihm drein Nicolas Grivas, während am Eingang des Thurmes der grimmige Beg und Jowan Martinowitsch den Helden- und Todeskampf kämpften und von unzähligen Wunden durchbohrt, sterbend noch mit dem Blick voll unauslöschlichen Hasses den siegenden Feind bedrohten. Zwei Mal hatte Grivas sich vor den zürnenden Freund geworfen und den Todesstreich von ihm abgewehrt, jedes Mal wandte der Zagartschane sich nach einer andern Seite, Beide die Mörderin zu erreichen strebend. Mit wildem Jubel schwangen die Albanesen schon in ihrem Rücken das abgeschnittene Haupt des Beg auf einer Flintenspitze, – unwillkürlich wich das trotzige Weib vor den wüthenden Rächern zurück, den Zügel des Rosses anziehend; an Grivas Hals warf sich die Wölfin, aber ein Handjarstoß zerschnitt ihr den blutigen Rachen und Kehle, – da durchbohrte aus nächster Nähe ein Schuß die Brust Gabriels, daß ein dunkler Blutstrom mit dem Athemzug aus seinem Munde quoll. Ueber dem Stürzenden schwang Nicolas den blitzenden Stahl:

»Dies Mal, Blutbruder, löse ich den Eid!« und sein Hieb spaltete den Schädel eines Arnauten, der sich auf den sterbenden Freund warf.

[167] »Lebendig, lebendig fangt ihn!« kreischte die Stimme Fatinitza's und ihre Geberde jagte die Zaudernden dem Kämpfer entgegen.

Da trachten neue Schüsse in geringer Entfernung. Durch die Nebel des Morgengrauens brachen von der Bergseite her dunkle Gestalten, – die Czernagorzen, die Junaks der Rietschka Nahia, – eine kräftige, militairische Figur im grauen russischen Capot in ihrer Mitte ertheilte Befehle – Oberst Berger, den Bogdan in der nächsten Brastwo 10 mit mehreren Begleitern umherstreifend gefunden.

»Vater Iwo! Gabriel! die Kinder der schwarzen Berge kommen!« tönte ermuthigend die Stimme des Jünglings durch das Kampfgewühl und das wüste Geschrei der von allen Seiten flüchtenden Albanesen.

Zu spät!

Ein schwerer Kolbenschlag traf von hinten des Griechen Haupt und warf ihn, aus zehn Wunden blutend, zu Boden über den todten Freund. Das Blut der Blutbrüder vermischte sich – der heilige Eid war gesühnt – sein brechendes Auge traf die Mörderin.

»Das Kreuz! das Kreuz! – Gabriel – Vater – Stephana, wo seid Ihr?«

Die Wölfin von Skadar sprang vom Roß. Mit übermenschlicher Kraft hob sie den blutenden Körper quer auf den Sattelknopf des Pferdes und schwang sich wieder hinauf. Im Druck der spitzen Steigbügel hob sich der Renner mit der doppelten Last zum Sprunge und seine Hufe warfen die Flüchtenden zur Seite.

Weit aus griff der Schimmel. Von den Schüssen der Czernagorzen umdonnert, den blutigen Körper des seiner Liebe Verfallenen auf Sattel und Arm, sprengte das Türkenmädchen durch den Pulverdampf.

In den wallenden Nebeln des Morgenlichts verschwand der flatternde Mantel.

Hinter ihr aber hielt der Tod seine reiche rächende Ernte!

Fußnoten

1 Ganz befreit! – Zugleich der Name der Piesme, welche jene That besingt.

2 Familienoberhaupt.

3 Es ist Nichts!

4 Die Nahia von Glubotina oder Rietschka – Nahia, der mittlere Theil von Czernagora, der an der Mündung des Czernojewitsch und der Moratscha das nördliche Ufer des Skadar-Sees begränzt und die wildesten Berggegenden enthält, zählt fünf Stämme: die Lubotini, die Kozieri, die Zeklini, die Dobarski und die Gradjani. Das Thal der Moratscha zwischen Zabljack bis Podgoritza heißt die Zenta.

5 Schicksal.

6 Czarew-Laz (des Kaisers Abhang), wo 1712 ein Heer von 50,000 Mann unter Achmed Pascha von den Kriegern der schwarzen Berge fast gänzlich vernichtet wurde.

7 Benenuung aller serbischen Stämme der Küstenländer.

8 Türkenfrau.

9 Dergleichen Abscheulichkeiten sind – historisch – leider noch im letzten Kriege vorgekommen. Wir erzählen – die Feder versagt fast den Dienst – Thatsachen!

10 Gemeinde.

Lorette und Grisette
[168] Lorette und Grisette.

Wir haben Fürst Iwan auf dem Place de la Madeleine am Abend des 5. Juli verlassen, indem er der Fürstin, seiner Schwester, seine Ehre verpfändete, noch vor eilf Uhr auf dem Nordbahnhof zu sein.

Aus den finsteren blutgetränkten Bergen Czernagora's führe ich darum den Leser zurück in das bunte, glänzende, vergoldete Leben der modernen Weltstadt – nach Paris.

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In einer jener Straßen, welche die Rue Montmartre mit der Rue Montorgueil und Poissonnière verbinden, in der Rue St. Josef No. 10, enthielt der zweite Stock eine kleine, aus einem Vorzimmer, Salon und Schlafgemach mit einer Mädchenkammer bestehende Wohnung, die mit einer gewissen überladenen Eleganz und jenem Luxus eingerichtet war, welcher mehr als alles Andere beweist, daß der Besitzer oder die Besitzerin nicht in der Gewohnheit des Reichthums geboren sind, und daß es ihnen an jenem guten Geschmack fehlt, der das Erbtheil der Geburt oder der Erziehung ist, und das Gold des Luxus mit der Noblesse der Einfachheit zu verbinden versteht. Verschiedenartige und überzahlreiche Möbel, vielfarbige Teppiche, Spiegel, Kunstgegenstände und Nippsachen ohne Auswahl füllten den Salon, in dem in diesem Augenblicke zwei Frauen sich befanden, beide jung, beide schön, beide Kinder des Pariser Lebens, Tagfalter der Jugend, wie sie dahin flattern von Lust zu Lust, von Blüthe zu Blüthe, bis der schöne Farbenstaub der Flügel verwischt und verschwunden ist und sie untergehen und verschwinden in den Wogen jenes Lebens voll [169] Sorglosigkeit, Leichtsinn und Vergnügen, das zum Ersatz täglich tausend neue Schmetterlinge gleich ihnen entpuppt.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten herrschte doch viel Abweichendes, Verschiedenes im Wesen der beiden Frauen.

Im damastbekleideten üppig weichen Fauteuil ruhte eine Frau von hoher junonischer Gestalt, etwa zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Jahre zählend, blond, von jener Farbe, die man cendré nennt, der Teint dem entsprechend sein und leicht geröthet. In dieser Mattigkeit der Farbe und der Augen lag dennoch eine gewisse Genußsucht, eine Unbezähmbarkeit des Verlangens, die sich auch in der Bildung des Kopfes an den Organen der Selbstliebe und der Eitelkeit ausprägte. Damit ganz eigenthümlich verbunden schien die Empfindung für das Seltsame, Wunderbare und das im Bau des Kinns ausgesprochene Vermögen einer raschen Entschlossenheit, das mit der gewöhnlichen lethargischen Genußliebe der Schönen einen seltsamen Contrast bildete. Ein schweres Faltenkleid von Rosa Moirée mit schwarzen Spitzen garnirt, und ein weißer nachlässig im Sitzen zusammengedrückter halber Dominomantel von weißer Wolle umhüllten die schöne Gestalt. Die seinbehandschuhte Hand, über welcher mehrere kostbare Bracelets den schönen Knöchel umschlossen, spielte mit einer halben Sammetmaske und dem Fächer.

Zu ihren Füßen auf einem gestickten Tabouret hockte in halb possierlicher und doch allerliebst graziöser Stellung ein junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren im eleganten doch sehr legere getragenen Kostüm der Débardeurs, während ein dunkler Herrendomino auf dem Sopha zur Seite lag. Die Kleine, gleichfalls noch ohne Maske, qualmte aus den frischen, überaus keck und heiter aufgeworfenen Lippen eine spanische Cigarre, deren Dampf ihre große Gefährtin von Zeit zu Zeit widerwillig mit den Federn des Fächers zurückwehte. Es war ein lustiges keckes Leben in dem zierlichen Gesichtchen, Laune und Eigenwille in den braunen Augen, dabei das Organ des Mitgefühls und der Anhänglichkeit in der Rundung des Hinterkopfs stark ausgeprägt.

»Dein Cavalier bleibt lange, Nini« sagte nachlässig die Große. »Es wird eilf Uhr, bevor wir nach demJardin Mabille kommen!«

»N'import! was machen wir uns daraus! Wir bleiben desto länger. Weißt Du, Celeste, Du bist recht thöricht, daß Du [170] immer die Vornehme spielst und so zeitig fortgehst. Man muß das Vergnügen bis auf den Grund studiren.«

Die Lorette warf ihrer Freundin durch die matt geöffneten Augenlider einen halb verächtlichen Blick zu, gleich als wolle sie sagen: Thörichtes Kind, was weißt Du! – Der auf ganz andere Neigungen schließen lassende Mund aber sprach:

»Das verstehst Du nicht, das ist nicht Sitte in der bessern Gesellschaft, und ich ärgere mich jedes Mal über Dein ungenirtes Wesen, wenn wir zusammen an öffentlichen Orten erscheinen.«

»Bah! Warum gehst Du da mit uns? Freilich ist's noch nicht lange und erst seit Dir Dein Protecteur untreu geworden. Weißt Du, Celeste, ich habe schon gedacht, Du hättest Dich seit den acht Tagen, daß Du mich wieder besuchst, nur darum zu mir gefunden, um mir Jean zu entführen.«

Wiederum traf ein ähnlicher Blick die Kleine.

»Meinst Du denn, wenn mir's Ernst wäre, ich würde es nicht zu Stande bringen?«

»O, Jean ist treu, er liebt mich wirklich; es ist nicht eine so von Euren kleinen Liaisons, die Ihr so gern die vornehmen Damen spielen wollt und es doch nicht seid. – Man hat bei unserer Liebe noch ein Herz.«

»Beruhige Dich, Mignonne, sei überzeugt, dazu liebe ich Dich zu sehr aus der Zeit, da wir Beide noch Kinder waren. Ich freute mich aufrichtig, als ich Dich wiederfand, auch bin ich nicht undankbar – und Du weißt –«

»Ah bah, schweige von der Kleinigkeit; Jean giebt mir ja genug, warum sollte man einer Freundin nicht helfen! Weißt Du, Celeste, es ist eigentlich recht schade, daß Du schlecht geworden bist; mein Bruder François liebte Dich so sehr und Du hättest eine brave Frau werden können.«

Das seine Gesicht der Lorette schien eine Wachsbleiche anzunehmen bei der Erinnerung, dann flog mit einem leisen Seufzer eine helle Röthe über Stirn und Wangen und die Hand drückte krampfhaft den Fächer.

»Erinnere mich nicht daran, er war meine einzige Liebe. Aber was können wir armen Frauen thun – die Armuth ist so drückend und die Arbeit so schwer. Als ich Herrn de Sazé kennen lernte – –

Ah! das ist Dein erster Verführer, nicht wahr? Mein [171] Bruder hat ihm auch schwere Rache gelobt. Du hast wohl seit den fünf Jahren gar Viele gehabt, Celeste?«

»Du bist eine Närrin!«

»Es muß komisch sein,« meinte Nini ganz naiv, »so viele Männer zu lieben, Einen nach dem Andern oder Alle auf ein Mal. Ich könnte es wahrhaftig nicht; mir macht der Eine schon genug Kopfzerbrechens.«

»Hat er Dir denn noch immer seinen wahren Namen nicht gesagt?«

»Er heißt Jean und ist, glaub' ich, aus Polen. Mon Dieu, was weiß ich, wo das abscheuliche Land liegt! Ich habe immer gedacht, er müßte so ein falscher Prinz oder so ein verkappter Californier sein, weil er sich gar so wenig aus dem Golde macht. Er liebt seine kleine Nini, was will ich mehr?«

»Du verdientest, daß man ihn Dir entführte, so einfältig bist Du. Seit drei Monaten hast Du diesen Crösus nun in Deinen Fesseln und noch nicht einmal eine eigene Equipage oder eine Kammerfrau.«

Nini lachte wie toll, daß sie fast vom Tabouret fiel und die Cigarette verlor.

»Ich eine Kammerfrau! Bist Du nicht gescheut? Was sollte ich mit einer Kammerfrau thun? das gehört für Damen wie Du. – Nein, mein Schatz, die Portiere genügt mir, und mit der kann ich ungenirt plaudern, wie mir der Schnabel gewachsen ist, vor so einer zierlichen Demoiselle aber würde ich mich geniren und wüßte wahrhaftig nicht, ob sie die Herrin oder ich. Aber was willst Du? Bin ich nicht schön und sein eingerichtet? Ist nicht dies Alles mein, die ich doch eigentlich nur eine kleine Nähterin war, und kannst Du etwas Hübscheres und Reicheres sehen, als diesen Salon? He?«

Celeste zuckte mitleidig die Achseln.

»Du könntest drei damit ausstatten, und es würde drei Mal besser aussehen.«

»O, glaube nur,« meinte Nini hochmüthig, »Jean kauft mir Alles, was ich will. Ich habe auch schon an so ein kleines Pferdchen gedacht und einen hübschen zierlichen Tilboury mit einem Knirps von Jockey oder Mohrenbalg so hinten d'rauf, aber Jean meint, das passe sich nicht für mich, und wenn ich einen Wagen hätte, würde ich den ganzen Tag auf der Straße umherkutschiren [172] und nicht mehr für ihn zu Hause sein. Wenn wir nach den Boulevard – Theatern gehen, oder in's Freie vor der Barriere, oder zum Ball, ei, da giebt's ja Wagen genug in Paris.«

»Wie aber ist's, Nini –« sie sprach das Folgende mit einiger Ueberwindung aus – »wenn François, Dein Bruder, zurückkehrt? Was wirst Du ihm sagen über das begonnene Leben?«

Dem leicht erregten Mädchen traten ein Paar Thränen in die hellen Augen.

»Das ist freilich böse, aber – warum hat er mich verlassen! Ich liebe François sehr, aber man kann doch nicht ewig in seinem Dachstübchen verkümmern? – Und hungern kann man doch erst gar nicht, wenn man auch noch so wenig ißt. Du weißt ja, Celeste, wie glücklich und bescheiden wir waren, als unsere Eltern neben einander wohnten im Faubourg Antoine, und wir alle Sonntag zusammen spazieren gingen, Du und François und ich, das närrische Kind. Auch noch aus der englischen Fabrik kam François immer nach Hause, bloß um Dich zu sehen, bis vor fünf Jahren – Du erinnerst Dich –«

»Ich weiß, ich weiß!«

»Als François im März nach England ging, gab er mir hundertfünfzig Franken, und damit und mit meiner Näherei hätte ich gewiß gelangt, obschon ich mich recht stattlich herausgeputzt hatte, wenn ich nicht so einfältig gewesen wäre, das schöne Geld in fünf blanken Louis, die ich noch hatte, immer mit mir umherzutragen. Ich habe Dir's ja erzählt, wie man mir's gestohlen hat am ersten schönen Sonntag im April, als das Gedränge des Abends auf den Boulevards so groß war, und wie mich Jean da weinend fand und mich ansprach und tröstete. Eh bien, seitdem kennen wir uns, ich habe, wie die Vögel, mein altes Nest in der Antoine verlassen und Jean hat mich hierher gebracht, und als ich Dich vor acht Tagen im Jardin des plantes traf, da ich gerade die närrischen Bären fütterte, und Du Dich der kleinen Nini erinnertest, ei, da war ich ganz glücklich, denn mit Dir, Celeste, kann ich doch von so Vielem plaudern, was ich selbst Jean nicht sagen mag, obschon er nicht müde wird, mich anzuhören und immer sagt, ich wäre seine Plaudertasche.«

Die ältere Freundin wiegte schmerzlich sinnend den Kopf.

»Ich glaube Dir, er liebt Dich von Herzen – doch wie hätte Treue und Neigung bei Männern Bestand. Nur der Genuß ist [173] das einzige Sichere, und den gilt es festzuhalten. Du wirst noch manche schlimme Erfahrung machen, Kind! Was soll aus Dir werden, Dein Starost oder Graf, was er nun sein mag, kann Dich doch nicht ewig lieben?«

»Rede nicht so, was kümmert uns die Zukunft, die ist noch weit! – Jean hat mir gesagt, er solle eine Prinzessin heiratchen, aber er wolle nicht und werde mich lieben, so lange er lebe. Wer will ihn auch zwingen; bah! da kennst Du ihn schlecht. Wenn's uns in Paris nicht mehr gefällt, ei so gehen wir auf Reisen, er hat mir's versprochen, und weißt Du, Celeste, ich nehme Dich mit. Aber wo bleibt der schlechte Mensch, weiß Gott, es ist ja gleich halb Eilf und schon vor einer Stunde sollten wir auf dem Wege sein.«

Die Thür wurde aufgerissen, bleich und hastig, vom raschen Lauf aufgeregt, stürzte ein junger Mann in's Zimmer, – Iwan, der Fürst. Mit einem Sprung war das Mädchen an seinem Halse.

»Böser Jean, Du sollst nicht einen einzigen Kuß erhalten. So lange uns warten zu lassen und den ganzen lieben Tag nicht ein einziges Lebenszeichen von sich zu geben. Ich habe mich wahrhaftig geängstigt um Dich, böser Mensch, und wollte es nur vor Celeste nicht zeigen. Gleich geh' und küsse ihr die Hand für Dein unartiges Ausbleiben.«

Der Fürst schob sie liebevoll zurück, nachdem er sie auf die Stirn geküßt, dann warf er sich erschöpft auf das nächste Sopha. Celeste war aufgestanden und sah überrascht sein aufgeregtes Wesen, auch Nini, die sich auf seinen Schooß gesetzt hatte und ihm die Haare aus dem Gesicht strich, bemerkte jetzt seine Zerstreuung.

»Was fehlt Dir, mein Freund, Du bist so seltsam? – Willst Du den Domino nicht nehmen, es ist hohe Zeit«

»Du wirst allein gehen müssen, Nini, ich kann Dich nicht begleiten.«

»Fi donc, was sind das für Dummheiten? Willst Du mich foppen?«

Der junge Mann drückte sie an sich.

»Gewiß nicht! Aber ich kann Dich nicht nur nicht begleiten, Nini: wir müssen uns auch trennen, – ich fürchte, auf lange Zeit, – ich verreise.«

Das Mädchen wurde leichenblaß und fuhr mit den Händen nach dem Herzen. Erst jetzt fühlte sie, wie theuer ihr der war, den sie bisher wie einen gewöhnlichen Liebhaber betrachtet hatte.

[174] »Jean, ich bitte Dich, mache mir nicht unnütze Angst!«

Sie faltete stehend die Hände.

Geberde und Worte waren so einfach aufrichtig, so überzeugend bei dem sonst nur Scherz und Lachen kennenden Mädchen, daß der Fürst sie in seine Arme riß und sie ungestüm und lange an sein Herz gedrückt hielt.

»Nini! theures liebes Mädchen, liebst Du mich wirklich so innig, daß mein Scheiden Dir solchen Schmerz machen würde?«

Ihr zierlicher Kopf lag an seiner Brust, sie schaute ihn schluchzend an.

»Jean! – Verlaß mich nicht!«

Sie preßte den Mund an sein Ohr und flüsterte erröthend, zitternd ein süßes Wort ihn zu.

Liebe, Glück, Verzweiflung wogten in der Brust des jungen Mannes, wie er die Geliebte umschlungen hielt. Die Außenwelt um sie her war verschwunden – sie bemerkten nicht einmal, daß sie nicht allein waren, denn Celeste war – die unerwartete Scene ehrend – zwischen die seidenen Vorhänge des Fensters getreten.

Da weckte die prächtige Bronce-Uhr auf dem Kamin die Liebenden. Sie schlug Halb.

Der Fürst raffte sich empor und mit Gewalt aus den Armen des jungen Mädchens.

»Höre mich, Nini, und ich bitte Sie, Madame, einen Augenblick für diese arme Kleine, die zu aufgeregt und unerfahren ist, mir Ihre Aufmerksamkeit zu widmen.«

Celeste trat näher.

»Ich weiß, Sie sind ihre Freundin schon aus der früheren Jugend. Darf ich hoffen, eine aufrichtige?«

»Meine Hand darauf. Sprechen Sie!«

»Ein ganz unerwartetes, dringendes Geschäft zwingt mich, – vielleicht zum Glück für uns Beide, – auf der Stelle abzureisen, so daß selbst Dispositionen, die ich für einen anderen drohenderen Fall bereits getroffen hatte, unnütz werden. Bei Gott dem Allmächtigen, ich liebe das Mädchen unaussprechlich, und werde sie nie und nimmer verlassen um meines eigenen Glückes willen. Aber ich weiß nicht, ob ich für lange Zeit oder je werbe nach Frankreich zurückkehren können.«

Nini schluchzte an seiner Brust.

»Beruhige Dich, Kind. Liebst Du mich wie ich Dich, so [175] wird Nichts uns trennen. Hier in dieser Brieftasche sind einstweilen ungefähr zehntausend Franken in Bankscheinen, – ich habe augenblicklich nicht mehr bei mir, doch wird es vorläufig reichen. Nehmen Sie, Madame, für dieses theure Mädchen. Fort muß ich – die Zeit drängt und jeder Augenblick« – sein Blick flog nach dem Zifferblatt der Uhr – »ist kostbar. Von der ersten Station aus, wo ich einen kurzen Halt mache, wirst Du meine weiteren Bestimmungen erhalten. Willst Du mir dann folgen in meine Heimath?«

»Kannst Du fragen? – Bist Du nicht das Einzige, was ich auf der Welt habe?«

»Ick bin reich, Gott sei Dank, zum ersten Male empfinde ich dessen Wohlthat. Du wirst mir folgen und jede Freude, jeden Genuß theilen, den die Welt bietet. Sie, Madame, können Sie sich entschließen, Paris zu verlassen und dieses Mädchen zu begleiten, so bitte ich Sie darum, Sie werden mir willkommen sein und können auf meine volle Dankbarkeit rechnen. – Und jetzt, Nini, laß uns scheiden – die Augenblicke fliegen! Der Fiaker, der vor der Thür wartet, wird kaum noch Frist haben, mich zur rechten Zeit zum Bahnhof zu führen.«

Er umarmte das weinende trostlose Mädchen.

Celeste legte die Hand auf seinen Arm.

»Ich zweifle durchaus nicht an Ihren Worten und an Ihrer Redlichkeit, mein Herr, aber bedenken Sie, daß dies Kind weiter keine Garantie hat als Ihr Wort. Sie kennt nicht einmal Ihren Namen.«

»Höre sie nicht, Jean; was kümmert mich, wer Du bist, wenn Du mich nicht mehr lieben würdest. Ich vertraue Dir aus vollem Herzen!«

»Dank, tausend Dank, und Sie, Madame, glauben Sie, daß nur der Wunsch, mir ungetrübt mein Glück zu erhalten, mich den Schleier des Geheimnisses über unser Verhältniß werfen ließ. Mein Name ...«

Die Uhr schlug drei Viertel.

»Um Gotteswillen, laß mich fort! Meine Ehre ist verpfändet, die Ehre meines Hauses! Leb' wohl, leb' wohl!«

Er drückte stürmisch heiß einen Kuß auf die Lippen des Mädchens und eilte in's Vorzimmer. Nini stürzte ihm nach, ihn noch einmal umschlingend.

»Jean, verlaß mich nicht! Nimm mich mit Dir!«

[176] »Madame, Barmherzigkeit! helfen Sie mir, ich muß fort, ich muß!«

Er legte sie in ihre Arme und stürzte nach der Thür – sie wurde von Außen geöffnet, – eine kräftige Männergestalt mit Blouse und braunem Calabreserhut trat hastig ein. Ein Blick auf die Gruppe genügte; der Fremde stieß den Fürsten unsanft zurück und schloß die Thür hinter sich von Innen ab.

»Ich sehe, ich bin hier recht. Einen Augenblick, mein Herr; wir haben mit einander zu reden!«

Zwei leichte Schreie des Staunens und des Schreckens mischten sich mit einander:

»François!«

»Ah, Sie hier, Madame! Sehr gut; in solcher Gesellschaft brauche ich freilich nicht länger zu zweifeln, was aus meiner Schwester geworden ist.«

Celeste gab keine Antwort.

Der Fürst trat auf den Fremden zu.

»Sie sind Herr François Bourdon, der Bruder dieses jungen Mädchens, das vor Schreck und Schmerz dort halb ohnmächtig liegt. Ich bedaure aufrichtig, daß der Augenblick so ungünstig zu einer Erklärung ist, aber Ihre Schwester und Madame Celeste werden Ihnen das Nöthige sagen. Ich bitte, lassen Sie mich vorüber.«

Der Arbeiter – jener junge stattliche Mann, dem wir im zweiten Kapitel in der Versammlung der Unsichtbaren als Bote nach London schon ein Mal begegnet sind – lachte höhnisch auf:

»Haben Sie's so sehr eilig diesmal, mein Herr?«

»Ich muß – ich muß! ...«

»Ich auch, denn auf meinen Fersen, Herr, ist die kaiserliche Polizei, auf den Ihren nur der Bruder eines verführten Mädchens, und dennoch nehme ich mir Zeit, die Ehre meiner Schwester zu rächen. Zurück!«

Mit kräftiger Faust warf er den jungen Mann, der sich mit Gewalt an ihm vorüberdrängen wollte, zurück bis in die Mitte des Zimmers.

»Was unterstehen Sie sich, Herr!«

»Unterstehen? Meinen denn die vornehmen Herren noch immer nach den Lectionen von 1793 und 1830, daß das Blut [177] des Arbeiters weniger roth durch seine Adern pulse, als das ihre? daß seine Ehre das Spiel werk ihrer Lüste sei?«

Nini warf sich zu den Füßen des Zürnenden und umschlang ihn.

»Bruder, Du thust Unrecht.«

»Du hast wohlgethan, Täubchen, daß Du mir aus dem Wege gegangen bist – erst heute Abend auf dem Opernplatz vor dem verunglückten Spaß erfuhr ich durch einen Zettel Derer, die Alles wissen, Deine neue Residenz! Ein ehrlicher Arbeiter kann nur eine ehrliche Schwester brauchen – ich habe an Der da« – er wies nach Celeste, die bleich und aufgeregt zur Seite stand – »genug der Erfahrungen gemacht. Fort, Metze, mit Dir hab' ich nicht zu reden, nur mit Jenem.«

»Sie entehren sich und Ihre Schwester; sie ist meine Geliebte, wenn Sie darauf bestehen, mein Weib. Aber meine Geduld ist zu Ende – geben Sie Raum!«

»Zurück! Meinen Sie, einen leichtgläubigen Narren vor sich zu haben?«

In dem Fürsten kochte die ausbrechende Wuth, Angst, Verzweiflung – seine Ehre war vernichtet – sein heiliges Wort gebrochen.

»Um der Barmherzigkeit willen, Platz ...«

Die Uhr auf dem Kamin hob aus und der erste Schlag der Stunde klang hell aus dem Salon.

Die Zeit achtet nicht auf die Wünsche, die Leidenschaften der Menschen, kalt und unabänderlich wie das Schicksal schreitet sie ihren gemessenen Gang.

Der helle herzlose Schlag der Uhr fuhr wie ein glühendes Eisen durch sein Gehirn – Alles verloren – Ehre – Ruf – Glück –

Wie ein Tiger sprang er auf den Mann los, dessen Dazwischenkunft ihm Alles geraubt – ein dröhnender Faustschlag, der an seine Stirn von der muskelstarken Hand des Arbeiters schmetterte – und weit hin auf den Boden rollte der vornehme Herr, der Fürst, der Gebieter von tausend Seelen, kein Glied rührte sich an ihm.

»Allmächtiger Gott, Du hast ihn erschlagen!«

»Retten Sie sich, fliehen Sie, François!«

Der Arbeiter stand starr und blaß, auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß, und er betrachtete wie verwirrt seine Hand.

[178] »Fliehen Sie, François, ich beschwöre Sie bei Ihrer einstigen Liebe zu mir!«

»Es ist vergebens – die Polizei ist hinter mir – ein Complott gegen den Kaiser, das in der komischen Oper zum Ausbruch kommen sollte – man hat viele meiner Kameraden verhaftet und verfolgt die Entkommenen. Ich sah, daß ich bereits beobachtet wurde, als ich das Haus betrat.«

Celeste sprang an's Fenster.

»Eine Menge Leute vor der Thür – Soldaten!«

»Er lebt! er lebt!« tönte dazwischen der jubelnde Ruf des Mädchens. »Celeste – François – helft mir!«

Nini, die nach der traurigen Katastrophe sich nur mit dem Geliebten beschäftigt hatte, versuchte ihn emporzurichten, François sprang herbei, ihr zu helfen und setzte ihn auf einen Stuhl. Der Fürst erholte sich, er athmete tief und schwer, und seine Augen waren starr, ohne Ausdruck vor sich hin gerichtet.

»Eilf Uhr! – Der Dampfzug geht fort!« – eintönig wiederholte der Mund mehrere Male die Worte.

Celeste hatte die Thür zur Treppenflur geöffnet und lauschte, jetzt sprang sie eilig zurück.

»Man kommt – ich glaube, man untersucht die Zimmer des ersten Stocks. Um Gottes willen, ist kein Ausweg?«

Ihre Blicke flogen suchend umher, während sie die Thür verriegelte. Ihre Entschlossenheit schien ihr jetzt einen rettenden Gedanken einzugeben.

»Rasch, François, Ihren Hut, die Blouse herunter!«

Fast willenlos gehorchte ihr der junge Mann.

»Mein Herr, haben Sie wenigstens den Edelmuth, den Bruder Ihrer Geliebten zu retten. Sie selbst werden sich leicht befreien. Ihren Rock, Ihren Rock!«

Sie zerrte den Fürsten empor, – er blieb ruhig, bewegungslos stehen – seine Augen starrten bewußtlos umher.

»Eilf Uhr! – Der Dampfzug geht ab!«

»Nini, um Gottes willen, hilf, Du rettest den Bruder und sicherst Dir den Geliebten. Geschwind, Mädchen, geschwind!«

Der Fürst ließ sich widerstandslos den Rock ausziehen, den sie François zuwarf, und sich mit der Blouse bekleiden.

»Rasch, rasch in den Salon, den Domino um, die Maske in die Hand, ich höre sie auf der Treppe!«

[179] Sie riß dem Fürsten das Halstuch ab.

Nini hatte begriffen, – sie ahnte das Schreckliche noch nicht, und in der Hoffnung, den Geliebten sich zu sichern, flog sie mit weiblichem Instinct dem Bruder zur Hand. Im Nu war die einfache Verkleidung geschehen, der Domino auf seinen Schultern, der Hut auf seinem Kopf.

Celeste drückte den Calabreser auf den des Fürsten.

»Gott sei Dank! – Nun, mein Herr, gilt es, sich kurze Zeit zu verstellen!«

»Eilf Uhr! – Der Dampfzug geht ab!«

Celeste erhob ein lautes Geschrei und sprang an die Thür.

»Hilfe! Hilfe!«

Gewehrkolben stießen auf den Flur.

»Im Namen des Kaisers, öffnen Sie!«

Die Lorette riß die Thür auf.

»Hierher! hierher! Kommen Sie uns zu Hilfe, meine Herren, ein fremder Mann ist mit Gewalt hier eingedrungen – der Mensch will uns morden oder bestehlen.«

Der Polizei – Commissair trat ein, hinter ihm Polizeidiener, Wache. In der Mitte des Zimmers stand der Fürst, noch immer regungslos, gleich als wisse und fühle er nicht, was um ihn her vorging. Im Zugang des Salons stand Nini in ihrem Masken-Costüm, dahinter im Schatten François, Beide blaß, stumm – der entschlossenen Freundin Alles überlassend.

Der Commissair wandte sich zu einem seiner Begleiter.

»Ist es dieser?« er wies auf den Fürsten.

»Certainement! ich kenne ihn an der grünen Blouse und dem Hut. Lassen Sie ihn verhaften.«

»Mein Herr, Sie sind mein Arrestant, folgen Sie ohne Widerstand. Meine Damen, ich sehe, Sie sind sehr unangenehm auf dem Wege zu einem vergnügten Abend überrascht worden. Entschuldigen Sie meine Pflicht.«

»O, mein Herr, wir sind Ihnen vielen Dank schuldig, – der Schreck und die Angst waren groß – wir hatten zwar den Schutz unseres Cavaliers – aber –«

»Ich verstehe,« sagte der Beamte galant und discret mit einer leichten Verbeugung nach dem Salon. »Meine Pflicht zwang mich jedoch, jede Rücksicht bei Seite zu setzen. Es hat heute Abend bei der Wiedereröffnung der Opéra comique ein höchst verabscheuungswürdiges [180] Attentat gegen Seine Majestät den Kaiser unternommen werden sollen, dem jedoch die Behörden glücklich auf die Spur gekommen sind. Bei den Verhaftungen in der Straße Marivaux entkamen mehrere Personen, unter Anderen dieser Mann. Nochmals also meine Entschuldigung und viel Amüsement. – Allons!«

»Eilf Uhr – der Bahnzug geht ab!« –

»Was sollen die Albernheiten? – für Bicêtre 1 können Sie Ihre Manöver später machen. Mich täuschen Sie nicht. Marsch!«

Ein leiser Schauer schien durch die Glieder des Fürsten zu laufen, als er von zwei Agenten an den Armen gefaßt und fortgeführt wurde. Er folgte willenlos, – sein starres Auge wandte sich nicht einmal zur Seite, – unter der Thür hörten die Zurückbleibenden nochmals seine Stimme:

»Eilf Uhr – der Zug geht ab!« –

– – –

Als die Lorette von der Geleitung des Commissairs erschöpft, aufgeregt zurückkehrte, lag Nini ohnmächtig im Arm ihres Bruders.

Fußnoten

1 Ein großes pariser Armenhaus, zugleich Irrenanstalt für Männer.

Die Massacre auf Chios
[181] Die Massacre auf Chios.

Der Mond warf seinen klaren durchsichtigen Schein auf Berg und Meer. Dasselbe silberbleiche Licht erhellte die Ruinen des genuesischen Forts auf der Höhe des Pagus von Smyrna, das seinen kalten herzlosen Strahl auf das Märthyrerthum Stephana's in den Bergen der Zenta warf.

Wo die Ruinen sich nach dem Meer zu öffnen, das mit seinem ewig schwellenden Busen in jenem Silberschein unruhig zu träumen schien, lag die Bande des Räubers gelagert, der Smyrna beherrschte: auf einer Marmorquader Gregor Caraiskakis; an seine Knie gelehnt, trauernd aber vertrauend zu ihm emporblickend Diona, in deren reichen, nur von einer Spange zusammengehaltenem Rabenhaar die Hand des Bruders spielte. Vor ihnen der Kameelführer und Welland, der treue Freund. Nur wenige Schritte davon schürte Mauro ein kleines thönernes Kohlenbecken, aus dem er von Zeit zu Zeit seinem Oheim oder dem Doctor eine glimmende Kohle reichte, mit der sie ihren Schibuk 1 in Brand erhielten. Es ist eine der Liebhabereien der Orientalen, häufig Holzkohlen für ihren Pfeifenkopf zu nehmen, gleich wie die Europäer wiederholt ihre Cigarren anzünden, und Jeder trägt daher im Gürtel eine besondere Kohlenzange in der Scheide bei sich.

Etwas weiter, rings um die Gruppe, aber doch im Bereich des Gesprächs, lagerten die Genossen des Räubers.

Welland hatte bei seiner Ankunft Besseres gefunden, als er nach den Vorgängen der Nacht und den Mittheilungen des Freundes [182] hoffen durfte. Eine schwere Beichte des Mädchens hatte stattgefunden, aus der sie jedoch weniger schuldig, als es geschienen, hervorgegangen war. Sie hielt sich für Sir Maubridge's Gattin und nur als solche war sie ihm gefolgt, nachdem in der Nacht vor der Flucht der britische Viceconsul eine Art von Ceremonie vorgenommen, die ihr Liebhaber für genügend und bindend erklärte, und die das Mädchen in ihrer Unbekanntschaft mit den europäischen Gebräuchen und von Leidenschaft verblendet, gleichfalls dafür ansah. Bei der Kenntniß, die Gregor bereits von dem Charakter und Treiben des Beamten erlangt hatte, tauchte freilich sofort der Argwohn in ihm auf, daß die Schwester nur das Spiel eines unwürdigen Betrugs gewesen sein könne, und er beschloß mit dem Freunde, sich vorerst darüber Gewißheit zu verschaffen und wo möglich Sir Maubridge selbst zur Rede zu stellen. Der Ceremonie, die, wie Diona ihm mittheilte, einfach nur in Vorlesung und Unterzeichnung einiger in der ihr unbekannten englischen Sprache abgefaßten Papiere und in dem Tausch von Ringen bestanden, hatte außer dem Schreiber des Consuls nur ein alter Matrose, derselbe, den Mauro in der Villa so rechtzeitig aus dem Fenster stürzte, bei gewohnt. Auf die Versicherung Gregor's, sich friedlich und ohne Haß an ihren Gatten wenden und nur die öffentliche Anerkennung ihrer Ehe erzwingen zu wollen, hatte sie ihm vertraut, daß sie Beide am Morgen mit der Felucke nach Tenedos oder Dardanelli hatten abgehen wollen, um dort einige Zeit zu verweilen, da Maubridge Freunde und einen Bruder auf der englischen Flotte hatte. Die Nachricht von dem Tode ihrer Mutter warf einen trüben Schleier über die neuen Hoffnungen der jungen Frau und träumend und stumm, aber vertrauend auf den Bruder, saß sie an dessen Knie und horchte nur wenig auf das Gespräch der Männer, an den geliebten Verführer denkend, von dem Mauro die Kunde gebracht hatte, daß er nach einer Fahrt nach Smyrna am Morgen, wirklich am Nachmittag mit der Felucke abgesegelt sei. Der Consul hatte sich noch am Vormittag zu dem Pascha begeben, um energische Reclamationen wegen des Ueberfalls und des Niederbrennens seines Landhauses zu erheben und Jan Katarchi wußte durch seine Spione, daß Ali Pascha sofort Befehle ertheilt, Streifzüge gegen die Räuber zu unternehmen. Doch Jan spottete derselben, da er einestheils selbst unter den Khawassen des Paschaliks gute Freunde zählte, theile sie im schlimmsten Fall nicht zu fürchten brauchte. In der[183] That war die Schaar, die damals die Polizeimannschaft von Smyrna bildete, nicht viel besser als die Räuberbande selbst, mit Ausnahme der Khawassen der Consulate, die ernste tapfere Männer sind; jedenfalls war sie zerlumpter und schlechter bewaffnet und disciplinirt als die Räuber und der Khawass-Baschi 2 keineswegs sehr geneigt, sich mit der gefährlichen Jagd auf den kühnen Kameeltreiber stark zu befassen. –

Die Gruppe an den Ruinen des Forts im Mondlicht gewann durch das schöne Bild der jungen Griechin einen besonderen Reiz. Unter der reichen in den unterirdischen Gewölben des Forts nutzlos zusammengehäuften Beute hatten sich genug weibliche Kleidungsstücke gefunden, um Diona die Mittel zu geben, vollständig in jenem schönen malerischen Costüm zu erscheinen, das die griechischen Frauen und Mädchen, die noch nicht die französische Mode nachgeäfft haben, so wundervoll kleidet. Diona bot den vollen Typus der griechischen Schönheit, einer viel andern, als wir Abendländer gewohnt sind in der Phantasie uns zu malen. Noch war sie jung genug, um nicht jene weichliche Ueberfülle zu besitzen, welche die griechischen Frauen über zwanzig Jahre fast durchgängig auszeichnet, und die nach orientalischer Sitte als schön gilt. Dagegen hatte ihr Alter – 18 Jahre, während unter diesem milden Himmel oft schon Mädchen von zwölf und dreizehn Jahren heirathen, – ihre Formen gerundet und Wellenlinien über den schönen Körper gegossen, die dem ursprünglich seinem und schlankem Wuchs von Mittelgröße einen noch verführerischeren Reiz verliehen. Das Gesicht von rundovaler Form zeigte jenen wunderschönen weißen und zarten Teint, der den Töchtern der Cycladen eigen ist, gehoben durch zarte und künstliche Röthe der Wangen, welche nicht wie bei der Toilette des Occidents durch mehr oder weniger feine Schminke, sondern durch Einreibung eines Mittels in die seinen Poren der Haut, die man durch das Ausreißen der kleinen Härchen öffnet, hervorgebracht wird, und die wochen-und monatelang ihre zarte Farbe behält, ohne der Erneuerung zu bedürfen. Augen von der wollüstig schläfernden Mandelform, aus deren Lidern zwischen den schwarzgefärbten Wimpern ein dunkler Augapfel hervorstrahlt, während ein feiner schwarzer Strich unter der Wimper des unteren Lides die Größe und den Glanz des Auges erhöht; – schön und hochgeschwungene [184] ebenholzfarbene Brauen unter einer mittelhohen freien Stirn; eine nicht gebogen, sondern grade in antiker Linie mit einer leichten Wölbung in der Mitte und voller gerundeter Spitze und starken Flügeln sich senkende Nase und ein etwas großer aber durch die herrlichsten korallenartigen Lippen eingerahmter Mund mit einem vollen runden Kinn – das ist der Typus der griechischen Frauen der Inseln und war die Schönheit Diona's. Die Toilette der orientalischen Frauen, die gewöhnlich nur zum Abend gemacht wird, erfordert fast noch mehr Zeit und Sorgfalt, als die der Schönen von Paris und Wien. Leider wird der zierliche und reiche griechische Anzug bei den Frauen Athens und Smyrna's meist schon durch das französische Costüm vordrängt, wo aber die nationale Tracht beibehalten ist, da erscheint sie reizend und höchst kleidsam. Die Frauen Smyrna's, – meist klein von Gestalt, von einem blaßgelben Teint mit unheimlich funkelnden, beweglichen, schwarzen Augen, die für große Schönheit gelten, auf den Europäer aber den Eindruck des Rattenauges machen, sind bei ihrer Verheirathung mit letzterm gewöhnlich das Verderben des Mannes. Von jener Putz- und Gefallsucht, die eine Smyrniotin beherrscht, giebt selbst die Löwin der pariser Salons kaum eine Idee. Alles was sie an andern Frauen von Schmuck und Kleidern sieht, erregt ihren Neid, und sie peinigt den Mann um noch Schöneres, das – einmal getragen – allen Reiz für sie verliert. Dazu ist sie als Frau eigensinnig, launisch, träge und in Müßiggang den Tag hinbringend, bis zur Abendzeit, wo sie in voller Toilette sich an die Thür des Hauses setzt und Besuche annimmt oder macht; und so tugendhaft sie als Mädchen ist, so selten bleibt sie es nach ihrer Verheirathung. Bei dem geringsten Widerstand gegen die oft unerträglichen Launen der eingeborenen Frau hat der europäische Gatte den ganzen Schwarm ihrer werthen Verwandtschaft bis in's zehnte Glied auf dem Hals, und er kann, braucht er sein Hausrecht, von Glück sagen, wenn er zuletzt ohne einige Messerstiche oder Pistolenkugeln davonkommt. – Unter den Verhältnissen und bei den Sitten des Orients sind die moslemitischen Frauen, bei allen sonstigen üblen Eigenschaften dem Manne eine weit bessere und geeignetere Genossin, als die christlichen.

Diona trug über dem langen seidenen Gewand von gelber Farbe die reich mit Gold gestickte offene Aermelweste, welche einen so schönen Schmuck und Theil des griechischen Costüms bildet, [185] während das, gewöhnlich von einem jener herrlichen smyrniotischen Fez's oder der längern griechischen Troddelmütze bedeckte Haupthaar frei um das schöne Gesicht wallte.

Die Männer waren in einem ernsten Gespräche begriffen. Welland hatte die Vorgänge des Tages in Smyrna mitgetheilt und die Rede sich nun auf die politischen Verhältnisse und Ereignisse überhaupt gerichtet, die den Orient und Occident zu erschüttern drohten, und auf beiden Seiten mächtige Rüstungen und Vorbereitungen aller Art hervorriefen. Constantinopel ward in diesem Augenblick noch der Centralpunkt der diplomatischen Agitationen, und von hier aus spannen sich die Fäden der Intrigue und Gegenintrigue, deren Auslaufen und Entscheidung nur Wenige noch berechnen konnten.

Caraiskakis, durch sein abenteuerndes umherziehendes Leben und die Vorgänge der letzten Zeit nur wenig und unvollständig über den Stand der Angelegenheiten unterrichtet, hatte den Freund um einen kurzen Umriß gebeten, und dieser gab ihm denselben. Wir sind genöthigt, ihn zu wiederholen, um den Leser vom Beginn unserer Darstellung und jener Recapitulation im Dom der Invaliden zu Paris auf die Zeit weiter zu führen, in welcher die gegenwärtigen Scenen spielen, – also bis zu Ende des Juni 1853. Wir geben hier im Allgemeinen die Historie der Angelegenheiten und ihre Entwickelung, wie sie sich aus den öffentlichen Vorgängen und den diplomatischen Aktenstücken dem Auge Europa's dargestellt hat und darstellen mußte, den tieferen Einblick in die Veranlassungen, in die Zwecke und den Gang für die weitere Ausführung unserer Scenen in Constantinopel selbst vorbehaltend.

Man hatte in Wien frohlockt, daß der Czar die Forderungen Oesterreichs in der montenegrinischen Frage so kräftig unterstützte, sah aber jetzt, daß das petersburger Kabinet damit einen viel wichtigeren Schlag in Constantinopel vorbereitet hatte. Rußland, das seit Katharina II. mit mehr oder weniger kurzen Unterbrechungen einen überwiegenden Einfluß in Constantinopel ausgeübt hatte, sah seit einiger Zeit denselben bedeutend geschmälert und bedroht, indem in dem Divan immer mehr französische und englische Sympathieen – offenbar auch in Folge des erweiterten socialen Verkehrs und der Erziehung junger Orientalen in Paris und London so wie des Eindringens der liberalen und demokratischen Ideen des Westens – sich geltend machten. Auch materiell hatten England und Frankreich [186] durch die Vermehrung von Consulaten, neue Handelsverbindungen etc. in der Türkei einen festern Fuß gefaßt, und bedrohten von hier aus die russische Macht. Die Frage wegen der politischen Flüchlinge nach dem ungarischen Kriege war durch Englands Einfluß gegen Rußland entschieden worden. Die türkischen Verhältnisse selbst waren kaum länger haltbar ohne eine durchgreifende Reorganisation und Aenderung, das fühlten und sahen mehr noch als die europäischen Höfe die einsichtsvolleren Orientalen selbst, und an solchen fehlte es keineswegs. Denn der Einfluß, welchen alle Staaten Europa's nach und nach sich in der Türkei erworben, theils durch die Tractate, theils durch ihre Machtstellung und Handlungen eigener Machtvollkommenheit, war der Art, daß von einer Souverainetät der Pforte fast gar nicht mehr die Rede blieb, und deren Schatten einzig durch die Rivalität der occidentalischen Staaten bewahrt wurde. Die immer stärker hervortretende Entmannung des Islams in Europa hatte die frühere bedeutende und gefährliche aggressive Macht der Türkei nach Außen längst aufgehoben, und jene oben erwähnten internen Verhältnisse lassen das, dem Kaiser Nicolaus zugeschriebene, eigentlich aber schon vom Hofe Katharina's stammende und auch von Napoleon I. gebrauchte Bild von »kranken Mann« sehr der Wahrheit entsprechend erscheinen. Die von Frankreich genommene Aggressive durch den Streit um die heiligen Stätten 3 drohte eine eben solche Wendung zu nehmen, wie die Flüchtlingsfrage. Rußland durfte die Interessen der griechischen Christen unter keinen Umständen im Stiche lassen, wenn es nicht die für seine traditionellen und historischen Pläne so nothwendigen Sympathieen derselben aufgeben wollte, und so war es zu einem herausfordernden Auftreten und einem Beginn des Streites gezwungen, den es offenbar erst für ein Jahrzehend später bestimmt hatte und zu dem es noch keineswegs durch seine inneren Einrichtungen, Eisenbahnen, Marine etc. vorbereitet war. Dennoch hatte man sich in Petersburg [187] dem Glauben hingegeben, daß die russische Machtstellung im europäischen Staatenverband und sein bisheriger dominirender Einfluß auf Mittel-Europa hinreichen würden, ernste Conflicte zu vermeiden. Dazu kam der blinde Glaube an die Unmöglichkeit einer politischen Alliance Englands und Frankreichs. Kaiser Nicolaus, einer der ehernsten Charactere der Weltgeschichte, rechnete Völker und Länder zu sehr als Zahlen von seinem erhabenen Standpunkt aus und trug den tieferen Erscheinungen und Characteren der Gegenwart zu wenig Rechnung.

Fürst Mentschikoff, der russische Marineminister, war am 28. Februar in Constantinopel eingetroffen und hatte einen feierlichen Einzug unter dem Jubel der griechischen Bevölkerung gehalten, dir in der Initiative Rußlands eine neue Aera ihrer Jahrhunderte lang bewahrten Hoffnungen und Wünsche aufblühen sah. Unter den niederen Klassen der Griechen hatte sich faktisch das Gerücht verbreitet, der Fürst werde mit den Griechen von Constantinopel das nächste Osterfest in der Sophien-Kirche, – diesem ehemaligen Palladium des griechischen Christenthums – feiern. Es ist Thatsache und durch zahlreiche Beweise dargethan, daß dieser Glaube und die Aufregung unter der griechischen Bevölkerung nicht allein in Constantinopel, sondern auch in Smyrna und Kleinasien hauptsächlich durch die revolutionaire Propaganda, durch die politischen Flüchtlinge, genährt und verbreitet wurden.

Der starre Charakter des Fürsten war zur Führung intriguenvoller diplomatischer Verhandlungen, in denen die orientalischen Staatsmänner den feinsten Diplomaten des Westens überragen, wenig geeignet und wir haben bereits zu Anfang unseres Werkes angedeutet, welchem Einfluß es gelungen war, gerade dieser, dem Charakter des Kaisers so ähnlichen Individualität die Betrauung mit dieser schwierigen Mission zuzuwenden. Der Fürst hatte sich geweigert, dem Minister des Auswärtigen, Fuad Effendi, der Etikette gemäß, seinen Besuch zu machen, mit der Erklärung, daß Rußland gerade besondere Beschwerdegründe gegen diesen ihm persönlich feindlichen Minister habe, welcher auch die Verhandlungen wegen der Auslieferung der ungarischen und polnischen Flüchtlinge geleitet hatte. Die Pforte zeigte dem energischen Auftreten des Fürsten gegenüber sofort ihre Nachgiebigkeit durch die Enthebung Fuad Effendi's von seinem Portefeuille. Getäuscht durch dieses Resultat ging der Fürst weiter. Der vorgeschobene Beschwerdepunkt: [188] der Krieg gegen Montenegro, war bereits durch die österreichische Intervention beseitigt – es blieb also nur die Frage wegen der heiligen Stätten, hauptsächlich über den Besitz der Schlüssel zum heiligen Grabe, welchen sowohl die Lateiner (Katholiken) wie die Griechen in Anspruch nahmen.

Die Unterhandlungen wurden auf das ausdrückliche Verlangen des Divans unter Zuziehung des Vertreters von Frankreich gepflogen, die Reclamationen des Fürsten in den Noten vom 19. und 22. März und 19. April, in welchen er die Rechte der griechischen Kirche den Lateinern gegenüber in dieser Angelegenheit gewahrt verlangte, durch Erlaß eines Fermans erledigt, welcher die Rechte der Griechen gegen alle Uebergriffe der Katholiken sichern, zugleich aber diesen – also den Franzosen – die neuerdings durch Capitulationen erworbenen Rechte unverletzt erhalten sollte.

Frankreich hatte bei der ersten Nachricht von der Sendung des Fürsten Mentschikoff seine Mittelmeer – Flotte nach den griechischen Gewässern gesandt, der englische Admiral Dundas sich geweigert, auf die gleiche Requisition des britischen Vertreters in Constantinopel, Oberst Rosen, dasselbe zu thun.

Die Frage wegen der heiligen Stätten schien geregelt, war es aber nichts weniger als das, denn Fürst Mentschikoff verlangte jetzt zugleich Bürgschaft gegen künftige Verletzungen der eingegangenen Verträge, und zwar in Form einer förmlichen Verpflichtung in seiner Note vom 5. Mai, auf die er Antwort binnen fünf Tagen forderte. Dies war der Wendepunkt, an dem auf's Neue das Spiel der politischen Intriguen begann. Die Hauptforderung Rußlands ging darauf hinaus, daß die Pforte in einem besondern Sened (Protokoll) der griechischen Kirche in der ganzen Ausdehnung ihres Gebiets alle von Alters her besessenen Rechte, Privilegien und Immunitäten unverändert auf der Grundlage des bestehenden Status quo gewährleisten solle, und daß die griechische Kirche berechtigt sei, alle den begünstigtsten christlichen Nationen eingeräumten Vorrechte auch für sich in Anspruch zu nehmen.

Durch die Gewährung dieser Forderung hätte der Czar das Recht erhalten, als Protektor der orientalischen Kirche, also der griechischen Unterthanen des Sultans sich bei allen entstehenden Streitigkeiten derselben mit der türkischen Regierung zum Schiedsrichter aufzuwerfen.

Das war gewissermaßen eine vollständige Abhängigkeit von [189] Rußland, obschon auf der andern Seite nicht zu läugnen stand, daß die griechische Kirche und Bevölkerung in der Türkei dringend einer Befreiung und eines energischen Schutzes ihrer Rechte bedurften.

Unterm 10. Mai beantwortete der Divan ablehnend dieses Verlangen als Eingriff in die Souverainetätsrechte des Sultans, die geringeren angeschlossenen Forderungen bewilligend. Zugleich trat durch den Einfluß des seit dem 5. April in Constantinopel wieder eingetretenen britischen Gesandten Lord Stradfort de Redcliffe eine Veränderung des türkischen Ministeriums im britischen Sinn ein. Der bisherige Großvezier Mehemet Ali wurde Kriegsminister, Rifaat Pascha Minister – Präsident und Reschid Pascha trat an die Spitze des Auswärtigen.

Fürst Mentschikoff antwortete am 11. Mai auf die türkische Note und kündigte, als die neuen Verhandlungen kein Resultat herbeiführten, am 18. an, daß er seine officiellen Verbindungen mit der Pforte abbrechen müsse, weil man für Sicherung verbriefter und unbestreitbarer Rechte, und anstatt die Abhilfe gerechter Beschwerden ernstlich zu leisten, ihn nur mit leeren Ausflüchten hinhalte 4.

Fürst Mentschikoff zog sich nach dieser Mittheilung vom 18. Mai an Bord des bei Bojukdere ankernden Dampfschiffes zurück, das ihn nach Odessa bringen sollte, setzte aber noch die privaten Unterhandlungen fort. Da die Pforte jetzt hartnäckig alle Modalitäten des Ultimatums zurückwies, verließ der Fürst am 21. Mai mit dem russischen Gesandtschafts-Personal Constantinopel, wo nur die Handelskanzlei zurückblieb.

Die türkische Regierung zeigte unterm 20. Mai den Vertretern der vier Großmächte an, daß sie sich gezwungen sähe, gegen [190] die großen Rüstungen Rußlands an der Gränze der Donaufürstenthümer offen ihre Gegenanstalten zu treffen.

Der russische Minister des Auswärtigen, Reichskanzler Graf Resselrode, schickte im nochmals eine Note an Reschid Pascha, in welcher er die Annahme der früher gestellten Bedingungen binnen acht Tagen forderte, widrigenfalls Rußland die Donaufürstenthümer besetzen würde, erklärte jedoch dabei, daß diese Besetzung eben nur als Pfandnahme und nicht als Kriegserklärung zu betrachten sei.

Das Protectorat der Donaufürstenthümer berechtigte übrigens Rußland nach dem Vertrage von Baltaliman nur zu einer gemeinsamen Besetzung derselben mit der Türkei im Fall innerer Unruhen.

Eine durch die Bemühungen der Vertreter Preußens und Oesterreichs ziemlich gemäßigte Note des Divan, in der man sich bereit erklärte, einen besonderen Gesandten nach Petersburg zu schicken, lehnte diese Forderung nochmals unterm 10. Juni ab.

Am 14. Juni war der neue österreichische Gesandte, Baron von Bruck, in Constantinopel eingetroffen; die Sendung des Grafen Gyulai nach Petersburg sollte zugleich dort die Versöhnung vermitteln. Frankreich und England, die nach der Einleitung des Conflicts zwischen Petersburg und der Pforte sich deräußeren Einmischung fern gehalten hatten, riefen jetzt ihre Flotten in die Nähe von Constantinopel, und dieselben warfen am 15. Juni in der Besika – Bai am Eingang der Dardanellen Anker. Die Gesandten erhielten jetzt öffentlich Vollmacht, im Fall einer Kriegserklärung des Sultans gegen Rußland die Flotten nach Constantinopel zu rufen.

Zugleich hatte jener diplomatische Notenwechsel zwischen den Kabinetten von Petersburg, Paris, London, Berlin und Wien begonnen, durch welchen die streitenden Parteien die Schuld der Zwistigkeiten und deren weitere Folgen sich gegenseitig aufzuwälzen versuchten. –

Dies war die Uebersicht, die Welland dem Freunde mittheilte, da er sich, obschon bereits im März von Paris abgereist, doch bei seinem zweimonatlichen, durch eine Krankheit veranlaßten Aufenthalt in der Schweiz und Oberitalien fortwährend von dem Gang der politischen Angelegenheiten in Kenntniß erhalten hatte.

»Mir scheint, Freund,« sagte er zum Schluß, »der redliche Wille einer Versöhnung und Ausgleichung ist auf keiner Seite [191] sonderlich groß und der Zwischeninteressen, die in dem Streit spielen, scheinen so viele, daß eine friedliche Lösung kaum zu denken ist. Es scheint gegenwärtig allein das Ziel der Betheiligten, vor den Augen der Welt die Schuld des Angriffs und des bevorstehenden Krieges Einer auf den Andern zu werfen. In Frankreich, ja selbst in Deutschland, hält man den Krieg für unvermeidlich und erwartet jeden Augenblick den Ausbruch. Es ist offenbar, daß wir auf einem unterwühlten Boden stehen, und Niemand kann sagen, nach welcher Seite die Wagschaale sich senken, wo das gezogene Schwert rasten wird. Alle Verhältnisse scheinen sich umgekehrt zu haben, Freunde stehen sich feindlich einander gegenüber, alte Feinde haben den Groll im Busen verschlossen und machen gemeinsame Sache, – willenlos folgt der Einzelne, Unbedeutende diesem Wogenschlag der Völker, glücklich, wenn er aus der kommenden Zerstörung sich selbst und das, was ihm theuer ist, in einen sicheren Port retten wird. Ich fürchte, Freund, auch unser Schicksal wird uns in das volle Wogengebraus hinaus werfen.«

»Ja wohl haben Sie Recht, daß alle Verhältnisse verkehrt und aus den Fugen gerückt sind in diesem Streit!« entgegnete mit Bitterkeit der Grieche. »Steht nicht das allerchristlichste Frankreich, das streng protestantische England neben dem ewigen Erbfeind des Kreuzes, um drei Millionen Türken das Recht wahren zu helfen, zehn Millionen Christen zu unterdrücken, zu tyrannisiren, sie aller historischen und menschlichen Rechte zu berauben? Zu wem soll das Volk der Griechen vertrauend aufsehen, zu England und Frankreich, die für ihre Theilnahme an Navarin mein armes Vaterland zu Grunde richten? die, Sieger über unsere Tyrannen, ihnen den größten Theil des Volkes, dessen Freiheitskampf ganz Europa damals zujauchzte, wieder unter die Sohlen warfen? – Macht denn der wiener Vertrag die Weltgeschichte und die Rechte und die Historie der Völker, oder gab es ein byzantinisches Reich, das Jahrhunderte Europa voran blühte, und dessen Verderben die westlichen Staaten durch die Kreuzzüge herauf beschworen, während sie es dann hilflos in die Hand der Feinde des Kreuzes fallen ließen?!«

»Ich glaube schwerlich, Freund, daß Sie es besser haben würden unter dem Scepter oder der Knute Rußlands, als Ihre Väter es unter der Peitsche des Moslems hatten. Sie wünschen die Wiedergewinnung und Erhebung Ihrer Nationalität. Wohl! [192] aber Rußland, Ihr Beschützer, ist doch gewiß gerade der Staat, der eine fremde Nationalität am wenigsten achten würde, der Staat, der in seinen eisernen Armen jedes fremde selbstständige Leben zu unterdrücken, zu tyrannisiren droht. Wo anders her stammt die Furcht und der Haß Europa's und jedes Einzelnen vor diesem Koloß? Blicken Sie hin nach Polen –«

»Meinen Sie denn,« unterbrach ihn der Grieche, »daß mein Volk auch nur den Gedanken in sich trägt, ein Theil des russischen Reiches zu werden? Keinem Hellenen kommt die Idee! Frei wollen wir sein auf unserer eigenen Erde, die getränkt ist mit tausend großen Erinnerungen der Vorzeit, Herren unseres eigenen Landes, das zur Wüste geworden, dessen Kirchen zerstört, dessen Kinder geschändet und geschlachtet sind von einer Handvoll Ungläubiger. Das Kreuz soll herrschen in der alten Hauptstadt unseres Landes, die einst zwei Welttheilen Gesetze vorgeschrieben, so gut wie Ihr Rom, unsere heilige Kirche gereinigt werden von der Schmach des falschen Götzendienstes!«

Sein Auge flammte, seine Hand war erhoben, als er von der Unterdrückung seines Vaterlandes, von den Hoffnungen sprach, welche die Brust jedes Hellenen schwellen. Auch Diona, die Tochter Griechenlands, schaute, auf den Knieen liegend, mit gerötheten Wangen und feurigen Augen empor zu dem Bruder.

Der Räuber hatte sich aufgerichtet aus seiner trägen Stellung.

»Höre mich, Franke,« sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Ich bin nicht gelehrt wie Du und mein Sohn hier aus edlem Geschlecht; ich bin ein geringer Mann aus dem Lande meiner Väter, ein Dieb und Mörder, und verstehe Nichts von dem, was die Könige des Frankenlandes sprechen und wollen. Aber sie sind Staub in den Augen des großen Czaren, der stets unser Freund war, wie sie Staub sind in den unsern. Wem sollen wir trauen, auf wen sollen wir hoffen, wenn nicht auf ihn, dessen Glaube der unsere ist, der der ewige Feind unserer Tyrannen gewesen und sie bekämpft hat? Sollen wir vertrauen auf den Bruder, der sich uns bewährt und uns geschützt hat, oder auf den Fremdling, der unserer höhnt und spottet, die Früchte unseres Fleißes an sich reißt und mit unsern Unterdrückern gemeinschaftliche Sache macht?«

»Da hören Sie die Stimme des Volkes,« sagte Gregor; »wie dieser denken und sprechen Tausende, ja Millionen.«

[193] »Aber was wollen Sie gegen die Uebermacht? Jeder Versuch zu Rußlands Gunsten würde Ihren Landsleuten unter türkischer Herrschaft nicht allein das Joch schwerer auflegen, sondern auch die Westmächte zwingen, ihnen allen Schutz zu entziehen. Ganz Europa sieht die Parteinahme derselben gegen Rußland als eine Demonstration der Cultur und Civilisation gegen die Principien der Unterdrückung und Willkür an, die der östliche Koloß bisher geübt hat und immer weiter ausdehnen möchte. Die Politik der Staaten Europa's muß die Herrschaft der Pforte ungeschmälert aufrecht erhalten.«

»Die Politik?« rief mit Empörung der Grieche. »Sie haben Recht, dies herzlose Wort zu gebrauchen, das einst den Namen Europa's mit Schmach auf den Blättern der Geschichte beladen wird. Diese Staaten und Könige nennen sich die christlichen, die Vertheidiger und Beschützer der Kirche – und sie dulden, daß ein christliches Volk die Fesseln der Moslems trägt! Hatte Spanien ein größeres Recht denn wir, als es ein gesittetes kunstthätiges Volk über das scheidende Meer im Namen des Kreuzes zurückwarf? zog der Pole Sobieski nach Wien bloß zur Rettung der Kaiserstadt oder für den Sieg des Christenglaubens? Schmach über die Nationen des christlichen Europa's, die Missionen auf Missionen zu den fernen Heiden senden und für ihre christlichen Brüder im eigenen Erdtheil kein Gefühl haben! Schmach endlich über Ihre Liberalen und Republikaner, die Revolutionen proklamiren in Ländern, die sich wohl fühlen unterm Schutz der Ordnung und des Gesetzes, und für die Befreiung eines Brudervolks von den Ketten hundertfach ärgerer Sclaverei, als je Rußland oder Oesterreich einem Lande auferlegt hat, kein Wort, keine Waffe haben, ja, die diese Waffen noch Denen zu leihen sich drängen, welche die Fesseln dieses geknechteten Volkes für weitere Jahrhunderte schmieden wollen!«

»Unterm Schutz Frankreichs und Englands wird die Civilisation und das Recht des Einzelnen auch hier den Sieg gewinnen, schon hat der Divan sich zu bedeutenden Verbesserungen entschließen müssen und eine neue bessere Aera blüht auch für die christliche Bevölkerung der Türkei empor.«

Caraiskakis legte die Hand auf seinen Arm.

»Glauben Sie wirklich, daß es Versöhnung geben kann zwischen dem Opfer und seinem Henker? daß ein Volk, das solche Leiden [194] getragen, so Ungeheures erduldet hat, wie das meine, je den Unterdrücker ehren und lieben lernen wird? Meinen Sie, daß es ein Vergessen zu geben vermag zwischen einem Hellenen und einem Bekenner des Propheten? – Dann, Welland, dann haben Sie nie erfahren, was wir gelitten, dann haben Sie nie bedacht, daß seit Jahrhunderten das Blut des Vaters den Sohn, die Schmach der Schwester den Bruder, das Gewimmer der gemordeten Säuglinge die Mütter zum ewigen unauslöschlichen Haß entflammt hat und mein Volk entflammen wird, so lange noch der Name Moslem das Land jenseits dieses trennenden Meeres entehren wird. Ihre Zeitungen, Ihre Fürsten, Ihre Völker haben vergessen, was vor kaum dreißig Jahren auf jenen Bergen, auf jenen Inseln geschehen – aber wir vergaßen es nicht, die wir in den Strömen des vergossenen Blutes geboren und mit der Verzweiflung gesäugt worden sind. Ich ward es, Welland, ich, der Sohn des unglücklichen Chios, und wollen Sie eine Geschichte hören, die Sie lehren mag, die Gefühle und Erinnerungen meines Volkes besser zu beurtheilen, wohlan, hier ist der Mann, der sie Ihnen geben wird: Janos!«

»Mein Sohn, Du hast gut gesprochen, und wenn Du willst, daß ich die Geschichte Deiner eigenen Kindheit aus meiner Jugend zurückrufe in mein Gedächtniß und in meinen Mund, so soll sie dieser Franke hören.«

»Auch uns gieb sie, Mann, auch uns, Gregor und Diona, den Kindern der Frau, die Dein Heldenmuth gerettet.«

Der – wir wollen ihn in diesem Augenblick trotz seines Handwerks so nennen – der Palikare richtete sich auf und setzte sich auf einen nahe liegenden Stein; um ihn her näher heran drängte sich der ganze Kreis. Als Janos zu seiner Erzählung 5 [195] das Wort nahm, war in seiner Rede und in seinen Geberden etwas Poetisches, Schwungvolles, das auch den niedersten Ständen des Südens eigen zu sein pflegt und jedes Element des Gemeinen, Unbehilflichen beseitigt, das uns so oft unter den niedern Volksklassen im Norden anwidert.

»Euer Vater, meine Kinder,« begann der Räuber, »war ein wohlhabender Mann auf der Insel Chios und trieb Handel mit Mastix 6 nach Constantinopel. Chios war damals ein blühendes Land, ein Garten Gottes, reich gesegnet mit Fruchtbarkeit und Schönheit. Was unser Himmel bietet, fand man auf der Insel, der Hafen von Kastron war gefüllt mit Schiffen aller Nationen, und hundertzwanzigtausend thätige, wenn mit der türkischen Herrschaft und ihrer Willkür auch nicht zufriedene, so doch ruhige und fleißige Menschen bewohnten die Insel. Das kam, weil von Constantinopel selbst uns Schutz und Schirm gegen die Tyrannei wurde, unter der unsere Brüder auf den Cycladen und dem Festlande seufzten, denn Chios gehörte Fatme Sultana, der Schwester des Großherrn, als Eigenthum, und sie bezog jährlich nicht weniger denn zwölfhundert Beutel 7 von unserer Insel, die den Mastix erzeugt wie kein anderer Ort in der Levante. Wie bald sollten wir Jene beneiden lernen!

Ich war in Ipsara geboren, aber schon als Knabe in das Haus Deines Vaters gekommen und hatte ihn auf vielen Reisen nach Athen, selbst nach Triest und Constantinopel begleitet. Der Name Deines Vaters war geachtet und er zählte zu den Patrioten, die über dem Gewinn des Handels und dem Klange des Goldes nicht vergaßen, daß der Besitz ihrer Habe, ja ihrer Familie und ihres Lebens nur Schein und von der Willkür des Muselmannes abhängig war, daß unser heiliger Gottesdienst nur gegen schwere Geschenke an die Machthaber geduldet wurde und [196] jedes Rechts entbehrte, daß die Ehre unserer Frauen und Töchter das Spiel der Lüste unserer Herren blieb und der Moslem verächtlich vor dem eingebornen Sohne des Landes ausspie und ihn Giaur nannte, wenn er demüthig an ihm vorüberging. Wir waren elender, als das von Gott verfluchte Volk der Erde ist!

Es bestand damals – und man hat mir erzählt, daß er seit mehr als hundert Jahren unter meinem Volke bestanden – ein geheimnißvoller Bund, Elpis 8 genannt, der über das Festland und alle Inseln, ja weit hinein nach Asien und über Byzanz hinaus ging und alle Besseren, Tugendhaften und Tapferen unseres Volkes in seinen Reihen zählte. Wo die tausend Felseninseln wie Sterne auf dem blauen Meere schwimmen, da giebt es kleine Eilande, unzugängliche Berge, auf die sich freie Männer geflüchtet haben und wohin noch nie der Fuß eines Moslems ungestraft gekommen ist. Hier ist die Wiege der griechischen Freiheit, und aus diesen Felsenbuchten, in deren Schutz die Häupter der Elpis sich alle vier Jahre zu versammeln pflegen, ging der ewige Krieg aus, den, von den Franken verlassen, unser Volk wenigstens im Einzelnen seit Jahrhunderten gegen die Ungläubigen geführt hat. Frei wie der Palikare auf den Bergen Livadien's und des Taygetos war der Capitano, der auf seiner schwarzen Felucke mit kühnen Männern das Aspri Thalassa 9 durchstrich und leicht, wie die Schwalbe die Lüfte durchzieht, hinauf bis zum weißen Lemnos zog oder vor dem Golf von Saloniki kreuzte, und überall den schwerfälligen Moslem, den habgierigen Franken überfiel und besiegte.

Dein Vater, Gregor, gehörte seit Jahren der Elpis an, und als die Stunde gekommen war, wo auf dem Festlande die Fahne des Kreuzes gegen den unerträglichen blutigen Druck erhoben werden sollte, eilte er dahin. Wundert Euch nicht, daß ich, ein schlichter Kameeltreiber, so genau die Geschichte meines Landes kenne, aber die Namen, die ich nenne, sind mit Blut in die Tage meiner Jugend geschrieben. Vom Norden, vom großen Czar aus Moskau her kam auch damals der Ruf unserer Freiheit. Fürst Ypsilanti zog in das Land ein, das an dem großen Strome liegt, [197] der uns von unsern russischen Brüdern scheidet 10, aber die heilige Schaar 11 fiel unter der türkischen Uebermacht, und der Großherr in Constantinopel schwor bei seinem Barte, Alles zu vertilgen, was Grieche hieß in diesem Lande 12. Auch zu uns kam die Kunde, wie man in Constantinopel, in Smyrna und Salonichi alle Kirchen zerstört, wie man unser Volk beraubt und gemartert, unseren ehrwürdigen Erzbischof, den heiligen Gregorius 13, ermordet hatte. Da entbrannte in den Herzen unseres Volkes die heilige Flamme und überall schlug das Feuerzeichen der Freiheit empor! Von Achaja aus tönte der erste Ruf, und als der Erzbischof von Patras 14 das Kreuz aufrichtete, da klang es wieder in Aetolien, wie in Attika, Akarnanien und Livadien; auf Spezzia, Ipsara und Hydra, auf Samos wie im Epirus und Thessalien, wo die tapferen Sulioten und Agraphen sich mit dem Löwen von Janina 15 verbanden, der längst schon am türkischen Joche gezerrt. Der alte Held Kolokotroni zog mit seinen Klephten daher, der edle Nikitas, Petros Mauromichalis, der Bey der Marina! Mit Wonne hörten wir jede Kunde, die Schiff um Schiff uns brachte, aber Chios wagte es nicht, laut in den allgemeinen Jubelruf einzustimmen, denn Vehid Pascha der Gouverneur hatte Zehn der angesehensten Chioten nach Constantinopel als Geißeln geschickt und nahm jetzt [198] aus jedem Dorfe zwei Primaten 16 und warf sie in die Kerker von Kastrone, um sich gegen einen Aufstand zu sichern.

Dein Vater, Gregor, war, zeitig gewarnt, auf den Ruf Maurokordatos', seines Freundes, der auch aus Chios stammte, nach Attika geeilt. Mich, ich war damals achtzehn Jahre alt, ließ er bei seiner Familie zurück, denn Deine Mutter trug Dich noch an der Brust und selbst Dein Bruder Andreas zählte erst vier Jahre. In dem Landhause Deiner Familie, an der Bucht von Volisso, glaubte er sie vor allen Stürmen geschützt und ich mußte ihm auf das Kreuz schwören, sie nie zu verlassen.«

Gregor reichte dem alten Diener seiner Familie die Hand.

»Vater Michael,« sagte er weich, »und die Mutter, die jetzt Beide im Himmel sind, bezeugen dort Oben, wie treu Du Wort gehalten.«

Janos küßte die Hand und führ in seiner Erzählung fort.

»Die guten Tage für Chios waren vorüber. Veli Pascha und seine Aga's machten sich die Erbitterung des Divans gegen das griechische Volk zu Nutze und begannen Unterdrückungen und Erpressungen, die bald allen Grausamkeiten die Waage hielten, welche unsere Brüder auf dem Festlande je erduldet hatten. Den noch widerstanden die Bewohner von Chios dem Ruf, der täglich von Samos und Ipsara her erging, zu den Waffen zu greifen und sich dem allgemeinen Kampfe anzuschließen; denn in den Kerkern von Kastrone lagen ihre Väter und Brüder, hundertundzwanzig an der Zahl, darunter die sieben Bischöfe unserer Insel, und jede Familie zitterte bei dem Gedanken an das Schicksal, was die theuren Häupter in der Gewalt unserer Tyrannen beim geringsten Zeichen des Widerstandes bedrohte.

Aber Gott und die Heiligen hatten es anders bestimmt, ihr Geschick sollte von Außen her entschieden werden. Fürst Logotheti 17 und General Burnia landeten am 25. März 18 mit zweitausend Samioten auf Chios und pflanzten mit Gewalt das Kreuz der Freiheit auf der Insel auf. Wie unser Aller Herz ihnen entgegen schlug! dennoch wagten nur sehr Wenige, sich ihnen anzuschließen, [199] das ganze Land, alle Dörfer waren thatsächlich, als nach achtzehn Tagen das grause Unheil auf uns einbrach, noch unbewaffnet.

Die Samioten griffen Kastrone an und erschlugen hundertundfünfzig Türken im Gefecht. Vely Pascha mit den Seinen flüchtete in das Kastell und wurde hier belagert.

Das Verderben aber war nahe. Bald erscholl die Nachricht von der Annäherung des grausamen Kapudan Pascha mit der türkischen Flotte. Allgemeines Schrecken verbreitete sich, und wer da konnte, flüchtete sich. Am 12. April schiffte der Kapudan mit 15,000 Mann von Tschesme nach der Insel über, die Schiffe von Ipsara und Hydra kappten die Anker und flohen, zwölftausend Bewohner der Insel mit ihnen. Sieben der Schiffe fielen in die Hände der Türken und wurden mit den Unglücklichen versenkt, – ihr Loos war glücklich gegen das der Zurückgebliebenen.

Ein allgemeines Entsetzen hielt diese befangen und unthätig, während hätten sie sich mit den Samioten verbunden – sie mit sicherem Erfolg der Macht der Türken Trotz geboten haben würden. Doch man verließ sich auf das Versprechen des österreichischen und französischen Consuls, die mit dem Kapudan Pascha unterhandelt und die Zusage allgemeiner Amnestie überbracht hatten, wenn man alle Waffen ausliefere. Dies geschah; nur Wenige hielten sich mit Logotheti und Burnia in den Batterieen von Turloti, und dort entbrannte ein heißer Kampf am 12. und 13. April. Alle Gegenwehr war vergeblich, die Schanzen wurden erstürmt, die Führer retteten sich durch die Flucht, während der Ueberrest der tapferen Schaar sich in das Kloster Yamon warf und Schritt um Schritt, Blut um Blut jeden Fußbreit gegen die anstürmenden Schaaren vertheidigte. Sie wußten ihr Schicksal, und während die Kirche von Turloti in Flammen aufging, während die Türken bereits die Gräber aufrissen und die Leichen verstümmelten, fiel einer der Helden nach dem andern, kämpfend in den Trümmern des Klosters – Keiner entkam – mein einziger Bruder war unter den Todten.«

Der Erzähler schlug ein Kreuz zum Gedächtniß des Gefallenen, andächtig folgten die übrigen Griechen, dann fuhr er fort:

»Am 14. war auf der ganzen Insel kein Widerstand mehr und nun begann eine Zeit voll Mord und Entsetzen, wie wohl noch keine gewesen ist unter den Völkern der Erde. Schaaren [200] von asiatischen Mördern und Räubern, unzählig wie Heuschreckenwolken, strömten von Tschesme und Smyrna her über die unglückliche Insel, die der Wüthrich jedem Schrecken preisgegeben. Sechs volle Tage lang dauerte das Morden. Gräuel, wie sie die Hölle nicht erfindet, wurden hier ausgeübt; nicht das Kind an der Brust, nicht der wankende Greis verschont. Schon am anderen Tage gingen vier Maulesel mit Köpfen und Ohren beladen nach Smyrna ab 19. Mögen nimmer meine Augen das Schreckliche wiedersehen, was sie da erblickt! Frauen und Jungfrauen wurden von den Henkern öffentlich geschändet und dann grausam verstümmelt und gemordet. Ich sah Frauen, denen die Brüste abgeschnitten waren, entmannte Männer, Kinder, denen man die Zunge, die Nasen, die Ohren abgeschnitten. Aber Alles, was hier geschah, überbot die Grausamkeit des Kapudan selbst. Auf seinem Schiffe, ›die Siegesfahne‹ geheißen, hatte er eine besondere Folterkammer eingerichtet, um durch die grausamsten Martern das Geständniß verborgener Schätze zu erzwingen, oder sich an den Qualen der Armen zu weiden. Ich selbst sollte diese Stätte des Teufels in Menschengestalt kennen lernen!

Am 19. waren bereits von 65 Dörfern, welche die Insel zählte, 49 fast spurlos von der Erde vertilgt, darunter 20 Mastixdörfer. Vergebens bemühete sich der französische Consul Digeon, ein früherer Offizier, wenigstens einige zu retten. Hinter seinem Rücken begannen die aufgestellten Schutzwachen auf's Neue das Werk der Zerstörung.

Am 13., nach der Erstürmung von Turloti, war auf der Flotte der Würger ein großes Fest. Ein französisches Linienschiff lief mit wehender Flagge ein; es trug den Herrn de la Meillerie, den Befehlshaber der französischen Seemacht in diesen Gewässern, und das unglückliche Chios hoffte von seinem Erscheinen Schutz und Hilfe. Aber der Franke – merke es, Herr! – kam, um den Kapudan Pascha zu besuchen, ihm Glück zu wünschen zum Siege über die Meuterer, und während das unschuldige Blut in Strömen am Lande zum Himmel aufdampfte, überhäuften der Franke und der Türke einander mit Höflichkeiten, und das Geschenk einer reich mit Diamanten besetzten Dose ließ den Franzosen das Herz und die Augen verschließen vor dem Jammer seiner [201] christlichen Brüder. Fluch ihm und seinem Gedächtniß! Fluch seinem gleißnerischen Volke!«

Der wilde Ausbruch des Hasses, der aus den Augen des Griechen sprühte, ließ Welland erbeben. Diona faßte die Hand des Mannes.

»Und Du, Janos, wo bliebst Du? was geschah mit unserer Mutter?«

»Als das Morden am 14. begann und wir in unserer entfernten Wohnstätte die erste Kunde davon erhielten, suchte ich eilig ein Schiff, aber alle hatten, wie ich bereits erzählt, von Kastron aus die Flucht ergriffen. – In den Felsenschluchten des Berges Hyas, auf dem der große Sänger unseres Volkes, Homeros, geboren 20, war mir ein Versteck bekannt. Dahin – unter die Trümmer eines alten Götzentempels unserer Väter, der weit hinaus schaut auf's blaue Meer – führte ich Mutter und Kinder und verbarg sie vor den Augen unserer Henker. Acht lange schreckliche Tage brachten wir da zu, während deren einige wenige glückliche Flüchtlinge sich zu uns gesellten. Da, als ich die Deinen nicht mehr allein und verlassen sah, litt es mich nicht länger in den Bergen, wo wir von fern den Brand unserer Häuser und Gärten schauten, ich trat zu Eurer Mutter und bat sie, mir zu gestatten, nach Kastron zu gehen, um dort zu forschen und nach Hilfe auszusehen. Nur schwer gab sie die Erlaubniß, aber unsere Noth war groß und ich mußte fort.

Ich ging durch das Gebirge und nahte mich Kastron. Die Spuren, die ich auf meinem Wege fand, habe ich Euch bereits beschrieben. In einem Hause, das allein an einem Bergabhange stand, fand ich zwei der Henker, – sie schliefen, berauscht von dem ihnen verbotenen Chioswein, neben den Leichen der gemordeten friedlichen Bewohner, neben den entstellten Leichen zweier Mädchen, die sie geschändet. Ich erschlug Beide im Schlaf – es war das erste Blut, das ich vergoß, und wahrlich, nicht solches, das ich je bereut habe! – In der Kleidung, mit den Waffen eines der Erschlagenen ging ich weiter und kam nach Kastron.

[202] Es war am Morgen des 23. April. Das Morden und Brennen in der Stadt und den nächsten Dörfern hatte einigermaßen aufgehört, kaum stand in den Letzteren noch ein Haus außer denen der Consule. Die Teufel waren vom Blut übersättigt, und was noch lebte, das trieb man jetzt in Haufen zusammen und zu den Schiffen, um als Sclaven nach dem Festlande geschafft zu werden. Aber Vehid Pascha hatte sich noch ein besonderes Fest vorbehalten; es galt den hundertundzwanzig Geißeln, die in seinen Kerkern schmachteten – darunter sechsundachtzig Primaten und sieben Bischöfe, die Anderen angesehene Kaufleute des Landes. Fünfunddreißig von ihnen, darunter zwei Brüder Maurocordatos mit ihren jungen Söhnen, Knaben noch, wurden nach dem Schiffe des Kapudan Pascha geschleppt; die Uebrigen hing man am Morgen an den Mauern des Schlosses von Kastron auf, und als es den Henkern zu langsam ging, stürzte man sie herab und zerschmetterte ihre Glieder mit Keulenschlägen.

Ich schlich in der öden Stadt unter Trümmern und Leichen umher – als ich Zeuge ward einer That, die mir noch das Blut im Herzen erstarrt. Unter einem Haufen von Unglücklichen, die gleich dem Vieh von einem der Mastirdörfer herbeigetrieben wurden, erkannte ich die Frau und die Tochter eines Mannes, in dessen Hause ich oft gewesen war, an dessen Tisch ich oft gesessen hatte. Aphanasia, das Mädchen, war schön, sie zählte sechszehn Sommer und blühte wie die Rose ihrer Gärten. Ich trug lange schon die Liebe zu ihr im Herzen, aber ihr Vater war reich und ich ein armer Diener – so schwieg ich. Jetzt fand ich sie wieder, arm und elend, des Nothdürftigsten beraubt, das ihre junge Schönheit deckte. Ich kam dazu, wie der Araber, dessen Beute sie war, sie eben an einen Türken verhandelte, der 300 Piaster dafür geboten. Ein unglücklicher Augenblick feigen Zögerns, um mich selbst nicht zu verrathen – er war ihr Verderben. Mit Gold war ich reichlich versehen, denn Eure Mutter hatte mir eine Summe zur Gewinnung eines Schiffes gegeben, und der Gürtel der erschlagenen Mörder enthielt eine große Zahl goldener Zechinen, die Frucht ihres Raubes. Ich trat hinzu, indem ich Aphanasia ein Zeichen gab, mich nicht zu kennen, und bot dem Aegypter 3000 Piaster statt jener Dreihundert. Die Augen des Schurken funkelten vor Freude über den Gewinn, aber der Türke erklärte, daß sein Handel bereits abgeschlossen gewesen, ehe ich mein Gebot gethan, und [203] wollte das Mädchen davonführen. Da warf ihm, ergrimmt über den entzogenen Gewinn, der Mohr die Kaufsumme vor die Füße, und ehe ich es hindern konnte, riß er die Pistole von seinem Gürtel und schoß das Mädchen durch die Brust 21. Ihr sterbender Blick fiel auf mich, der ich erstarrt stand vor der schändlichen That, dann flog mein Handjar aus der Scheide und schlug den Mörder zu Boden. Aber mein Schmerzensruf, meine Flüche hatten mich verrathen. ›Ein Gjaur! tödtet den Christenhund!‹ scholl es um mich her, und kaum vermochte meine Wuth mir Bahn zu brechen durch die sich mehrenden Verfolger. Ich entkam, wer mühte sich lange in dieser Zeit nach dem Einzelnen, wo der Opfer so viele zur Hand waren!

Ich entkam, indem ich mich in einer der nächsten Gassen dem mir entgegenkommenden Zuge anschloß, welcher die fünfunddreißig Kaufleute aus den Gefängnissen des Kastells zum Schiff des Kapudan Pascha schleppte. Ein Aga befahl mir, mit Hand anzulegen an die Gefangenen; ich mußte gehorchen, um mich nicht zu verrathen, so kam ich auf das Schiff selbst und war Zeuge jener Thaten, deren Gedächtniß noch mein Blut in den Adern gerinnen macht.

Im Mitteldeck des großen Schiffes war ein Raum abgeschlagen, an dessen Ende ein Divan stand, auf dem der Kapudan, von seinen Offizieren umgeben, ruhte. Ein großes Kohlenbecken in der Mitte glühte die Eisen und Zangen, ringsum an den Holzwänden hingen Werkzeuge, wie nur die Hölle sie ausgedacht, Stachelpeitschen, eiserne Keulen, Schraubenringe, welche die Gelenke zu Brei quetschten, – ich vermag nicht Alles zu nennen noch aufzuzählen. Einer nach dem Andern der Gefangenen wurde hineingeführt, und der Geruch verbrannten Fleisches, das Geheul und Röcheln der Gemarterten drang furchtbar zu uns heraus, daß selbst manches Antlitz der an Mord und Blut gewöhnten Wächter zu erbleichen schien. Endlich als zum vierten Mal das Todesröcheln verstummte, wies der Aga auf mich und zwei Genossen und hieß uns, die beiden Gefangenen, die wir an Stricken geführt, hineinbringen. Es war ein Maurokordatos – ein Greis von siebenzig Jahren, – mit seinem Enkel, einem Knaben. Ich hatte ihn oft früher gesehen bei meinem Herrn.

[204] Als wir den Verschlag betraten – Herr, ich war selbst mehr todt als lebendig und hätte in dem Augenblick gern mein Leben gegeben, um die Gräuel nicht zu sehen, – stürzten die beiden Henker – es waren, höre es, Franke! ein Malteser und ein nubischer Sclave, Diener des Kapudan! – eben die verstümmelten Reste des letzten Opfers durch die Stückpforte in's Meer. Zitternd nahten die Beiden dem Furchtbaren und warfen sich nieder vor ihm auf die Kniee, um Erbarmen flehend. Es war herzzerreißend, sinneverwirrend, die Bitten des Greises um Gnade für das Kind zu hören. Der Kapudan – ruhig auf seinem Lager ausgestreckt, das Nargileh zwischen den Lippen, frug den Greis, ob er hunderttausend Piaster als Lösegeld sofort herbeischaffen könne? – Ich wußte, die Familie hatte das Zehnfache in ihrem Vermögen gehabt, – aber wo jetzt, nach dem Raub und der Plünderung ihrer Habe, während sie aus dem Kerker kamen, der sie länger als ein Jahr umschlossen, – die große Summe schaffen? Die Augen des Greises irrten wie wahnwitzig umher, – überall nur Blutdurst, Grausamkeit – nirgends Hilfe. Ich sehe ihn noch, wie er auf den Wink des Pascha's zu Boden geworfen und ihm Maaß auf Maaß des bittern Seewassers durch einen Trichter in den Mund gefüllt wurde, indeß man ihm die Nase zuhielt 22, bis der Leib aufschwoll zu entsetzlichem Umfang. Dann warfen die Henker sich auf ihn und preßten und traten den Greis – – was male ich Euch die Scheußlichkeiten, die meine Augen sahen! Als ich den gellenden Jammerruf des Knaben hörte, der von unseren Blicken entmannt ward, konnte ich es nicht länger ertragen, ich drängte mich hinaus auf die Gefahr, selbst das Opfer zu werden; aber die Augen der Würger waren mit der Todesqual ihrer Opfer beschäftigt – man achtete meiner nicht.

Als ich auf dem Deck den sonnig blauen Himmel wieder sah, der sich so herrlich über Meer und Land wölbte, da war das Gelöbniß heiliger, blutiger Rache mein erster Gedanke, mein heiliger Schwur, – und ich habe ihn gehalten; – denn diese meine rechte Hand war es, die den Tiger mit seiner Brut zwei Monden darauf gen Himmel sprengte!«

Der Räuber schwieg wie erschöpft von den furchtbaren Erinnerungen seiner Jugend; – Welland hatte sein Haupt verhüllt [205] bei der Beschreibung dieser Gräuel, aus seinen und Diona's Augen flossen Thränen. Nur Gregor blickte finster und flammend umher und auf die Türkenstadt zu seinen Füßen.

»Mein Vater rächte das Ungeheure mit Dir! Michael Caraiskakis war bei der großen Sühne, die die Heldenschaar des Kanaris dem blutgetränkten Chios brachte.«

Wohl, Knabe, aber meine Hand war es, der man die Ehre gab, die rächende Flamme zu zünden. – Höret drum weiter.

Auf einem der Boote, die fortwährend zwischen der aus vierzig Segeln bestehenden Flotte und dem Lande kreuzten, entkam ich glücklich wieder zur Stadt. Die »Siegesfahne« zählte eilfhundert Mann Besatzung, zahllose andere Banden verkehrten fortwährend dort, wer sollte mich auch in dem Gewühl entdecken, da ich gut türkisch sprach? So blieb ich bei den Moslems, bis der Abend kam, – dann trennte ich mich von ihnen und schlich nach dem Ort, wo am Morgen Aphanasia ermordet worden. Ich fand sie wirklich unter andern Leichen und auf meinen Schultern trug ich den theuren Körper fort und begrub ihn unter einem Feigenbaum. Dann eilte ich zurück in's Gebirge und am zweiten Morgen war ich wieder bei Deiner Mutter und schloß Euch Knaben mit Dankesthränen in meine Arme, daß die Heiligen mir gestattet, Euch zu retten.

Noch zehn Tage lang blieben wir in unserm Versteck, uns kümmerlich von Früchten und der Milch der in die Berge verlaufenen Ziegen nährend, denn wir wagten kein Feuer anzuzünden, aus Furcht, uns zu verrathen.

Am Morgen des eilften Tages endlich sahen wir ein Schiff in der Nähe kreuzen, dessen Flagge nicht den Halbmond mit den Sternen trug.

Von den erhabenen Trümmern des Tempels aus gaben wir Zeichen, indem wir unsere Kleider an Stangen banden und zum ersten Mal Feuer anmachten, um durch den Rauch ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Es glückte – wir sahen bald ein Boot abstoßen und ich eilte hinab zum Ufer, die Nahenden zu prüfen, ob Rettung von ihnen zu hoffen sei. Heilige des Himmels, der Erste, der den Boden betrat, war Dein Vater, Gregor!

Wie soll ich Euch die Freude des Wiedersehens erzählen, als Michael Caraiskakis die Seinen unverletzt an's Herz drückte. [206] Ich schlich davon unter die Trümmer und weinte. Die meinem Herzen gleich theuer gewesen, war im Himmel!

Das Schiff war die österreichische Brig »Venetia«. Auf die erste Nachricht von der Ankunft der Türken auf Chios hatte sich Caraiskakis aufgemacht zur Rettung der Seinen. Auf Samos schon hörte er die Kunde von der Verwüstung der Insel und gab die Familie verloren. Dennoch wollte er wenigstens die Insel betreten, und es gelang ihm, mit seinem Freunde, dem Capitano Valsamachi, der dem Blutbad von Turloti entronnen, auf dem österreichischen Schiff zusammenzutreffen und dessen Führer zu vermögen sie nach Chios und Ipsara zu bringen. In Volisso war er an's Land gestiegen und hatte hier Alles verwüstet, aber nirgends Spuren der Seinen gefunden. Viele Flüchtlinge, die sich gleich uns in den Felsenklüften verborgen, hatten bereits glücklich das Schiff erreicht, das seit mehreren Tagen um die Insel kreuzte, und als wir sein Deck betraten, fanden wir neue Scenen der Klage und des Jammers, aber auch die zum Himmel geballte Faust, den Schwur blutiger ewiger Rache an den Mördern. Selbst das Auge der Frauen und Kinder glühte in ihrem Durst, als ich die Gräuel erzählte, deren Zeuge ich in Kastron gewesen war.

Nach Ipsara ging unser Lauf, wo sich die entkommenen Patrioten der Inseln, wo sich die Rächer des Frevels versammelten. Dort hörten wir täglich neue Kunde von dem, was auf Chios geschehen und noch geschah und jede Botschaft schürte das Feuer in unseren Herzen.

Der Kapudan Pascha hatte endlich unterm 13. Mai um die Insel nicht ganz zu entvölkern, durch einen Ferman verboten, noch weiter Sclaven auszuführen, das Verbot aber rief nur neue Schreckensthaten hervor. Die Moslems, die die Christenkinder nicht verkaufen konnten, stürzten sie in's Meer. Fünftausend Kinder im zarten Alter wurden an den Bäumen aufgehängt, ersäuft und von den Felsen und Häusern herabgestürzt. In Tschesme 23) band man sie zu fünfzig und sechszig mit Stricken zusammen und stürzte sie in's Meer. Selbst die geldgierigen Smyrnioten fühlten Erbarmen mit dem Elend und kauften so viel sie vermochten. Tausende und aber Tausende der Bewohner waren in [207] die Sclaverei geschleppt, zwei hundert der angesehensten Geschlechter der Insel ausgerottet worden 24. – Bald drang auch die Kunde zu uns, daß am 20. des Maimonds in Constantinopel jene zehn Geißeln enthauptet worden, die Vehid Pascha schon vor Jahresfrist dorthin gesandt.

»Wie ein Feuerbrand war die Nachricht von den Gräuelthaten auf Chios über Meer und Land geflogen, und wo die Fahne des heiligen Kampfes aus Gleichgültigkeit gegen die gewohnten Leiden oder aus feiger Besorgniß noch nicht erhoben worden, da schlug jetzt die Lohe der Rache für das Ungeheuere Verderben bringend den Frevlern in die Höhe. Ein Schrei des Entsetzens und der Wuth erscholl, so weit die griechische Zunge reicht. Der Kapudan Pascha, der die Verantwortung in Constantinopel fürchten mochte, daß er das Eigenthum der Sultana so gänzlich zerstört, sandte auf einem englischen Schiffe Botschaft nach Samos und ließ den Aufgestandenen Vergebung und Sicherheit anbieten, wenn sie die Waffen niederlegen und unter das türkische Joch zurückkehren wollten. Hörst Du es, Franke, Inglesi waren es, die diese Botschaft der Schmach überbrachten und die tapfern Samioten überreden wollten. – Mit Hohn und Grimm wurden sie zurückgewiesen. Von Hydra, Pharos und Spezzia hinauf zu Ipsara und Skyros, der Brautkammer des großen Achill, scholl ein Ruf empor zu den Wolken: Freiheit oder Tod!

Und der Tag der heiligen Rache kam.

Kanaris der Held führte sein blutiges Morgenroth herauf. Mit einer Fregatte und fünf andern Fahrzeugen erschien er am 10. Juni vor Ipsara und warf Anker. Ein ernster Rath wurde gehalten unter den Führern des Geschwaders und der Geflüchteten. Dein Vater, Gregor, war einer der Ersten im Rath und saß neben ihm, der die Schiffe der Moslems wie Spreu durch die Meere fegte.

Die große That ward beschlossen!

Am Abend desselben Tages rief mich Dein Vater und befahl mir, ihm zu folgen. Er führte mich in ein Haus, in dem ich [208] viele Männer versammelt fand, mir bekannte und unbekannte, es waren die Brüder der Elpis, die Mitglieder jenes Bundes in der Hetärie, dessen Eid lautet ...«

Gregor unterbrach ihn. »Das sind Dinge, Janos, die nicht für das Ohr des Franken taugen, auch wenn er unser Bruder ist. Vollende Deine Erzählung.«

Der Räuber schaute erschrocken und aufmerksam seinen jüngern Landsmann an, eine kaum merkliche rasche Bewegung, ein flüchtiges Kreuzen über die Stelle des Herzens belehrte ihn, – er erwiederte das Zeichen und fuhr fort: »Genug! die Söhne der Elpis waren Tapfere, die geschworen, vor keiner Gefahr zu weichen, wo es galt, die Freiheit des griechischen Volks zu erkämpfen oder zu rächen. An diesem Abend schlug Dein Vater mich, den armen Diener, zur Aufnahme in den Bund vor, indem er erzählte, was ich auf Chios erlebt, und ich leistete den Eid, den ich treu gehalten, wenn auch lange Jahre seitdem ihn mit der Gleichgültigkeit des einförmigen Lebens verwischt hatten, bis auf's Neue das Unrecht und die Tyrannei mich emporrüttelten und den rächenden Stahl mir in die Hand gaben. Dann theilte er mir mit, daß am dritten Tage ein Versuch gegen die Flotte des Kapudan unternommen werden sollte, die im Hafen von Tschesme ankerte, und daß Freiwillige aufgefordert worden, dem Tode in's Auge zu schauen. Obschon kaum ein Entrinnen bei dem Wagniß zu hoffen stand, hatten sich am andern Morgen doch bereits zweihundert Männer gemeldet; das Loos wählte Achtundvierzig aus. Michael Caraiskakis und Janos der Ipsarote waren unter ihnen; dem Ersten übertrug Canaris die Leitung der Expedition, ich begleitete ihn.

Von dem Augenblick an, da das Unternehmen bestimmt war, durfte keine Seele mehr bei Todesstrafe die Insel verlassen. Während die Achtundvierzig durch Beichte und Gebet sich vorbereiteten und ihre Waffen in Stand setzten, arbeitete Tag und Nacht die Bevölkerung des Hafens an der Herstellung der Brander. Am dritten Tage waren sie fertig; drei Schiffe, von der Spitze des Mastes bis zum Kiel mit Pech und Theer getränkt, leichtes Werg um Spieren und Taue gewunden, der ganze Schiffsraum eine wandelnde Hölle von Schwefel, Pulver und Feuerstoffen, die nur des belebenden Funkens harrte. Die österreichische Brigg war bei uns geblieben; ihr wackerer Capitain, empört von den geschauten [209] und vernommenen Gräueln, hatte uns seine Hilfe zugesagt und versprochen, die Mannschaft aufzunehmen, wenn sie sich retten könne. Zu dem Ende führte jeder Brander ein großes Boot mit sich.

Es war am Abend, als Alles zum Auslaufen bereit war und der fromme Bischof der Insel mit seinen Diakonen am Gestade erschien, uns den heiligen Leib des Herrn zu reichen und seinen Segen zu spenden. Auf den Knieen lagen die Hunderte und hörten das Wort des frommen Greises, dann, ehe wir die Hostie nahmen, schworen wir Alle auf sie einen heiligen Eid, unsere gemordeten Brüder zu rächen oder nimmer zurückzukehren vor das Antlitz eines Menschen. Die Menge umdrängte uns, als wir zum Schiff gingen. An der Rechten Deines Vaters ging der Seeheld Canaris, ihm die letzten Anweisungen gebend, an seiner Linken Eure Mutter, Dich, Gregor, auf dem Arm, Andreas an der Hand. Es war ein Heldenweib, und keine Thräne, kein Laut der Klage machte das Herz des Gatten schwer. Noch eine Umarmung, Canaris reichte Jedem die Hand, und die Boote führten uns zu den Schiffen, deren Segel bald lustig der Wind blähte. Durch die Nacht, durch die Wogen rauschte das Verderben gen Tschesme.

Uns voran ging die Venetia, wir selbst führten die österreichische Flagge und Papiere, die uns als mit Taback beladen auswiesen, so gingen wir vor Thimania vor Anker, während die Brigg näher nach Tschesme zu kreuzte, wo das türkische Geschwader an derselben Stelle ankerte, an der, wie Dein Vater mir sagte, unter der Moskowiten – Kaiserin Katharina der griechische Capitain Lampros die ganze Flotte der Moslems verbrannt hatte.

Zwei Tage lagen wir vor Thimania, der dritte war der 19. Juni, der Vorabend des Bairamsfestes, das die Türken mit Gelag und Jubel zu feiern pflegen. So war es auch diesmal. Als der Abend auf See und Land fank, kappten wir die Anker und liefen auf Tschesme zu. Schon in weiter Ferne konnten wir den Jubel hören, der von den Schiffen durch die Nacht drang, die Feuer schauen, die am Ufer brannten.

Das Schiff, auf dem Dein Vater selbst das Steuer führte, war mit zwanzig Mann besetzt, die übrige Mannschaft auf die beiden andern vertheilt. Die strengsten Befehle waren gegeben. Jeder stand auf seinem Posten.

Am Eingang des Hafens wurden die Segel eingezogen, so [210] lagen wir, wie der Tiger auf seine Beute lauert, bis nach und nach auf den türkischen Schiffen Alles verstummt war. Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als eine Rakete von unserm Schiff das Zeichen zum Angriff gab. In wenig Minuten flatterten alle Segel im Winde und die drei Schiffe fuhren grade auf die Flotte hinein. Zugleich wurde das am weitesten links in Brand gesteckt und die feurige Lohe, an dem Tauwerk emporleckend, flammte hoch auf gegen den Nachthimmel.

Es war ein furchtbar schönes Schauspiel, als wir das brenende, flammende Schiff auf die dunklen Massen vor uns einstürmen sahen. Während ringsum sich der Lärm der Gefahr erhob, Trommeln wirbelten, der Ruf der Führer die trunkene wüste Mannschaft weckte und wildes Geschrei von Bord zu Bord scholl, fuhr das Boot an uns vorüber, das die Mannschaft des entzündeten Branders trug. Sie hatten meiner Meinung nach zu früh gezündet, ehe sie mitten zwischen den Schiffen waren, sonst hätte das Verderben noch riesiger sein müssen. Jetzt gab Caraiskakis das Signal für das zweite Schiff, und in wenig Augenblicken flammte seine Feuersbrunst empor und der Brander trieb mitten zwischen zwei Linienschiffen, die in kurzer Zeit von seinen Flammen erfaßt waren. Das Geheul, das Geschrei war furchtbar und überdröhnte den Donner der von allen Seiten gelösten Schüsse. Die Schiffe hieben die Ankertaue durch und suchten das Meer zu gewinnen, eines das andere mit vollen Lagen begrüßend, wenn man sich gefährdend zu nahe kam. Vier Linienschiffe standen in vollen Flammen, eben so mehrere kleine Fahrzeuge. Eine der brennenden türkischen Galeeren wurde von der ›Siegesfahne‹ mit einer einzigen Salve in den Grund gebohrt, als das brennende Fahrzeug dem Admiralschiff zu nahe kam.

Das aber war die Beute, die wir uns ausgesucht. Wie der Dieb in der Nacht waren wir im Dunkel herangekommen, dicht an der linken Batterie des Schiffes, ehe man uns bemerkte und anrief. Caraiskakis stand am Steuer, ich seines Winkes gewärtig mit der brennenden Lunte an der Hauptluke, die Mannschaft mit Haken und Seilen im Tauwerk. So fuhren wir auf, und im Nu waren die Enterhaken in dem Strickwerk des Feindes, die Taue geknüpft und eine Kette geworfen und am Bugspriet befestigt, daß wir unauflöslich an dem großen Koloß hingen. Zugleich flammte der Haufen Maisstroh empor, den ich in den Luken und[211] unter den Wänden des Schiffes aufgethürmt hatte. Wie ein Blitzstrahl leckte die Flamme empor und lief an den Tauen und Segeln in die Höhe, daß bald Alles ein Feuerbogen war. Die Verwirrung, das Geschrei auf dem Schiff des Kapudana waren furchtbar. Er selbst war ein tapferer Mann, wenn auch ein Teufel in seiner Grausamkeit. Ich sah ihn auf der Puppe seines Schiffes stehen, wie er unerschrocken Befehle ertheilte und die Rasenden, in Furcht Verzweifelnden an trieb, die beiden Schiffe zu lösen. Caraiskakis und die Mannschaft waren bereits im Boot und riefen mir zu durch den Höllenlärm ihnen zu folgen, aber ich vermochte es nicht, mein Auge, mein Herz schien gebannt an das furchtbare Schauspiel, das sich rings um mich entwickelte. Zwei Mal hob ich das Pistol und zwei Mal traf meine Kugel die Offiziere, die sich an unsern Bord gewagt, um einen Versuch zum Absteuern der Schiffe zu machen. Dann sprang ich zur hintern Luke, von der ein Zünder gelegt war bis hinunter zur Pulverkammer. Ich schien mir selbst mehr einer der höllischen Dämonen, denn ein Mensch. Auf dem Schiff der Moslems wuchs die Verzweiflung mit jeder Minute, Viele sprangen in das Meer, um sich zu retten, Andere, darunter der Kapudan selbst mit eigener Hand suchten die Boote auf's Wasser zu bringen; jede Disciplin, jeder Gehorsam waren geschwunden, – was da auf dem Schiff athmete, und es sollen ihrer, mit den Fremden zum Fest, zweitausend zweihundert und sechs und achtzig Seelen gewesen sein, dachte nur an die eigene Rettung.

Da schien der Augenblick gekommen und meine Hand hielt ohne zu zucken, den Feuerbrand an die Leitung, die zum Pulver führte, dann sprang ich auf der andern Seite des Schiffes über Bord und versank in's Meer. Noch ehe ich wieder empor kam, hörte ich ein dumpfes Dröhnen über meinem Haupte, und als ich auftauchte aus den Wellen, da stob und regnete es um mich her aus den Lüften, Flammen und Balken, Trümmer, brennende Segelstücke und zerbrochene Spieren. Wie durch ein Wunder entkam ich der Gefahr, und um mich blickend, sah ich das Admiralschiff, jetzt ein großer unrettbarer Flammenberg.

Ich wußte die Richtung unseres Bootes und schwamm darauf zu, aber es kümmerte mich wirklich wenig, ob ich es erreichte oder nicht, so stolz war ich in dem Gefühl der vollbrachten Rache. Doch die Hand der Heiligen war über mir – bald stieß ich auf[212] die Freunde, die mit Angst meiner harrten und schon, mich verloren gebend, davon fahren wollten; nur Caraiskakis, mein Herr, war dem Drängen nicht gewichen. Erschöpft warf ich mich auf den Boden nieder und sah nach dem in immer furchtbarerer Herrlichkeit sich entfaltenden Schauspiel zurück, während wir eilig entflohen. Unnütze Eil' – Niemand dachte an unsere Verfolgung, Jeder hatte mit sich selbst genug zu thun. Nach allen Seiten stoben die Schiffe auseinander, wie den Pestkranken die fünf Flammensäulen fürchtend, welche die Nacht zum Tage erhellten. Auf zwei Linienschiffen- gelang es zwar, den Brand zu löschen, zwei andere aber brannten bis zum Spiegel nieder, nachdem man die Pulverkammer unter Wasser gesetzt. Rechts und links, nach allen Seiten donnerten die Kanonen der brennenden Schiffe, die sich von selbst entluden, und bildeten nicht die geringste Gefahr für die Flotte. Wir waren bereits am Ausgange des Hafens und näherten uns der Brigg, die uns erwartete, als ein Krachen die Luft zerriß, ärger denn zehn Donner. Das Meer schien sich in Flammenwogen gen Himmel zu wälzen – das Admiralschiff des Kapudana mit all' seinen geraubten Schätzen, mit den Hunderten blutgetränkter Mörder war in die Luft geflogen!

Das Zischen der Brände, der durch die Luft fliegenden Gegenstände, der Erzmassen, die bis weit in's Meer hinaus niederfielen, und die tiefe unheimliche Stille der Nacht, die urplötzlich darauf folgte – war grauenvoll. Wir Alle ließen die Ruder fallen, schlugen ein Kreuz und beteten, dann aber brach einstimmig ein wilder rasender Schrei durch die Luft, aus der tiefsten Tiefe der Brust und jubelnd wurde er von den Genossen beantwortet, die bereits am Bord der Venetia unserer harrten.

Der Kapudan schien das Schiff erst kurz vor dem Auffliegen verlassen zu haben, als es unrettbar sich zeigte. Ein brennender Balken hatte das Boot getroffen und zertrümmert, das ihn zum Ufer führte; seine Leute brachten ihn schwimmend dahin und legten ihn unter einem Felsen nieder – eine lebendige Leiche, denn seine Glieder waren halb verkohlt! Dort starb er, ohne von der Stelle gebracht werden zu können, am zweiten Tage unter den furchtbarsten Schmerzen. Von der ganzen Besatzung der Siegesfahne retteten kaum Zweihundert das Leben.

Gott ist gerecht!«

Eine tiefe Stille war rings umher, als der Kameeltreiber [213] seine furchtbare Erzählung schloß. Der Räuber, der Bandit war vergessen – nur der Held, der Palikare stand vor ihnen, dessen Hand Chios gerächt.

Das eben ist das Eigenthümliche des griechischen Volkes, die erhabene Opferung, das antike Heldenthum für die Freiheit, bei der tiefen sittlichen Versunkenheit seiner Lebensgewohnheiten und seines Thuns und Treibens! feurige glühende Diamantenstrahlen unter dem verächtlichen Schmutz der Falschheit, des Lasters und der Gemeinheit.

Welland erhob sich und drückte schweigend dem Freund und dem Räuber die Hand – dann schied er, von Mauro und einem der Männer zurückbegleitet. Wie anders trat ihm hier die Idee der Revolution, der Erhebung des Volks zum Kampf für die Freiheit entgegen, als dies früher im Vaterlande der Fall gewesen! – Ein unheimlich beschämendes Gefühl überkam ihn bei der Erinnerung.


Doctor Welland hatte mehrfache Gründe, die Entwickelung der Costa – Angelegenheit abzuwarten und wollte unter allen Umständen seinen Weg nach Constantinopel nicht fortsetzen, ohne nochmals den Versuch gemacht zu haben, denselben zu sprechen.

Da Gregor bei dem, was er beschlossen, der Hilfe des Freundes bedurfte, verschob er gleichfalls die Verfolgung des Briten bis zur gemeinschaftlichen Abreise, die nach dem Rache des mit allen smyrnaer Verhältnissen so wohl vertrauten Räubers mit einem der vielfach kreuzenden griechischen Handelsschiffe geschehen sollte.

Die Vorgänge in Smyrna hatten unterdeß ihren weiteren historisch merkwürdigen Verlauf genommen. Die mehrfachen Klagen der Consuls und Gesandten bei dem Divan über die Unthätigkeit und Unfähigkeit des gegenwärtigen Gouverneurs von Smyrna, Ali Pascha, hatten in Constantinopel endlich Früchte getragen, und die Nachricht seiner Absetzung traf in Smyrna ein, vorangehend seinem Nachfolger Ismael Pascha, der den Ruf eines energischen, zuverlässigen und wortgetreuen Mannes genoß. Das Ende des laufenden Gouvernements sollte aber noch durch verschiedene Akte der gränzenlosen Schwäche und Apathie bezeichnet werben, welche, verbunden mit Tyrannei und Willkür, die Regierung der türkischen Provinzen charakterisiert.

[214] Die Namen der Mörder des jungen Hackelberg waren bereits am anderen Morgen in ganz Smyrna bekannt; mehrere Tage gingen sie frei und triumphirend mit ihren Genossen durch die Straßen, und als endlich der General-Consul von Weckbecker so weit sich vor den persönlichen Gefahren gesichert hatte, um die Pflichten seines Amtes erfüllen zu können und von Ali Pascha die Verhaftung der Mörder verlangte, war Fumagalli verschwunden, von Bassitsch aber verlautete, daß er in Diensten des englischen Predigers Louis sich befinde. Der erste Dragoman des Pascha begab sich daher zur Verhaftung des Ungars zum englischen Consul, der ihm auch den freien Zutritt in das Haus des Predigers Louis gestattete. Dieser erklärte jedoch nach vielfach versuchten Ausreden, daß sein Diener allerdings noch bei ihm sei, aber vorgebe, unter amerikanischem Schutze zu stehen, er könne ihn also nur dem amerikanischen Consul ausliefern. Anstatt sich nun unter allen Umständen des Meuchelmörders zu versichern, begab sich der Dragoman zum amerikanischen Consul, der unbedingt Bassitsch für einen amerikanischen Bürger erklärte, endlich aber nach vielem Hin- und Herreden seinen Kanzler Griffith zur vorläufigen Verhaftung des Mannes mit zum Prediger Louis sandte. Dort erhielten sie die Mitteilung, Bassitsch kleide sich eben um; als man aber dessen Zimmer öffnete, war es leer. Herr Louis behauptete, das Verschwinden sei ihm unerklärlich und höchst wunderbar, der Kanzler Griffith stimmte hierin ein, und der türkische Dragoman zog sich im stolzen Bewußtsein seiner Pflichterfüllung zu rück.

Auf gleiche Weise entgingen alle Betheiligten der Strafe. Fumagalli und Bassitsch suchten auf der amerikanischen Corvette Aufnahme und Ueberfahrt nach, Capitain Ingraham ließ ihnen jedoch sagen, sein Schiff sei nicht für Meuchelmörder eingerichtet. Es war ein englisches Handelsschiff, die »British Queen,« das sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärte und sie vorläufig nach England führte.

Die österreichische Brigg »Hussar« war unterdeß durch die Ankunft einer Galeotte verstärkt worden, die sofort Befehl erhielt, sich neben die Brigg zu legen. Die drei Schiffe ankerten gegenüber dem preußischen und österreichischen Consulat in der Entfernung von ungefähr 800–1000 Schritt vom Lande.

Am Morgen des 2. Juli – es war ein Sonnabend –[215] bemerkte man plötzlich besondere Vorbereitungen auf den Schiffen und vom amerikanischen Consulat aus verbreitete sich die Nachricht, daß es zwischen ihnen zum Kampf kommen werde. Eine große Menschenmenge versammelte sich sofort am Ufer und hundert Gerüchte kreuzten sich. Von dem Kanzler Griffith erfuhr endlich Welland Folgendes.

In Folge einer am Abend von Constantinopel zugleich mit der offiziellen Bestätigung der Absetzung Ali Pascha's eingetroffenen Ordre der amerikanischen Gesandtschaft hatte Capitain Ingraham dem Commandanten des Hussar mittelst einer Note angezeigt, daß er die sofortige Auslieferung des amerikanischen Bürgers Costa verlangen oder ihn mit Gewalt holen solle. Die Antwort des Majors Schwarz war die eines ächten Soldaten: Sein amerikanischer Kamerad möge das Holen versuchen, das Nichtabgeben sei seine Sache, es sei denn, daß ihm hierüber Ordres seiner Vorgesetzten zugingen.

In Folge dieser Antwort sah man alsbald die Schiffe sich zum Kampf fertig machen.

Die Corvette zählte ein Drittheil Kanonen und Mannschaft mehr, als die beiden österreichischen Schiffe, die Uebermacht war also auf ihrer Seite und Major Schwarz traf demgemäß seine Anstalten. Er legte sich möglichst nahe dem Feind und setzte seine Mannschaft in Bereitschaft, sofort bei dem ersten Kanonenschuß zu entern. Zugleich ließ er den Gefangenen aus seiner Haft holen und erklärte ihm mit männlichem Bedauern, daß er genöthigt sei, sein Schicksal an das des Schiffes zu knüpfen. Costa wurde auf dem Mitteldeck an den Mast gebunden und eine doppelte Wache an seine Seite gestellt, die den strengen Befehl erhielt, sobald ein Amerikaner den Bord des österreichischen Schiffes betreten werde, dem Ungar eine Kugel durch den Kopf zu schießen.

Die Amerikaner, welche einsahen, daß es einen Kampf auf Leben und Tod gälte, da Major Schwarz zugleich erklärt hatte, daß er im Fall des Unterliegens sein Schiff in die Luft sprengen werde, fertigten ihre Testamente aus und sandten sie durch ein Boot an das Land.

Hier wurden unterdeß die Verhandlungen eifrig betrieben. Der amerikanische Consul hatte dem General – Consul von Weckbecker ein Ultimatum überbracht, welches die Entscheidung auf vier Uhr Nachmittags aussetzte. Diese Frist benutzte der preußische[216] Consul, um zu dem türkischen Gouverneur zu eilen und hier einen energischen Protest gegen die in einem neutralen Hafen unerhörte und gegen alles Völkerrecht verstoßende Handlung der Amerikaner einzulegen, welche die nahe belegenen Theile der Stadt und die Consulate mit bedeutender Gefahr bedrohte. Ali Pascha that, als höre er jetzt erst von dem ganzen Vorgang, und schlug vor, bei dem amerikanischen Consul zu protestiren und ihn für alle Folgen verantwortlich zu machen. Erst als ihm entschieden erklärt wurde, daß es seine Pflicht sei, in dem eigenen Hafen dergleichen nicht zu dulden und bewaffnet zu interveniren, erklärte er sich bereit, denjenigen Theil zu schützen, welcher sich unter die Kanonen des Kastells legen würde.

Mehrere der Consule traten jetzt zusammen und Herr von Weckbecker willigte darein, um unnützem Blutvergießen und der Gefahr für die Stadt vorzubeugen, daß bis zur Erledigung des Competenzconflicts durch die beiderseitigen Regierungen Costa dem französischen General-Consulat übergeben werde, das sich zu seiner Detention innerhalb des französischen Lazareths bereit erklärte. Um drei Uhr Nachmittags wurde die Convention unterzeichnet, um vier Uhr ward Costa ausgeschifft und nach dem französischen, von hohen Mauern umgebenen Lazareth gebracht. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich am Ufer und in den Straßen versammelt und begrüßte sein Erscheinen mit lautem Jubel, die Flüchtlinge schienen halb wahnwitzig in ihren Exclamationen und Freudenbezeugungen. Am selben Abend fand man in einer Straße die Leiche des Schankwirths Andrea, von vielen Dolchstichen durchbohrt.

Nach zwei Tagen war die Haft Costa's bereits eine sehr milde und es gelang Welland, durch Vermittelung des amerikanischen Consuls eine längere Unterredung mit dem Ungar zu haben, in Folge deren er den Freunden auf dem Pagus mittheilte, daß er zur Abreise bereit sei.

Am 6. Juli führte sie eine griechische Barkasse nach Tenedos und Dardanelli.

Fußnoten

1 Lange Rohrpfeife von Weichsel- oder Jasminholz. Nargileh ist die biegsame Wasserpfeife.

2 Hauptmann der Polizeisoldaten, Khawassen.

3 Die heiligen Stätten sind Kirchen (9 an der Zahl), welche an den Orten, wo die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben Christi vorgefallen, erbaut wurden. Der Streit über den Besitz derselben zwischen der römischen und griechischen Kirche, die von Frankreich und Rußland vertreten werden, ist sehr alt. Die von Frankreich beanspruchen Anrechte datiren von einer im 16. Jahrhundert zwischen Franz I. und Soliman dem Großen abgeschlossenen Capitulation, von dem Hattischeriff von 1690 und der Capitulation von 1740; die der griechischen Kirche gründen sich auf andere Dokumente.

4 Die Schlußerklärung seiner Note, die wegen der darauf basirten späteren Kriegsereignisse wichtig ist, lautet: »Daß die Verweigerung einer Bürgschaft für die griechisch-russische Kirche der kaiserlichen Regierung in Zukunft die Pflicht auferlege, sie in ihrer eigenen Macht zu suchen, und daß der Kaiser jede Verletzung des Status quo der griechischen Kirche als eine Verletzung des Geistes und des Buchstabens der bestehenden Verträge und als eine feindselige Handlung gegen Rußland betrachten werde, welche Sr. Majestät die Pflicht auferlege, zu Mitteln zu greifen, die er in seiner beständigen Sorge für die Stabilität des türkischen Reiches und in seiner aufrichtigen Freundschaft für Se. Majestät den Sultan und dessen erhabenen Vater stets gewünscht habe, vermeiden zu können.«

5 Möge der Leser nicht etwa in der Wahl der nachfolgenden Erzählung eine Parteilichkeit, eine Absicht und Tendenz erblicken. Der weitere Verlauf des Buches wird ihm zeigen, wie weit der Verfasser von jeder einseitigen Auffassung und Parteinahme entfernt ist und wie er seine Aufgabe darin gefunden hat, nach beiden Seiten einen tiefen Blick auf die Höhen und Tiefen zu gewähren. Er hat die hohe Pflicht, Wahrheit zu geben, Thatsachen, welche die Erscheinungen der Gegenwart erläutern, und die Erzählung, die hier vorliegt, ist eine solche Thatsache, ein Stück Historie, das die gegenseitige Stellung der beiden Völker genügend charakterisiren und erläutern kann. Wer zweifelt an den Details, der lese die englischen und französischen Zeitungsberichte vom Frühjahr 1822, und er wird die Wahrheit bestätigt finden. – Auf der eben beendeten großen Kunstaustellung in Paris hat ein mit der goldenen Medaille gekröntes großes Bild von Delacroix die Schrecken dieser Scenen, »Die Massacre von Chios,« mit entsetzender Schilderung in das Gedächtniß des Publikums zurückgerufen.

D.V .

6 Das Harz der Mastixbäume, das, mit Zucker versetzt, die beliebteste und in großen Quantitäten consumirte Näscherei der türkischen Frauen bildet. Auf Chios werden überhaupt die feinsten und beliebtesten Confitüren des Orients gefertigt und in den Handel gebracht, z.B. eingemachte Rosenblätter, Geranium, Weichseln, Limonen, Cedern, Quitten etc.

7 Silber, ungefähr 60,000 Thlr. Ein Beutel Gold gegenwärtig 10,000 Thlr.

8 Elpis, die Hoffnung, eine Abtheilung der großen Verbrüderung der Hetärie, welche sich über alle griechisch – slavischen Völkerschaften erstreckte und hauptsächlich die Erhebung von 1821 vorbereitete.

9 Der neugriechische Name für das Aegeische Meer.

10 Er meint die Donau. Fürst Alexander Ypsilanti, der in der russischen Armee als General – Major diente, überschritt auf den Ruf seiner Landsleute mit einigen hundert Mann am 6. März 1821 den Pruth und erhob die Fahne des Aufstandes in der Moldau und Walachei.

11 Im Treffen bei Dragachan (19. Juni).

12 Es ist Thatsache, daß der Divan damals damit umging, die ganze griechische Nationalität zu vernichten. Das energische Auftreten des russischen Gesandten Grafen Stroganoff, der am 31. Juli die diplomatischen Verbindungen aufhob und mit der Drohung eines Krieges nach Odessa abreiste, unterbrach allein dies Vertilgungssystem, das bereits die furchtbarsten Grausamkeiten hervorgerufen hatte. Erst Mitte des Jahres erlangten die europäischen Gesandten, namentlich Lord Strangford, daß dem Morden Einhalt gethan und die Muselmänner entwaffnet wurden.

13 Das Oberhaupt der orientalischen Kirche wurde am Osterfeiertage in seinem Festgewande vor der Hauptpforte seiner Kirche aufgeknüpft.

14 In den ersten Tagen des April.

15 Ali Pascha von Janina, der später von dem Pascha von Morea, Churschid Achmed, durch Verrath besiegt und erwürgt wurde.

16 Ortsvorstände.

17 Er wurde im Juni von der neugebildeten Regierung in Morea deswegen verbannt.

18 1822.

19 Historisch, wie überhaupt alle hier folgenden Angaben.

20 Auch Chios streitet um den Ruhm, die Geburtsstätte Homer's zu sein. Außerdem waren der tragische Dichter Jon, der zur Zeit des macedonischen Philipp lebende Geschichtsschreiber Theopompus, der Sophist Theokrit und der Arzt Metrodorus Eingeborene von Chios.

21 Eine historische Scene unter den tausend ähnlichen jener furchtbaren Metzelei.

22 Eine – historisch – vielfach vorgekommene Marter!

23 Ein auf dem asiatischen Ufer liegender nur durch eine Meerenge von Chios getrennter Hafen.

24 Der Smyrna'er Spectateur oriental vom 24. Mai meldet, daß bis zum 20. Mai schon dreißigtausend Weiber und Kinder als Sclaven zollamtlich ausgeführt waren. – Es ist Thatsache, daß von einer wohlhabenden Bevölkerung von 120000 Seelen etwaneunhundert auf Chios zurückblieben.

Die Flotten
[217] Die Flotten.

Troja! – welche Erinnerungen, welche Jahrtausend alte Historie knüpfen sich an diesen Namen! Wo ist der gebildete Mensch Europa's, aus dessen Jugendstudien nicht jene sagenumgürtete Welt herüberklingt, der götterbevölkerte Olymp, die Peloponiden, Agamemnon, des Atreus Sohn, der lanzenschwingende zornige Held; – Aias der Telamonier;Nestor, das dritte Geschlecht der Menschen mit seiner Weisheit beherrschend; – Diomedes, den Kampf mit den Göttern nicht scheuend; – Odysseus mit seinen wunderbaren Fahrten, und endlich der schnellfüßige Achill, unwiderstehlich in der Schlacht und furchtlos im Rath, unbändig in seinem Zorn, mit dem er Patroklos, den geliebten Jüngling, rettet, und zärtlich in der Liebe zur schönen Sclavin Briseïs und der göttlichen Mutter, der Nereide.

Und dort am meerumgürteten Strande das hohe Ilion selbst, – der mächtige Gipfel des Ida, auf demParis die schöne Griechin gewann und Aeneas das Geschlecht der Dardaner beherrschte. Priamos, Hekuba, Kassandra die Unheilverkündende und der Liebling Apollo's, der männerwürgende furchtbare Hektor, wie er in banger Ahnung von Andromache scheidet zum Kampf mit dem Peliden! Sind das nicht Namen und Erinnerungen, die jede Phantasie bewegen?

Doch nicht allein die Erinnerungen des gebildeten Europäers sind es, die diese jetzt öde Stätte bevölkern: dem ganzen Volke der Hellenen sind die Gesänge seines großen Dichters wohl bekannt, und der niedere Grieche der Inseln, der Matrose, der auf der Tartane das Meer durchstreift, naht mit Ehrfurcht jener Stelle und fühlt sich in seinem Elend stolz auf die Namen der großen Vorfahren.

[218] Die Bucht von Troja – in der Zeitgeschichte bekannt unter dem Namen der Besika-Bai – liegt 1 nordöstlich gegenüber der Insel Tenedos, sich in weitem Bogen in das kleinasiatische Ufer hineinziehend. Ein Hafen auf der Westseite der hohen und felsigen Insel wird als derjenige bezeichnet, in dem sich die griechischen Schiffe nach ihrem Abzug verbargen, um nach des Odysseus gelungener List im Dunkel der Nacht zurückzukehren.

Die Meerenge zwischen Tenedos und dem asiatischen Ufer ist an den schmälsten Stellen etwa eine halbe deutsche Meile breit. Die Nordostseite der Bai wird von einem breiten Landvorsprung gebildet, dessen nördliches Ufer den Eingang der Dardanellen beherrscht. Von der hier gelegenen kleinen, mit starken Festungswerken versehenen Stadt Dardanelli erreicht das Auge noch die Bai.

Alexandria Troas, von den Türken Eski Stambul genannt, liegt südlich an der großen Bucht und bietet noch, zum Theil mit einem Eichwald bedeckt, eine interessante und reiche Trümmerwelt. Hunderte von Säulen sind in allen Richtungen zerstreut um den alten Hafen, eine Reihe davon steht unter Wasser und schäumend bricht sich die Brandung an ihnen. Ungefähr zweitausend Schritt vom Meere ab erheben sich noch die großartigen Trümmer und schönen Bogen eines Gebäudes, das die Schiffer den Palast des Priamus zu nennen pflegen. Das alte Troja ist nordöstlich von der Bucht landeinwärts gelegen, im Thal des Skamander (Mendere). Nur wenige Erdwälle und künstliche Hügel geben dem Alterthumsforscher hier einen Halt. Das Ufer ist am Meeresstrande flach und sanft aufsteigend. Dann folgen waldige Anhöhen, die zu einem Amphitheater von Bergen emporsteigend, unter denen der schneebedeckte Gipfel des Ida, das Thal des alten Skamander umkreisen.

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Wiederum lag, von Westen gekommen, eine Kriegsflotte auf den blauen Wellen der Trojabai, – nicht jene zwölfhundert Schiffe, die einst von den ionischen und ägeischen Küsten die griechischen Helden hierhergeführt, sondern die riesigen hölzernen Rosse Alt-Englands, der Stolz des stolzen Großbritanniens, die kühn emporstrebende Seemacht Frankreichs, die alte Rivalin zu überflügeln drohend. Kinder eines andern Jahrtausends, einer neuen Zeit im[219] Schaffen und Denken! Die riesigen Kolosse mit den drei- und vierfach übereinander starrenden Reihen von Feuerschlünden, bewegt durch die dämonische Kraft des Dampfes oder der wallenden Segel, boten sicher einen andern Anblick als die griechischen Schiffe vor fast dreitausend Jahren, doch Land und Meer und Himmel und Felsen waren noch dieselben wie damals, als sie die Achaïer getragen und des Protesilaos Blut zuerst den Sand des trojanischen Ufers färbte.

Am 23. Juni erschien die englische Flotte auf die Ordre des britischen Gesandten in Constantinopel, Lord Stratford de Redcliffe, unter Vice-AdmiralDundas am Eingang der Dardanellen und warf in der Besika-Bai Anker. Sie bestand aus zwei Dreideckern, vier Zweideckern, einer Segelfregatte und vier Dampffregatten, nebst einigen kleinen Schiffen. – Bald darauf erschien auch die französische Flotte unter Vice-Admiral La Susse und legte sich im Halbkreis neben die englische. Sie zählte acht Linienschiffe, darunter die prachtvollen, das englische Schiff Sanspareil weit überragenden Schraubendampfer Napoleon und Charlemagne, und fünf Dampffregatten.

Das Verhältniß war damals zwischen beiden Flotten durchaus kein sehr freundschaftliches und versprach wenig für die vielgepriesene »entende cordiale«. La Susse war ein bitterer Gegner der Engländer und nur deshalb später auf dem Ankerplatz erschienen, um die englischen Schiffe bei ihrer Ankunft nicht begrüßen zu müssen. Die Stellung der beiden Admirale hatte bereits zu mehreren Verwickelungen und zur Abberufung von La Susse geführt, dessen Dienstzeit abgelaufen war. In seine Stelle ward zum Commandanten des Geschwaders der Seepräfect von Toulon, Vice-Admiral Hamelin, ernannt.

Auf der Rhede von Brest wurde bereits ein zweites großes Geschwader unter Vice-Admiral Bruat ausgerüstet, gleichwie die Engländer in Spithead mit Anstrengung thätig waren.

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Die Schiffe lagen in drei großen Gruppen am Ufer der Bai entlang vor ihren Ankern. Einige Fregatten und kleinere Schiffe kreuzten durch die Bucht, um unter der leichten Brise ein Segelmanöver zu machen.

Wir führen den Leser an Bord einer der erstern, der englischen Fregatte Niger.

[220] Die Mannschaft der Wache war in voller Thätigkeit beim Manövriren, denn der erste Lieutenant verstand sie in Athem zu halten und hatte Augen für jeden Fehler. – Während er auf dem Gangweg auf- und abschritt, Takelwerk und Segel im Auge, lehnte Capitain Warburne an der Gallerie des Hinterdecks in der Nähe des Steuers mit einem Herrn in feiner Civilkleidung.

Warburne war ein alter Offizier, der seine Midshipmanzeit noch im napoleonischen Kriege gedient und langsam durch eigenes Verdienst ohne Empfehlung und Protection seinen mühsamen Weg gemacht hatte. Mit dem Aerger eines alten Seemannes schaute er auf die Neuerungen und Verbesserungen, die die Zeit gebracht und die alle seine Gewohnheiten über den Haufen zu werfen drohten. Vor Allem waren ihm die Vorzüge des Dampfes ein Gegenstand ewigen Grolls, und die Sicherheit eines Segelschiffes ein Lieblingsthema seines Gespräches. Der Geist des Commandirenden hatte sich so zu sagen auf die ganze Mannschaft verbreitet, und kaum konnte es ein eigensinnigeres gröberes Schiffsvolk in der ganzen Flotte geben, sobald es mit den Mannschaften der Dampfschiffe zusammenkam.

»Sehen Sie die französischen Halunken an,« sagte der Capitain ärgerlich, »reiten sie nicht auf ihren Ankern, als hätten sie ganz Alt-England schon in der Tasche? Ich begreife das Ministerium nicht, wie man uns hierherschicken kann, um mit diesen Crapauds unnütz in der Sonne zu braten.«

»Sie sind ärgerlich, Warburne, aber Sie thun Unrecht, die französische Flotte zu tadeln. Ich habe mich bei den Bootfahrten überzeugt, sie befindet sich in einem vortrefflichen Zustande, den ich unseren eigenen Schiffen wohl wünschte. Es ist eine Schmach für England, daß unsere Flotte offenbar gegen die französische zurücksteht.«

»Ha, pfeifen Sie auch auf dem Winde, Maubridge,« meinte grämlich der alte Seemann. »Der Teufel hole die Froschfresser mitsammt ihren Kohlenschiffen. Alle Ehre und Reputation auf dem Meere geht zu Grunde, seit der verdammte Dampf auf blauem Wasser regiert, wie er sich auf dem Lande mausig macht. Gott verdamm' meine Augen, ich glaubte, ich hätte etwas Besseres an Ihnen erzogen, als einen Bewunderer der schwarzen Rauchfänge. Was ist es für eine Kunst noch, ein Schiff zu regieren, seit unten im Bauch der schmutzigste Maschinist den Capitain spielen kann! [221] Aber die Welt ändert sich; seit Sie Ihren Bruder beerbt haben und im Unterhause sitzen, sind Sie so närrisch wie die Andern. – Dampfschiffe statt der ehrlichen Leinwand und die Franzosen seitlängs von uns, ohne daß wir eine ehrliche Breitseite mit ihnen tauschen dürfen, Sie werden's erleben, das bringt der Flagge mit dem Doppelkreuz kein Glück.«

Maubridge – der Mann in Civil war der Baronet, dessen Bekanntschaft wir im Landhause zu Bournabat beim Angriff der Räuber gemacht haben – lachte.

»Sie sind und bleiben der Alte, Warburne,« sagte er, »und werden sich nie in die Forderungen der Gegenwart schicken, obschon Sie deren Nutzen einleuchtend vor Augen sehen. Passen Sie auf, es dauert nicht lange mehr, so wird Ihre alte Fregatte abgezahlt und kommt als Wachtschiff nach Plymouth oder Spithead. Wir sind viel zu weit hinter den Franzosen zurückgeblieben in der langen Friedenszeit und sie haben uns in Zahl und Einrichtung der Dampfschiffe überflügelt, gerade wie die Amerikaner.«

»Ja, ja, ich seh's, die alten Eichenbalken, die so lange die britische Flagge durch alle Meere zum Siege getragen und gefürchtet gemacht haben, werden aus Halbsold gesetzt. Alles soll Eisen sein, Alles mit übermäßiger Geschwindigkeit gehen, – nur die Beförderung eines ehrlichen Mannes geht den Schneckengang. Es ist keine Dankbarkeit mehr in der Welt, und das rächt sich.«

»Ei, Warburne, Sie thun wieder Unrecht. Sehen Sie nicht in mir das Gegentheil? – Hab' ich nicht gleichfalls meinen jüngeren Bruder in Ihre Obhut gegeben, um einen tüchtigen Seemann aus ihm zu bilden, und bin ich nicht schon seit drei Wochen Ihr Gast und langweile mich mit Ihnen hier, bloß um Ihnen meine alte Anhänglichkeit zu zeigen, nachdem ich in Smyrna schon so viele Zeit verloren habe?«

Der Capitain schielte ihn von der Seite an.

»Hm! Der alte Adams – den ich wegen der Einkäufe in Smyrna zurückließ – erzählt ganz kuriose Dinge von der Weise, wie Sie Ihre Zeit verloren haben, und daß Sie wohl thaten, die Sicherheit eines britischen Kriegsschiffs zu suchen. Hören Sie, Maubridge, ich habe Sie noch immer lieb, weil Sie ein braver Bursche waren, der im Sturm seinen Mann stand, d'rum warne ich Sie, hüten Sie sich vor den Weiberröcken, sie sind eben so [222] falsch wie die Franzosen und haben noch keinem Manne Gutes gebracht.«

»Sie sind ein alter Hageprunk, Warburne, und Adams ist ein Schwätzer, der sich von einem Knaben, so hoch, hors de combat setzen ließ. Aber sehen Sie, wie jener französische Dampfer auf uns zukommt, es ist, als ob der Bursche uns verhöhnen wollte mit seiner Beweglichkeit.«

Warburne schaute nach der Flotte zurück. Eine der kleineren französischen Dampffregatten hatte ihren Ankergrund verlassen und strich gleich einem Schwan stattlich hinter ihrem Spiegel durch die Wellen.

»Master Hunter!«

Der erste Lieutenant kam nach Hinten.

»Sir!«

»Lassen Sie gefälligst das Schiff umlegen und nach Tenedos hinüber halten. Wir wollen dem französischen Maulaffen da nicht den Spaß machen, uns in ein Wettfahren mit ihm einzulassen.«

»Sehr wohl, Sir!«

Der Lieutenant gab den Befehl an den Offizier der Wache und das Schiff nahm seinen veränderten Cours im rechten Winkel von seinem bisherigen Lauf und schob nach der Insel zu. – –

Am Vorderkastell standen in mehreren Gruppen die Matrosen, die zu den abgelösten Wachen gehörten, und schauten über die Brüstungen hinaus auf die manövrirenden Schiffe oder hinauf zu den Segeln, die sich im frischen Landwind blähten. Die Brise, die durch das Felsenthor der Dardanellen bläst, ist oft so stark und anhaltend, daß kein Segelschiff den Eingang gewinnen kann und häufig hunderte von Fahrzeugen Wochen lang vor der Meerenge liegen bleiben müssen, um auf das Umsetzen oder Aufhören des Nordwindes zu warten.

Die Matrosen waren fast durchgängig von jener Bullenbeißerfigur, die den Seeleuten Alt-Englands eigen ist. Man erkannte deutlich jedoch jene Figuren, welche aus einem andern Lebensberuf durch Zufall oder das schmachvolle Recht der Pressung darunter gerathen waren, obschon es ein eigenthümlicher Zug der Briten ist, daß mindestens zwei Drittheile dieser Unglücklichen nach kurzer Zeit schon mit ihrem Loose sich ausgesöhnt zeigen, alle frühern Verhältnisse vergessen und oft die besten Seeleute werden.

[223] Die Hände in den Hosentaschen, ging die vierschrötige Gestalt des Deckmeisters Adams von einem Gangweg zum andern, mit forschendem Blick ringsum die Ordnung prüfend.

»Herunter von dem Hühnerkasten, Sir, wenn's beliebt, Master Hunter sieht eben hierher. Warte, Hundesohn, kannst Du Deine schmutzigen Pfoten nicht wo anders hin tragen?«

Ein Hieb mit einem Tauende aus dem Vorrath der weiten Tasche nach einem unglücklichen Schiffsjungen, der mit einem Eimer vorüberhuschte, begleitete die Worte. Die erste Anrede war jedoch an drei junge Männer gerichtet, die auf einem der Vorderdeck-Hühnerkasten hockend, über Hängemattenwandung hinausschauten.

»Sei nicht so bärbeißig, Alter, wir werden Deinem Kasten kein Loch in den Rumpf stoßen. Schau', Gosset, wie sie daher kommt! Ist es nicht eine Schande, daß wir in diesem alten wurmstichigen Segelboot umherkrebsen müssen, wie ein Hummer am Lande?«

»Es ist unverantwortlich von der Krone Großbritannien, daß eine Tischgesellschaft so gescheuter und stattlicher Mid's 2, wie die ganze Flotte sie nicht zählt, noch immer verurtheilt ist, Raen spleißen, die Stagen reffen, Top- und Vortopsegel ansetzen zu lassen, den ganzen Tag einem ersten Lieutenant zu Diensten zu sein, je nachdem's ihm einfällt, unter doppelt oder einfach gerefften Linnen zu segeln, kurz auf einem Segelschiff zu dienen. Hol' der Teufel all' die Arbeit.«

Der Deckmeister rollte grimmig das Prüntjen aus einer Backe in die andere und spritzte seinen Groll mit der eklen Flüssigkeit durch die nächste Stückpforte.

»Mit Verlaub, Sir, wollen Sie jetzt von meinem Kasten herunter oder nicht? Aus Ihnen wird im Leben kein ordentlicher Seemann werden, Master Gosset, sonst würden Sie nicht solches Wischiwaschi über ein Schiff zu Markte bringen, das hundert solche Leute aufwiegt wie Sie und Master Frank.«

Die Midshipman räumten lachend den Kasten. Es waren drei junge Burschen von 14 bis 17 Jahren, von denen der Eine große Aehnlichkeit in den Zügen mit Sir Maubridge auf dem Hinterkastell wies. Der Zweite, Gosset, war ein ziemlich schmächtiger Knabe von affenartiger Beweglichkeit, während der Dritte und[224] Aelteste eine kräftige Figur mit einem ziemlich gemeinen stupiden Gesicht zeigte.

»Segel und Dampf ist die schwache Seite von Meister Adam's, grade wie beim Capitain selbst,« höhnte Gosset. »Ich wette, nur unser erster Lieutenant ist meiner Ansicht und verwünscht diesen alten Segelkasten, weil er ihn schon zwei Mal bei der Beförderung im Stich gelassen hat. Ich quittire den Dienst, wenn man den Niger nicht bald abtakelt.«

»Vorläufig werden Sie hinunter gehen und das Verdeck räumen, Sie junger Halunke,« sagte eine strenge Stimme hinter ihm. Es war der erste Lieutenant, der unbemerkt nach vorn gekommen. »Kümmern Sie sich um Ihre eigene Carriere, die Sie höchstens in den Mastkorb führen wird, und danken Sie Gott, daß man einen so spindelbeinigen affengesichtigen Burschen auf Ihrer Majestät Fregatte in Dienst genommen hat. Hinunter auf's Mitteldeck, wer nicht den Dienst von Ihnen hat.«

Die Midshipman tauchten eilig durch die Luke, denn Master Hunter verstand keinen Spaß. Auch die Matrosen rings umher drückten sich ihm aus dem Wege, oder nahmen irgend eine Beschäftigung vor. Der dritte Lieutenant, welcher die Wache hatte, rapportirte vier Glocken. Der erste Lieutenant ging nach hinten und that das Nämliche, und der Capitain befahl, zum Essen zu pfeifen. Der Befehl lief auf gleiche Weise zum Hochbootsmann und der Ruf: »Alle Mann zum Essen!« erscholl durch die Luken.

Es ist dies eines der buntesten Bilder selbst auf einem englischen Schiffe. Die Tischgesellschaften sammeln sich und nehmen ihre Plätze ein, um Heerd und Küche drängen sich die Maate, die für jede die Portionen in Empfang zu nehmen haben und die schwarzen Gehilfen des Kochs haben alle Hände voll zu thun. Der Stewart der zweiten Kajüte läuft eilig hin und her, um den Tisch der Offiziere zu besorgen, während der des Capitains höflich seine Einladung für die Tafel desselben macht, die um 3 Uhr beginnt.

»Wer ißt heute noch beim Capitain?« fragte der Zahlmeister den Eilenben.

»Der zweite Lieutenant, Sir, und Master Duncombe, der Doctor. Auch der junge Maubridge.«

»Schön! bringen Sie dem Capitain meinen Empfehl und ich würde erscheinen.«

[225] Am Bord eines Schiffes weigert man sich selten, die Einladung eines Capitains anzunehmen.

Auf dem Hinterdeck trat der erste Lieutenant zu seinem Vorgesetzten.

»Der Dampfer hat gleichfalls gewendet, Sir, und scheint uns absichtlich folgen zu wollen. Es ist die ›Veloce‹, Sir.«

»Lassen Sie die Mannschaft ihr Essen nehmen, aber die Mittelwache in Thätigkeit bleiben. Aendern Sie gefälligst von Zeit zu Zeit den Cours und vermeiden Sie einen Segelstrich mit dem Franzosen. Es ist offenbar, daß der Narr uns seine Schnelligkeit zeigen will.«

Der erste Lieutenant tippte an den Hut und ging, um das Commando an den zweiten Lieutenant zu übergeben, der die Mittelwache hatte. Capitain Warburne spazierte mit seinem Gast auf dem Deck weiter umher.

Die »Veloce 3« schoß unterdeß näher heran, stattlich und leicht, wie ein Schwan durch die Wellen streift, einer jener schönen zierlichen Bauten, die selbst das Auge eines britischen Seemannes entzücken mögen. Es ist bekannt genug, daß zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts die englische Marine ihre besten Schiffe den siegreichen Gefechten mit der französischen Marine verdankte.

Dicht unterm Spiegel des Niger wendete der Dampfer und schoß an seinem Backbord vorüber, so daß alle auf den Decks befindlichen Gruppen gegenseitig vollständig gesehen werden konnten.

Wir haben die englische Fregatte bereits beschrieben; versetzen wir uns einige Augenblicke vor der Begegnung auf das Hinterdeck des französischen Dampfers.

Alle, die beim Beginn des großen Krieges die Gelegenheit hatten, die britischen und französischen Kriegsschiffe zu besuchen, sind erstaunt gewesen über den großen Unterschied, der sich auf den Schiffen beider Nationen bemerklich machte, und den überwiegend vortheilhaften Eindruck, welchen die französische Marine gewährte. Während Offiziere und Schiffsvolk auf den britischen Schiffen fast durchgängig etwas Steifes oder Plumpes, ja Brutales an sich haben, und in dieser Art sich der ganze Dienst [226] kamaschenartig regelt und abspinnt, erscheint auf den französischen Schiffen Alles bei strenger Regelung und Ordnung frisch, frei und beweglich. Es herrscht statt des drohenden Gespenstes der neunschwänzigen Katze, welche noch immer und allein das Thier im britischen Matrosen zähmen kann, ein natürlicher Geist anständiger Ordnung und Disciplin unter den französischen Seeleuten, der der Individualität eines Jeden vollen Spielraum läßt. Leben und Heiterkeit, ein Scherz, ein Spaß mitten im regen Diensteifer, kurz ein gewisses point d'honneur, das nicht bloß im Bulldoggenmuth besteht, herrscht auf dem Vorderdeck eines französischen Kriegsschiffs.

Noch greller tritt der Unterschied in den beiderseitigen Offizier-Corps und in dem Verhältniß der Vorgesetzten zu den Untergebenen hervor. Wenn man Gentleman's suchen will, so möge man sie auf dem Deck der französischen Schiffe suchen, vom jüngsten Aspiranten bis zum Capitain ist es Jeder unbestritten. Ohne der Achtung und dem Range Etwas zu vergeben, herrscht zwischen den Offizieren des Schiffes ein überaus freundlicher und kameradschaftlicher Ton. Bei den zahlreichen Ausflügen mit den Dampfern nach Constantinopel, wie später, als die Flotten im Bosporus ankerten, sah man die älteren und jüngsten Offiziere stets in Gesellschaft, Arm in Arm, heiter und plaudernd und überall leicht Bekanntschaft machend, während die Engländer impertinent und abgeschlossen sich zeigten und das Schiffsvolk, jeder Ausschweifung hingegeben, sich so roh und brutal gegen die Bevölkerung benahm, daß häufig blutige Händel daraus entstanden. Während die englischen Schiffe am Bosporus lagen, wurden thatsächlich, auf Befehl des Seraskiers, alle Abende und Morgen die betrunkenen Matrosen von den türkischen Wachen auf den Gassen aufgesammelt und in Böten am Bord der nächsten Schiffe abgeliefert. Wir finden später einige Scenen dieses Treibens. – –

Auf dem Hinter- und Vorderdeck der Veloce waren Sonnenzelte ausgespannt, unter deren Schutz Offiziere und Mannschaft in zahlreichen Gruppen versammelt waren. Der Capitain, ein Mann von einigen dreißig Jahren, unterhielt ein Gespräch mit zwei Fremden, von denen der Eine die griechische Kleidung trug.

»Als wir uns in Paris trafen, Doctor,« sagte er lachend und blies den Rauch der Papiercigarre in die Luft, »hätten wir Beide schwerlich geglaubt, daß unser nächstes Wiedersehen am [227] Grabe des Achilles stattfinden werde. Der Kaiser hat uns seitdem tüchtig umhergeschickt und man scheint mir auch hier Adjutantendienste bei der Flotte aufbürden zu wollen. Wäre eine Vacanz auf meinem Schiff und hätten wir hier nicht einen so lieben alten Freund, der vortrefflich mit unserem innern und äußern Menschen umzugehen weiß,« – er reichte freundlich dem unfern mit mehreren Offizieren sich unterhaltenden Schiffsarzt die Hand – »so ließe ich Sie wahrhaftig nicht wieder fort, am wenigsten zu dem schlimmen Geschäft, das Sie vorhaben.«

»Der Mensch kommt und geht, Capitain, Sie wissen das am besten,« sagte Welland, denn er und Caraiskakis waren es, die wir am Bord der Veloce wiedertreffen. »Freilich möchte es schön sein, diese herrlichen Gewässer auf dem Schiff eines Freundes zu durchstreifen, wenn auch die Freundschaft oder Ihre Güte sich nur aus der Bekanntschaft im Café Carozza herschreibt, das wir Beide besuchten, während Sie im Marine-Ministerium antichambrirten. Doch freute ich mich aufrichtig, Capitain, als ich in Dardanelli die Namen der ankernden Schiffe erfuhr und darunter den des Ihren, nicht bloß weil ich Unterstützung von Ihnen in dem Zweck, der mich hierher führt, hoffte, sondern auch weil es mir Vergnügen machte, Sie wiederzusehen.«

»Merci! ich wünschte, ich könnte meine Freundschaft Ihnen nur energischer beweisen, als durch diese Kreuz- und Querfahrt hinter einem alten englischen Segelschiff. Doch Sie wissen bereits, Doctor, die Ordres der Admiralität sind sehr streng und wir müssen Alles vermeiden, was irgend Veranlassung geben könnte, die entente cordiale auch im Kleinen zu stören.«

»Ich würde unter keinen Umständen auch weiter Ihren Beistand annehmen, Capitain Fontain. Sie haben schon mehr als genug gethan, indem Sie uns Ihren allgemeinen Schutz gewähren. Ich kann mir nicht denken, daß wir gezwungen werden sollten, uns wirklich um Schutz an die französische Ehrenhaftigkeit zu wenden, worauf ich als Bürger Frankreichs dann nicht ohne Anspruch bin.«

»Und auf meine Ehre, Sie sollen ihn finden, und sollt' es mein Patent kosten! – Da sind wir unterm Spiegel der Fregatte. Monsieur Chaleron, haben Sie die Güte, steuerbord wenden zu lassen und an der Fregatte zu stoppen.«

Der zweite Lieutenant eilte die Treppe über der Maschine hinauf.

[228] »A dorit! – Halt!«

Die Fregatte schob langsam am Steuerbord des Niger entlang.

Der französische Capitain stand mit dem Sprachrohr in der Hand auf den Hängemattengittern.

»Bon jour, Herr Kamerad! Ist's Ihnen gefällig, beizulegen? ich habe Besuch für Sie an Bord.«

Capitain Warburne salutirte eben nicht besonders freundlich den Gruß.

»Zu Diensten, Herr Capitain! Braßt die Segel! Steuer umlegen!«

Die Fregatte hielt in ihrem Lauf, während vom französischen Dampfer bereits ein Boot heruntergelassen wurde.

»Monsieur Bertaudin, Sie werden diese Herren begleiten und mit meinem Boot auf ihre weiteren Befehle warten. Adieu, Doctor; ich hoffe, Sie zum Diner wieder an Bord zu sehen.«

Welland und Caraiskakis, von dem Aspiranten geleitet, bestiegen das Boot und schoben ab, während sich der Dampfer durch einige Raddrehungen weiter von dem Engländer zurücklegte. Nach einigen Ruderschlägen waren sie seitlängs der englischen Fregatte und stiegen die Schiffswand empor.

»Sir, ich habe die Ehre, Sie zu begrüßen. Darf ich um Auskunft bitten, ob Baronet Maubridge sich an Bord Ihrer Fregatte befindet?«

»Zu Befehl!«

»Sie würden uns sehr verbinden, Sir, wollten Sie die Güte haben, ihm diese Karte zu schicken und ihm sagen zu lassen, daß wir um eine Unterredung bäten.«

Master Hunter lud die Fremden ein, näher zu treten, und schickte den nächsten Midshipman mit dem Auftrage an den Capitain.

»Der Besuch gilt Ihnen, Maubridge,« sagte dieser. »Wollen Sie sich meiner Kajüte bedienen, so lassen Sie die Herren dahin führen.«

Der Baronet hatte die Karte des Doctors gesehen.

»Ich kenne den Herrn nicht, – wenn Sie erlauben, empfange ich den Besuch hier.«

»Wie Sie wollen. Führen Sie die Herren hierher.«

Einige Augenblicke darauf betraten Welland und der Grieche das Hinterdeck. Der Capitain lud sie ein, auf den umherstehenden [229] Schiffestühlen Platz zu nehmen, und trat an das Bollwerk zurück.

»Darf ich Sie bitten, mein Herr, mir zu sagen, was mir die Ehre verschafft ...?«

»Wir kommen, Sie um einige Auskunft in Angelegenheiten Ihrer Gemahlin, Lady Maubridge, zu bitten,« sagte Welland laut genug, um von dem Capitain und den Leuten am Steuer gehört zu werden.

»Meiner Gemahlin, Sir? – Sie irren wohl!« Die Stirn des Baronet färbte sich dunkelroth.

»O nein, Sir; ich meine Lady Diona Maubridge, geborene Grivas.«

Der Baronet suchte gewaltsam seiner Verwirrung Herr zu werden.

»Ich wiederhole Ihnen, daß Sie sich irren; doch bitte ich, mir zu sagen, was oder welches Recht Sie zu der Anfrage veranlaßt.«

»Sogleich, Sir. Mein Auftrag besteht darin, Sie im Namen der Lady Maubridge um die Aushändigung des Ehecontracts oder einer vidimirten Abschrift zu bitten.«

Der Engländer schwieg einige Augenblicke.

»Ich muß Ihnen wiederholen, daß Sie sich in Betreff einer Lady Maubridge täuschen. Ich bin nicht verheirathet.«

Der Grieche machte eine heftige Bewegung, doch Welland legte die Hand auf seinen Arm.

»Sie haben mir versprochen, mir die Angelegenheit zu überlassen.« – Er wandte sich wieder zu dem Baronet. »Wir waren einigermaßen auf diese Antwort gefaßt. Doch erlauben Sie mir eine andere Frage. Sie kannten unzweifelhaft eine junge Dame im Hause des Kaufmanns Andriarchos in Smyrna, Diona Grivas.«

»Ja wohl, mein Herr.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Diese Frage ist wirklich seltsam, doch muß ich gestehen, daß Sie mich selbst verbinden würden, wenn Sie mir über ihr Schicksal und ihren Aufenthalt Auskunft geben könnten.«

»Die Dame wurde in der Nacht des 23. Juni aus dem Landhause des englischen Vice-Consuls in Burnabat und aus Ihrem Schutz entführt, Sir Maubridge.«

[230] »Sie sind sehr gut unterrichtet, mein Herr. Um es kurz zu machen, sind Sie etwa der Sendbote des Banditen, der in meine Wohnung einbrach, und kommen Sie, um irgend ein Lösegeld für das junge Mädchen zu fordern?«

»Für Lady Maubridge, Sir. Diesmal inen Sie; wir waren es selbst, welche die Dame entführten.«

»Wie, Sir?«

»Ja wohl. Die Dame befindet sich gegenwärtig unter unserm Schutz, und in ihrer Vertretung kommen wir hierher, um Sie über das Schicksal derselben zu beruhigen und die weiteren Verhandlungen mit Ihnen zu führen.«

»Ich bin nicht gewohnt, mit den Genossen von Dieben und Mördern zu verhandeln. Danken Sie Gott, daß ich Sie nicht auf der Stelle wegen eines Angriffs auf britisches Eigenthum und des Mordes britischer Unterthanen verhaften lasse. Sie stehen auf diesem Schiff auf britischem Boden.«

»Und unter'm Schutz eines guten Freundes da drüben.« Der Doctor wies kalt nach dem französischen Dampfer. »Was das Recht auf die Dame anbetrifft, so hat Sir Maubridge das Beispiel der Entführung gegeben, und mein Freund, Herr Gregor Caraiskakis, der Stiefbruder der Dame, konnte damals noch nicht wissen, daß Sie dieselbe bereits zu Ihrer rechtmäßigen Gemahlin gemacht hatten.«

Der Baronet hatte jetzt seine volle Ruhe wiedergewonnen. Um seinen Mund zeigte sich ein kalter hochmüthiger Zug, der von Zeit zu Zeit sein sonst schönes Gesicht entstellte.

»Ah! also eine der gewöhnlichen Familienpressereien, von denen ich in Smyrna so Manches gehört! Nun wohl, meine Herren, ich gestehe, daß ich einen thörichten Streich gemacht habe. Ihr Himmel ist heiß, aber dergleichen läßt sich hier leicht in Ordnung bringen. Was verlangen Sie für die Dame, die mich einige Zeit mit ihrer Gunst beehrt hat und von der ich nur bedaure, daß sie sich so früh schon von mir getrennt hat.«

»Sir!«

»Nun ja, Sie werden denn doch nicht glauben, daß Sie von einer wirklichen Lady Maubridge sprechen. Ich bin zu jedem Ersatz bereit.«

»Sie läugnen, daß Sie das junge Mädchen unter dem Versprechen der Ehe entführt haben? daß eine Trauung oder eine [231] diese ersetzende Ceremonie im englischen Consulat stattgefunden hat und Diona Grivas Ihre rechtmäßige Gemahlin ist?«

»Was vorgefallen, Sir, darüber werde ich Ihnen keine Rechenschaft geben. Das aber mögen Sie und dieser Herr, der wahrscheinlich kein Englisch versteht und daher die Rolle des schweigenden Bruders spielt, wissen, daß ich den Anspruch auf den Namen meiner Gattin zurückweise und sie in ihrem eigenen Interesse wohl thun wird, eine so tolle Idee nicht weiter zu verfolgen.«

»Sie weigern also bestimmt die Anerkennung.«

»Ich werde mich nicht so lächerlich machen, darauf weiter einzugehen; haben Sie Beweise, so legen Sie Ihre Klage bei dem britischen Gesandten ein. Und nun, meine Herren ...«

»Einen Augenblick noch,« sagte der Grieche, indem er auf ihn zutrat. »Sie irrten, wenn Sie glaubten, ich verstände Ihre Sprache nicht. Ich hoffe, daß Sie eben so gut die Sprache eines Mannes von Ehre verstehen werden, der Ihnen sagt, daß Baronet Maubridge wie ein ehrloser Schurke gegen ein schutzloses Mädchen gehandelt hat!«

»Sir!«

»Die Willkür und das Unrecht, welche Ihre Nation dem griechischen Volk anthut, müssen wir leider tragen, aber Gott sei Dank, noch ist der Einzelne im Stande, das angethane Unrecht zu rächen. Ich werde Sie zwingen, meiner Schwester den Namen zu geben, der ihr gebührt.«

»Bah!«

»Bestimmen Sie Zeit und Waffen!«

»Ich schlage mich mit einem griechischen Banditen nur bei einem Angriff und Ueberfall, Sie wissen das.«

»Wohl, so nehmen Sie dies als Angriff ...« er hob die Hand zum Schlage, doch Maubridge kam ihm zuvor und faßte den Arm.

»Halt da – keine Beleidigung, für die ich Sie todtschießen müßte; es sollte mir leid thun. Dieser Herr wird wahrscheinlich Ihr Secundant sein.«

»Ich bin es.«

»Wohl. Der meine wird Sie noch heute aufsuchen. Wo findet er Sie?«

»Ich werde ihn in Tenedos im griechischen Kaffeehause am Hafen von der nächsten Stunde aberwar ten.«

[232] »Well! Auf Wiedersehen.«

Er wandte sich kalt und hochmüthig um und trat zu dem Capitain, der ein stummer Zeuge der ganzen Unterredung gewesen war, indeß die beiden Freunde ihr Boot anriefen und sich entfernten.

»Sie sehen, Warburne, es ist Aussicht da, daß Sie auch Ihren zweiten Midshipman zu Gunsten einer erledigten Baronetschaft verlieren. Lassen Sie uns zu Tische gehen.«

»Sie werden doch nicht toll genug sein, sich mit dem griechischen Landstreicher zu schlagen?«

»Es wird nichts Anderes übrig bleiben, da er sich unter den Schutz unserer guten Freunde, der Franzosen, begeben zu haben scheint, und ich diesen doch unmöglich sagen lassen kann, auf Ihrem Schiff wären ein Paar Pistolenschüsse geweigert worden. Sie werden mir einen Ihrer Offiziere leihen, Warburne, denn ich muß nun schon die Sache zu Ende bringen.«

»Gott verdamm', ich hab' es Ihnen gleich gesagt, es kommt nichts Gescheutes heraus, wo ein Weiberrock im Spiel ist. Unter uns gesagt, mein Junge, scheinen Sie in der Geschichte auch nicht besonders viel Recht zu haben.«

»Nicht das geringste,« sagte der Baronet ruhig, »es ist auch sehr leicht möglich, daß ich ganz anders gehandelt haben würde, wenn die Narren mir nicht hätten Zwang anthun wollen. Die Kleine ist verteufelt hübsch und ich würde Aufsehen mit ihr in London gemacht haben. – Doch sprechen wir nicht mehr davon, – die Burschen müssen ihre Lection haben.«

Der Stewart des Capitains meldete zum zweiten Mal, daß angerichtet sei.


Wo der Skamander aus dem weiten Bergthal tritt, in dessen Hintergrund der große Hügel liegt, den man das Grab des Achilles nennt, und sich durch die Ebene des Ufers zum Meer schlängelt, während der Hitze des Sommers oft kaum so groß, daß er einen Kahn zu tragen vermag, liegen im Myrthengebüsch einige jener Säulentrümmer, die am südlichen Ende der Bucht sich noch so massenhaft zeigen. Hierher, um nicht zu weit entfernt von Dardanelli zu sein, hatte der Arzt das Rendezvous für den nächsten Morgen bestimmt.

[233] Als die Freunde in der besprochenen frühen Stunde dort mit ihrer Barke eintrafen, fanden sie bereits den Baronet mit dem zweiten Lieutenant des Niger vor, der ihm zum Secundanten diente. Der alte Matrose Adams hatte sie mit einem Genossen hierher gerudert und betrachtete mit Neugier die Kommenden, da Maubridge ihm mitgetheilt, daß sie unter ihren Angreifern in Burnabat gewesen waren.

Der Baronet, theilnahmlos für die weitern Verhandlungen, belustigte sich mit Pistolenschießen, wobei der Deckmeister die Aufgabe hatte, die Waffen zu laden. In dem Baronet, von dessen Character wir noch wenig gesprochen haben, lag eine seltsame Mischung von Eigenschaften, wie sie in der britischen Nationalität häufig vorkommen. An und für sich edelherzig und warmfühlend, war er mit jener Vorliebe für das Seltsame, Ungewöhnliche ziemlich reichlich begabt, die seine Landsleute so häufig zu den Excentrics führt, die in ihrer Ausartung in's Abgeschmackte ihnen den seltsamen Ruf durch die ganze Welt verschafft haben. Damit verband sich jedoch ein unbändiger Starrsinn, ein Eigenwille, der jede fremde Einwirkung von Außen, selbst bei der Erkenntniß des Bessern, beharrlich zurückwies, und eine Caprice, die durch Hindernisse wach gerufen, kein Mittel scheute, ihren Zweck durchzusetzen. Zu dem Allen gesellte sich jene gewisse Kälte und scheinbare Gleichgültigkeit, die den Briten der höhern Stände durch die Erziehung eingeimpft zu werden pflegt.

Welland trat zu dem Baronet.

»Sir,« sagte er ernst, »erlauben Sie mir noch ein Mal, Sie daran zu erinnern, daß Ihre Handlungsweise die Ehre einer Familie trifft, deren Name und Abkunft sich sicher mit der jedes englischen Pairs messen kann. Aber sie trifft und bricht auch ein Herz, das in wahrer uneigennütziger Liebe an Ihnen zu hängen scheint, und das Sie nicht das Opfer einer Handlung werden lassen dürfen, von der wir nicht wissen, ob sie Täuschung, ob sie Wahrheit war. Diona, Ihre Gattin nach göttlichem Recht, hat mir diese Zeilen an Sie gegeben und das Versprechen abgenommen, dieselben in Ihre Hand zu legen. Ich hätte es bereits gestern gethan, wenn die Umstände es erlaubt.«

Der Baronet nahm das Blatt, erbrach und las es. Es schien nur wenige Zeilen zu enthalten, die indeß einen großen Eindruck auf ihn machten. Seine schöne hohe Stirn färbte [234] sich wieder, wie bei der ersten Begegnung auf dem Schiff, mit fliegender Röthe, und er wandte sich hastig zu dem Deutschen:

»Wo ist Diona, kann ich sie sehen?«

»Sie werden es erfahren, Sir, sobald Sie meinem Freunde jenes Papier ausgeliefert haben, das im Consulat von Smyrna unterzeichnet wurde, oder uns die Erklärung auf Ihr Ehrenwort abgeben, daß Sie die Rechte Ihrer Gattin anerkennen wollen.«

Der Baronet biß sich in die Lippen.

»Sie täuschen sich in mir und haben selbst Ihr Spiel verdorben. Diona hätte mich besser kennen sollen. Wir wollen die Sache beenden, wegen deren wir uns hierher bemüht haben, erlauben Sie nur, daß ich die Pistole entlade. Adams, auf!«

Der Deckmeister warf eine Citrone in die Höhe, während sie in der Luft schwebte, hob der Baronet blitzschnell die Pistole und schoß. Die Frucht stob auseinander.

Welland blickte unwillig auf das prahlerische Spiel, und doch zog sich sein Herz krampfhaft zusammen bei dem Gedanken, daß das Leben des Freundes, der im vollen Recht die Ehre seiner Familie vertheidigte, der sichern Kugel des herzlosen Mannes verfallen sei. Er wandte sich zu dem Offizier, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen. Dies war bald geschehen, man wählte ein Paar Schiffspistolen und maß die Entfernung, fünfzehn Schritt, Jeder sollte das Recht haben, nach Belieben zu schießen.

Als Welland den Freund auf seine Stelle geleitete, drückte dieser ihm herzlich die Hand.

»Sollte der Himmel gegen mich sein und mir ein Unglück passiren, so werden Sie Diona nicht verlassen und sofort an meine Brüder nach Athen schreiben. Die Adressen kennen Sie, und nun mit Gott!«

Maubridge fixirte ruhig den Griechen, es war, als wäre er seines Sieges gewiß. Der Lieutenant gab das Zeichen, einige Schritte ging Caraiskakis vor, dann schoß er.

Schiffspistolen sind eine unzuverlässige Waffe. Die wohlgezielte Kugel streifte den linken Aermel des Baronets und einige Blutstropfen quollen aus dem Rock.

»Schade um den Schuß!« sagte der Brite spöttisch. »Jetzt ist die Reihe an mir, doch zuvor hören Sie einige Worte.«

Gregor stand finster vor sich blickend da, er antwortete nicht.

[235] »Wollen Sie mir den Aufenthalt Ihrer Schwester nennen und mich das Weitere mit ihr allein verhandeln lassen?«

»Nein!«

»Ueberlegen Sie wohl, ich lasse mir nicht trotzen und schulde Ihnen die Revange für Burnabat.«

»Schießen Sie, Sir! Wenn ich zehn Leben hätte, würde ich sie an Ihre Verfolgung setzen und nicht von Ihrer Spur weichen.«

»Dann müssen wir freilich dazu thun, Sie daran zu hindern.«

Die Pistole hob sich rasch, ein Blitz zuckte, ein Knall, und Caraiskakis drehte sich um sich selbst, ehe er fiel.

»Sie haben ihn ermordet!«

»Keineswegs, ich müßte denn so schlecht schießen, wie mein Gegner. Richten Sie ihn auf, die Kugel sitzt in der linken Hüfte und wird Ihren Freund wohl zwei Monat von meinem Wege abhalten. Das genügt.«

Welland beschäftigte sich mit dem Verwundeten und fand es, wie der Baronet in seiner kalten Ruhe gesagt. Er öffnete dem Freunde die Kleider und legte einen vorläufigen Verband an. Gregor kam dabei wieder zu sich und schaute ihm fragend in's Gesicht.

»Beruhigen Sie sich, ich stehe Ihnen für die Kur mit aller meiner Kunst.«

Maubridge trat heran.

»Es thut mir leid um Sie, aber Sie zwangen mich. Wollen Sie jetzt – wo Sie selbst der Hilfe bedürfen, meine Bitte erfüllen und mir den Aufenthalt Ihrer Schwester nennen?«

Caraiskakis machte eine heftige abwehrende Bewegung.

»Sir, stören Sie meinen Freund nicht, der Verband kann leicht aufbrechen und der neue Blutverlust würde ihm schaden.«

»Kann ich sonst Etwas für Sie thun? Mein Boot steht zu Ihrer Disposition.«

Eine abwehrende Bewegung.

»So leben Sie wohl und warnen Sie Ihren Freund, sich nicht in meinen Weg zu drängen. Kommen Sie, Malcolm.«

Er verbeugte sich höflich und ging nach seinem Boot, in dem Beide den Fluß eine Strecke weit hinabfuhren. Adams, der alte Matrose, ruderte sie mit seinen Gefährten stillschweigend fort, Maubridge saß in Gedanken, den Kopf in die Hand gestützt. Endlich schaute er auf.

[236] »Nun, Alter, Du hast noch nicht einmal ein Wort für mich, daß ich so gut davongekommen? Ist das Deine alte Anhänglichkeit?«

Der Seemann schüttelte den Kopf.

»Ich habe Sie gekannt und Sie jedes Tau, jede Spiere am Bord kennen gelehrt, als Sie ein Bürschchen, lange nicht so groß, wie Ihr Bruder, waren. Aber schon damals waren Sie ein störrisches Blut. Was haben Sie nun davon, den Bruder niederzuschießen, nachdem Sie die Schwester unglücklich gemacht? Sie wissen selbst, daß er in seinem vollen Recht war.«

Der Baronet zog die Stirn zusammen und legte seine Hand auf die Schulter des Matrosen.

»Du bist ein Thor und kennst mich noch eben so wenig, wie alle Andern. Aber einen Dienst mußt Du mir dennoch erzeigen. Rudert hinter jenen Felsenvorsprungs und laßt uns dort aussteigen. Wir werden den Weg über das Land zu Fuß machen.«

Das Boot schoß in das Versteck. Als eine Viertelstunde darauf der Kaik vorüberfuhr, welcher den Verwundeten und seinen besorgten Freund trug, folgte das Boot des Kriegsschiffs ihm unbemerkt in einiger Entfernung die Küste entlang bis nach Dardanelli.

Hier hatten die Drei im Hause eines griechischen Kaufmanns ein Unterkommen gefunden, der mit der Familie Grivas verwandt war. Diona warf sich wehklagend auf den Bruder und benetzte ihn mit ihren Thränen. Nur schwer vermochte sie Welland durch die Versicherung zu beruhigen, daß keinerlei Gefahr vorhanden, sei.

Beide theilten sich nun in die Pflege des Bruders, doch war es Welland auffallend, daß die Griechin von Tage zu Tage schwermüthiger wurde, und in sich versunken, den Zustand des Kranken wenig beachtete. Ja, er traf sie ein Mal, als sie weinend und aufgeregt ein Papier las, das sie bei seinem Eintreten eilig verbarg.

Er wollte den Freund nicht beunruhigen, dessen Genesung, nachdem die Kugel aus dem Knochen geholt worden, langsam vorschritt, und schwieg deshalb.

Seine Briefe hatte er zum Theil nach Constantinopel vorausgeschickt. Zwei Wochen waren vergangen, als ihm plötzlich von dort ein Fremder, der mit dem Dampfschiff gekommen, ein Schreiben brachte. Es enthielt nur wenige Worte, aber mit dem geheimnißvollen Zeichen, dessen Unterthan er war.

Der Brief befahl ihm, mit dem ersten abgehenden Dampfschiff in Constantinopel einzutreffen und machte ihm Vorwürfe [237] wegen seiner Versäumniß. Welland empfand selbst, daß das längere Verweilen in Dardanelli zwecklos war, und nachdem er sich mit dem Freunde besprochen, für diesen den Schutz des französischen Consuls und des Capitains der Veloce gewonnen, schied er von den Geschwistern. Sobald Gregor ganz hergestellt war, wollte er ihm nach Constantinopel folgen. –

Drei Tage darauf war Diona spurlos verschwunden. Caraiskakis, noch an das Lager gefesselt, bot vergeblich alles Mögliche auf, sie zu entdecken. Selbst das Einschreiten der französischen Offiziere hatte keinen Erfolg, denn Capitain Warburne wies nach, daß sein Gast bereits lange vor des Doctors Abreise sein Schiff verlassen hatte.

Die Ungeduld, der bittere Aerger verschlimmerten auf's Neue den Zustand Gregor's und banden ihn an's Krankenlager, so daß er nicht einmal dem Freunde Nachricht zu geben vermochte.

Fußnoten

1 Auf den meisten Karten falsch oder gar nicht eingezeichnet.

2 Midshipman's.

3 Wir wählen für das Schiff absichtlich einen falschen Namen.

D.V .

Guckkastenbilder
1. Berlin
I. Berlin.

Die Madrilena rauschte; Sie warf das süße entzückende Bein dem Publikum entgegen, das in Logen und Parket, auf Gallerie und im Proscenium in einen gelinden Wahnsinn gerieth, sich im »Brava« heiser schrie und sich die Hände wund klatschte. Blumen flogen in Masse rechts und links aus den Theaterlogen, obschon eine arge kritische Zunge die unhöfliche Bemerkung machte, daß dieselben Kränze und Bouquets schon nach dem El Ole figurirt hätten. Das war jedoch pure Verleumdung, denn der Berliner Rentier und Banquier ist vollkommen im Stande, wo es auf seine Liebhabereien und seinen Enthusiasmus ankommt, es sich auch Etwas kosten zu lassen.

Die Kammerfrau sprang zu, den weichen warmen Hermelin um die Schultern der Tänzerin zu hängen.

»Die Blumen! die Blumen?« sagte diese hastig; »rechts das Bouquet!« Dann floh sie in ihre Garderobe.

Bald darauf erschien die Duegna mit den Blumen. Die Senjora, ehe sie noch sich des Costüms entledigte, siel sogleich über dieselben her und riß die zierlichen Bouquets auseinander, daß die Blüthen umher flogen.

»Wieder Täuschung!« sagte sie, ärgerlich mit dem Fuße stampfend; »ich sah ihn doch in der Prosceniumsloge und bemerkte ausdrücklich, wie er mir das Bouquet warf. O, diese Männer!«

»Es war unvorsichtig von Dir, Kind, daß Du die zweihundert Thaler beim Juwelier darauf zahltest. Ich warnte Dich gleich.«

[239] »Bah! das verstehst Du nicht. Diese Männer in ihrem kalten eisigen Lande sind bloße Zahlen, sie rechnen in der Liebe; es ist nicht wie bei uns, wo der Caballero sein Letztes opfert für das Vergnügen seiner Geliebten. Fünfhundert Thaler wären ihm gewiß zu viel gewesen, so zahlte ich dem Juwelier zweihundert im Voraus.«

»Es ist aber nun bereits zwei Tage, daß er den Schmuck gekauft hat.«

»Und seitdem ließ er sich nicht sehen. – Höre, ich muß wissen, wer die Dame ist, die mit ihm in der Loge war. Sie hatte den Schirm vorgezogen, so daß ich sie nicht genau erkennen konnte. Geh' auf die Bühne und frage, Sennor Asher kennt ja alle Welt. Ich werde mich allein entkleiden.«

Die Dienerin, von der Ungeduldigen fortgetrieben, verschwand. Ehe der neue Akt begann, kehrte sie zurück; das schlaue Gesicht verrieth eine eigenthümliche Verlegenheit.

»Nun! bringst Du Nachricht?«

»Es ist seine Frau, Senjora!«

»Diantre! – Dann konnte er nicht. Was hast Du noch? ich sehe Dir's an; sprich!«

»War der Schmuck nicht von Smaragden? Ohrgehänge in Glockenform und eine Breche in Perlen?«

»Ja, ja; was soll's? Du sahst ihn ja!«

»Dann, mein Kind, trägt die Dame selbst den Schmuck.«

Die Tänzerin fuhr empor, als hätte sie eine Natter gestochen. Sie warf den langen Mantel über das noch nicht befestigte Kleid und sprang aus der Garderobe. Der Inspicient hatte bereits das Zeichen zur Räumung der Bühne gegeben.

»Monsieur Asher!«

Der Regisseur mit seiner bekannten Coulanz gegen die Damenwelt flog herbei.

»Einen Augenblicken, ich bitten Sie.« Sie war schon vorn am Vorhang und schaute eine Minute lang durch das Guckloch nach der Prosceniumsloge rechts. »Es seind gut. Lassen Sie vorfahren, ich will nach Hause.«

Hinter ihr rauschte der Vorhang in die Höhe und eine der leichten jovialen Fadaisen, durch welche die Friedrich-Wilhelmsstädtische Bühne seit der Reaction ihren glänzenden Ruf gemacht hat, begann. Das launische Publikum, das eben noch dem Aufgebot [240] alles Anmuthigen im Sinnenreiz enthusiastisch gehuldigt, jubelte jetzt schon eben so laut der unübertrefflich trocknen und doch so gemüthlichen Komik seines Lieblings Weirauch zu, der zuerst verstanden hat, der Schärfe des Berliner Witzes ein doch lokales Gewand von Humor umzuhangen.

»Sennora haben heute wieder ausgezeichnete Triumphe gefeiert; es war ein kostbarer Abend.«

»Vous vous trompez, Monsieur! non précieux, mais dispendieux. – Bon soir!«

Der Wagen rollte davon. –

Im Hotel Unter den Linden sprangen die wohlgeschulten Kellner mit den Armleuchtern voran die Treppe hinauf zu den drei eleganten Pieçen, welche die Senjora bewohnte.

»Befehlen die gnädige Frau zu soupiren?«

»Nein! – Thee!«

»Ein Herr wartet schon seit längerer Zeit auf die gnädige Frau und bittet um Erlaubniß, noch seine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Ich empfange Niemand, wenn ich getanzt. Morgen.«

»Dann soll ich die Ehre haben, der gnädigen Frau dies Billet zu übergeben.«

In ihrem Boudoir warf die Tänzerin erschöpft Mantel und Capuchon von sich und setzte sich auf das Sopha.

»Willst Du den Brief nicht wenigstens öffnen?«

»Gieb! eine gewöhnliche Karte; diese Herren glauben, es bedürfe nur ihres Namens, der so steif und unbeholfen klingt, daß man ihn nicht aussprechen kann.«

Sie hatte das Couvert dabei erbrochen, – es lag allerdings nur eine einfache Karte darin, aber ein Blick darauf hatte sie schnell aufmerksam gemacht und sie zog den silbernen Leuchter herbei, um genauer darauf zu sehen.

»Vraiment! Da hätte ich bald eine Dummheit begangen! Geschwind, Ines, schelle!«

Der Kellner erschien.

»Ist der Herr noch unten?«

»Ja wohl, gnädige Frau.«

»Ich ließe bitten, in den Salon zu treten. Bestellen Sie ein Souper zu drei Personen und serviren Sie dann zwei Couverts ...«

[241] Die Senjora warf sich mit Hilfe der Kammerfrau schnell in eine dunkle spanische Robe, ordnete einige Augenblicke das noch mit Blumen geschmückte Haar und warf die Spitzenmantille kokett um den schönen Nacken; dann trat sie in den anstoßenden Salon.

Der Herr erwartete sie bereits hier. Eine nicht große feste Gestalt, tief in den Dreißigen, von militairischer Haltung und etwas insolentem brüskem Wesen, das großes Selbstvertrauen verrieth. Ein starker, wohlgepflegter blonder Bart füllte und umgab den unteren Theil des Gesichts; in den grauen Augen blitzte eine gewisse kalte Energie und Selbstsucht. Der Fremde trug elegante Civilkleidung, im Knopfloch das schleswig-holsteinsche Kreuz.

»Herr Major von ...........?«

»Ich habe die Ehre, mich als dieser vorzustellen, Madame. Entschuldigen Sie meinen späten Besuch; doch war ich bereits zwei Mal gestern hier, ohne das Vergnügen zu haben, die Senjora antreffen zu können. Madame sind von der hiesigen kunstliebenden Welt so in Anspruch genommen, daß gewiß jeder Ihrer Augenblicke besetzt ist, und ich freute mich, im Hotel zu hören, daß Sie für heute Abend keine Einladung angenommen.«

»Ach ja, ich darf über meine Aufnahme in Berlin nicht klagen, man fetirt mich und ich habe zahlreiche Freunde gefunden.«

»Leider nur nicht in den Kreisen, in denen man es wünschte. Ihr erstes Auftreten, Madame, gab den Ausschlag. Sie haben einen großen Kreis von Verehrern, aber in einer andern Sphäre, als in welcher Diejenigen es beabsichtigten und hofften, – von denen Sie wissen.«

Die Spanierin erröthete leicht und beugte zustimmend den Kopf.

»Aber es ist nicht meine Schuld; man ist hier so prüde und ich glaubte wenigstens das Feld behaupten zu müssen, Herr Major.«

»Sie haben auch vollkommen recht gehandelt, Madame. Man hatte nur ein falsches Calcul gemacht, man kennt und würdigt Berlin zu wenig. Die norddeutsche Aristokratie, die preußische Armee sind anderer Natur, als man gehofft hat, – ich widersprach sogleich, aber man wollte den Versuch doch machen. Das preußische Offizier-Corps, die Armee insbesondere ist ein in sich abgeschlossenes Ganze, dessen einzelne Glieder keine Individualitäten bilden, den Leidenschaften und der Verführung offen. Hier ist zu sehr die Person vom Soldaten getrennt. Der junge Mann kann vielleicht Fehler und Thorheiten begehen, und es kommen deren [242] genug vor, aber dieselben werden nie auf den militärischen Geist Einfluß haben. Da kann nicht eine gewöhnliche sinnliche Verlockung Bresche machen in die Phalanx, sondern nur eine große, anregende, verführende Idee, welche Spaltung in den Gemüthern und Ansichten hervorbringt. In dieser Beziehung sind bereits die nöthigen Vorschläge gemacht.«

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr, – es fehlt doch nicht an Offizieren und vornehmen Herren unter meinen Verehrern.«

»Ich weiß, ich weiß! Aber das ist Nichts, – junge Elegants, die der Mode huldigen und das Extravagante lieben, aber nie Ihnen Einfluß auf ihre blinden Gesinnungen gestatten werden. Auch die nordische Aristokratie ist zu exclusiv für solche persönliche Verführungen. Der jüngere Theil gehört ohnehin größtentheils dem Militairstande, und die Aelteren, die von Bedeutung sind, haben eine Tradition und zu viel kaltes Blut, um einer Tänzerin zu Füßen zu liegen. Die Verhältnisse selbst haben Sie, Madame, auf den Boden geführt, wo allein Sie in Berlin glänzen und herrschen können, zu unserer blasirten Finanzwelt, der Eitelkeit der Börse und dem Enthusiasmus des pflastertretenden Rentiers.«

»Senjor, ich begreife nicht ...«

Der Major lachte leise.

»Sein Sie nicht böse, ich will Ihnen keineswegs Ihre Triumphe schmälern. Sie sind das Entzücken aller wichtigen Leute, die in Berlin den Ton angeben, bis hin und wieder einmal ein ernster Wellenschlag der Zeit ihre Meinung auf die gehörige Nullität reduzirt. Diese süßen Formen, diese nie geschauten Hüftenkünste verzücken eine Klasse bis in den dritten Himmel, welche in Berlin allmächtig geworden und in allen Branchen dominirt, die selbst den Pietismus von seinem Throne gedrängt hat, ich meine das vergoldete und vergesellschaftete Judenthum. Aber das gehört ohnehin zum Liberalismus und zur Opposition, so lange es keine Opfer und keine Gefahr gilt. Sind Sie nicht auch das Entzücken der Kritik, so weit es eine solche in Berlin giebt? Freilich ist das, mit wenigen isolirten Ausnahmen, die jämmerlichste Gesellschaft, die existiren kann, und jedes Anspruchs auf Beachtung baar. Aber alle diese Triumphe, Madame, so schmeichelhaft und angenehm sie auch für Sie sind, nützen unseren Zwecken Nichts und werden – so viel ich diesen Enthusiasmus veranschlagen kann – auch nur schlecht Ihre Kasse und Ihre Toilette füllen.«

[243] Die Spanierin zuckte verächtlich mit dem Munde.

»Ich habe mir allerdings Anderes von Berlin vorgestellt. Bouquets! Bouquets! Denken Sie, daß neulich ein – vornehmer Herr sich zum Souper einlud und für sein Couvert einen Fünfzig-Thalerschein zurückließ!«

Sie gedachte der Niederlage, die sie noch am Abend erlitten.

»Ich kenne die berliner Renommagen, man verschwendet hier nur mit Worten. Wenn ich Ihnen rathen darf, Madame, gehen Sie nach Wien, nach Prag, nach Pesth – da ist ein glücklicherer Boden, als die norddeutschen Residenzen. Freilich haben sich seit Achtundvierzig dort auch die Verhältnisse geändert, aber es ist noch immer reiche Empfänglichkeit da von Oben herab. So tapfer die Armee ist, so ist sie doch aus zu vielen Ingredienzien zusammengesetzt, um in den Personen nicht zugänglich zu sein. Es giebt unabhängig von ihr einen lebenslustigen Adel. Sie werden, wo Sie hier Verehrung und Huldigung fanden, dort Begeisterung und Aufopferung haben und Männer finden, die Leidenschaft genug besitzen, sich zu ruiniren. Ihr Ruf ist jetzt begründet und Ihnen vorangegangen.«

Die Tänzerin wiegte schlau das Haupt.

»Ich habe bereits meinem Agenten Auftrag gegeben, für mich in Wien und Pesth abzuschließen. In acht Tagen trete ich auf.«

»Ah schön! ich sehe, wir verstehen uns. Ich werde dafür sorgen, daß Sie in Wien Empfehlungen vorfinden, die Ihnen mehr nützen, als die hiesigen. A propos! Sie zählen doch noch hier zu Ihren Verehrern den jungen Baron H ..... und Herrn von M ....?«

»Die Herren machen mir ihren Besuch und sind alle Abend im Theater, – aber sie sind so jung ...«

»Es handelt sich nur um eine Gefälligkeit. Auch interessiren sie mich weniger, als ihre Väter und Verwandten, die, wie Sie vielleicht wissen, besondere Stellungen bei Hofe haben. Ich besitze da zwei Schützlinge, zwei arme Bedienten, die unverschuldet außer Brot gekommen sind und neue Condition in vornehmen Häusern suchen. In den Familien der gedachten Herren sollen nun zwei Dienerstellen vacant sein; Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie meine Schützlinge wie zufällig Ihren Verehrern, Jedem einen, empfehlen wollten.«

Der Major hatte seinen Wunsch mit möglichster Gleichgültigkeit [244] hingeworfen, der schlauen Tänzerin jedoch entging es nicht, daß das gerade die Pointe seines Besuches war, und um sich für die früheren kleinen Zweifel in die Macht ihrer Reize zu rächen, schaute sie ihm fest in's Gesicht und fragte:

»Ist dies ein Auftrag der unbekannten Beschützer, denen ich zu gehorchen habe, Senior?«

Der Major biß sich auf die Lippen.

»Sie haben aus dem Zeichen aus meiner Karte gesehen, daß ich nicht aus Galanterie Ihnen meinen Besuch mache, Madame; weiter wird mir dies in Ihren Augen Vollmacht geben« – er nahm aus seiner Brieftasche ein seines schwarzes Kreuz von jener Form, dir wir bereits mehrfach erwähnt haben, mit fünf Silberstiften geziert – »und ich bitte Sie daher, das, was ich Ihnen vorhin in Bezug auf Wien und Pesth sagte, als aus gleicher Quelle kommend anzusehen. In Betreff der beiden Diener werden Sie die Empfehlung so wie zufällig bei den bezeichneten Herren anbringen; Sie werden sagen, diese Leute wären dienstlos, Sie hätten im Hotel davon sprechen hören und dieselben hätten bei Ihnen in Dienst treten wollen, oder was Ihr Witz Ihnen sonst eingiebt. Morgen früh werden sich beide Diener bei Ihnen vorstellen; mit guten Attesten sind sie reichlich versehen, so daß sie Ihrer Empfehlung Ehre machen werden. Und nun, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen das Vergnügen auszudrücken, bei dieser Gelegenheit die persönliche Bekanntschaft der gefeierten Schönheit des Tages gemacht zu haben und mich Ihnen zu empfehlen.«

»Wie, Senjor, Sie wollen schon fort? ich hoffte, Sie würden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu soupiren.«

»Ich weiß das Glück zu schätzen, Madame, aber meine Geschäfte nehmen mich noch in Anspruch. Ich hoffe, Sie wiederzusehen; ist es nicht hier, doch später an einem anderen Ort Ihrer Triumphe. Leben Sie wohl, Senjora.«

Er empfahl sich, und während die schöne Spanierin sich nachsinnend in die Ecke ihres Sopha's kauerte, schritt er rasch die Linden entlang, unter denen noch reges fröhliches Leben herrschte, nach dem Brandenburger Thore zu. –

Nachdem der Major seinen Weg durch verschiedene Straßen und Hintergassen genommen und vielleicht dreifach gemacht hatte, wie als wolle er jeder Beobachtung entgehen, blieb er vor einer niedern Gartenmauer stehen, zog einen Schlüssel hervor und öffnete [245] die schlecht verwahrte Hinterthür. Dann schritt er durch die hohen Laubgänge und Parkanlagen bis in die Nähe des Vorderhauses, eines mächtigen stolzen Gebäudes von aristokratischem Typus, das sich vor ihm in die Nachtluft erhob. Aus dem großen Fenster des ersten Stockwerks im Seitenflügel, dem einzigen, das nach dem Garten heraussah, schimmerte durch die Gardinen ein ruhiges Licht. Nach aufmerksamem Umherlauschen und Schauen pfiff der Major leise aber scharf einige Takte und sogleich erschien der Schatten einer weiblichen Gestalt an dem offenen Fenster, die Vorhänge wurden fortgezogen und eine Dame lehnte sich heraus.

»Bist Du es, Ferdinand? Ist Alles sicher?«

»Wenn Du oben unbehindert bist, so komm.«

Einige Augenblicke darauf verschwand das Licht, aus dem Fenster rollte, die dunkle Epheubekleidung der Mauer entlang, eine kurze Strickleiter von schwarzer Seide herunter, und die Dame schwang sich kühn und mit der Sicherheit der Gewohnheit über die Fensterbrüstung und stieg auf den schwanken Schlingen herunter, wo sie der Erwartende in seinen Armen auffing und mit einem Kuß begrüßte.

»Ich glaubte schon, Du würdest nicht kommen, Ferdinand,« sagte die junge Dame, eine hohe schlanke Figur im dunklen Capuchon und in ein weites kostbares Shawltuch gehüllt; »es war so spät und ich hatte mich längst freigemacht.«

»Es ist eilf Uhr vorbei, Marie, und ich habe Dir oft schon gesagt, daß die frühe Stunde uns leicht verderblich werden kann. Ueberdies hatte ich dringende Abhaltung. Doch nun komm'.«

Er verbarg vorsichtig das Ende der Strickleiter in den Epheuranken und führte dann die Dame, die sich zärtlich an ihn schmiegte, weiter hinein in die dunklen Bosquets des Gartens bis zu einer Bank unter hohen Ulmen und Kastanien, wo er sie niedersitzen ließ.

»Wie, werden wir heute nicht zu unserm kleinen Engel gehen, Du versprachst es mir doch das letzte Mal, Ferdinand?«

»Du sollst ihn sehen, gewiß, Marie, aber ich wiederhole Dir, es ist noch zu früh, die Straßen sind noch zu belebt. Ueberdies habe ich Einiges mit Dir zu sprechen. Höre mich ruhig an, ich bitte Dich, Marie.«

Sie setzte sich dicht an ihn, Hand in Hand, den andern Arm um ihn geschlungen und blickte ihm zärtlich in das harte stolze Auge. –

[246] »Du weißt, Marie, und wir haben es hundert Mal besprochen, daß unter den jetzigen Verhältnissen keine Aussicht und Hoffnung für uns ist. Das Glück hat uns besonders wohlgewollt, daß wir vor dem Auge Deines Vaters und Bruders Deine Schwangerschaft zu verbergen vermochten, ihre häufige Abwesenheit und Dein Aufenthalt auf dem Lande halfen uns dazu Du verlangtest, daß das Kind in Deine Nähe komme, und es ist geschehen. Aber was soll weiter werden? Du weißt, daß ich nicht einmal Zutritt in Deiner stolzen Familie habe, meiner offen ausgesprochenen Ansichten und meines Bruchs mit dem Herzog wegen.«

»Hast Du nicht meine Liebe, Ferdinand? Warum auch bist Du, der doch selbst von Adel, ein solcher Gegner aller seiner Rechte und Interessen, ein Vertheidiger des Pöbels und seiner Zügellosigkeit? Mein Gott, wie kannst Du mit solchen Leuten umgehen, die auf zehn Schritt nach dem Handwerk riechen, zu dem sie geboren sind!«

Der Major schien widrig berührt.

»Laß uns nicht mehr streiten, Marie, über Dinge, über die wir uns doch nie einigen werden. Es ist leider eine traurige Wahrheit, daß die Lection von Achtundvierzig und Neunundvierzig in Berlin nur dazu genutzt hat, den Adel vorsichtiger im Aeußern, aber desto exclusiver und hochmüthiger unter sich zu machen, und im Bürgerstand die Zahl der Heuchler zu vermehren. Gehe hin und frage, welcher Dank denn den sogenannten Getreuen geworden ist, und ob sie nicht überall zurückgedrängt sind von der speculativen Geheimerathsdemotratie? – Männern wie ich kann man freilich die beiden Jahre nicht vergessen und ich will sie auch nicht vergessen haben, denn sie sind das Feld meiner und unser Aller Zukunft. Aber diese untergeordnete Lage, diese Unthätigkeit ertrage ich nicht länger. Die Wogen der Zeit brausen vom Sturm bewegt und ein kühner Pilot kann da sein Schiff an's Ziel steuern. Den Mann ohne Dienst und Ruf würden die Deinen mit Hohn zurückweisen, dem General, dem Mann von Macht und Bedeutung, wird die stolzeste Familie dieses Preußens, das vielleicht an der Schwelle seiner bittersten Demüthigung steht, Frau und Kind nicht zu verweigern wagen.«

»Was sinnst Du, Ferdinand, was beabsichtigst Du?«

»Laß das, frage mich nicht, ehe ein halbes Jahr vergeht, wirst Du wissen, was ich meine. Diesen Winter noch bleibe ich in [247] Berlin, das Frühjahr schon führt mich zu einem meiner Kraft entsprechenden Wirkungskreis. Ich wollte Dich überhaupt nur auf die Trennung vorbereiten, da sie möglicher Weise über Nacht kommen kann. Doch es ist Zeit jetzt, daß wir aufbrechen, die Straßen sind ruhig, komm'.«

Er hüllte sie sorgsam in das weite Tuch und führte sie durch das Pförtchen aus dem Garten. Durch die einsamen Wege an den Stadtmauern entlang und den Thiergarten gelangten sie in die neuen Stadttheile jenseits der Spree, nach dem Neuen und Oranienburger Thor hin. Hier in einer der Querstraßen blieben sie vor einem ansehnlichen Hause stehen, und der Major klopfte an ein Fenster des Kellergeschosses, in dem Alles dunkel und still war. Aber er klopfte lange vergeblich, Nichts rührte sich, nur ein heiserer Kinderhusten und ein stilles Weinen drang von Zeit zu Zeit hervor und erfüllte jedes Mal die Dame mit Schauern.

»Muth, Marie, Du mußt einige Augenblicke hier verweilen, das Weib in offenbar nicht zu Hause, aber ich weiß, wo sie zu finden ist. Stelle Dich hier in den Schatten des Thürvorsprungs, gleich bin ich wieder bei Dir.«

»Kann ich Dich nicht besser begleiten?«

»Nein,« sagte er hart, »das ist Nichts für Dich!«

Im Grunde war es freundlich von ihm gemeint, er wollte der Armen einen ihr Mutterherz mit den bängsten Besorgnissen erfüllenden Anblick ersparen. Er verließ sie darum rasch und ging um die nächste Ecke und rasch eine weitere Querstraße entlang, bis ihm aus dem Sousterrain eines kleinen Hauses in wüster Lärmen, untermischt mit den Tönen einer Ziehharmonika und einer kratzenden Geige, entgegenklang, welche eine beliebte Polka in überraschem Takt abspielten. Es war eine jener Kneipen, wie es in den Vorstädten, ja selbst in den innern Stadttheilen Berlins unter den zahllosen Kellerboutiken noch viele giebt, und die von der Hefe des Volkes für ihre Festlichkeiten und Orgien benutzt werden, ohne daß die Polizei dergleichen eben der Gelegenheitsursachen wegen gänzlich zu verhindern vermag.

In der Nähe fand der Major den Nachtwächter auf einer Thürschwelle sitzen und nach der Musik hinhorchen.

»Da geht's lustig her, Herr; das Volk wird Einen bis zum Morgen in Athem halten!«

»Wollt Ihr ein Trinkgeld verdienen, Mann?«

[248] »Warum das nicht, Herr, der Magistrat bezahlt ohnehin knapp und hier hat Jedermann seinen Hausschlüssel.«

»So seht nach, ob in jener Kneipe sich eine Frau Müllendorfer befindet aus der .... straße, und bittet sie, einen Augenblick heraus zu kommen. Ich weiß, sie geht häufig hierher.«

»Ach, die Engelmacherin? versteht sich, ist die drinnen. Die ist Stammgast.«

»Wie nennt Ihr sie?«

»Nun, die Engelmacherin, Herr. In's Gesicht mag ich sie freilich nicht so heißen, denn das Weibsstück hat eine gottvergessene Zunge, aber das ganze Viertel kennt sie unter dem Namen und der Himmel weiß es, ich glaube, sie verdient ihn. Die Charité da drüben liefert im Vergleich nicht so viel Leichen zum Gottesacker, als die Müllendorfer; aber die Kinderhecke bei ihr wird nicht leer.«

Der Major schauderte und winkte stillschweigend den Wächter hinunter. Dieser ging und als bald darauf der Tanz aufhörte, öffnete sich die Kellerthür und ein großes Frauenzimmer keuchte die Stufen herauf und schaute sich mit einigen lästerlichen Redensarten um, wer sie um diese Zeit wohl in ihrem Vergnügen störe.

Es war, wie erwähnt, eine Frau von großer, ziemlich robuster Statur und wohlgenährt, etwa vierzig Jahre alt. Sie war mit einem grünen Merinokleide und darüber kreuzweis gebunden einem alten gelbseidenen Shawl, bekleidet, auf dem Kopfe trug sie stark in Unordnung und schief sitzend eine Tüllhaube mit hochrothem fliegendem Bande, doch hing das Haar unordentlich darunter her, überhaupt hatte der ganze Anzug ein wüstes zerzaustes Ansehen. Dieser Charakter sprach sich auch in dem Gesicht des Weibes aus, das gemein und sinnlich vom Tanz und starken Getränken erhitzt, eine fast kupferne Farbe zeigte.

»Tausend Schwerenoth, wat is denn des für ene Jeschichte, des man nich e Mal in der Nacht sein Bisken Vergnügen haben kann,« sagte das Weib in niederm Dialekt, sich von der Stirn den Schweiß trocknend, »schreien die verfl ..... Beesters schon wieder, daß die Nachbarschaft rebellersch wird! – Na wart't, ich will sie ...«

Die ernste Stimme des Majors unterbrach ihr widriges Keifen.

»Ich wollte Sie auf einen Augenblick sprechen, Frau Müllendorfer. Es ist eine Dame bei mir, die Ihr Pflegekind zu sehen [249] wünscht, und wir haben nur spät am Abend Zeit, darum ließ ich Sie von dem Ort herausrufen, wo Sie mir selbst sagten, daß ich Sie in solchen Fällen finden würde.«

Das Weib erkannte den Redner schnell und änderte im Nu ihr Benehmen zu einer kriechenden Freundlichkeit, die um so widriger war, als sie dazwischen nicht ganz den Rausch zu verbergen vermochte, der sie bereite halb erfaßt hatte.

»Ach, der gnädige Herr,« sagte sie mit einem tiefen Knix. »Bitte recht sehr, ick stehe gleich zu Diensten. Glauben Sie ja nicht, daß ick den lieben Engel drum vernachlässigt hätte, i Gott bewahre, der liegt gut eingepackt in seiner Wiege ganz aparte von den andern. Sie wissen, gnädiger Herr, unsereins muß doch auch manchmal en Vergnügen haben, wenn man so kümmerlich sich durch die Welt schlägt, und die lange Guste, meine Nichte, hält heute Hochzeit, das S ..... hat richtig noch Eenen erwischt.«

So schwatzend, lief sie mit manchem Fehltritt neben dem Herrn her bis zu ihrer Wohnung, wo der Major die zitternde Geliebte aus ihrem Versteck holte und an seinen Arm nahm.

»Vorsicht, Marie, ich bitte Dich und halte Dein Gesicht verhüllt. Du trägst doch den Schleier unter dem Capuchon?«

Sie preßte, in Aufregung zitternd, bejahend seinen Arm.

»Gleich, gnädige Frau, gleich sollen Sie das allerliebste Krabbelchen sehen. Kommen Sie nur mich nach, ich will gleich Licht machen.«

Die Frau hatte die Hausthür aufgeschlossen und zog das Paar in den dunklen Flur, von wo ein zweiter Eingang zu ihrer Kellerwohnung hinunterging. Nach einigem Umhertappen und mehreren halbleisen, zwischen den höflichen Redensarten gemurmelten Verwünschungen gelang es ihr, Licht zu machen. Der Major und die junge Dame befanden sich in einem Keller, dessen vorderer Raum zum Grünzeug- und Gemüse-Laden diente. Fässer, Bütten und Körbe standen in wüster Unordnung umher, im Hintergrund einige zerbrochene Möbeln und ein großer Waschkorb, aus dem jenes Husten und Wimmern herkam. Die Dame wollte unwillkürlich dahin, doch das Weib trat ihr mit der angezündeten Oellampe in den Weg.

»Oh, nich dahin, gnädiges Madamken, das ist nur en armer Balg, die Mutter ist en Dienstmädken, die sich gleich wieder vermiethen mußte. Es hat en Bisken die Masern, und wenn des [250] kleene Jeschöpf druf geht, na lieber Gott, es is ooch keen so großes Unglücke. Ick kriege bloß anderthalb Dhaler für den Wurm alle Monate und da is freilich nich viel zu machen.«

»Mein Kind! mein Kind!«

»Sein Sie ganz ruhig, Gnädige, darum hab' ick eben das Wurm hier abgesperrt, daß er nur die andern nich ansticht. Kommen Sie hier herein – stoßen Sie nich!«

Sie öffnete eine Seitenthür, die zu einer niedrigen, aber ziemlich geräumigen Kellerstube führte, ganz im Geschmack dieser Klasse aufgeputzt. An der gegenüber liegenden Wand stand ein großes breites Himmelbett, in dem ein etwa eilfjähriges Mädchen schlafend lag, die Tochter der Frau. Rechts zwischen den Fenstern die Kommode mit den Gläsern und Kaffeetassen auf der aus bunten Zeugcareaus genähten Decke, an der Hinterwand der Kleiderschrank und ein großer, bequemer und weichgepolsterter Sorgenstuhl vor dem Tisch. In der Ecke hinter der Thür endlich war eine Art von Pritsche oder kurzem breitem Bett, mit alten Decken, einigen schlechten Bettstücken und dergleichen gefüllt, und hier lagen, als der Lichtschein darauf fiel, nicht weniger als fünf Kinder von dem zartesten Alter von kaum einigen Wochen an bis zu etwa drei bis vier Jahren; dürftige kleine Gesichtchen, denen das Elend und der Mangel an wahrer Pflege aus den hohlen Augen und den magern nackten Gliederchen sah, als der Schein des Lichtes, das ihre Versorgerin jetzt angezündet und auf den Tisch gestellt hatte, durch die Schatten des niedern, dumpfen und ungesunden Gemaches auf sie fiel.

Neben dem Himmelbett an der Wand stand eine Wiege von Kiefernholz, rothbraun gebeizt, deren Betten von etwas reinlicherem Ansehen waren, als das allgemeine Lager der unglücklichen Früchte leichtsinniger Stunden oder trauriger Verhältnisse. Ein Rohrgeflecht mit alter Leinwand überzogen, überspannte das Kopfende der Wiege.

Auf diese, vom mütterlichen Instinkt getrieben, stürzte die junge Dame zu und warf sich vor ihr auf die Kniee. Ein junges, etwa fünf Monate altes Kind mit einem Engelgesichtchen lag schlafend darin. Der Major war ihr gefolgt, auch das Weib mit der Lampe, deren Schein sie mit der Hand verhüllte, während sie ihn in gemeiner Neugier immer so zu wenden suchte, daß er das Gesicht der durch Kapuze und Schleier Verhüllten treffen sollte. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[251] Wir müssen einige Augenblicke in der Erzählung inne halten, um wenige Worte dem traurigen Verhältniß im Allgemeinen zu widmen, das sie uns vorgeführt hat.

Es giebt in Berlin eine ganze Klasse von Frauen der unteren Stände, die den Namen »Haltefrauen« führen und ihren Lebensunterhalt dann finden, daß sie mit obrigkeitlicher Genehmigung verlassene Kinder vom zartesten Alter, oft von ihrer Geburt an, gegen ein Entgelt in Pflege nehmen. Diese Kinder sind entweder solche, welche die Armenpflege der Commune die Pflicht hat, unterzubringen, oder jene armen Geschöpfe, deren erstes Lächeln an die Welt mit Thränen begrüßt wird, Kinder der Ueppigkeit, der Verführung, des Augenblicks, der Schuld und der Liebe, – arme kleine Wesen, deren Dasein nach kurzem Rausch meist mit unsäglicher Angst, mit unbeschreiblichen Schmerzen und Demüthigungen erkauft wird, – arme zarte Kinder, die von der Natur den gleichen heiligen Anspruch an die Sorge und Pflege der Mutter haben, und von der bürgerlichen Gesellschaft doch mit Gewalt von der Brust dieser Mutter gerissen werden zu einem Kampf – sie, die Unmündigen, Kraftlosen – um Leben und Dasein mit der Barmherzigkeit oder vielmehr der Unbarmherzigkeit und dem Eigennutz Fremder.

Es ist unvermeidlich, – wir wollen nicht sagen natürlich, daß in einer Stadt von fast einer halben Million Einwohnern, in der namentlich Massen junger unverheiratheter und noch heirathsunfähiger Personen zusammengedrängt sind, die unehelichen Kinder sehr zahlreich sind. In Berlin die Schuld auf eines oder das andere Geschlecht zu werfen, ist sehr schwer, die Verführung ist offenbar groß, aber auch die Raffinerie von der anderen Seite war bei der früheren, jetzt geänderten Gesetzgebung ein förmliches Gewerbe. Dennoch ließ sich noch immer zur Ehre der menschlichen Gesellschaft und der allgemeinen Moralität annehmen, daß mindestens die Hälfte dieser armen unschuldigen Wesen die Frucht unbewachter wirklicher Neigung und schwacher, nicht grade verbrecherischer Stunden ist. – In vielen Fällen erlauben es, ist das Unglück geschehen, die Verhältnisse und Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft nun einmal nicht, daß die armen Kleinen die Pflege der Mütter genießen. Gehören diese den höheren Ständen, – und der Fall ist hier öfter, als die Welt erfährt, – so suchen sie eben den geschehenen Fehltritt aus alle Weise zu verbergen und das Kind von seiner [252] Geburt an außer dem Kreise ihres gewöhnlichen Lebens zu halten. Gehören sie den unteren Klassen, Nähterinnen, Dienstmädchen, die von ihrer Hände Arbeit leben, denen die Zeit das tägliche Brot ist, so sind diese schon um ihrer selbst und des Kindes willen gezwungen, dasselbe sofort in fremde Hände zu geben, um nur möglichst schnell zum Erwerb wieder zurückkehren zu können.

Wir haben bereits erwähnt, daß eine große Anzahl von Frauen sich mit der Aufnahme und Haltung dieser Kinder beschäftigt. – Auch mit der Pflege – mit der Aufziehung? –

Es giebt unstreitig unter diesen Frauen viele brave, rechtliche, die ihre Armuth redlich mit den übernommenen Pfleglingen theilen, die nach besten Kräften und Wissen ihre Pflichten lösen. Aber auch die Beste unter ihnen ist noch immer keine Mutter, und führen wir die Sache auf die Grundidee zurück, so ist diese doch immer die Speculation: jene Frauen wollen und müssen sich und ihre Familien von diesen Pfleglingen ernähren. Was diesen entzogen wird, kommt ihnen zu Gute. Haben sie – wie meist der Fall, – noch Nebenbeschäftigungen, so können sie sich unmöglich so um die Kleinen kümmern, wie deren Wohlfahrt es verlangt; ist es nicht der Fall, so leben sie eben speciell nur von ihnen, und die Vergütigungen, die für den Unterhalt gezahlt werden – 3, ja bis 11/2 Thaler monatlich, – sind spärlich genug, um schon für die Bedürfnisse des Kindes nicht hinzureichen. Kinder, für die über drei Thaler gezahlt wird, werden schon als sogenannte »fette Kinder« betrachtet und den Inhaberinnen viel beneidet.

Ueber den Trunkenen und den Kindern wacht ein Engel, daß sie zu keinem Schaden kommen! – so lautet das Sprüchwort und der Glauben des Volkes. Und in Wahrheit wachen die Engel des Herrn über der Kinderwelt mit besonderem Schutz, wie wäre es sonst möglich, daß auch nur der zehnte Theil jener Kleinen, die der sorgfältigsten elterlichen Aufmerksamkeit genießen, groß wüchse, wie viel mehr jener Armen, die von ihrer Geburt aus dem Zufall, ja der Feindseligkeit Preis gegeben sind.

Die Kinder sind die Lieblinge Gottes!

Doch die natürlichen Gesetze, nach denen Zeit und Leben geregelt sind, haben ihren unveränderten Lauf. So ist denn die Zahl der Kinder auch, die aus Mangel an Pflege und Liebe in ihrer zartesten Jugend zu Grunde gehen, nach den statistischen Uebersichten der Todesfälle sehr bedeutend, wenn freilich auch die wahre Ursache [253] nur selten zu Tage kommt. Die Behörde thut das Mögliche, strenge Instructionen schreiben den Haltefrauen vor, wie die armen Kleinen abzuwarten sind, welche und wie viel Nahrung sie zu erhalten haben. Die Aufsicht der Behörde selbst kann freilich nur eine geringe sein und hier kommt das segensreiche Wirken mildthätiger Vereine zu Hilfe, die sich aus menschenfreundlichen Frauen zu dem Zweck der Beaufsichtigung der Halte- und Pflegekinder gebildet haben.

Mit dem besten Willen, mit der größten Aufopferung jedoch können auch diese den Zweck nicht genügend erfüllen.

Auch wenn die eigenen häuslichen Pflichten die fortwährende Controlle erlauben, liegt in dieser selbst schon die Veranlassung, dagegen zu kämpfen. Wer die menschliche Natur kennt, wird wissen, daß der Niedere jede Aufsicht, die der Höhere über ihn übt, als ein Mißtrauen, als einen Eingriff in seine natürlichen Rechte, als eine Feindseligkeit betrachtet, geeignet, ihn zu verderben. Er wird sie erschweren, sich ihr entziehen auf jede mögliche Weise und geht dies nicht, sie täuschen. Wir brauchen die Nutzanwendung nicht zu machen.

Trotz aller Vorsicht der Obrigkeit, trotz aller privaten Wohlthätigkeit und Menschenliebe, sind bei den gegenwärtigen Einrichtungen in Betreff der Aufziehung verlassener und hilfsbedürftiger Säuglinge und Kinder Scheußlichkeiten in Menge vorgekommen und kommen noch vor, die das Blut im Herzen erstarren machen!

Es ist bekannt in ganz Berlin, daß es unter den Frauen, die aus der Aufnahme dieser Kinder ein Gewerbe machen, viele gab, die den Namen »Engelmacherin« allgemein führten, weil – die Kinder, die ihnen übergeben wurden, nach kurzer Zeit zu Engeln wurden, das heißt starben. Man konnte mit positiver Gewißheit darauf rechnen, daß binnen kurzer Zeit die Kleinen todt waren. Diese Weiber hatten förmlichen Ruf da, wo man sich eines unglücklichen Kindes entledigen wollte.

Sollen wir zur Schmach der menschlichen Gesellschaft glauben, daß es wirklich Eltern gab, welche auf diesen Ruf speculirten? – – –

Wir wollen einen Schleier darüber ziehen, und dennoch klingen uns Reden in den Ohren, die – –

Wahr aber ist, daß solche Weiber jahrelang ungestört ihr schändliches Handwerk betrieben, daß sie sich – mit dem offenkundigen [254] Ruf – jedem offiziellen Verdachte, jeder Untersuchung und Bestrafung zu entziehen wußten. Wer bringt Dergleichen zur Anzeige, wer beschwert sich über den Hungertod eines armen namenlosen Kindes? – Die Eltern, denen es eine Last, die es zu der Engelmacherin brachten?

Aerzte und Sachverständige haben uns schaurige Fälle in die ser Beziehung mitgetheilt. – Eine einzige dieser grauen machte in nicht vollen neun Monaten »sieben Engel.«

In neuester Zeit ist die Sache vielfach von den Aerzten wieder angeregt worden, ihr Einschreiten, ihre Denunciationen haben die Theilnahme auf's Neue darauf hingewandt und gezeigt, daß eben noch immer Entsetzliches auf diesem Gebiete zu beklagen ist.

Ein Criminalprozeß, der ganz kürzlich gegen eine dieser Haltefrauen verhandelt worden, hat einen tiefen schrecklichen Einblick in die Rohheit solcher Charactere, in das furchtbare Elend und die entsetzlichen Qualen gewährt, denen mitunter die armen hilflosen Wesen ausgesetzt sind. Das Obductionsprotokoll über den Befund einer solchen ausgegrabenen Kinderleiche war wahrhaft haarsträubend. Zu den äußeren Mißhandlungen, die den zum Scelett abgemagerten Körper in ihren Spuren bedeckten, war der förmliche Hungertod, der Tod wegen Entziehung der nöthigen Nahrung und ungenügender Beschaffenheit derselben constatirt.

Welche Leiden muß das arme kleine hilflose Wesen ausgestanden haben? Wie viele mögen ihm vorangegangen sein?

Die Kindesmörderin, welche die unglückliche That im Wahnsinn der Erregung, der Angst, im unzurechnungsfähigen Augenblick vollbracht, muß sie büßen mit langjähriger schwerer Zuchthausstrafe.

Für den überlegten langsamen Mord der Engelmacherinnen hat das Gesetz nur verhältnismäßig eine sehr geringe Strafe.

Wir schreiben diese Betrachtung in einer Zeit, wo die Theurung überhand genommen, wo die Preise fast aller Lebensmittel sich verdoppelt haben. Die Pflegegelder sind dieselben niedern geblieben – muß da nicht selbst bei redlichem Willen die eigene Noth den Pfleglingen das Nöthigste beschneiden? Wie viel mehr wird es von den Herzlosen geschehen, die kein Gewissen haben für die, deren einzige Klage nur das dumpfe Wimmern des Elends, des Hungers ist!

Wäre es nicht möglich, diese armen, von ihrer Geburt verstoßenen [255] hilflosen Geschöpfe zu schützen, ihre Mütter in eine Lage zu bringen, in der sie den begangenen Fehltritt leichter verbergen, in der sie die Existenz ihres Kindes sichern können?

Die Säuglingskrippen thun unendlich viel Gutes und sind schützende Engel für viele Kinder. Aber sie schlitzen eben nur das eheliche Kind des Armen vor den Gefahren, denen es die Verhältnisse der Familie aussetzen.

Wir meinen das: Findelhaus!

Warum scheut man sich in Berlin so vor diesem Wort und vor dieser offenbar menschenfreundlichen Einrichtung?

Wir haben gehört, daß bedeutende Summen und Vermächtnisse für die Gründung einer solchen Einrichtung seit vielen Jahren vorhanden sind, daß aber deren Ausführung an einer gegengefaßten Meinung noch immer gescheitert ist. Man glaubt in der Gründung des Findelhauses eine Beförderung der Unmoralität zu sehen, die einer christlichen Regierung nicht geziemt.

Es ist dies ein tiefer und hoher Grund, und wir verkennen keineswegs seine religiöse Bedeutung, wie seine materielle Wahrheit.

Die Leichtigkeit, sich der Last des Kindes zu entledigen, wird Viele dazu führen, sich der heiligen Pflicht zu entziehen.

Aber ist bei solchen Müttern das Findelhaus für die Neugebornen nicht die Rettung?

Giebt es nicht das Gewissen?

Giebt es nicht die öffentliche Meinung, die selbst in ihrer Ausartung, in der Klatschsucht, den Nächsten und seine Handlungen bewacht?

Man hat sich zu etwas weit weniger Gerechtfertigtem, weit Unmoralischerem, Unchristlicherem entschließen müssen. Man hat dem Thierischen in der menschlichen Natur die Concession gemacht, die Bordelle wieder zu eröffnen. Nach unserer Meinung sind diese in ihrer jetzigen Einrichtung nur Beförderungsmittel der Liederlichkeit und der Vergeudung und stiften keineswegs den sanitätlichen Nutzen, den man von ihnen erwartet und rühmt. Der bessere Gesundheitszustand der Hauptstadt, die Beschränkung der Syphilis ist durch die zugleich eingetretene schärfere Aufsicht der Behörde auf gewisse Zustände der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Aufhebung der Kneipenmamsells, der zuchtlosesten Prostitution, durch die Beschränkung der vagabondirenden Liederlichkeit, keinesweges [256] durch die Bordelle herbeigeführt, über deren Verwerflichkeit wir mit den stärksten Eiferern vollkommen einverstanden sind.

Welche Aehnlichkeit aber hat das Findelhaus mit diesen Oertern der Schande, die man doch geglaubt hat, den Uebelständen einer großen Stadt schuldig zu sein?

Das Findelhaus ist eine Anstalt der Barmherzigkeit, die die Schuldlosen vor den Folgen der Schuld rettet.

Sollte man deswegen die Rettungseinrichtungen gegen Feuersgefahr nicht schaffen und vervollkommnen, Versicherungsanstalten nicht gründen, weil man fürchtet, die Leute werden nun weit weniger vorsichtig mit Feuer und Licht umgehen, indem sie wissen, daß bei einem Unglück sie doch nicht so leicht verloren sind?

Die hundert wohlthätigen und barmherzigen Anstalten der Versorgung von Kranken, Schwachen, Greisen und Armen, die Waisenhäuser und Erziehungsinstitute für die der Eltern Beraubten – sind sie etwas Anderes als Findelhäuser für die Unglücklichen und Hilfsbedürftigen?

Das Findelhaus ist die Waisenanstalt der Säuglinge!

Wir wollen die endliche Einrichtung nicht im Interesse der Mütter für ein gutes erhabenes Werk empfehlen – obschon auch hier die Schwäche der menschlichen Natur viel Berechtigung hätte, obschon gar manche Rettung damit vollbracht, gar manches Verbrechen verhindert würde; nein – wir mahnen daran im Interesse der unschuldigen hilflosen Kinder, für die keine andere noch so sorgsame Einrichtung diese Anstalt der Barmherzigkeit und des Schutzes ersetzen kann.

In Paris, Wien, London, fast in allen großen Städten bestehen längst solche Anstalten und haben sich überall als segensreich und gut bewährt. Auch Berlin zählt seit Kurzem eine ähnliche, private, und die Unterstützung der Behörden, deren sie sich zu erfreuen hat, zeigt, wie sehr man die Zweckmäßigkeit derselben anerkennt. Aber sie ist eben nur für die Fehler der Wohlhabenden und kann nicht den erhabenen Charakter tragen, den ein öffentliches Institut der Barmherzigkeit haben würde. –

Berlin besitzt gegenwärtig an der Spitze der entsprechenden Behörde einen Mann von scharfer durchdringender Einsicht für gesellschaftliche Uebelstände und einem Organisationstalent, wie uns kein zweites je bekannt geworden. Energie vereint sich in ihm [257] mit Eifer und Hingebung, und er besitzt die Macht in dem höchsten Vertrauen, das ihm geworden. Berlin und der Staat verdanken ihm bereite Einrichtungen, die seinem Wirken dauernde Anerkennung sichern werden, welche Hindernisse auch Unverstand und philiströser Schlendrian seinem Schaffen entgegenstellen. Das Gute und Zweckmäßige bricht sich noch immer seine Bahn. Sollte der hohe Beamte, den wir meinen, nicht auch seinen scharfen Blick, seine Thatkraft auf diese Einrichtung wenden wollen? Indem er die Gründung eines solchen Hauses der Barmherzigkeit gegen die seit langen Jahren ihm entgegenstehenden Hindernisse durchsetzte, würde er sich ein Denkmal schaffen, das seinem Namen hundertfachen Segen gebeugter Herzen und jener Hilflosen sichern würde, von denen Christus gesagt hat: Lasset sie zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Dame hob behutsam das schlafende Kind aus dem Bettchen und preßte es an ihre Brust.

»Sehen Sie nur, Gnädige, was der Kleine für Bäckschen hat, roth wie Aepfelchen. Ja, ja, die Kinder haben's bei der Müllerdorfern gut. Schöne Nahrung und Reinlichkeit. Ick sage Ihnen, es geht Nichts über die Reinlichkeit.«

Sie hätschelte mit widerlicher Freundlichkeit das Kind, obschon die Mutter, die sich damit auf einen Stuhl gesetzt, sich ekelnd vor dem Branntweinodem abwandte, den das Weib ausströmte. Davon erwachte das Kind, schlug die Augen auf und fing an zu schreien. Nach wenigen Minuten antworteten im Chor die andern, die unter den Lumpen des allgemeinen Bettes zusammengepackt lagen.

»Werdet Ihr still sein, Ihr Bälger! Wart', das ist der Schreihals, die Mine – das Ding ist drei Jahr und wie ein Einjähriges. Na wart', laßt mich hinkommen. – Entschuldigen Sie, Gnädige, es sind nur gewöhnlicher Leute Kinder und eene Magistrats-Waisenkrabbe. Ick werde sie aber gleich zur Ruhe bringen.«

Damit nahm sie vom Tisch eine große Saugflasche, die mit Milch gefüllt schien, und hielt sie den jüngsten Kindern vor, die begierig daran sogen und sogleich wieder in tiefen Schlaf verfielen. Weder der Major, noch die mit ihrem Kinde zärtlich beschäftigte Dame bemerkten die Stöße und Knüffe, welche die beiden größeren [258] der erwachten Kinder von dem Weibe erhielten und wie sie sich heimlich wieder in Schlaf weinten.

Die junge Mutter ging mit dem beruhigten Kleinen durch die Stube auf und nieder und legte es dann zurück in sein Bettechen. Zufällig siel ihr Auge auf die Milchflasche, und ehe es noch die Frau hindern konnte, nahm sie dieselbe in die Hand, zog den Pfropfen heraus und goß einige Tropfen aus die Hand. Ein widerwärtiger Dunst quoll ihr aus der geöffneten Flasche entgegen, wie von saurer verdorbener Milch, mit scharfem Alkohol geschwängert.

»Um Gott, Frau, was haben Sie da? was ist das für Milch? Ferdinand, ich bitte Dich!«

Der Major nahm ihr die Flasche aus der Hand und probirte einige Tropfen.

»Da ist ja Branntwein darunter, Frau!?«

»Nu freilich, een Tröpschen; was schad'ts denn? die Kinder schlafen dann desto besser. Es ist halt nur für die Nachtruh'.«

»Aber Frau, Sie werden doch einem kaum entwöhnten Säugling nicht das schändliche Getränk geben?«

»I Gott bewahre, Gnädige, das ist nur da für die gemeinen Krabben, die sonst gar nicht stille zu kriegen sind. Das Engelchen schläft ganz von selber und kriegt die allerfrischeste Milch, wie sie nur der Charlottenburger Milchmann früh bringt. Der Kleine könnt's bei Ihnen selber nicht so gut haben, wie bei mir.«

Die Verlegenheit des Weibes, das rothe Gesicht des Kindes hätten freilich bei einer erfahrenen Mutter böse Zweifel gegen die Ableugnung erweckt. Die junge Dame warf sich in die Arme des Mannes.

»Führe mich fort, Ferdinand; diese Lust, dies Alles erstickt mich. O, wie bin ich so gränzenlos unglücklich!«

Der Major gab der Frau Geld und befahl ihr auf das Strengste an, dem Kinde nur die reinste Nahrung zu reichen, und sagte, daß er alle Woche einen Arzt hierher senden werde, um sich von dem Zustande desselben zu überzeugen. Das Weib betheuerte und versprach alles Mögliche, und geleitete so das Paar durch den Hausflur zurück auf die Straße. Dam – allein – schlug sie verächtlich ein Schnippchen hinter ihnen drein, steckte dem Kinde in der Wiege wie zum Trotz die entsetzliche Flasche in den Mund, und als sie den nächtlichen Besuch weit genug entfernt glaubte, löschte sie rasch die Lampe und eilte auf's Neue zu ihrem Gelage, [259] ohne das kranke wimmernde Kind im Vorderkeller auch nur eines Gedankens zu würdigen. –

Leise weinend schritt indeß die junge Mutter neben dem Major her, der vergeblich sie zu beruhigen und zu trösten suchte.

»Du hast es selbst gewollt, Marie; das Kind war auf dem Lande gut aufgehoben bei der armen Frau, aber Du bestandest darauf, es in Deiner Nähe zu haben, um es wenigstens hin und wieder sehen zu können. Ich habe mich nach verschiedenen Haltefrauen erkundigt, aber man rühmte mir diese immer noch als eine der zuverlässigeren. Bei vielen andern waren wir auch weniger vor Entdeckung sicher. Ueberdies bürgt uns der eigene Vortheil dieser Person dafür, daß sie dem Kinde die möglichste Sorgfalt widmet; Du hörtest selbst, daß es ihr ›bestes‹ ist. An andern Orten ist es vielleicht noch schlimmer aufgehoben.«

Aller Trost nutzte Nichts; er mußte ihr versprechen, sobald als möglich für das Kind einen andern bessern Ort zu ermitteln, es wieder auf das Land zurückzubringen, indem sie lieber darauf verzichten wolle, es zu sehen. Der Major versprach Alles, nur um die Erregte zu beruhigen. So brachte er sie wieder zurück zu dem Garten und nach weiteren Verabredungen für die nächste Zusammenkunft, wozu Gelegenheit ihnen durch die obwaltenden Verhältnisse nur sehr selten gegönnt war, bis zu dem Hause.

»Und nun leb' wohl, Marie, sei stark und muthig, wir werden sicher noch alle Hindernisse besiegen; vertraue auf meine Kraft, nur mache Dich los von den Vorurtheilen, die Dich noch mit hundert Banden gefesselt halten. – Zum Henker,« unterbrach er sich, indem er mit der Hand im Epheugeländer umhersuchte, »wo steckt denn die Leiter?«

»Sie wird nicht nöthig sein,« sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen; »ich werde die Comtesse, meine Tochter, auf einem passenderen Wege nach ihrem Zimmer geleiten.«

Das Paar fuhr wie vom Blitzstrahl getroffen auseinander. Zwischen ihnen stand ruhig und gemessen ein großer stattlicher Mann mit breiter Brust und grauen Haaren. Das Sternenlicht der Sommernacht ließ freilich die Züge nicht erkennen, aber Jedes der Beiden wußte, wen es vor sich hatte.

Der Major faßte sich alsbald, während die junge Dame halb ohnmächtig an der Wand lehnte.

»Herr Graf,« sagte er, »es ist eine peinliche Situation, in [260] der ich Ihnen in diesem Augenblick gegenüberstehen muß. Erlauben Sie, daß ich Ihnen morgen früh eine Rechtfertigung gebe, wie sie unter Männern von Ehre nöthig ist.«

»Bemühen Sie sich nicht, mein Herr – der Zufall und Schlaflosigkeit haben mich hinter die nächtlichen Promenaden dieser jungen Dame gebracht, und ich werde sie künftig zu verhindern wissen, eben so wie alle unpassenden Liebschaften. Weiter weiß ich Nichts und will Nichts wissen. Gute Nacht, mein Herr.«

»Herr Graf, ich bitte Sie – hören Sie mich an ...«

»Mein Herr, zwingen Sie mich nicht, die Bedienten durch meinen Ruf zu wecken. Mit Leuten Ihrer Art und Ihrer Gesinnung hat ein Edelmann von unbeflecktem Namen Nichts zu thun. Ich sollte meinen, zum galanten Verführer wären Sie doch schon zu alt. Es ist also die Speculation! – Dieser Garten aber und dieses leichtsinnige Mädchen sind noch mein Eigenthum, und Gott sei Dank gelten hier noch nicht die Gesetze der Herren Communisten und Weltverbesserer. – Entfernen Sie sich, ich befehle es, und lassen Sie sich nicht wieder in dieser Umgebung blicken.«

Er faßte die Comtesse hart am Arm und führte sie fort nach dem Hofraum. – Der Major schlug sich wild vor die Stirn und drohete mit der Faust nach dem Hause. Dann ging er rasch in die Büsche des Gartens.


Zur selben Zeit ungefähr, als der Fremde, den wir unter dem Titel »Major« nach der Bezeichnung auf seiner Visitenkarte eingeführt haben, die spanische Tänzerin verließ, fand eine andere für das Schicksal Europa's und den Gang unserer Darstellung bedeutsamere Unterredung statt.

In dem großen Empfangzimmer eines Hotels der sogenannten Diplomatenstraße von Berlin saß an dem Tisch ein Mann von einigen fünfzig Jahren und ziemlich kleiner, wenig auffallender Statur mit legerer, leicht gebeugter Haltung, in einem geschriebenen Memoire lesend und zuweilen mit dem Bleistift einzelne Stellen darin bezeichnend. In dem ziemlich faltenreichen, fast viereckigen Gesicht lag eine gewisse Lethargie, dabei ein Ausdruck von vieler Gutmüthigkeit, doch zuweilen flog es über die Züge, als säße [261] leiser jovialer Spott darin, wie der Schalk im Nacken. Die hohe volle Stirn verkündete den ruhigen Denker und Beobachter. Das Merkwürdigste an dem Kopf waren die Augen eben in ihrer Verborgenheit. Unter matt, fast schläfrig gehobenen Augenlidern, mit häufigem Zwinkern, gleich als könnten sie das Licht nicht vertragen, oder wären angegriffen von dem Staub der Aktenstube, verschwänden sie fast ganz hinter der Brille, als wollten sie unter dem Schutz der Gläser nur beobachten und wieder beobachten. Es lag über der ganzen Persönlichkeit eine unendliche Ruhe, ein Zusehen, ein Abwarten, eine Zähigkeit, die einen vollendeten, in sich abgeschlossenen Charakter bildeten.

In der That entsprach das bedeutsame öffentliche Leben und in Preußens Geschichte so wichtige Wirken des Mannes ganz seiner Persönlichkeit. Es war der Fabius cunctator der modernen Politik und Diplomatie, jener Staatsmann, dessen merkwürdigen zähen Eigenschaften und unverwüstlicher Ruhe unterm Schutz seines erhabenen Monarchen Preußen seit fünf Jahren die glückliche Leitung seines Staatsschiffes durch eine Unzahl von Klippen und Brandungen und die schwierigsten innern und äußern Situationen verdankt. Nicht mit jener eisernen Consequenz erhabener Charactere, aber mit einer Zähigkeit und Ausdauer, die zuletzt immer ihren Weg macht, wenn sie auch im Augenblick biegsam und nachgebend erscheint, verfolgte seine Politik ihr Ziel. Von allen Parteien angefeindet, von Oben und Unten angegriffen, zahllose Anfeindungen und wenn nicht Niederlagen, so doch Triumphe seiner Gegner erleidend, ist er der Erste, welcher sie anerkennt und seinen Rückzug nimmt, und dennoch hat er am Schluß noch immer seine Zwecke erreicht, seine Feinde und Freunde aus dem Felde gedrängt und seine – wir wollen nicht sagen »Macht« – aber seine Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit befestigt. Wenn auch nicht ohne Vorurtheile, so doch ohne Leidenschaften ist er unbedingt der glücklichste und an Erfolgen reichste Diplomat seiner Feit, und wäre wahrscheinlich ihr größter Staatsmann, wenn er zu seinen Eigenschaften noch das eigenthümliche Talent großer Männer zählte: raschen und glücklichen Scharfblick in Beurtheilung und Wahl der Personen und deshalb stets gut bedient zu sein.

Der im Vorzimmer Wache haltende alte Kanzleidiener öffnete jetzt die Thür und meldete leise einen Besuch. Der hohe Beamte verließ seinen Sessel, drehte vorsichtig die Lampe auf dem Tisch [262] um, so daß ihr Licht jetzt nach dem Sopha fiel, und ging dem Eintretenden bis an die Thür entgegen, die er sorgfältig hinter ihm schloß.

»Nehmen Sie Platz Herr Baron! ich habe Ihr Billet heute Mittag erhalten und Sie erwartet. Wir werden ungestört sein.«

Der Eingetretene war eine hohe schlanke Gestalt mit blassem feinem Gesicht und auffallend breitgewölbter Stirn, in der Mitte der dreißiger Jahre. Er sprach das Deutsch langsam, sein und ruhig, nur wenn die Unterhaltung lebhafter wurde oder es ihm auf eine subtile Wendung anzukommen schien, bediente er sich im Gespräch der französischen Sprache.

»Euer Excellenz sind sehr freundlich,« sagte er, indem er auf die Einladung des Wirthes auf dem Sopha Platz nahm. »Erlauben Sie, daß ich nochmals erwähne – um jeden Zweifel über den Character unserer Unterredung zu beseitigen, – daß ich dieselbe von Euer Excellenz nur als eine private und persönliche erbeten habe, um Ihre Ansichten und Ihren Rath zu hören, bevor ich morgen die Ehre habe, Ihnen offiziell die neueste von meinem Kabinet eingetroffene Note zu überreichen.«

»Unsere Unterredung soll also bloß eine rein private, bedeutungslose sein, von der ich Seiner Majestät dem Könige keinen Bericht zu erstatten brauche?«

Der Andere zögerte.

»Das nicht ganz, – Sie mißverstehen mich, Exzellenz. Ich wünsche Ihnen auch – nicht offiziell – aber unter der Hand – einige Mittheilungen und Vorschläge zu machen, deren weitere amtliche Kundgebung natürlich von Ihrem Entgegenkommen abhängen würde. Auch bin ich beauftragt, in gleicher Weise die Ansichten Ihres Gouvernements über gewisse Eventualitäten der Zukunst zu erfragen.«

Ein leises diplomatisches Lächeln glitt über das Gesicht des Kleinen.

»Da Sie unserer Unterredung weder einen offiziellen, noch rein unterhaltenden Character zugestehen wollen, Herr Baron, so müssen wir sie vielleicht eine ›offiziöse‹ nennen. Das ist ja wohl der Ausdruck, den die Neue Preußische Zeitung, Ihre Freundin, dafür erfunden hat.«

Der Baron verbeugte sich zustimmend.

[263] »Gestatten mir Euer Excellenz zunächst einen kurzen Rückblick auf die letzten diplomatischen Verhandlungen, der uns um so rascher auf den zu nehmenden Standpunkt führen wird, als Euer Excellenz gewiß bereits wissen oder vermuthet haben, daß die Note, welche ich morgen die Ehre haben werde, Ihnen zu überreichen, die Antwort des Herrn Reichskanzlers auf die alle Chancen der friedlichen Ausgleichung auf's Neue bedrohenden Amendationen des Divans zu der vereinbarten und unsererseits angenommenen Note der wiener Conferenz enthält.«

»Ich bin mit dieser Art der Verhandlung ganz einverstanden, Herr Baron, und bitte Sie, bis auf den beklagenswerthen, und auch von Seiner Majestät dem Könige tief bedauerten Schritt des Einmarsches Ihrer Armee in die Donaufürstenthümer am 3. Juli zurückzugehen. Sie kennen bereits meine Ansicht, daß dieser Schritt, zu dem sich Ihre Regierung hat hinreißen lassen, mir keineswegs durch die bestehenden Verträge gerechtfertigt scheint, und daß ich in ihm das Hinderniß aller gütlichen Ausgleichung und die nothwendige Ursache kriegerischer Verwickelungen sehe.«

»Aber, mein Gott, was wollen Sie, das geschehen soll? Eine Macht wie Rußland konnte sich doch von einem so untergeordneten lebensunfähigen Staat wie die Türkei in ihren gerechten Forderungen nicht Trotz bieten und die gemachte Androhung unausgeführt lassen? Und nun, da die Besetzung geschehen, wird der Kaiser, mein Herr, doch unmöglich seiner politischen Ehre so viel vergeben, um seine Truppen den Rückzug antreten zu lassen, ohne daß die Gewähr seiner Forderungen gesichert ist? – Die geringe Zahl der Truppen, welche den Pruth überschritten haben, bürgt Europa dafür, daß es sich nur um eine Pfandnahme, nicht um ein militairisches Vorgehen gegen die Türkei handelt.«

»Sie vergessen, Herr Baron, daß die politische Ehre eine Sache ist, die sehr vielfacher Deutung unterliegt. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Preußen, von dem Sie jetzt die Unmöglichkeit einer solchen Anschauung verlangen, vor nicht langer Zeit in der Lage war, auf den dringenden Rath einer befreundeten Macht, – ich will es nicht anders nennen – in, seine innern deutschen Interessen betreffenden, Streitigkeiten zwei Mal einen militairischen Rückzug aus seinen avancirten Stellungen nehmen zu müssen. Ich meine Schleswig-Holstein und Cassel, und wenn ich nicht sehr irre, wurde uns hier auf der nämlichen Stelle klar gemacht, daß die [264] politische Ehre durch ein solches Rückgehen keineswegs eine Einbuße erleiden könne.«

Der Baron erröthete stark, antwortete jedoch nicht auf den Fechterstreich, den er erlitten, sondern nahm sofort die Darstellung der diplomatischen Verhandlungen auf.

»Die Pfandnahme der Donaufürstenthümer hatte in Constantinopel einen Aufstand der Kriegspartei und die kurze Aenderung des Ministeriums Reschid zur Folge, ein Beweis, wie wenig die alttürkische – im Stillen immer herrschende – Partei zu einer billigen Nachgiebigkeit geneigt ist. Die Vermittelung der Gesandten bei Seiner Hoheit dem Sultan hat zwar die sofortige Wiedereinsetzung des Großveziers und Reschid Pascha's zur Folge gehabt, indeß glaube ich, daß es den Vertretern von Frankreich und England mehr darum zu thun gewesen ist, den gesicherten Einfluß sich zu bewahren, als den Krieg zu verhindern; denn wir wissen sehr wohl, daß das Kabinet der Tuilerien bereits unterm 13. Juli das englische Gouvernement aufgefordert hat, sich über das weitere Agiren der Flotten zu verständigen, wenn die Vermittelung nicht zu Stande käme. Dahin zielt auch die Note der französischen Regierung vom 15., welche uns das Recht der Besetzung streitig macht, und der Pforte daraus dasjenige vindicirt, den beiden Mächten die Passage der Dardanellen zu gestatten. Auch das englische Kabinet antwortete in gleicher Weise unserer Circular-Depesche vom 2. Juli. Während hierauf die Gesandten der vier Großmächte in Constantinopel darüber verhandelten, den Protest der Pforte gegen unser Einrücken in die Fürstenthümer uns mundrecht zu machen, und die Pforte den von Lord Stratfort redigirten Noten-Entwurf am 23. Juli annahm, hatte am selben Tage der Minister des Auswärtigen in Wien, Graf Buol, die Repräsentanten Preußens, Englands und Frankreichs bei sich vereinigt, um in Wien selbst einen Ausgleichungsvorschlag zu vereinbaren, dem die frühere französische Note zur Grundlage diente.«

»Es war ein unglückliches Zusammentreffen, daß beide Vorschläge gleichzeitig concurrirten.«

»So sehe auch ich es an, Excellenz. Graf Buol fügte der französischen Note zwei Verbesserungen bei, deren eine die Erklärung der Pforte enthält, den Vertrag von Kainardji treu beobachten zu wollen. Der englische Gesandte setzte hierbei die unnütze Aenderung durch, daß dem ganz klar lautenden Vertrage von [265] Kainardji von uns nicht eine beliebige Auslegung gegeben werden dürfe.«

»Ich weiß nicht, Herr Baron, ob diese Einschaltung so unnöthig war,« unterbrach ihn der Minister; »wenigstens hat die Folge gezeigt, daß gerade die Auslegung den streitigen Punkt abgab. Jedenfalls war das preußische Gouvernement ganz mit dem Vorschlage des Herrn Grafen Buol einverstanden, den unterdeß von Constantinopel eingegangenen Noten-Entwurf zurückzubehalten und den der wiener Konferenz zur Annahme zu empfehlen.«

»Die Feststellung desselben erfolgte am 31.; Oberst von Ruff ging mit einem eigenhändigen Schreiben Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph nach Constantinopel, um dem Sultan die Annahme des Vermittelungsvorschlages auf das Dringendste zu empfehlen, und die Regierungen von England, Frankreich und Preußen – wir wollen vorläufig an die Aufrichtigkeit der beiden ersten glauben – instruirten ihre Gesandten bei beiden Kabineten, alle Bemühungen darauf zu richten, daß die Note acceptirt werde.«

»Graf Nesselrode benachrichtigte bereits am 3. August unsern Gesandten in Wien, daß Seine Majestät der Kaiser die wiener Note angenommen habe, und die Depesche vom 6. brachte die ausführliche Erklärung über diese Annahme unter der Voraussetzung, daß die Pforte sie auch unverändert acceptire. Wenn nicht, konnte sich Rußland, das sich der Annahme nur zur Beschwichtigung der Besorgnisse Europa's unterworfen hatte, nicht weiter für gebunden halten. Sie werden mir zugestehen, Exzellenz, daß hier die Sachlage und die Verpflichtung ganz einfach und klar ist. Die vier Großmächte stellen – unabhängig von den streitenden Parteien – die für den Frieden Europa's und die Lösung des Zwistes von ihnen nothwendig gehaltenen Punkte eines Abkommens fest. Rußland acceptirt dieselben ohne Abänderung und fügt sich dadurch dem Beschluß seiner bisherigen Verbündeten. Diesen fällt hierdurch die ganz natürliche Verpflichtung anheim, auch nach der andern Seite hin die Unveränderlichkeit ihres eigenen Werkes zu vertreten.«

»Das ist richtig, Herr Baron; es ist nur zu bedauern, daß während der Verhandlungen Rußland die Pforte auf's Neue durch Maßregeln reizte, die man höchstens in einem feindlichen eroberten Lande anwendet. Ich meine den Befehl Ihres Oberkommandirenden in den Fürstenthümern an die Hospodaren, die Verbindung [266] mit Constantinopel und ihrem rechtmäßigen Souverain abzubrechen und den Tribut zurückzubehalten.«

»Ich glaube, daß dies Zwischenfälle sind, die auf die allgemeine politische Rechtsfrage keinen Einfluß haben. – Am 11. August traf die Nachricht in Constantinopel ein, daß Rußland die Wiener Note angenommen habe. Hier, Excellenz, – ich rede nicht von Preußen – scheint mir die Aufrichtigkeit der vermittelnden Mächte ihr Ende zu haben.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Baron. Nach dem Bericht unseres Gesandten in Constantinopel hat Lord Stratford am 13. eine Conferenz mit Reschid Pascha gehabt, in welcher er dringend von diesem verlangte, den Vorschlag der vier Mächte sich zu eigen zu machen, obschon derselbe erklärte, es seien mehrere bedenkliche Punkte darin, die sich der Annahme entgegen stellen würden. Am 14. wurde der Vorschlag vor den türkischen Ministerrath gebracht und verworfen, selbst wenn er amendirt würde. Lord Stratford, die nochmalige Ablehnung zu vermeiden, sandte bei dem auf's Neue am 15. gehaltenen Ministerrath einen Vorschlag an Reschid, die Pforte solle die Note annehmen, indem sie sich reservire, zu ihren Gunsten die bedenklichen Stellen auszulegen und ihre Interpretation der Beistimmung der vier Mächte unterbreite, die so den Sinn der wiener Note sicherstellen würden. Der Vorschlag wurde nach vieler Mühe angenommen.«

»Aber diese Amendationen geben dem ganzen wiener Entwurf eine neue Fassung.«

»Das ich nicht wüßte, Herr Baron. Die Bedenken der Pforte gründen sich auf drei Punkte. Zunächst soll der Passus über die thätige Sorgfalt des Kaisers von Rußland für die griechischen Christen in der Türkei zu der Auslegung Raum geben, als ob die Sultane nur in Folge dieser thätigen Sorgfalt der griechischen Kirche Rechte und Freiheiten gegeben hätten, und damit Rußland einen Vorwand zur weiteren Einmischung bieten. Danach glaubt die Pforte, daß der Passus über den Vertrag von Kutschuk-Kainardji die Fragen in Betreff der religiösen Privilegien in einer Weise hineinmenge, die durch jenen Vertrag gar nicht erfordert werde und die Souverainetät der Pforte bedrohe. – Endlich verlangt die Pforte, daß in dem Passus über die Gleichstellung der griechischen Kirche mit den anderen Riten ausdrücklich ausgesprochen werde: daß dies insoweit gemeint sei, als ihre Unterthanen zu diesen [267] anderen Riten gehören. Mir scheint, Herr Baron, daß namentlich die beiden letzten Verlaugen ganz gerechtfertigt sind.«

»Aber das ändert die ganze Lage und Deutung unserer Forderung. Wir wollen nicht die Gleichstellung der griechischen Christen mit dem Zustande anderer christlicher Secten, die Unterthanen des Sultans sind, was längst gesichert ist, sondern mit den christlichen Culten unter fremdem Schutz, mit den christlichen Unterthanen fremder Mächte in der Türkei.«

»Zu viel auf ein Mal zu erlangen, Herr Baron, möchte zunächst eine gefährliche Sache sein. Mir scheint, daß eine solche Auslegung die griechisch-christlichen Unterthanen des Sultans zunächst unter ein Protektorat Seiner Majestät des Kaisers von Rußland dringen würde, das sie in facto aufhören läßt, Unterthanen der Pforte zu sein.«

Der Andere schwieg, er fühlte, daß er sich eine voreilige Blöße gegeben hatte.

»Ueberdies,« fuhr sein Gegner fort, »sind die Verhältnisse der christlichen Confessionen leider auch in anderen – in christlichen – Staaten noch immer nicht so geregelt und befreit, daß man ganz berechtigt erscheint, einem nichtchristlichen Souverain aus den obwaltenden Verhältnissen einen Vorwurf zu machen. Ich beklage gewiß tief die Leiden der Christen in der Türkei, aber ich weiß nicht, ob sie ärger sind, als z.B. die Verfolgungen der Katholiken und Protestanten, welche man noch in der neuesten Zeit christlichen Staaten zum Vorwurf gemacht hat, ohne daß eine Rechtfertigung erfolgt ist.«

Der Diplomat biß sich auf die Lippen.

»Euer Excellenz scheinen gegen die Redlichkeit unserer Absichten eingenommen,« sagte er nach kurzer Pause. »Was ich vorhin von den Rechten der griechisch-christlichen Unterthanen der Pforte äußerte, ist natürlich nur das wünschenswerthe Ziel einer Emancipation der orientalischen Christenheit überhaupt, welche zu erreichen doch wohl die Schlußaufgabe aller civilisirten Staaten ist.«

»Sie irren, Herr Baron, wenn Sie mir das geringste Vorurtheil in dieser Beziehung zuschreiben. Ich habe allerdings unter'm 28. vorigen Monats unseren Gesandten in Petersburg dahin instruirt, auf alle Weise bei Ihrem Kabinet die türkischen Vorschläge zu befürworten, aber nur weil ich darin durchaus keine Beeinträchtigung Rußlands sehen kann.«

[268] »Aber selbst Graf Buol hat offen diese Aenderungen der Pforte bedauert, da sie unnütz und mehr Wortveränderungen sind. Ich muß Euer Excellenz darauf aufmerksam machen, daß diese neuen Hindernisse weniger von der Pforte ausgegangen, als von den beiden Vertretern Frankreichs und Englands im Stillen angeregt und in den Weg geworfen worden sind. Wir sind auf das Beste unterrichtet und wissen, daß Master Alison, der erste Secretair der englischen Gesandtschaft, während dieser ganzen Verhandlungen in dem Hotel der Pforte sein Büreau aufgeschlagen hatte und dem Divan die Antworten und Ausflüchte ausarbeitete.«

»Das weiß ich nicht,« sagte der Minister trocken, »meine geheime Polizei erstreckt sich nicht bis Constantinopel.«

»Der Beweis dafür ist die doppelseitige Stellung, die England und Frankreich sofort angenommen haben. Letzteres drang bereits darauf, daß wenn unsere Armee nicht bis zum 1. October über den Pruth zurückgezogen sei, – unter den schwebenden Verhandlungen eine Sache der Unmöglichkeit! – die Flotten die Dardanellen passiren sollten, während öffentlich beide Kabinete ihren Gesandten in Constantinopel schreiben, daß sie die Erwiderung der Pforte nur mit größter Mißbilligung hätten aufnehmen können und Alles aufzubieten sei, daß die einfache Annahme der Note erfolge. Auf der anderen Seite verlangt man in Petersburg die Annahme der Abänderungen. Dies ist kein redliches Verfahren und kann nur neue Verwickelungen herbeiführen.«

»So weit ich übersehe, Herr Baron, sind wir jetzt auf dem Punkt angelangt, in dem sich die Verhandlungen befinden und auf dem ich Ihre neueren Eröffnungen erwarten darf.«

»So ist es. Ich mag Euer Excellenz nicht verhehlen, daß der Kaiser, mein Herr, keineswegs gewillt ist, auch nur einen Schritt über die Position hinauszugehen, die er durch wahrhaft erhabene Nachgiebigkeit in der Annahme der wiener Note eingenommen. Jede weitere Concession wäre eine Schwäche. Die an Baron Meyendorf in Wien gerichtete Depesche vom 7. September, die ich morgen die Ehre haben werde, Euer Excellenz in Abschrift zu überreichen, erklärt ganz bestimmt, daß Rußland es mit seiner Würde unvereinbar halten müsse, nachdem es ohne Veränderung und Zusätze den Vorschlag der vier Mächte acceptirt, nunmehr den Forderungen der Pforte sich fügen zu sollen. Das Kabinet von St. Petersburg verharrt übrigens bei seiner früheren Zusage, daß [269] wenn ein türkischer Gesandter die unveränderte Note überbringt, die Donaufürstenthümer alsbald geräumt werden sollen.«

»Ich fürchtete das.«

»Die Interpretation meiner Regierung ist, wie ich wiederhole, folgende. Die wiener Note ist nicht Rußlands Werk, sondern das Werk der vier Mächte England, Frankreich, Preußen und Oesterreich. An ihnen ist es nicht allein, in Constantinopel ihrem Werke, das sie mit der Unabhängigkeit und Souverainetät der Pforte vereinbar gefunden, Achtung, oder besser gesagt, Gehorsam zu verschaffen, sondern auch Sache jeder einzelnen Macht ist es, die Mitcontrahenten zur Erfüllung dieses Vertrages anzuhalten und sich im Weigerungsfall auf die Seite Rußland's zu stellen.«

»Ich muß gestehen, Herr Baron, daß bis hierhin Ihre Regierung in vollem Recht ist und ich zweifle nicht, daß in Folge der Antwort Seiner Majestät des Kaisers mein königlicher Gebieter mir ganz bestimmte Erklärungen in Constantinopel, Paris und London befehlen wird.«

»So dürfen wir nöthigenfalls auf ein Defensiv-Bündniß mit Preußen und Oesterreich rechnen und die weiteren Einleitungen dazu treffen?«

»Einen Augenblick, Herr Baron. Ist die kaiserliche Ablehnung der türkischen Amendationen Alles, was Sie mir morgen zu übergeben haben?«

Der Diplomat stutzte.

»Zu dienen, Excellenz; wie meinen Sie das?«

Der Minister legte schwer und ernst seine Hand auf das Memoire, in dem er vorher gelesen, und das noch umgekehrt auf dem Tische lag.

»Es ist mir da von unbekannter Hand ein Schriftstück zugegangen, das die Abschrift einer zweiten Depesche vom 7. September an Herrn von Meyendorf enthalten soll, in welcher Graf Nesselrode diesem eine genaue Kritik der Amendationen der Pforte und die Auslegung des russischen Kabinets zu jedem streitigen Passus giebt. Ich weiß nicht, Herr Baron, ob das Aktenstück echt und ob es Ihnen bekannt ist?« Er reichte ihm das Memoire 1.

[270] Das blasse Gesicht des Russen wurde womöglich noch durchsichtiger, er sprang, wie von einem elektrischen Funken getroffen, empor.

»Ein Verräther unter meinen Secretairen?«

Der Minister lud ihn mit einer vornehmen Handbewegung ein, sich wieder niederzulassen.

»Ich achte zu sehr die Rechte der fremden Gesandtschaften, mein Herr, um mich auf eine unpassende Weise in ihre Geheimnisse zu drängen. Diese Papiere sind mir vor zwei Stunden anonym zugegangen und ich stelle sie Ihnen zur Disposition, um zu beurtheilen, ob sie von einem Ihrer Untergebenen herrühren können, was ich jedoch bezweifle, da in letzterer Zeit mir mehrfach Winke und Mittheilungen von derselben Handschrift von ganz andern Orten aus zugekommen sind.«

»Ich kann,« fuhr er nach kurzer Pause fort, während welcher sein Besuch die äußere Ruhe wieder gewonnen hatte und in dem Manuscript blätterte, »von diesem, jedes officiellen Characters entbehrenden Schriftstück natürlich auch keine amtliche Notiz nehmen und es auch nicht Seiner Majestät dem König vorlegen, um auf die Allerhöchsten Entschließungen einzuwirken. Privatim aber gestehe ich Ihnen, Herr Baron, daß ich es allerdings für ächt, und sein Bekanntwerden ganz für geeignet halte, die bereits zweifelhafte Haltung der Kabinete von London und Paris in eine offene Lossagung von den wiener Beschlüssen zu verwandeln, wenigstens – ich will offen mit Ihnen übereinstimmen – die Gelegenheit dazu zu geben.«

»Und Preußen? – Wir sind der österreichischen Zustimmung sicher auch nach der Ueberreichung dieser zweiten Note.«

Wieder überflog ein leichter Zug von Spott das Gesicht des Kleineren.

»Dann gratulire ich Ihnen. – Preußen, Herr Baron, wird so lange ich die Ehre habe, an der Spitze seiner Verwaltung zu stehen, und so lange Seine Majestät der König mich würdigt, meinen Rath entgegen zu nehmen, – sich und Deutschland von einer thatsächlichen Betheiligung an der orientalischen Verwickelung und dem – ich glaube kaum noch zu vermeidenden – Kriege frei halten und nur eine zurathende, vermittelnde und abwartende Stellung einnehmen. Es ist mein festes Bestreben, uns durch kein temporäres Bündniß in dieser Frage nach irgend einer Seite hin zu verpflichten.«

[271] »Da wir auf diesen Punkt der Offenheit gekommen sind, Excellenz, so erlauben Sie, daß ich unverhohlen meine Meinung über die Zukunft sage. Es liegt in den ganzen Ereignissen ein gewisser geheimnißvoller Faden, dessen Ursprung und Lauf ich nicht durchschauen kann, der aber offenbar consequent alle Vermittelungen und Ausgleichungen hindert und beide Theile immer weiter treibt. Daß die Absichten von England und Frankreich ganz wo anders hin zielen, als auf einen Schutz der Türkei gegen etwaige Uebergriffe unsererseits, ist wohl ganz Europa klar. Ich bin überzeugt, daß über kurz oder lang die beiden neuen Beschützer der Türkei um der öffentlichen Meinung willen von ihr ganz andere Concessionen für die christlichen Unterthanen und die Civilisation werden erzwingen müssen, als Rußland jetzt verlangt. Daß die Türkei einer vollständigen Reorganisation bedarf, um im europäischen Staatenbund fortbestehen zu können, ist von allen Seiten anerkannt. Man sucht uns nur das natürliche Recht der Avance streitig zu machen. Der sich vorbereitende Zusammenstoß ist ein Kampf des Westens gegen den Osten, wie er bereits mit einigen Variationen unter dem ersten Napoleon sich ereignet hat, und um so mehr dürfte es die Aufgabe der alten heiligen Alliance sein, fest auf der alten Basis zusammenzuhalten. Dies ist der Wunsch und die Erwartung meines kaiserlichen Herrn.«

Der Minister schwieg nachdenkend einige Augenblicke, dann sagte er ernst und würdig:

»Die Zukunft der Reiche und der Ausgang der Kämpfe, die sich vorbereiten, liegt in der Hand des allmächtigen Gottes. Jeder Staat hat seine erhabene Aufgabe, und der König, mein Herr, erkennt die Seine aus vollem christlichem Herzen und wohlgeprüftem Sinn. Die heilige Alliance ist eine mit dem Heldenblut der Völker besiegelte und erworbene Erbschaft, die durch Preußen nicht leichtsinnig gebrochen werden soll. Die persönliche Liebe des Königs, die Sympathieen eines großen Theils der besten Männer Preußens gehört Ihrem erhabenen Monarchen. Aber das Wohl und die Blüthe Preußens, seine eigenthümliche, selbst territoriale Stellung im europäischen Staatenbund, an der zum Theil Rußland selbst die Verschuldung trägt, müssen den Gedanken jeder Betheiligung an einem Kriege uns fern sein lassen, der – gerade heraus gesagt – nur um fremde, uns nicht direct berührende Interessen geführt wird. Seine Majestät der Kaiser hat Unrecht [272] gehabt in dem Hervorruf, er wird das Recht aus seiner Seite haben in der Fortführung. Preußen und Deutschland werden ihm den besten Dienst erweisen durch eine unbedingte Neutralität.«

»Rußland würde bedeutende Vortheile für ein Offensivbündniß gewähren. Die vollständige Oeffnung seiner Gränzen ...«

»Das ist ein Recht, das Deutschland ohnehin aus dem wiener Vertrage her beanspruchen könnte, wenn sich auch vom russischen Standpunkt die Vortheile der uns schädigenden Absperrung nicht verkennen lassen. Wenn für Preußen die Oeffnung der Ostgränzen einen Krieg aufgewogen hätte, würde es denselben früher begonnen haben.«

»Wir dürfen also wenigstens auf eine bewaffnete Neutralität im Fall eines Krieges rechnen? Bedenken Euer Excellenz, daß die westlichen Gränzen nicht gesichert sein würden. Der Kaiser Napoleon ist Ihr heimlicher Gegner so gut wie der unsere, und das Rheinland ist eine sehr zugängliche Position.«

»Wir werden uns die Rheinprovinz zu schützen wissen, Herr Baron, gegen etwaige Gelüste danach. Es ist vollkommen Zeit, daß Deutschland sich von jedem äußern Einfluß, jeder äußern Bedrohung emancipirt und endlich seine Gränzen festhält gegen alle fremden Dispositionen darüber. Das ist der ernste deutsche Wille Seiner Majestät des Königs und Seines erhabenen Verbündeten des Kaisers Franz Joseph.«

»Euer Excellenz werden doch nicht an die thörichten Behauptungen der französischen Zeitungen glauben ...?«

»Ich glaube in der Politik an Wenig, Herr Baron, am wenigsten an die Zeitungen. Ich weiß, daß das Kabinet von St. Petersburg unmöglich den Tuilerieen für die Zustimmung zu den russisch-türkischen Arrangements das linke Rheinufer zugesagt haben kann, wie es England Cypern und Egypten versprochen haben soll, – denn Kaiser Nicolaus ist ein Ehrenmann und die Sache wäre nicht nur moralisch schlecht, sondern auch politisch thöricht. Ich wiederhole Ihnen, dergleichen Geschwätz kümmert mich nicht.«

Der Diplomat kniff leicht die schmalen Lippen.

»Also eine bewaffnete Neutralität, wie Oesterreich sie bereits so gut wie zugesagt hat? Es könnte leicht geschehen, ja es ist [273] wahrscheinlich, daß man die Revolution zu Hilfe ruft. In London wird bekanntlich bereits ganz offen von den Flüchtlingscomité's gegen uns propagandirt. Polen und Ungarn sind noch immer offene Heerde, darum wäre es gut, im Vereine mit Oesterreich ...«

»Oesterreich, Herr Baron, ist nicht Deutschland. Oesterreich hat seine slavischen Staaten und Italien zu wahren. Es würde ein großer Mißgriff sein, uns durch eine Demonstration in Verwickelungen zu bringen und in große Kosten zu stürzen. Was die Revolution betrifft, so sein Sie unbesorgt, wir haben Lehrgeld gegeben, und Preußen wird sie auch an seinen polnischen Gränzen nicht dulden. Im Uebrigen: Neutralität, Herr Baron, Neutralität, begnügen Sie sich damit.«

Der Diplomat erhob sich.

»In jeder Beziehung. Excellenz, auch in der Presse?«

»Auch in der Presse, so viel es in der Macht der Regierung steht. Sie wissen, der König ist für eine anständig freie Discussion in den gesetzlichen Gränzen.«

»Ich frug und bat nur darum,« sagte der Diplomat mit feinem Lächeln, indem er ein Papier aus der Brusttasche zog, »weil auch mir da eine Art von Circular zugekommen, das an verschiedene Zeitungsredactionen die Freude ausspricht, mm endlich von dem Druck russischer Suprematie erlöst zu sein, und sie auffordert, ohne weitere Rücksicht der Stimme der öffentlichen Meinung Raum zu geben.«

Diesmal war es der Minister, welcher sich auf die Lippen biß.

»Das ist offenbar eine Dummheit, die höchstens von irgend einer mißverstehenden und tactlosen Voreiligkeit herrührt. Ich werde der Sache nachfragen. Im Uebrigen wissen Sie, Herr Baron, daß bei uns die Presse selbstständig ist und wir mit Absicht ein anerkanntes Regierungsorgan vermeiden. Sie werden daher auch Ihre Vertretung in der Presse selbst suchen müssen.«

»Wir überlassen dies dem Gefühl für das Recht. Leben Sie wohl, Excellenz, und nehmen Sie meinen Dank für die freundliche Aufnahme, die Sie mir diesen Abend gewährt haben. Wem auch nicht mit Erfüllung meiner Wünsche, so doch über Vieles beruhigt, verlasse ich Sie.«

»Auf officielles Wiedersehen morgen, Herr Baron,« sagte [274] lächelnd der höfliche Wirth, »und einen freundlichen Rath noch: lassen sie nie Worte meines verstorbenen Kollegen, des Fürsten Schwarzenberg, aus dem Gedächtniß. Sie werden wissen, welche ich meine. Ich empfehle mich.«

Die Thür des Vorzimmers, bis zu welcher er seinen Besuch begleitet, schloß sich.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Fußnoten

1 Die zweite russische Depesche vom 7. September, welche eine ziemlich weit gehende Auslegung und Deutung der Stipulationen der wiener Note in Form einer Kritik der türkischen Amendationen enthält, wurde der preußischen Regierung erst später, am 20. oder 21. September, offiziell bekannt.

2. Petersburg
II. Petersburg.

In einem mittelgroßen halb gewölbten Zimmer des kaiserlichen Winterpalastes, jenes erhabenen Prachtbaues, den der Befehl eines unumschränkten Gebieters in Jahresfrist aus der Asche neu hervorzauberte, brannte hinter einem hohen Schirm eine kleine Lampe, das Gemach nothdürftig erhellend. Die Ausstattung desselben war eine ziemlich einfache. Vor den beiden großen Fenstern, die nach der Newa hinausgingen, hingen schwere grün wollene Vorhänge, eben so vor den beiden Thüren. Zwei große Arbeitstische standen, der eine mitten im Zimmer. Dieser war mit Papieren und Mappen bedeckt, ein Seitenrepositorium enthielt eben dergleichen. Der zweite Tisch zeigte auf seiner breiten Platte ein kunstvoll gearbeitetes Schreibgeräth von occidyrtem Silber, Petschafte, Briefbeschwerer von seltsamem Material und ungewöhnlichen Formen, Einzelnes offenbar von großem historischem oder Kunstwerth, dazwischen ein Lesepult mit einer einfachen Perlenstickerei und eine kleine Standuhr. Ein Thermometer und ein Doppelkalender nach alter und neuer Rechnung hingen an dem vorspringenden Pfeiler neben einigen Papptafeln mit Listen und Notizen. Zwei offene Bücherschränke rechts und links zeigten eine Auswahl von Werken in französischer, englischer, deutscher, russischer und italienischer Sprache. Der Inhalt des ersten Schrankes gehörte der militairischen Literatur an, namentlich waren es Werke über das Geniewesen. Auch befanden sich darunter die Jahrgänge der preußischen Wehrzeitung, von der die beiden neuesten Nummern offen auf dem Tische lagen. Den zweiten Schrank füllten ernste und schönwissenschaftliche Schriften und einige lexicographische Werke.

[275] Neben dem zweiten Tisch stand ein langes, niederes, eisernes Rollbett von höchst einfacher Construction. Die Unterlage bildete eine Matratze von Maroquin mit Seegras gestopft, ein eben solches Kissen den Kopfpfühl.

An den Wänden hingen einige schöne große Gemälde geistlichen Inhalts, darunter eine Madonna von Murillo, und Portraits; auch zwei kleine Bleistiftzeichnungen in einfachen Rähmchen. Neben dem schriftenbedeckten Arbeitstisch befand sich an der Wand mir große Karte des russischen Reiches, gegenüber die von Europa. Eine große Ordnung und Regelmäßigkeit herrschte in der ganzen Einrichtung des Gemachs und verlieh ihr einen gewissen militairischen Charakter.

– – – –

Auf dem Rollbett, nur von einer wollenen Decke und einem Militairmantel verhüllt, lag ein Schlafender von fast riesiger Körperform.

Die breite kolossale Brust hob und senkte sich ruhig, das Antlitz war nach aufwärts gekehrt, ein Arm unter den Kopf gelegt. Eine hohe, glänzende, eherne Stirn, in der Mitte zwischen den Augenbrauen über der langen geraden Nase in einer ernsten halb drohenden Falte zusammengezogen. Das Gesicht lang und in vollem Oval, das Kinn stark und von großer Willenskraft, fest gerundet, der regelmäßige Mund, von einem militairischen Schnurrbart überschattet, ernst geschlossen. Die ganze Figur des Schlafenden schien wie aus Granit gehauen, so fest und straff war Alles daran. Es lag etwas Soldatisches, Starres, Titanenhaftes in ihr.

Der Zeiger der kleinen Uhr auf dem Tische wies auf 5 Uhr und zugleich ließ sich das scharfe kurze Rasseln eines Weckers hören. Bei dem ersten Tone desselben öffnete der Schlafende maschinenmäßig die Augen.

Diese Augen entsprachen dem Körper, dem ehernen Antlitz. Sie waren ruhig, fest, klar, groß und von jener Eigenthümlichkeit, daß, ohne einen bestimmten Ausdruck zu haben, ihr Blick doch durchdringend, durchbohrend, niederdrückend war, wie z.B. das Auge Friedrich's des Großen von Preußen.

Die Augen waren echt kaiserlich!

Es war auch der Kaiser, der eben erwachte.

Europa hat diesem erhabenen Charakter, diesem ehernen Bilde [276] unter den lebenden Herrschern, an dessen Sterblichkeit zu glauben man sich entwöhnt hatte, – viele nur schwere Vorwürfe an der Schwelle seines Jenseits gemacht; es ist viel Haß, viel Blut und viel Leiden auf diesen Hünen gewälzt worden. Der da Oden die Waagschale hält, richtet auch über die Könige und Kaiser der Erde, wie über den Paria, den Lepero und den Muschik. Aber das Gewicht, womit die Gewaltigen der Erde gewogen werden, ist ein anderes.

Wer viel gehabt und viel verleumdet wird, wird auch viel geliebt.

Kaiser Nicolaus ist geliebt worden, geliebt, wie man das Erhabene liebt.

Er war eine einsame mächtige Natur auf seinem Piedestal, und dieses Piedestal war der Thron des größten Reiches der civilisirten Erde. – –

Der Kaiser warf rasch Decke und Mantel von sich und kleidete sich an ohne Hilfe mit den Kleidern, die auf einem Stuhle vor seinem Bette lagen. Dann zündete er an der Lampe die Kerzen der silbernen Armleuchter an, deren je zwei auf jedem Tische standen.

Der Selbstherrscher des mächtigen Reiches that das Alles allein; er bewahrte bis in das Kleinste herab, so viel es sich mit seinem erhabenen Range vertrug, die militairischen Gewohnheiten.

Dann trat er einige Augenblicke an das Fenster und schaute die weite Perspective hinab. Die frühe Morgenstunde des Spät-Septembers hüllte unter der nordischen Breite noch Alles in Dunkel, das an tausend Stellen durch die Gasflammen unterbrochen wurde, die sich in dem Wasser des breiten Stromes spiegelten.

Der Kaiser setzte sich hierauf an den ersten Arbeitstisch und begann, einen Stoß Papiere durchzusehen. Diese mächtige Natur bewahrte eine immense Arbeitskraft, die durch die strengste Regelung der Beschäftigung und der Zeit vermehrt wurde. Für gewöhnlich stand der Monarch um halb sieben Uhr auf, nahm schon während seiner kurzen Toilette verschiedene Meldungen und Rapporte an, machte dann einen Gang durch das ganze Palais bis zur Wiege seiner Enkel und blieb bis um acht Uhr in seinem Kabinet. Von acht bis neun Uhr machte er stets, und wo er sich auch befand, Sommer und Winter, einen Spaziergang in freier Luft. Um neun Uhr empfing er regelmäßig den Kriegsminister [277] Fürst Dolgorucki, auf den er großes Vertrauen setzte. Der Fürst ist derselbe, welcher bei der bekannten, durch fast komische Mißverständnisse und Vorspiegelungen weniger Rädelsführer hervorgerufenen Militair-Emeute gleich nach der Thronbesteigung (am 24. December 1825) als Capitain die treue Wache im Hofe des Winterpalastes kommandirte, welcher der Kaiser den siebenjährigen Thronfolger anvertraute, ehe er kühn und allein den Rebellen entgegentrat.

Um zehn Uhr pflegte der Kaiser sich für kurze Zeit zur Kaiserin und seiner Familie zu begeben; nie ließ er aber auch dort einen angemeldeten Minister oder eine befohlene Person warten. Wenn gegen zwei Uhr alle Geschäfte im Palais beendet waren, fuhr er in seiner einspännigen Droschke oder im Schlitten aus und besuchte dabei drei bis vier Anstalten der verschiedensten Art. Um vier Uhr speiste er im kleinen Familienkreise, zu dem nur wenige Auserwählte zugezogen wurden. Der Kaiser aß stark, trank aber sehr mäßig. Selbst die Abendstunden waren meist den Staatsgeschäften gewidmet; wenn er im Salon der Kaiserin oder der Großfürstinnen erschien, sprach er wenig und nahm selten an der allgemeinen Unterhaltung Theil. In sein Kabinet zurückgekehrt, arbeitete er wieder und begab sich selten zur Ruhe, wenn noch irgend ein Bericht zu erledigen war. Oft stand er des Nachts auf, verließ allein das Winterpalais und stattete irgend einem Institut, namentlich den Cadettenhäusern, einen Besuch ab. Sein erster Blick galt dann stets dem Thermometer, der die vorgeschriebenen 14 Grad zeigen mußte, und seine Untersuchungen erstreckten sich bis in's Detail.

Der Kaiser hielt sich nach seinen eigenen Worten stets »im Dienst« und nur in Peterhof gestattete er sich auch in der Kleidung einige Abweichungen von der sonst streng ordonanzmäßigen Uniform und Haltung. Auch im strengsten Winter trug der Monarch nur den einfachen Offiziermantel, nie einen Pelz.

Mit dem Beginn der orientalischen Verwickelungen vermehrte sich die Thätigkeit des Kaisers und er gönnte sich noch weniger Erholungen wie früher. Er stand fast zwei Stunden früher als sonst des Morgens auf, um zu arbeiten, und empfing von sechs Uhr ab die Vorträge der Minister und Adjutanten, um später für die militairischen Geschäfte, die Besichtigungen etc. frei zu sein. Eine auffallende Aufregung und Rastlosigkeit hatte sich seines [278] ganzen Wesens bemächtigt und man sah, wie tief ihn der Gegenstand und das Scheitern vieler Erwartungen und gehegten Ansichten berührte.

– – – –

Nachdem der Monarch den Stoß von Papieren, welche vor ihm lagen, durchgesehen und die Unterschriften vollzogen hatte, sah er auf die Uhr, die halb Sechs zeigte, und nach einer der Notiztafeln über dem Schreibtisch.

»Mittwoch – das ist Nesselrode's Tag, da habe ich noch Zeit, er kommt erst um sieben Uhr.«

Damit erhob er sich, holte aus dem Ankleidekabinet, zu dem eine Tapetenthür führte, Mantel und Helm und verließ leise das Zimmer.

Das Vorgemach war erhellt, zwei Pagen saßen dann und schliefen in den Lehnstühlen. Am Tisch wachte der diensthabende Kammerdiener und las; er erhob sich rasch, als er die Thür gehen hörte.

»Ei sieh, Menger,« sagte der Kaiser, »bist Du wach? Geh' hinein und ordne das Kabinet; um Sieben bin ich zurück.«

Er schritt hindurch nach dem äußern Vorzimmer, in welchem während der Nacht ein Offizier der Schloßwache seinen Aufenthalt hatte, um außergewöhnliche Meldungen entgegen zu nehmen.

Es war an dem Morgen ein Lieutenant von der Preobraczenski'schen Garde, diesem Lieblingscorps des Kaisers, das ihn einst gegen die Empörer vertheidigt hatte. Der noch sehr junge Mann war auf dem Stuhl vor dem Tisch, an dem er die abendlichen Wachrapporte eingetragen, die der Kaiser sich alle Morgen vorlegen ließ, eingeschlafen; sein Kopf ruhete auf dem aufgestützten Arm. Es mußte erst spät geschehen sein, denn eine Depesche, die auf dem Tische lag, zeigte den Präsentationsvermerk einer späten Stunde. Vor ihm lag ein halb vollendeter Brief, über dem ihn offenbar die Müdigkeit überrascht hatte, – die Feder war seiner Hand entfallen.

Der Kaiser, dessen Schritt der dicke Teppich des Fußbodens unhörbar machte, nahete sich leise dem Tisch.

»Sie haben gestern Morgen scharf exercirt,« sagte er wie entschuldigend und bog sich über den Schlafenden, die Depesche zu nehmen. Sein Blick fiel aus den Brief und auf seinen Namen. Er nahm vorsichtig das Blatt in die Hand und las.

[279] Der Brief war an die Mutter des jungen Mannes gerichtet, die in dem Gouvernement Nischnei-Nowgorod wohnte und die Wittwe eines früheren Offiziers war. Der Sohn, in dem Kadettenhause erzogen, schrieb ihr, wie er hoffe, daß der Krieg ihm Gelegenheit zur Auszeichnung geben werde, mit der er dem geliebten Kaiser für die Wohlthaten danken könne, die er ihm durch seine Erziehung erzeigt habe. Er beklagte kindlich, daß er sie, die er seit zehn Jahren nicht wiedergesehen habe, nicht zuvor noch ein Mal umarmen dürfe, aber selbst wenn er – was sehr unwahrscheinlich, – Urlaub erhalten könne, sei es unmöglich, da die Entfernung so weit und er ohne Vermögen nur durch die strengste Sparsamkeit die kostspielige Stellung bei der Garde bewahren könne, in die ihn der Zufall und die guten Zeugnisse im Cadettenhause gebracht.

Das Adlerauge des Monarchen hatte in wenigen Augenblicken den Brief überflogen und ruhte wie nachdenkend auf dem Schläfer. Dann nahm er vorsichtig die Feder, schrieb einige Worte unter den Brief und legte denselben wieder an seine vorige Stelle.

Mit leichten Schritten, ohne daß der Schläfer erwachte, verließ er das Gemach. Draußen auf dem Corridor standen zwei Grenadiere des Regiments gleich Statuen auf ihrem Posten. Der Kaiser nickte ihnen zu und schritt die breite Treppe hinab, die in den Vorhof führt. Einen Augenblick blieb er sinnend an der großen, mit drei Kreuzen geschmückten Steinplatte stehen, welche die Stelle bezeichnet, auf der er an jenem blutigen 26. December den Grenadieren den Naslednik (Thronfolger) übergab. Dann hüllte er sich in den Mantel und verließ den Bereich des Palastes.

Es war noch zu früh, als daß die Isworstschiks (Droschkenführer), deren sich der Kaiser bei seinen Besuchen häufig bediente, bereits auf den Halteplätzen sein konnten, und der Monarch ging daher rasch zu Fuß weiter, die Alexander-Newskoi-Perspective hinauf. Es war sechs Uhr, als er das Corps – wie die Cadettenhäuser und Militair-Erziehungs-Anstalten genannt werden – erreichte, dessen Besuch er beabsichtigt hatte, die Zeit, um welche die jungen Soldaten regelmäßig Winter und Sommer aufstehen müssen. Die Wache schlug eben die Reveille, als der Kaiser das Thor passirte und sofort nach einem der großen Speisesäle sich begab. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von der Ankunft des Kaisers durch alle Gänge des weitläufigen Gebäudes, und ehe die fünf Minuten, [280] welche er bei solchen Gelegenheiten, wie bei Audienzen der Verspätung einräumte, vergangen waren, wirbelten im Hofraum die Trommeln zum Antreten, und der Gouverneur der Anstalt, Obristlieutenant Moradowitsch, begrüßte den Monarchen in dem Saal.

»Die Offiziere, welche vor drei Tagen das Examen bestanden haben, sollen heute das Corps verlassen und in die Garnisonen abgehen?«

»Zu Befehl, Sire.«

»Gut. Ich will sie vorher sehen. Später habe ich keine Zeit. Komm.«

Er ging voran nach dem Hof. Der Gouverneur und die den Unterricht ertheilenden Offiziere, welche sich vor dem Saale aufgestellt hatten, folgten ihm.

Auf dem Hofe standen compagnieenweise in ihren Hausuniformen die jungen Leute, welche ihre Erziehung in der kaiserlichen Anstalt genossen, um von dieser aus in die Armee zu treten. Da der Kaiser auf eine möglichst gründliche Ausbildung für den Dienst und hohe Klassen hielt, in denen das Avancement bis zum Lieutenant erfolgen konnte, auch den allzu frühen Eintritt in den activen Dienst nicht liebte, so war das Alter der Cadetten sehr verschieden.

Die Offiziere traten an ihre Abtheilungen, der Kaiser ging musternd an den Fronten vorüber. Das Tageslicht war bereits vollständig eingetreten.

»Laß die neuen Offiziere und Fähnriche vortreten.«

Der Gouverneur ertheilte den Befehl; einundzwanzig Jünglinge traten aus den Reihen und stellten sich vor dem Monarchen auf. Zwei derselben, die an der Spitze standen, waren die Aeltesten und schienen bereits das zwanzigste Jahr erreicht oder überschritten zu haben.

»Die Zeugnisse!«

Der Obristlieutenant präsentirte sie und der Kaiser nahm sie ihm einzeln ab, wie er nach der Reihe die jungen Leute musterte. Gleich bei dem ersten blieb er stehen und betrachtete ihn mit durchdringendem Blick, den der Jüngling fest und unverrückt aushielt.

Es war ein junger Mann von hoher, schlanker Figur, mit blassem, klassisch geschnittenem Gesicht von energischem Ausdruck; das Auge dunkel und feurig, sonst in seinem Wesen einfach und anspruchslos.

[281] »Wir kennen uns. Du bist Djemala-Din, der Sohn des Imam Schamyl?«

»Ja, Sire!« 1

»Dein Vater hat mir in diesem Sommer viel zu schaffen gemacht. Ich wünschte, er wäre so gut russisch wie Du Ich habe Dich lange warten lassen mit einer Offizierstelle, aber ich wollte, daß Du tüchtig ausgebildet würdest, damit es hafte, was Du gelernt hast. Es freut mich, daß Deine Zeugnisse sämtlich gut lauten. Du hast Dir, wie ich sehe, selbst das Uhlanencorps gewählt und gehst nach Polen?«

»Mit Ihrer Erlaubniß, Sire!«

»Schön. Du wirst immer an mir einen Freund finden und ich habe für Deine Ausrüstung bereits gesorgt. In Warschau melde Dich sogleich beim Fürsten Statthalter, er wird Dir das Nöthige mittheilen. Nimm die beiden Pferde, die Du dort findest, als Geschenk von mir und halte Dich brav. Ich habe die Augen auf Dich gerichtet.«

Er reichte ihm die Hand, und als der junge Mann sich tief gerührt darüber beugte, küßte er ihn auf die Stirn.

»Sire! welche auch meine Zukunft sein möge, ich werde nie Ihrer Güte vergessen.«

Er trat zurück in die Reihe seiner Gefährten. Der forschende Blick des Kaisers traf seinen Nachbar und er sah aufmerksam das Zeugniß durch, das der Gouverneur ihm reichte.

Der junge Mann war eine mittelgroße gedrungene Gestalt mit intelligentem Gesicht, aber einem starken Zug von Trotz und Eigenwillen um den Mund.

»Ein Ocholskoi? ein guter Name, aber viel schlimmes Blut in dem Geschlecht. Du bist zwei Jahre länger in dem Corps geblieben, junger Mensch, als Deine Fähigkeiten nöthig machten. Warum?«

»Man hat mir die Erlaubniß zum Examen verweigert, Euer Majestät.«

[282] »Ich sehe es. Du bist zehn Mal in einem Jahre wegen Ungehorsam und Widerspenstigkeit bestraft. Wie ist's mit ihm, Moradowitsch?«

»Er ist einer der besten Zöglinge des Corps, Majestät,« sagte der Gouverneur entschuldigend, »aber er ist schwer zu bändigen.«

»Ich werde es übernehmen,« entgegnete der Czar. »Gehorsam, unbedingter Gehorsam ist das Erste, was ein Soldat lernen muß. Ohne blindes Gehorchen kein Befehl. Ich habe gehört, Du machst Verse, freie Verse, die Du drucken läßt. Das ist keine Beschäftigung für einen Soldaten. Denke an Lermontof 2. Ist bereits über um verfügt?«

»Er wird bei den Felddragonern eintreten.«

»Halt da. Lassen Sie die Bestimmung andern. Er soll zu Bodisco gehen nach Bomarsund, und wenn er dort zwei Jahre sich tadelfrei geführt und Gehorsam gelernt hat, mag er in das bestimmte Corps eintreten.«

Eine fahle Blässe überzog das Gesicht des jungen Mannes. Die Alandsinseln gelten in der russischen Armee für eine Strafcolonie, gefürchteter als die Verbannung nach dem Kaukasus. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück in die Reihe.

»Halt!«

Der Verbannte stand wie eine Mauer.

Der Kaiser küßte auch ihn auf die Stirn.

»So, – nun tritt zurück und lerne gehorchen!«

Er controllirte eben so sorgfältig die Zeugnisse der übrigen Neunzehn, lobte und tadelte. Als er dann an der Colonne der Cadetten vorüberging, trat plötzlich einer derselben, fast noch ein Knabe, mit schönem, blondgelocktem Haar und offenem, Zutrauen erregendem Gesicht vor und beugte ein Knie. Der Kaiser blieb freundlich stehen und sagte zu dem jungen Mann:

»Steh' auf, Kind; was willst Du von mir?«

»Euer Majestät danken für das Glück, daß ich meinen Großvater umarmen durfte, und ...«

»Wie heißest Du, mein Sohn? wer ist Dein Großvater?«

»Graf Lubomirski, Euer Majestät. Euer Majestät haben den alten Mann begnadigt und er befindet sich hier.«

[283] Der Czar runzelte leicht die Stirn; er liebte es nicht, an Verurtheilungen oder Begnadigungen erinnert zu werden.

»Es ist brav von Dir, daß Du die Deinen liebst. – Aber Du wolltest noch Etwas?«

»Ich wollte Euer Majestät um die Gnade bitten, daß ich den Feldzug gegen die Türken mitmachen darf. Ich möchte Euer Majestät so gern meine Dankbarkeit und meine Treue bezeigen.«

Der Kaiser lächelte, so weit in dies eherne Gesicht Lächeln treten konnte, und klopfte den Knaben auf den Kopf.

»Wie steht's mit ihm, Moradowilsch?«

»Er ist ein fleißiger und talentvoller Schüler, Sire, aber erst sechszehn Jahre.«

»Nun, so warte noch ein Jahr, die Sache ist noch lange nicht zu Ende für Dich und mich. Dann sollst Du als Junker eintreten. – Adieu, Kinder, gehabt Euch wohl, es wird Zeit für mich.«

Die Trommeln rasselten, der Kaiser salutirte und verließ den Hof. Am Ausgang lehnte er mit einer strengen Handbewegung jede weitere Begleitung ab und schritt allein auf die Straße hinaus eine kurze Strecke, bis ihm ein Isworstschick mit dem leeren Gespann entgegenkam. Er winkte ihm, umzukehren und warf sich in das offene Gefähr.

»Na domo!« (Nach Hause!) sagte er zerstreut.

Die Droschke flog davon und hielt in der Nähe des Winterpalastes. Befremdet stieg der Kaiser, der es ungern sah, wenn man ihn auf seinen frühen Ausgängen erkannte, aus und fragte den Kutscher:

»Kennst Du mich denn?«

Ein schlaues: »Nein, Väterchen!« war die Antwort.

»Aber ich habe meinen Geldbeutel vergessen!«

»Thut Nichts, Väterchen, Du bezahlst mich ein ander Mal!«

»Nein,« sagte der Kaiser, »ich mache keine Schulden. Warte hier.«

Er verschwand in dem Hofe des Palastes und der Kutscher, der den Kaiser sehr wohl erkannt hatte, hielt geduldig sein Pferd an. Eine kurze Weile darauf brachte ihm ein Offizier aus dem Palaste drei Imperials. Das Gesicht des Kutschers, als er mit dem reichen Fahrgeld davongaloppirte, konnte nicht froher und glücklicher sein, als das des Offiziers, welcher ihm das Gold gebracht. Es war derselbe, welcher im Vorzimmer des Kaisers über [284] dem Briefe eingeschlafen war. Als er erschrocken durch die zufallende Thür aufwachte, fand er unter demselben die Worte 3:


»Vorzeiger hat zwei Monat Urlaub und aus der Kaiserlichen Chatoullen-Kasse 500 Silberrubel zu erheben.

Nicolaus.«


Als der Czar zurückkehrte, warf sich der junge Offizier ihm zu Füßen. Der hohe Herr aber sandte ihn mit jenem Geschenk zu dem Isworstschick. –

Es war fünf Minuten vor 7 Uhr, als der Kaiser sein Kabinet wieder betrat und Helm und Mantel ablegte. Der Kammerdiener brachte ihm das bereit gehaltene Frühstück. Während er dasselbe genoß, schlug die Uhr Sieben und zugleich wurde der Reichskanzler gemeldet.

Der Eintretende hat in der neuesten Zeitgeschichte eine so wichtige Rolle gespielt, daß wir seiner Persönlichkeit einige Zeilen widmen müssen.

Es war ein Greis von 75 Jahren, denn der Graf ist 1780 – als Kosmopolit auf einem englischen Schiff aus der Rhede von Lissabon – geboren, während sein Vater, aus der rheinisch-bergischen Familie der Grafen von Nesselrode-Ehreshoven stammend, dort russischer Gesandter war. Bei dem wiener Congreß machte sich der Graf zuerst in der politischen Welt bemerklich und galt auch für einen der schönsten Männer jener zahlreichen und glänzenden Versammlung. Noch zeigen sich die Spuren der ehemaligen Schönheit in dem ruhigen feinen Gesicht mit der hohen Greisenstirn. Selbst die hohe Gestalt war nur wenig gebeugt.

Der Kaiser bewies stets große Achtung und Rücksicht für den alten Staatsmann und legte sehr bedeutendes Gewicht auf seine Meinung. Er kam ihm auch diesmal beim Eintritt einige Schritte entgegen und lud ihn ein, sich an dem zweiten Tisch niederzulassen, aus dessen Platte der Minister das mitgebrachte, ziemlich umfangreiche Portefeuille öffnete.

»Ich bitte, Graf, gieb mir zuerst die auswärtigen Tagesberichte; welche Neuigkeiten? ich bin seit einiger Zeit begieriger darauf, als es sonst der Fall war.«

»Baron von Brunnow, Sire, hat auf meine Anweisung durch den Telegraphen am 15. Lord Clarendon officiell angefragt, [285] welchen Weg die englische Regierung nun einschlagen werde, nachdem ihr bekannt geworden, daß Euer Majestät die Vorschläge der Pforte abgelehnt haben. Am 16. sind dem englischen und dem französischen Kabinet durch unsere Gesandten unsere beiden Depeschen vom 7. mitgetheilt worden.«

»Und die Antwort?«

»Es liegt erst die des Herrn von Kisseleff vor, die gestern Abend eingetroffen. Der Gesandte hat von Brüssel aus in der geheimen Chiffre telegraphirt, also das Resultat nur im Geheimen erfahren. Hier ist die Depesche.«

»Lesen Sie, Graf.«

»Herr von Kisseleff meldet: Am 17. Depesche nach Wien, daß Frankreich nicht weiter zur Annahme der Note rathe, da unsere Kritik vom 7. anderen Sinn als die Westmächte unterlege.«

»Ein leerer Vorwand, nach dem man gesucht hat.«

»Der Gesandte meldet weiter: Vorschlag des Herrn Drouin nach London, wegen der Unruhen die Flotten nach Constantinopel zu berufen.«

»Wieder ein willkommener Vorwand! Und wie lauten die Nachrichten aus London?«

»Sire, es fehlen noch die Depeschen.«

»Sie könnten längst hier sein, wenn man eine Antwort gegeben hätte. Lord Clarendon wird sich besinnen, auf die neuen Wühlereien des Herrn Drouin de L'huys einzugehen.«

Der greise Staatsmann zuckte leicht die Achseln.

»Was denken Sie davon, Herr Graf?«

»Sire, Eurer Majestät Vorliebe für England behindert Ihren sonst so klaren politischen Blick. Wenn auch im Augenblick der Einfluß unseres Gegners Lord Palmerston beseitigt ist, bleibt England doch unverändert der geheime und bittere Gegner Rußlands und wird die Lockung nie vorbeigehen lassen, unsere Suprematie im Orient zu brechen.«

Der Kaiser schritt einige Male ungeduldig im Zimmer auf und ab.

»Dieses England! dieses England! – ich meinte es so aufrichtig mit ihm. Der Osten und das Meer gehörten uns Beiden ohne Eroberung, wenn es ehrlich gehandelt hätte.«

»Sire, ich habe Ihnen immer gesagt, Rußlands natürlicher Verbündeter ist Amerika. Ein Reich, das noch eine Zukunft hat, [286] muß sich nie mit einer Macht alliiren, die bereits auf dem Gipfel steht und nach den Gesetzen der Geschichte und der Natur nur die absteigende Linie vor sich hat.«

»Das hieße aber, sich mit der Revolution, mit der Demokratie verbinden, die ich hasse und bekämpfe.«

»Sire, der Constitutionalismus von England ist die permanente gefährliche Revolution, nicht Amerika, das nur damit kokettirt. Nach Euer Majestät Princip gäbe es dann kein loyaleres Bündniß als Frankreich.«

Der Kaiser schwieg einige Augenblicke.

»Was schreibt man aus Constantinopel?«

»Staatsrath Pisani berichtet über die revolutionaire Bewegung der Kriegspartei am 10. 4. Was er mittheilt, ist von Wichtigkeit und bestätigt meine Ansichten.«

»Geben Sie mir einen Auszug!«

»Schon seit Beginn des Monats machten sich in Constantinopel die Bewegungen der Kriegspartei auffallend bemerkbar. Die zweimalige Verwerfung der Wiener Note in dem Divan vom 14. und 15. August war offenbar ihr Werk. Euer Majestät wissen, daß der Schwager des Sultans, Mehemed Ali, an der Spitze dieser Partei steht und unser gefährlichster Gegner ist. Mehemed Ruschdi Pascha 5, Mahmud Pascha 6 und Hamik Pascha 7 sind seine Anhänger. Wenn auch bei Mehemed nicht, der offenbar von ehrgeizigen Spekulationen getrieben wird, so doch bei mehreren anderen Persönlichkeiten, hätte meiner Ansicht nach Fürst Mentschikoff die zwei Millionen Silberrubel, die er für dergleichen Zwecke mitnahm, weit nützlicher für die Interessen Eurer Majestät verwenden können, als daß er sie unberührt nach Odessa wieder zurückgebracht hat. Der tiefe Verfall der Türkei bedingt, daß in Constantinopel Alles für Geld feil ist.«

»Er ist ein Eisenkopf,« sagte der Kaiser, »und haßt die Türken.«

»Ein wichtiger Theil der kriegslustigen Partei waren von [287] Anfang an die Ulema's und Softa's 8. Es ist dies natürlich, da sie eigentlich den Ultramontanismus des Islam vertreten und für die eigene Existenz kämpfen. Euer Majestät wissen aus den früheren Berichten, daß Sultan Abdul Meschid aller Energie baar und ein Spielwerk in der Hand seiner Umgebungen ist. Um so mehr ist die geringe Diplomatie des Fürsten Mentschikoff zu beklagen. Reschid Pascha hat zwar die westmächtlichen Sympathieen, ist aber klug genug, einzusehen, daß der Türkei das unbeschränkte Bündniß mit Frankreich und England mehr Opfer kosten wird, als alle Forderungen des bisherigen diesseitigen Einflusses. Es lebt ein tiefes unabweisbares Gefühl in der türkischen Bevölkerung, daß eine gewaltsame Entscheidung zwischen der Herrschaft des Islam nur des Christenthums erfolgen müsse. Selbst die Friedensfreunde suchen sie nur hinauszuschieben.«

»Der unheilbar kranke Mann. Meine Großmutter 9 hat es schon gesagt.«

»Bereits seit Anfang des Monats hat man an verschiedenen Orten Constantinopels Anschläge gefunden, durch welche der Sultan aufgefordert wurde, die Fahne des Propheten gegen die Christen zu erheben, oder abzudanken. Die Softa's und Ulema's hielten geheime Versammlungen, und am 10. überreichte eine Deputation von ihnen, von einer großen Versammlung auf dem Atmeidan gesandt, dem Conseil eine Adresse an den Sultan, in welcher durch Sprüche aus dem Koran die Nothwendigkeit des Krieges dargethan wurde. Eine zweite Adresse forderte ihn auf, bis zum Beginn des Beiram, bis zum 15., seine Entscheidung abzugeben, oder dem Throne zu entsagen!«

»Ha! Advokaten, Pfaffen mich dort!«

[288] »Wir wissen ganz bestimmt, Sire, daß diese Bewegung im Stillen von Ruschdi und zwar im Auftrage von Mehemed Ali geleitet wurde. Sowohl Lord Redeliffe, als Herr de Latour wußten darum, denn nachdem sie auf Grund der bald und mit einem Dutzend Köpfe der Softa's gedämpften Emeute erklärt hatten, daß sie zum Schutz der Christen am Beiram einige Kriegsschiffe nach Constantinopel rufen würden, trafen ohne den Ferman, den der Sultan für die Flotten beharrlich verweigert, bereits am Morgen des 15. von den Geschwadern in der Besika-Bai zwei englische und zwei französische Dampffregatten ein. – Dies wäre ganz unmöglich gewesen, wenn dieselben nicht bereits vorher Anweisung gehabt hätten. Die englischfranzösische Absicht liegt daher klar am Tage.«

»Und der Beiram?«

»Die Prozession ist ruhig vorüber gegangen.«

Der Kaiser blieb am Tische des Grafen stehen und stützte die Hand darauf.

»So mögen sie es denn haben,« sagte er nach einer Pause; »man zwingt mich zum Kriege. Ist er ein Mal eröffnet, so ist sein Ende schwer zu übersehen, und eine innere Stimme sagt es mir, – ich werde dies Ende nicht erleben. Aber mein Rußland wird, und wenn halb Europa dagegen in die Schranken treten sollte, – es wird – es muß siegen! Ich habe es dafür stark gemacht.«

Er ging noch ein Mal gedankenvoll durch das Zimmer.

»Ich habe diesen Krieg nicht muthwillig oder eigensinnig hervorgerufen, bei Gott nicht! Aber ich und dieses Reich haben unsere Mission zu erfüllen. Diese Mission ist das Erbe meiner Väter, ein politisches und ein religiöses. Rußland ist der Damm gegen die Revolutionen, gegen die umstürzenden zerstörenden Ideen von Westen her; darum, um ihnen Trotz bieten zu können, mußte es stark und mächtig sein, und ich habe gethan, was an mir war, selbst auf Kosten des eigenen Herzens, vielleicht des Rechts, es kräftig in seinem Innern, gefürchtet nach Außen zu machen. Das schwarze Meer ist eine Lebensnothwendigkeit für Rußland, und um seiner Existenz und Zukunft willen kann und wird es nie dulden, daß am Bosporus ein anderer Einfluß dominirt. – Seine religiöse Mission, sein Erbe ist der Schutz unseres heiligen Glaubens im Süden und Osten. Eilf Millionen Christen sehen aus ihrer Noth, [289] aus der täglichen Bedrängniß vertrauend auf mich. – Ich habe das Werk meines Urgroßvaters Peter fortgesetzt, den Russen zum Bürger seines Landes zu machen und ihm seine Menschenrechte zu geben, – und ich sollte zögern, wo es gilt, unseren unterdrückten Glaubensgenossen zu helfen und endlich ihre Christenrechte zu sichern!?«

»Erinnern Sie sich, Sire, daß diese Absicht schon ein Mal an der Rivalität von Frankreich und England scheiterte.«

»Sie haben Recht, – ich war zu nachgiebig, man soll mich nicht mehr so finden, wenn man mich denn mit Gewalt herausfordern will.«

»Wie denken Euer Majestät über den Plan, den Vice-Admiral Nachimow vorgelegt hat?«

»Nein, Nesselrode, nein! Ich weiß, daß er den Erfolg mit einem Schlage sichern, den Sieg in unsere Hände geben und einen vielleicht langen und schweren Krieg vermeiden würde. Die russische Flotte von Sebastopol unerwartet in den Bosporus werfen, die Schlösser als Pfand besetzen und Constantinopel mit einer Armee im Schach halten – der Plan ist militairisch vortrefflich, aber – es geht nicht!«

»Sire – im Fall eines Krieges sichern Sie dadurch allein Ihre Flotte und die Herrschaft des Meeres.«

»Nein – nein! – Sebastopol wird meine Flotte schützen, man kann mich höchstens an den Küsten verwunden. Ich aber opferte damit meine ganze Vergangenheit, die bewiesen hat, daß ich kein Eroberer bin. Habe ich nicht im Frieden von Adrianopel, als die Türkei in meiner Hand war, alle Eroberungen zurückgegeben? Habe ich nicht die Beleidigung, die Persien mir angethan, mit dem Erlaß der Kriegsentschädigung vergolten? Haben meine Schiffe und meine Armee nicht den Sultan zwei Mal vor seinem rebellischen Vasallen gerettet? Wer, frage ich, hinderte mich im Jahre 1848, als alle Welt die Hände voll zu thun hatte, zu nehmen, was ich wollte? – Statt dessen brach ich die Revolution in Ungarn und rettete Oesterreich.«

Der Reichskanzler beugte sich, ohne ein Wort zu entgegnen, auf seine Papiere nieder.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen; man hat mich vielfach gewarnt. Fürst Schwarzenberg soll mit Bezug auf Rußland noch kurz vor seinem Tode gesagt haben: Europa würde binnen wenig [290] Zeit über die Undankbarkeit Oesterreichs staunen, aber ich glaube daran nicht. Von Fritz, meinem Schwager, weiß ich, daß er es ehrlich meint mit Rußland, wenn ich auch nur passiven Beistand von dort erwarte. Die heilige Alliance, die Sie selbst mit schließen halfen, ist ein Erbe unserer Vorgänger, das uns heilig ist. Ich traue auf den Kaiser Franz Joseph, er ist ein junger Mann, der die Traditionen Oesterreichs nicht zu Schanden machen wird. Vertrauen erweckt Vertrauen! – Hier biete ich es!« – Der Kaiser nahm einen versiegelten Brief von seinem Tisch, der dort umgekehrt gelegen, und reichte ihn dem Kanzler. – »Ich schrieb um diese Nacht. Schicken Sie ihn sogleich mit einem Courier nach Olmütz ab, wo auch mein Schwager Wilhelm bereits eingetroffen sein wird. Es ist die Anzeige meines Besuchs im olmützer Lager. – Sie werden mich begleiten; wir reisen morgen nach Warschau ab.«

Der Graf legte den Brief in sein Portefeuille.

»Und nun, Batuschka 10,« sagte der Kaiser freundlich nur lehnte ihm die Hand auf die Schulter, »wie denkst Du über den Erfolg? Werden England und Frankreich im Fall eines Krieges wirklich auf den Kampfplatz gegen mich treten, wenn man meine Westgränzen durch Deutschland gesichert sieht?«

»Sire, ich habe bereits Eurer Majestät wiederholt meine Ueberzeugung ausgesprochen und durch Gründe belegt, daß die Verwickelung von Frankreich veranlaßt ist und nicht so weit getrieben sein würde, wenn man nicht von vorn herein die Absicht eines Krieges zwischen Eurer Majestät und England gehabt hätte. Ich bin noch immer der Ansicht, daß unsere Zeit noch nicht gekommen war, unsere Einrichtungen und Transportmittel sind noch nicht vorgeschritten genug, – mit einem Wort, Sire, wir sind nicht vorbereitet.«

»Dolgorucki steht für die Armee, ich kenne sie selbst genau und weiß, was Kronstadt und Sebastopol leisten können. Kleinmichel hat Zeit und Mittel gehabt, die Straßen im Süden genügend in Stand zu setzen, so daß der militairischen Communication kein Hinderniß im Wege steht, wenn wir auch noch keine Eisenbahn haben.«

»Die geringe Anzahl unserer Truppen in den Fürstenthümern [291] beunruhigt mich, Sire. Ist der Krieg unvermeidlich, so mußte man ihn mit voller Energie beginnen.«

»Aber ich habe Dir gezeigt, man macht mir die Pfandnahme ohnehin schon zum Vorwurf, selbst mein Schwager in Berlin. Eine Operationsarme würde unseren Gegnern nur Waffen in die Hände gegeben haben. Uebrigens ist Gortschakoff stark genug, dem Renegaten Omer die Spitze zu bieten.«

»Die französische Armee ist in vorzüglichem Stand und disponible. Die verschiedenen Lager sind nicht ohne weitergreifende Absichten gebildet. Wenn auch die englische Landmacht nicht in's Gewicht fällt, so kann das Bündniß doch binnen kurzer Frist eine sehr bedeutende Macht an den Bosporus werfen, die entente cordiale wird sich ergänzen und hat die Mittel in Händen.«

»Sie ist unerhört, diese unnatürliche Verbindung, gegen alle Tradition und Politik! Und es scheint Ernst damit zu werden.«

»Sire, ich glaube, ganz Europa hat sich in Napoleon III. verrechnet. Es ist offenbar, daß England hierbei sein Werkzeug ist. Er hat eine Erbschaft angetreten, dessen erste Artikel der Haß gegen England und Rußland sind, an denen sein Oheim unterging. Er hat vor diesem die Erfahrung und die Ruhe voraus. Ein einziges Wort, das ihm zur Zeit des Staatsstreiches entschlüpft ist, enthüllt seine Pläne und seinen Charakter.«

»Was meinen Sie?«

›Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß.‹ »Die Verbindung mit England in einem Kriege wird und muß die Schwäche desselben vor der ganzen Welt enthüllen. Frankreich, selbst geschlagen, wird der Sieger sein. Der Kampf zwischen England und Rußland kann durch die Schwächung beider Gegner nur sein Vortheil werden. In einem einzigen Calcül wird sich hoffentlich der Kaiser Napoleon irren, in der Spekulation, daß Oesterreich und Preußen sich in einem Kriege durch Theilnahme gegen uns gleichfalls schwächen werden. Diese Beiden, wenn sie fest bleiben gegen die Verlockung, konnten einst das Paroli bieten; denn glauben Euer Majestät, man wird versuchen, halb Europa in eine Revolution gegen uns zu verwickeln.«

»Wissen Sie, Nesselrode,« sagte der Kaiser vertraulich, »daß ich anfange, gewisse Vorschläge an Frankreich zu bereuen?«

»Die von Euer Majestät großem Ahnen überkommene Politik [292] und das Interesse Rußland's geboten den Versuch und gehen über jede andere Rücksicht.«

»Sie überzeugen mich, und dennoch kann ich noch immer nicht glauben, daß man zu einem Angriff gegen mich schreiten wird.«

»Ich wiederhole Eurer Majestät, der Angreifende hat den Vortheil. Es ist ein Krieg und eine Rache der Revolution gegen uns.«

»Europa, die Throne sollten das bedenken.«

»Leider ist auch in dieser Beziehung zu wenig vorbereitend geschehen. Euer Majestät sind nun einmal eingenommen gegen die Macht und Bedeutung der Presse.«

»Bah, ich verachte sie, es ist hohle Lüge und Declamation durch und durch. Nichts Zuverlässiges. Auf Ihren Wunsch habe ich ja zwanzigtausend Imperials für die Zwecke bewilligt, was wollen Sie noch mehr?«

»Sire, ich glaube, es war zu spät. Die Presse läßt sich in unserer Zeit wohl beeinflussen, aber nicht mehr kaufen. Wir haben Manches versäumt. Ich kann mich von dem Glauben nicht losmachen, daß Euer Majestät der altrussischen Partei zu schnell nachgegeben haben.«

»Wohl – so sei diese Reise der letzte Versuch, den Frieden zu sichern. Ich werde den Angriff abwarten, – und sie mögen zerschellen an Rußland's Kraft. – Sind weitere Depeschen und Nachrichten eingegangen?«

»Der ausführliche Bericht des Staatsraths Fonton über seine Reise durch Serbien liegt vor. Die Bevölkerung ist begeistert für Eure Majestät und das Auftreten Rußlands.«

»Das giebt Oesterreich einige Beschäftigung und sichert uns vor Ueberflügelung.«

»Oberst Berger befindet sich wieder in Cetinje. Sein Einfluß ist durch die Bemühungen des wiener Kabinets sehr beschrankt. Der Vladika hat neuerdings strenge Verfügungen gegen die Razzia's in das türkische Gebiet erlassen müssen. Im Volk selbst aber herrscht die Erbitterung fort und zeigt sich bei jeder Gelegenheit, namentlich seit einer seiner gefeiertsten Häuptlinge, der Beg Martinowitsch, von den Türken ermordet worden ist.«

»Wenn der russische Adler ruft, werden meine wackern Montenegriner nicht müßig sein. Es war ein großer Fehler am wiener Congreß, Montenegro zu isoliren und Corfu aufzugeben.«

[293] »Baron von Meyendorf meldet aus Wien, daß man dort die bestimmten Beweise habe, daß die Führer der revolutionairen Propaganda, namentlich Kossuth und Mazzini, mit der Kriegspartei des Divan in genauem Rapport stehen.«

»Das müßte man von Constantinopel aus wissen. Wir sind dort bei Weitem nicht mehr so gut bedient wie früher.«

»In Madrid ist das Ministerium Lersundi gefallen. Der Sieg der revolutionairen Partei bereitet sich vor.«

»Der Fluch des begangenen Unrechts. Es fehlt diesen Bourbonen an persönlichem Muth, ihr Alles in die Schranken zu werfen, sonst hätten längst die Dinge im Westen einen andern Gang genommen.«

»Der Kriegsminister wird Euer Majestät die Berichte des Fürsten Gortschakoff vorlegen, so wie den Rapport über den Zustand der Festen am kaukasischen Ufer.«

»Es ist bereits beschlossen, ich gebe sie auf.«

»Fürst Mentschikoff sendet Berichte aus Constantinopel. Der Rest der türkischen Truppen ist am 10. nach Varna abgegangen. Die türkisch-ägyptische Flotte liegt noch immer unverändert vor Beykos. Der spanische General Prim ist nach Schumla abgereist, nachdem er in Constantinopel spärliche Beachtung gefunden hat.«

»Der Don Quixote!«

»Am Libanon unter den Drusen sind neue Unruhen ausgebrochen, – ich habe unsere Agenten in Syrien instruiren lassen. An verschiedenen Stellen Rumeliens, z.B. in Saloniki, haben neue schändliche Mißhandlungen der christlichen Unterthanen ganz ungescheut stattgefunden. Aus Bulgarien ist eine Deputation in Constantinopel angekommen, welche über die Scheußlichkeiten der Baschi-Boschuks gegen die Bevölkerung Beschwerde führen soll.«

Der Kaiser lachte verächtlich.

»Gerechtigkeit und Schutz bei dem Moslem! – Täglich solche Erfahrungen und dies christliche Europa will mir nicht gestatten, Christen gegen ihre geborenen Henker zu schützen! – Haben Sie aus Athen Nachrichten?«

»Eine unbedeutende Veränderung im Ministerium. Das Ministerium der Justiz, das der Minister des Auswärtigen Pajkos bisher verwaltet, ist an den Professor Gilitza übergegangen. Der englische Gesandte tritt in animoser Weise gegen die Sympathieen [294] auf, die sich offen unter der Bevölkerung Athens und des Landes für uns zeigen.«

»Nichts Näheres? – Sie wissen, Graf, seine Macht ist Null, aber ich rechne viel aus die Sympathieen Griechenlands vor den Augen Europa's.«

»Ihre Majestät die Königin wiederholt unserm Gesandten die gegebenen Zusicherungen, doch ist Vorsicht nöthig und man klagt über die Intriguen dieses Herrn Kalergis, der eben aus Paris zurückgekehrt ist. – Alle Vorbereitungen sind getroffen, im Augenblick einer Kriegserklärung wird Major Caraiskakis sofort an der Gränze die Fahne des Kreuzes aufpflanzen und den Aufstand nach Epirus und Thessalien werfen. In Albanien von Montenegro aus wird sein Stiefbruder Grivas dasselbe thun. Es gährt überall im Lande und wird die Truppen in Süd-Rumelien zur Genüge beschäftigen.«

Die Uhr schlug Acht – mit dem letzten Schlage trat der diensthabende Adjutant in das Kabinet.

»Sind wir zu Ende, Herr Reichskanzler?«

»Ja, Sire!«

»Ah, guten Morgen, Mansuroff. Sie werden mich begleiten. Wer hat heute außer den Befohlenen um Audienz nachgesucht?«

»Fürst Iwan Oczakoff bittet um die Gnade, sich vor seiner Abreise beurlauben zu dürfen.«

»Ist er nicht dem Stabe des Fürsten Mentschikoff beibeordert?«

»Zu Befehl, Sire, doch hat er zuvor Urlaub, seine auf der Courierfahrt von Paris in Berlin erkrankte Schwester auf ihre Güter in der Krim zu bringen. Die Aerzte haben ihr den Aufenthalt im Süden verordnet.«

»Wer weiter?«

»Graf Lubomirski, den Eure Majestät vom Exil begnadigt haben, will Allerhöchstdenenselben seinen Dank zu Füßen legen.«

»Lubomirski? – Er hat einen braven Enkel, doch liebe ich die Begegnung mit alten Rebellen nicht; es ist genug, daß ich verzeihe. Es war ja wohl auf Ihre Empfehlung, Nesselrode?«

»Er ist ein alter Mann und hat uns in Paris mancherlei Dienste geleistet.«

»Genug; sagen Sie den Herren, ich nähme die Meldung für empfangen an, aber meine Zeit wäre heute allzubeschränkt. Herr [295] Reichskanzler, für morgen früh 6 Uhr. Der Großfürst Nicolas wird uns begleiten, von Warschau aus der Fürst Statthalter.«

»Sire, ich werde die Ehre haben, Eure Majestät auf der ersten Station zu erwarten. Ich beurlaube mich!«

»Adieu, Adieu! – Geben Sie mir den Helm, Mansuroff, kommen Sie!« – – –

Der Kaiser verließ das Kabinet. – – –

Wir werden es in einer schweren Stunde wieder betreten!

Fußnoten

1 Djemala-Din, der älteste Sohn Schamiy's, war von ihm im Jahre 1839 bei dem Sturme auf Achulgo, wo er selbst nur wie durch ein Wunder entkam, als ein kaum 7jähriger Knabe dem russischen Gouvernement als Geißel gestellt und er war seitdem auf kaiserliche Kosten in dem Cadetten-Corps erzogen worden. – Wir werden später Gelegenheit haben, sein ferneres Schicksal dem Leser vorzuführen.

2 Derselbe wurde wegen seines Gedichts auf Puschkin's Tod: »An Rußlands Schutzgeist,« als Soldat nach dem Kaukasus geschickt.

3 Historisch.

4 29. August alten Styls. Um die doppelten Bezeichnungen zu vermeiden, geben wir, auch wo die Scene in Rußland spielt, nur die Daten des neuen Kalenders, der mit dem älteren um 12 Tage divergirt.

5 Commandeur der Garden.

6 Großadmiral.

7 Handelsminister.

8 Der Koran – in arabischer Sprache geschrieben, aus welcher er nicht übersetzt werden darf, – ist nicht allein das religiöse, sondern auch das bürgerliche Gesetzbuch. Die Ulema's sind die Ausleger des Korans und bilden daher gleichsam eine Klasse religiöser Rechtsverständiger; Softa's heißen die Schüler und Studirenden. Das Haupt der Ulema's ist der Scheik ul Islam (gleichsam Justizminister). Unter ihm steht an der Spitze der Ulema's jeder Provinz ein Karaskier, der aber in Constantinopel residirt. Diese bilden einen Rath, an den sich der Sultan in wichtigen Dingen mit du Frage wendet, was der Koran entscheidet. Die Erklärung des Rathes heißt Fetva. – Der Rath hatte sich für den Krieg entschieden.

9 Katharina II.

10 Väterchen.

3. Wien
III. Wien.

Im Hofraum eines jener alten aristokratischen Palais, deren die Altstadt Wien in ihren krummen, mittelalterlichen Straßen noch so viele bewahrt hat, und welche die hohen Familien wie zu ihrem alten Geschlecht gehörig, sorgsam hegen, hielt ein reichgallonirter Stalldiener zwei prächtige, ungarische Pferde in schwerem Silbergeschirr mit rothseidenem Behang und Zügeln vor einen zierlichen Tilbury gespannt, dessen leichter graciöser Bau mindestens das englische Muster verrieth. Ein Jockey, in Grün und Silber gekleidet, stand daneben, während nicht weit davon ein Reitknecht zu Pferde mit einem schönen halbblütigen Reitpferde wartete.

Die Vortreppe des Mittelbaues kamen so eben ein Herr und eine Dame herunter; die Letztere, eine elegante Schönheit, etwa 24 Jahr, von seinen zierlichen Formen. Das länglich schmale, blasse Gesicht mit der seinen gebogenen Nase und den hoch geschwungenen, aber scharf gezeichneten, schwarzen Brauen über den feurigen Augen kündete den sarmatischen Ursprung. Ein tief nach den üppigen Haarflechten des Hinterkopfes zurückfallender, kleiner Damenhut, ein weiter weicher Kashmirshawl um das hoch am Hals hinaufgehende, dollmannartig geschnittene und verzierte Kleid bildeten eine sehr zierliche Tracht und hob den feinen, kaum die Mittelgröße erreichenden Wuchs. Eine große Lebendigkeit und Rastlosigkeit that sich in allen Bewegungen der Dame kund.

Ihr Begleiter trug die Interims-Uniform eines russischen Capitains mit dein Kasket. Er war ein großer, schlankgewachsener Mann von nahe an dreißig Jahren und ernster, denkender Gesichtsbildung. Seine Brust schmückte die Miniatüre dreier Orden, eines russischen, eines österreichischen und eines preußischen.

[296] »Da Ihr Onkel mich für die Spazierfahrt im Prater zu Ihrem Cavalier ernannt hat, schöne Gräfin,« sagte der Offizier, indem er die Dame auf den Sitz des Wagens hob und Zügel und Peitsche aus der Hand des Stallknechts nahm, »so erlauben Sie, daß ich Jockeydienste verrichte.«

»Nichts da, Capitain; lassen Sie Ihr Pferd meinetwegen folgen und setzen Sie sich zu mir. Ader von der Brücke ab verwalte ich selbst mein Amt und lasse mir durch Sie das gewohnte Vergnügen nickt schmälern. Sehen Sie, wie Ali und Miß Baba in die Zügel beißen, weil sie die gewohnte Hand vermissen.«

»Die Pferde sind in der That heute sehr unruhig,« sagte der Capitain, indem er sich auf den Sitz schwang und der Jockey hinten auf sprang; »es wird eine Männerhand erfordern, sie zu bändigen.«

Er nahm ihre Zügel zusammen und ein leichter Schmitz der Peitsche trieb sie vorwärts und aus dem Thorweg.

»Nehmen Sie sich in Acht,« lachte die Dame; »ich bin gestern und vorgestern nicht gefahren und meine Pferde sind heißblütig, wie die Söhne ihres Landes.«

Der Wagen bog in eine der Gassen, die nach dem Stephansplatz führen. Hoch und kühn streckte sich dieser schönste und berühmteste Dom Deutschlands in die blaue Luft. Nach dem rothen Thurmthor ging die Fahrt, während deren in den Straßen die Unterhaltung stockte, da die unbändigen Rosse alle Aufmerksamkeit des Führers in Anspruch nahmen; dann über die schöne Donaubrücke durch die Jägerzeile, aus der des Banus Croaten vor fünf Jahren die Rebellen Haus um Haus schlugen, nach dem Praterstern. Als sie am Neubau des Renz'schen Circus vorüber in's Freie gekommen, legte die Gräfin die Hand auf den Arm ihres Cavaliers.

»Halt da, Herr Capitain, hier endet Ihr Amt. Ist es Ihnen wirklich Ernst, meinen Jockey zu spielen, ei, so nehmen Sie seinen Platz ein und lassen Sie meinen Joan Ihr Pferd besteigen, der kleine Bursche reitet vortrefflich. Ich muß Raum haben für meine Zügelkünste.«

Der Capitain hielt an und schaute ihr einen Augenblick in die dunklen Augen, auf deren zauberhaftem Grund ihm hinter dem leichten Ton des Scherzes eine ernstere, verhaltene Stimmung zu begegnen schien. Dann übergab er galant Zügel und Peitsche, [297] schwang sich auf den Hintersitz und schickte den Jockey zu seinem nachfolgenden Reitknecht.

Die Peitsche pfiff durch die Luft, die muthigen Rosse schlugen aus, und im Galop bog das leichte Fuhrwerk in die große Prater-Allee.

Obschon in diesem Augenblick der Hof, alle höheren Militairs und ein großer Theil des vornehmen Adels und der Diplomatie sich im Lager von Olmütz befanden, wo eben der Besuch des Kaiser Nicolaus stattgefunden, – war doch, aus den Bädern zurückgekehrt, vornehme und reiche Welt genug in Wien, um die tägliche Praterfahrt glänzend zu machen. Es war der erste October, ein prachtvoller Herbsttag, und Equipagen aller Art, besetzt von Damen in jener elegant harmonischen Toilette, durch welche die Schönen Wiens berühmt sind, kreuzten sich in der breiten vierten Allee, die dem Corso der vornehmen Welt vorbehalten scheint. Dazwischen Reitergruppen oder einzelne Reiter auf schönen Pferden, durch die sich Wien gleichfalls auszeichnet. Während der Tilbury der Magyarin in raschem Trab oder im Galop des Gespanns dahin flog und die geschickte Hand der Führerin nach rechts und links ausbog oder im wilden Lauf die Vorfahrenden überholte, erwiederte sie zahlreiche Grüße, die ihr von allen Seiten wurden, und mancher den Capitain um die schöne Nachbarschaft beneidende Blick folgte dem Gefähr.

Unter den Begegnenden befand sich ein großer schöner Mann von militairischem Aussehen, in eleganter Civilkleidung, der den feurigen Rappen, den er ritt, kräftig im Zügel hielt. Das Gesicht trug die fest geschnittenen, italienischen Formen, mit dem wachsartigen Teint; um Mund und Nasenflügel lag ein eigenthümlich scharfer Zug. Er verbeugte sich tief vor der Gräfin, die sehr freundlich, aber mit einiger Verwirrung den Gruß erwiederte und zugleich die Pferde zu noch rascherem Laufe anfeuerte.

Der Capitain lehnte über die Wand des Vordersitzes.

»Sie treiben die Pferde zu stark, Gräfin; es ist Gefahr, daß sie durchgehen.«

Sie lächelte spöttisch.

»Wie kann der tapfere Besieger des Ungarnvolkes von Gefahr sprechen? – Doch Sie haben Recht, Ali und Baba haben ihre Schuldigkeit gethan und uns aus diesem Gassen und Begegnen geführt. Jetzt mögen sie Ruhe haben.«

[298] Damit bog sie in eine Seitenallee, die fast leer war.

Indem sie das schöne Gespann nachlässig im leichten Trabe voran gehen ließ, setzte sie sich bequem in die Ecke des Sitzes zurück.

»Darf man fragen, warum Capitain Meyendorf nicht, wie halb Wien, mit seinem Onkel, dein Ambassadeur, in dem glänzenden Lager von Olmütz sich befindet?«

Der Capitain erröthete leicht.

»Außer Ihrem demüthigen Diener scheinen doch auch andere Militairs und Verehrer der Schönheit in den Ringmauern Wiens zurückgeblieben, so daß mein Verweilen wohl nicht auffallen kann. Graf Pisani zum Beispiel, von der sardinischen Gesandtschaft, dem wir eben begegneten.«

Die Dame lächelte.

»Sie sind eifersüchtig, Capitain?«

»Nein – aber ich fürchte!«

»Für mich?«

»Ja!«

»Und was könnte wohl Ihre Besorgniß für die Gräfin Laszlo, die Nichte eines Esterhazy, rechtfertigen?«

Der Offizier bog sich noch weiter vor, gleich als sollten selbst die Bäume umher seine leisen Worte nicht hören.

»Gräfin Helene besucht häufig die Gesellschaften der Frau von Czezani – die auch Oberst Pisani frequentirt!«

»Was mehr, mein Herr?«

»Die wiener Polizei ist berühmt, doch, Gräfin, entgeht auch ihr so Mancherlei. Warum soll ich nicht aussprechen, was doch stadtbekannt ist, – daß man in unserm Gesandtschaftshotel besser unterrichtet ist, als selbst Herr von Bach. – Ich kenne die Berichte über jene Cirkel.«

»Ich hätte nie geglaubt, daß Capitain von Meyendorf sich mit politischer Spionerie beschäftigen könnte.«

Der Offizier schwieg tief verletzt und lehnte sich zurück. Sie sah, daß sie zu weit sich hatte hinreißen lassen und legte mit bezaubernder Freundlichkeit die Hand auf seinen Arm.

»Ich habe Unrecht – aber bedenken Sie selbst, welche tiefe Erbitterung diese fortwährende geheime Polizei unter meiner Nation erregen muß. Frau von Czezani ist meine Jugendfreundin.«

»Ich weiß es, und deshalb warne ich so dringend. Ich weiß, daß unter der Maske von Soiréen der eleganten Welt sich dort [299] offen und geheim zusammenfindet, was die Hauptstadt an unruhigen revolutionairen Geistern in ihren höheren Schichten birgt. Die glänzenden geselligen Unterhaltungen, unbeargwohnt von ganz Wien, decken geheime Zusammenkünfte in entlegenen Zimmern, und Pläne, die ihre Fäden nach Pesth, wie nach Prag und Mailand senden und ihren Ausgangspunkt in London, Turin und Paris haben. Von hier aus datirte das geheimnißvolle Komplot im Juni mit dem Vergiftungsversuch und den Verhaftungen in Schönbrunn, dessen Zusammenhang die Polizei vergeblich zu erforschen suchte. Und mit Schmerz muß ich es sagen, ratz Gräfin Helene, die Zierde Wiens und ihres Vaterlandes, diesem dunklen Treiben nicht fremd ist, es wenigstens kennt und billigt.«

Die schöne Wittwe war während dieser Enthüllung bleich geworden, ihre feingeschnittenen Lippen kniffen sich fest auf einander.

»Es ist wahr, – was soll ich es leugnen,« sagte sie endlich stolz; »ich weiß von jener Abscheulichkeit Nichts, aber ich werde gern eine Märtyrerin sein für mein Vaterland, wie so viele bessere Frauen gewesen sind unter der Staubruthe des Prangers, wie in dem Moder österreichischer Kerker. Glauben Sie wirklich, daß das Blut der Bathyani, das in meinen Adern fließt, vergessen kann, daß mein Verwandter den Galgen zierte, daß es vergessen kann, Ungarns Rechte und Freiheiten?«

»Aber Ihr Oheim, Ihre Vettern sind auch Ungarn und doch gute Oesterreicher wie tausend Andere.«

»Sie sind Diener und Anhänger des Kaiserhauses. Ich aber habe die Milch meines Landes getrunken und bin in ihm groß geworden. Doch das sind Anschauungen des Gefühls und der Entscheidung jedes Einzelnen. Um Vieles nicht möchte ich Kummer auf das weiße Haar meines Onkels bringen und danke Ihnen deshalb für Ihre Warnung. Ich werde in drei Tagen auf meine Güter am Maros gehen. Will Capitain Meyendorf einen Theil der Jagdzeit auf meinem Schloß Bisztra zubringen, das er kennt, so findet er dort – wenn auch nicht durchgängig angenehme – Gesellschaft und wird willkommen sein.«

Der Capitain schwieg einige Augenblicke.

»Ich verlasse Wien wahrscheinlich noch früher wie Sie, Gräfin.«

»Wie das?«

»Man erwartet jeden Augenblick von Constantinopel eine entscheidende Nachricht. Der Kaiser ist gestern, wie Sie wissen, nach [300] Warschau zurückgereist und wird sie dort in Empfang nehmen. Ist die Pforte wahnwitzig genug, die Kriegserklärung zu beschließen, so werde ich wahrscheinlich als Courier zum Fürsten Gortschakoff gehen müssen. Ohnehin ruft mich dann meine militairische Pflicht in die Reihen der Donau-Armee.«

»Wissen Sie, Capitain, daß ich Ihnen dort näher sein werde, als Sie glauben?«

»Wie meinen Sie das, Gräfin?«

»Von der Familie meiner Mutter habe ich zwei Güter am Schyl in der Nähe von Krajowa geerbt. Sie sehen daraus, daß ich schon als gute Unterthanin des Sultans, meines Oberherrn, Ihre Gegnerin sein muß. Ich denke, noch in diesem Herbst, spätestens im Frühjahr, meine Walachen zu besuchen.«

»Das dürfte doch leicht zu gefährlich sein. Sollte es wirklich geschehen, so würde es mir hoffentlich leicht werden, ein Kommando in jener Gegend zu erhalten, um zu Ihrem Schutz bereit zu sein.«

»Sie sind zu galant, Capitain,« lächelte die Gräfin mit leichter Coketterie; »ich kann kaum annehmen, daß meine kleine Person wirklich einen Anspruch auf Ihr Interesse hat.«

Der Offizier bog sich über den Sitz weit vor.

»Sollte Gräfin Helene in der That nicht wissen, welches Bild in diesem Herzen lebt, seit ich sie damals auf Schloß Bisztra am Lager Ihres kranken Gemahls zuerst erblickte?«

Die Gräfin schwieg – Zügel und Peitsche ruhten achtlos in ihrer feinen Hand.

»Es in eine eigenthümliche Gelegenheit, es auszusprechen.« fuhr der Capitain mit bewegtem Tone fort, »aber Sie wissen, dem Soldaten gehört der Augenblick. Seit jener Zeit, seit ich Sie sah, Helene, liebe ich Sie innig und fest, so lange dies Herz schlagen wird. Als Mann von Ehre darf ich jetzt keine Frage an Sie richten, da ich im Dienst und bei den drohenden Verhältnissen nicht Herr meiner Selbst bin; ichmöchte es nicht – weil ich in Kampf und Tod wenigstens die Hoffnung mit mir tragen will, in diesem stolzen Herzen ein Gedächtniß zu finden. – Aber sagen, sagen mußte ich es Ihnen, ehe ich scheide – und jetzt, Gräfin von Laszlo, wissen Sie, warum ich in Wien blieb.«

Eine lange Pause folgte dem inhaltschweren Geständniß; auf [301] Stirn und Wangen der schönen Magyarin zeigte die Röthe ihre innere Erregung. Ein Kampf schien in ihrer Seele vorzugehen.

»Ich muß und will Ihnen dennoch eine Antwort geben, Herr Capitain. – Wissen auch Sie, warum ich aus den Reihen der Equipagen in dir einsame Allee einbog?«

Er schaute sie fragend an. Ihr dunkles Auge war zu Boden geschlagen, – sie achtete es nicht, wie leicht die Zügel ihrer Hand entglitten.

»Ich glaubte, – ich wußte, daß Sie mir das sagen würden, was ich eben gehört.«

»Helene!«

»Halt, mein Freund! – Sie wissen, daß ich jung einen greisen Gatten erhielt, den ich kaum zwei Jahre lang als meinen Vater ehrte.«

»Ich habe ihn gesehen. Sie pflegten den Greis wie einen beliebten.«

»Familienverhältnisse ließen mich seine Gemahlin werden, – er sah den Ausgang der Erhebung unseres Landes voraus, den sichern Ruin unserer Familie vor Augen und wollte mich, die er als Kind geliebt, retten und mir eine Zukunft bereiten. Ich wurde die Erbin aller seiner Güter.«

»Gräfin!«

»Still! was kümmert es uns, ob diese reich oder gering sind, ob diese Hand eine ihres Goldes wegen so vielbegehrte ist! – Krankheit fesselte meinen Gemahl an sein Schloß während des ganzen Krieges, obschon er an dem Aufstand keinen Theil nahm und jeden Verkehr mit den Führern so viel als möglich vermied. Aber mein Herz flog mit unsern Fahnen, meine Seele war in den Schlachten, die mein Volk kämpfte, meine Thränen flossen mit seinem Blut und meine Pulse jubelten mit seinen Siegen!«

»Und ich, Ihr Feind!«

»Da kommen Sie, mit den Armeen des Czaren, die Ungarn auf's Neue in Fesseln schlugen. Sie, die fremde Nation brachten die Ketten, die den erwachten Riesen zu Boden warfen. Welche Gefühle meinen Sie, müßte die Tochter Ungarns für den fremden Unterdrücker haben?«

Er schwieg.

»Doch Sie sind Soldat, Sie der Einzelne, Willenlose. Als solcher waren Sie edel und gut, – ich danke Ihnen viel, vielleicht [302] Ehre und Leben, als Sie die Marodeurs unserer eigenen Armee, – den Auswurf der Zerstreuten, Geschlagenen, bei der Plünderung unseres Schlosses überraschten und zurückschlugen. Sie schützten uns gegen alle weiteren Gefahren.«

»Auch das war Soldatenpflicht.«

»Es waren zwei Bilder, die in meiner Erinnerung blieben, derselbe Gegenstand und doch so verschieden, der Feind und der Freund.«

»Und welchen von beiden sehen Sie jetzt?«

»Es wird darauf ankommen. – Ich werde meine Hand nur einem Freunde Ungarns geben, nie seinem Feinde.«

Wiederum unterbrach ein längeres Schweigen das Gespräch. Dann sprach er mit tiefem schwerem Ton:

»Ich bin Soldat – aber ich bin auch Royalist aus fester innerer Ueberzeugung. Ich werde stets dahin gehen, wohin mein Kaiser befiehlt.«

Sie athmete schwer, ihre Stimme zitterte.

»Die drohenden politischen Stürme werden, auch ohne unser Zuthun, in vielen Ländern Veränderungen hervorbringen, – wie ich hoffe, auch in meinem Vaterlande.«

»Täuschen Sie sich nicht mit solchen Erwartungen und, ich beschwöre Sie und will für diese Bitte jede Hoffnung opfern, – denken Sie an das Schicksal der Gräfin Teleky. Bricht der Krieg aus, so wird Oesterreich sicher mobil machen und seine flavischen Provinzen besetzen und niederhalten; denn es weiß sehr wohl, daß ihm hier die nächste Gefahr droht. Geben Sie einen Traum auf, der nur zum Verderben führt.«

Die Hände ruhten gefalten in ihrem Schooß, – so jagten die Pferde, die Zügel am Boden schleifend – sie merkte nicht, – er merkte nicht auf die Gefahr. –

»So leben Sie wohl – meine Gebete geleiten Sie in den Sturm der Schlacht!«

»Helene!«

Sie reichte ihm stumm die Hand, die er an seine Lippen preßte. – – –

Aus einem Seitenweg brachen im Galop drei Reiter, Graf Pisani unter ihnen. Die Pferde vor dem Tilbury der Gräfin scheuten zurück, – die haltende Hand fehlte, im rasenden Lauf brausten sie dahin.

[303] »Um Gott – die Zügel!«

Die Gräfin saß bleich, rathlos in der Ecke ihres Sitzes. Tief von dem seinen bog sich der Offizier und versuchte vergeblich die Zügel zu haschen, die unter den Rädern dahin schleiften, und sich in die Füße der Pferde schlingend, diese nur noch scheuer machten.

Der leichte Wagen flog von einer Seite zur andern – jeder Augenblick drohte ihn zu zerschellen. Gräfin Helene hielt sich mit Mühe fest auf dem Sitz. Die plötzliche Todesgefahr hatte die Schwäche des Weibes in ihre volle Macht eingesetzt.

»Allmächtiger Gott – wer hilft?«

»Halten Sie fest, Gräfin, – ich versuche Alles!«

Während des rasenden Laufes, doch mit besonnener Vorsicht, schwang sich der Offizier, nachdem er seinen Degen von sich geworfen, von seinem Platz an die Teile des Wagens nach dem Auftritt zum vordern Sitz, darauf Fuß fassend. Der Auftritt war kaum anderthalb Fuß hoch vom Boden, und so, mit der Hand sich am Wagen selbst festhaltend, versuchte er die Leine zu haschen. Die ersten Versuche mißglückten, dann gelang es ihm, die Zügel zu erfassen, aber verwickelt in das Geschirr, wie sie waren, und durch das Anspringen der Pferde erhielt er von ihnen einen so gewaltigen Ruck, daß er die Balance und den leichten Halt verlor und schwer zu Boden stürzte. Ein lauter Aufschrei der Gräfin gellte in seine Ohren, – einen dunklen Schatten sah er vorüberfliegen, während er, die Zügel nicht loslassend, mehrere Schritte fortgeschleift wurde, dann ein plötzlicher Ruck, daß der Wagen erzitterte, und die wilden Renner standen wie eine Mauer. Als er sich aus der augenblicklichen Betäubung emporraffte, hielt Graf Pisani auf seinem schäumenden Renner vor dem Gespann und dessen Kinnketten in seiner kräftigen Faust. Dann den herbeispringenden Gesellschaftern die weitere Bändigung der Pferde überlassend, sprang der Graf aus dem Sattel und eilte, die halb ohnmächtige Dame von ihrem Sitz zu erheben, worauf er sie halb schwebend zu einem nahen Ruhesitz unter den Bäumen der Allee trug.

»Gerettet, und durch mich!« sagte der Italiener mit Bedeutung. »Ein glücklicher Tag, der mir zugleich die Hoffnung giebt, Sie nochmals zu sehen, Gräfin. Es sind vor einer Stunde höchst [304] wichtige Nachrichten eingegangen – alle Vertrauten versammeln sich bei der Czezani.«

Sie vermochte, erregt, alle Pulse fliegend, ihm nicht zu antworten, kaum zu stammeln:

»Mein Begleiter – der Capitain« – –

»Ah, sorgen Sie nicht,« lachte spöttisch der Graf. »Ein Bischen Schmuz – das ist ja ihr Element. Ein Russe macht sich Nichts daraus und kommt immer wieder auf seine Füße.«

Er beschäftigte sich eifrig um sie, die mit Gewalt die Aufregung überwand und sich schnell erholte.

»Wir rechnen sicher auf Ihr Erscheinen, Gräfin, – es ist dringend, ich muß Sie sprechen.«

»Ich werde kommen. – Doch wo ist Herr von Meyendorf?«

Sie wandte umherblickend das schöne Haupt, – ihr Auge traf auf den Capitain, der kaum zwei Schritt von ihr stand, finster die Gruppe messend, beschmuzt vom Staub des Weges, den Uniformrock an mehreren Stellen zerrissen. –

Die Gräfin stand rasch auf und reichte ihm die Hand.

»Welcher Gefahr haben Sie sich um meinetwillen ausgesetzt, – Sie konnten sich tödten!« – Indem bemerkte sie dunkle Blutstropfen, die seine linke Manchette färbten und an der Hand herunterrollten. – »Mein Gott, Sie bluten – Sie sind schwer verletzt?«

»Nur unbedeutend – das scharfe Eisen ritzte mir den Arm. – Diesmal,« fügte er mit kaltem Lächeln hinzu, »blute ich wenigstens für Ungarn.«

»Es ist unser Handwerk,« sagte der Graf, »und der Herr Capitain achtet dessen um so weniger, als vielleicht russisches Blut bald in Strömen vergossen werden wird.«

»Vielleicht bietet sich auch die Gelegenheit, die Farbe des sardinischen zu erproben!«

»Ich hoffe,« entgegnete der Oberst stolz, »daß Seine Majestät, der König Victor Emanuel, uns diese durch seinen Beitritt zu den Westmächten gewähren wird.«

Die Gräfin unterbrach die bitteren Worte, die wie Pistolenkugeln herüber und hinüber flogen.

»Die Pferde sind beruhigt, Dank Ihrer muthigen Geschicklichkeit, Herr Oberst. – Ich glaube, ich kann ohne Gefahr meinen Sitz wieder einnehmen.«

[305] »Darf ich mir erlauben, meine Dienste anzubieten, da der Herr Capitain wahrscheinlich vorziehen wird, die Rückkehr seines Dieners mit neuen Kleidern aus der Stadt zu erwarten?«

»So wollen wir das gemeinschaftlich thun; ich bitte, Capitain, senden Sie rasch.«

»Es ist bereits geschehen,« sagte der Offizier, der seinem eben herbeigekommenen Reitknecht den Befehl gegeben und den Zügel seines Reitpferdes in die Hand genommen hatte. »Indeß bitte ich dringend, gnädigste Gräfin, sich meinetwegen nicht aufzuhalten. Ich werde im nächsten Café die Rückkehr meines Dieners erwarten und bedaure mir, daß der Unfall mich hindert, die mir vom Fürsten, Ihrem Oheim, übertragene und von mir schwer vernahlässigte Pflicht besser zu Ende zu führen. Der Herr Oberst wird sicher aufmerksamere Sorge tragen.«

Sie sah ihm erstaunt in das Auge, das kalt und gemessen dem ihren begegnete. Dann ging sie stolz nach dem Wagen, an dem die beiden Begleiter des Grafen noch hielten. Die Pferde hallen sich vollständig beruhigt, der Jockey stand an seinem Platz.

»Darf ich das Glück haben, den Rosselenker zu machen?«

»Nein,« sagte sie kurz abgestoßen, »ich will selbst fahren; man würde sonst glauben, ich hätte mich gefürchtet.«

»So erlauben Sie mindestens, daß wir Sie zu Pferde begleiten; unmöglich können wir Sie allein lassen.«

Sie nickte stumm und ließ sich auf den Sitz heben, wo sie die Zügel aus des Jockey's Hand empfing. Während die Cavaliere sich auf die Pferde schwangen, wandte sie sich noch ein Mal zu ihrem früheren Begleiter, der mit kalter Höflichkeit an der Seite des Wagens stand.

»Werde ich Sie noch sehen vor Ihrer Abreise?«

Ein eisiger Blick begegnete ihrem fast zärtlich fragenden Auge.

»Die Gräfin von Laszlo hat der Freunde so viele, die sie sehen und sprechen muß, daß ich ihre kostbare Zeit nicht beschränken darf.«

Der Wagen flog dahin, – er sah die Thräne nicht, die sie im stolzen Zorn zwischen den dunklen Wimpern zerdrückte.

Aber am Boden sah er es weiß schimmern, das Tuch der Gräfin, das ihr entfallen. Das hob er auf und preßte es an das heiße Gesicht und barg es auf dem tief verletzten Herzen. – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[306] In der Nähe des Palais beurlaubten sich die Reiter von der schönen Gräfin, und Oberst Pisani kehrte nach seiner Wohnung zurück. Als er dort ankam, fand er am Hausthor lehnen und auf ihn harren einen Mann von wildem kühnem Aussehen. Der Fremde mochte an zehn Jahr mehr als der Oberst zählen, der eben das vierzigste angetreten, doch zeigten nur wenig ergrauende Haare am Scheitel und in dem kräftigen Bart, der den untern Theil des Gesichts bedeckte, das beginnende Alter. Obschon der Mann in gewöhnlichen wenig auffallenden Kleidern steckte, schien doch sein ganzes Ich nicht hinein zu gehören, und hätte über dem funkelnden schwarzen Auge der bänderverzierte spitze Calabreser gesessen, wäre die breite gewölbte Brust statt von Rock und Weste von dem rothen silbergestickten Latz des römischen Banditen bedeckt gewesen, mit seinen Uhren, Ketten, Ringen und Amuletten beladen, – um den Leib die neapolitanische Binde geschlungen mit den Pistolen darin und den Stilets, – das hätte der passende Anzug geschienen für die sehnige mittelgroße Gestalt, die kräftigen Beine, die den Bergbewohner verriethen, und das ganze Wesen des Mannes, daß, die Flinte in der Faust, den Gegner auf Tod und Leben zu bedrohen schien.

»Ah, Signor, das nenn' ich pünktlich,« sagte der Sarde laut zu dem Fremden, indem er sich vom Pferde schwang. »Kommen Sie mit hinauf zu mir, damit wir unsern Handel abschließen.« Damit klopfte er das treffliche Roß kosend auf den Nacken. »Du hast mir heute einen großen Dienst erwiesen, Diavolo, der mich meinem Ziele um Vieles näher bringt, und sollst doppelte Ration haben zum Dank.«

Er übergab es dem Stallknecht und befahl ihm besondere Sorgsalt für das schöne Thier, dann lud er den Fremden nochmals ein, ihm zu folgen und führte ihn hinauf in sein Zimmer.

Dort warf er sich auf's Sopha, winkte seinem Begleiter, sich niederzulassen und änderte sofort den Charakter der Anrede.

»Nun, Sta Lucia,« sagte der Oberst, indem er ein Cigaretto nahm und dem Fremden die Büchse derselben zuschob, »ich habe, was Ihr braucht, ermittelt, und es wird gut sein, wenn Ihr Euch bereit haltet, morgen mit dem Frühzug nach Pesth abzureisen.«

»Warum, Signor Conte? – es gefällt mir recht gut hier, ich bin erst drei Tage in Wien und habe die Fahrt noch in den Knochen.«

[307] »Vorerst, mein Bester,« entgegnete der Graf, behaglich die Dampfwolke verfolgend, die er von sich blies, »taugt die wiener Luft nicht besonders für Leute Eures Schlages, die unter Garribaldi gefochten und außerdem so ein anderthalb Dutzend Personen ohne Absolution und Vollmacht aus der Welt spedirt haben, die Andern nicht gerechnet, die nachgekommen und von denen ich Nichts weiß. Wien ist ein heißes Pflaster und man liebt uns Italiener nicht gar zu sehr hier.«

»Ich bin Franzose, Signor!«

»Ah, ich vergaß. Das liebe Corsika ist ein französisches Departement und liefert Frankreich seine Kaiser und seine Banditen. Aber abgesehen davon möchte die Rückreise Euch sonst Schwierigkeiten machen, das nächste Dampfschiff, welches die Donau hinabfährt, dürfte wahrscheinlich das letzte sein.«

»Wie so?«

»Das werde ich Euch besser fünf Minuten vor der Abfahrt sagen. Genug, Eure Rückkehr nach Constantinopel hat Eile, denn es wird dort jetzt reichliche Beschäftigung geben. Hier ist zunächst die Auskunft, die das Comité in Constantinopel verlangt und wegen deren Ermittelung es Euch hierhersandte, da Ihr Euer Lebelang nicht hier gewesen, also kein Wiedererkennen zu fürchten hattet.«

»Darf ich fragen, Signor Conte, ob sich der Verdacht bestätigt hat?«

»Das kann ich Euch so bestimmt nicht sagen, und müßt Ihr selbst an Ort und Stelle durch Vergleichung, des Signalements ermitteln. Daß der capitano tedesco Robert Blum in dem bezeichneten Hause sich versteckt hielt und durch einen Bewohner desselben angezeigt wurde, steht fest. Der Mann ist später von Wien fortgezogen, weil er Verfolgungen fürchtete, und es ist richtig, daß er nach dem Orient gegangen sein soll. Der Name stimmt freilich nicht, aber das ist kein Hinderniß. Das möglichst genaue, hierbei befindliche Signalement wird entscheiden, ob die erhobene Anklage des Comité's begründet ist.«

»Giebt sie ein besonderes Kennzeichen an?«

»Eine starke Narbe an der linken Schläfe.«

»Per bacco! es ist unser Mann!«

»So sind wir fertig. Seid Ihr mit einem Anzug versehen, um Euch in eine Gesellschaft einführen zu können?«

»Der Teufel hole die verwünschten Kleider, in denen man [308] sich überall zu enge fühlt. Was ich auf dem Leibe trage ist Alles, was ich habe.«

»So ist hier Geld, Ihr werdet in jedem Kleidermagazin das Nöthige finden. Binnen einer Stunde müßt Ihr elegant equipirt bei mir sein, um mich an einen Ort zu begleiten, wo ich Euch als den Marchese Lucaboni vorstellen werde. Es ist möglich, daß man Eurer dort für Auskunft und Instruction in Betreff Constantinopels bedarf.«

Der Corse steckte das Geld ruhig in die Tasche, zündete sich ein neues Cigaretto an und empfahl sich.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ungefähr anderthalb Stunden nach der vorerzählten Scene rollte ein elegantes Coupé auf der Straße nach Hietzing, diesem von Villen und schönen Anlagen gebildeten, beliebten Sommeraufenthalt der Wiener. Obschon die Jahreszeit weit vorgeschritten, wohnten doch viele vornehme Familien noch hier und die schöne Herbstwitterung erlaubte selbst noch einen großen Theil der Abende im Freien zuzubringen.

Der Cirkel, welcher sich an zwei Abenden in der Woche in dem eleganten Landhause versammelte, das Frau von Czezani, eine geborene Ungarin, in Hietzing bewohnte, bildete eine interessante Gesellschaft aus den verschiedensten Kreisen der lebenslustigen Residenz, und man fand hier – so weit die Bäder- und Sommerreisen sie nicht entführt – Mitglieder der Aristokratie und Diplomatie, Koryphäen der Geschäftswelt, Fremde, Offiziere und Künstler. Ganz natürlich erschien es dabei, daß namentlich Ungarn das Haus ihrer Landsmännin besuchten. Ein Vorgarten schied die elegant erbaute Villa von der Straße und diente mit dein offenen Vestibüle und dem die ganze Mitte des Gebäudes einnehmenden Salon gewöhnlich zum Aufenthalt der Gesellschaft, so daß so zu sagen aller Verkehr öffentlich und vor den Augen des Publikums sich bewegte, und also um so weniger Aufmerksamkeit oder Verdacht erregen konnte. Rechts und links vom Salon befanden sich die Spielzimmer, hinter dem Hause schloß sich, wie gewöhnlich bei den Villen, ein ziemlich großer, mit modernen Anlagen gezierter Garten an. Einen Seitenflügel des Gebäudes bildete ein Gewächshaus, an dessen Ende ein großer gemauerter Pavillon stieß, für Sommer und Winter zum Bewohnen geeignet. Die Laubgänge und dunklen [309] Boskets des Gartens umschatteten ihn und verbargen auf diese Weise den äußern Zugang.

Die Gesellschaft war an diesem Abend bereits ziemlich zahlreich anwesend und hatte sich im Garten um eine fremde Schönheit gruppirt, deren Ruf ihr voran gegangen und die vor einigen Tagen in Wien eingetroffen und durch einen Empfehlungsbrief bei Frau von Czezani eingeführt war.

Es war die spanische Tänzerin, der wir bereits in Paris und Berlin begegnet sind.

Während ein Kreis von Verehrern um die Spanierin eine lebhafte Conversation unterhielt, promenirten einzelne Gruppen im Garten und Salon. Graf Pisani suchte die Dame des Hauses auf, der er laut seinen Begleiter als den Marchese Lucaboni präsentirte, worauf er es diesem überließ, sich so gut wie möglich zu unterhalten oder durchzuhelfen, und sich in der Gesellschaft verlor.

Er selbst ging durch den Salon nach dem hintern Garten, in dem verschiedene Paare promenirten. Sein scharfer Blick fand bald Personen heraus, die er suchte und er folgte zweien, die im eifrigen halbleisen Gespräch vertieft waren. Die eine war ein kleiner magerer Abbé mit fuchsartigem Gesicht und scharfen, stechenden Augen, Italiener wie der Graf; die andere war der Banquier, dessen Mission nach Wien im Rath der »Unsichtbaren« der Leser beigewohnt hat.

Als der Graf zu ihnen trat, geschah es an einer Stelle des Gartens, an der sie durch die freie Umgebung vor jedem Lauscherehre gesichert waren.

»Ich erwartete kaum, Sie schon hier zu finden, Baron,« sagte der Graf, »und glaubte Sie noch mit der Fluth der Geschäfte überhäuft, die diese wichtige Nachricht mit sich bringen mußte. Wie haben Sie Ihre Dispositionen getroffen?«

»Der Herr Abbé war so gütig, mir zu helfen, über dies waren alle Vorbereitungen getroffen. Um 7 Uhr ist mein erster Commis mit der Eisenbahn abgegangen und giebt in Brünn die Depeschen nach Berlin, Paris und London zur telegraphischen Beförderung auf. Man wird sie an allen drei Orten morgen mindestens zwei bis drei Stunden vor Eröffnung der Börsen haben, und die Geschäfte können vollständig vor deren Beginn abgemacht sein. Ein Milliönchen, Herr Graf, ein Milliönchen mindestens muß [310] selbst der Schlag eintragen, abgesehen von den Vortheilen für die Verbindung.«

Er rieb sich vergnügt die Hände.

»Aber warum gingen Sie nicht lieber selbst bis Brünn? Es wäre weit sicherer gewesen.«

»Der Baron,« meinte der Abbé, »muß nothwendig in Wien bleiben, seine Abreise hätte Verdacht erregen können, und er allein konnte die Speculation hier ausführen.«

»Glauben Sie hier noch zu reüssiren? Wie hoch rechnen Sie genau den Vorsprung unserer Nachricht?«

»Die Depesche ist darüber natürlich sehr unklar, indem sie ihren wahren Inhalt unter einer gleichgültigen Mittheilung verbergen mußte. Danach ist am 26. die Kriegserklärung im großen Rathe beschlossen worden. Nehmen wir an, daß der Tartar am 26. Mittags Constantinopel verlassen hat. Fünf bis sechs Tage braucht die Botschaft bis Belgrad. Der Pascha wird sie demnach heute Morgen erhalten und unserm Agenten ausgehändigt haben, der uns von Semlin aus die verabredete Actienzeichnung telegraphirt hat. Nach dem Uebereinkommen giebt Hussein Pascha die Depesche erst zwölf oder achtzehn Stunden nach der Ueberlieferung an uns an den österreichischen Consul ab, dies wird also erst morgen früh geschehen, und die offizielle Nachricht, die verschiedenen Verzögerungen mitgerechnet, nicht vor morgen Mittag hier eintreffen, wenigstens nicht bekannt werden. In jedem Fall haben wir an den drei andern Börsen die Avance, wahrscheinlich auch hier; denn man wird sie nicht eher veröffentlichen, als bis Bescheid von Olmütz eingetroffen 1

»Die Berechnung scheint mir allerdings richtig. Sind Ihre Depeschen nach auswärts auch der Art abgefaßt gewesen, lieber Baron, daß sie den Telegraphenbeamten unverständlich bleiben und arglos weiter befördert werden?«

»Vollständig. Als ich vor vierzehn Tagen zuletzt in Paris war, ist die genaue Verabredung getroffen. Die Zahlen der Course bilden die geheime Chiffre der Worte.«

»So müssen wir den Erfolg abwarten. Ich werde Sie jetzt verlassen, um durch unser Zusammenbleiben keinen Verdacht zu erregen. [311] Sobald die Gesellschaft sich etwas gelichtet und Sie die Zurückgebliebenen beschäftigt sehen, treffen wir uns wie gewöhnlich im Pavillon.«

Während er zurückkehrte in den Gesellschaftskreis, wandelte das Paar noch einige Male in den Gängen auf und ab.

»Wir wurden unterbrochen durch Pisani,« sagte der Abbé; »der Gewinn, die Habsucht regiert und füllt die Seele dieses Mannes. Auf die Befriedigung dieser Leidenschaft zielen alle seine Pläne. Nebenbei ist er ehrgeizig, schlau und namentlich kühn, – man muß dies anerkennen. – Der Plan also, den Sie mir entwarfen hat bereits die Zustimmungen in Paris erhalten?«

»Er ist in der vollen Ausführung begriffen. Gedenken Sie wohl. Der Credit und das baare Vermögen Europa's sind offenbar gegenwärtig in den Händen des Hauses Rothschild. Abgesehen davon, daß die Mitglieder desselben dem orthodoxen Judenthum angehören, also schon dadurch Feinde aller revolutionairen Prinzipien sind, dringt es die eigenthümliche Stellung, die sie in Europa einnehmen und welche die einer souverainen erblichen Macht ist, mit sich, daß sie nur in der Aufrechthaltung des monarchischen Systems ihre Sicherung und ihren Vortheil sehen.«

»Aber sie haben eben so gut mit Karl X. wie mit Louis Philipp und Louis Napoleon Geschäfte gemacht.«

»Ich sage auch, wohl zu merken, in der Aufrechthaltung des monarchischen Systems, nicht der Dynastieen. Diese sind ihnen gleichgültig. Die Monarchen aber sind ihr persönlicher Schutz, außerdem bietet das Königthum immer mehr Gelegenheit zur Influirung und Dominirung. Eine social revolutionaire Reform der Staaten würde auch sie sofort von ihrem goldenen Thron stoßen. Selbst wenn die Prinzipien allgemeiner Gleichheit und Theilung, die doch nur der Köder für die einfältige Menge sind, glücklich an ihnen vorübergingen, wäre es aus mit ihrer Herrschaft im Geschäftsleben.«

»Die Speculation würde über die einzelne Gelbmacht siegen.«

»So ist es. Die Rothschilds sind demnach streng conservativ und royalistisch, und werden dies Princip stets mit ihren colossalen Mitteln unterstützen. Es gilt nun, eine Macht ihnen gegenüber zu stellen, welche die ihre brechen kann. Das ist: das Kapital Aller gegen das Kapital des Einzelnen.«

»Ich verstehe Sie noch nicht ganz.«

[312] »Die Staaten, die Privaten besitzen noch immer mehr als das Hundertfache in reellen Werthen, was die Rothschilds doch zum größten Theil problematisch, das heißt im Credit der Papiere besitzen. Man versucht nun ein Unternehmen zu gründen, welches einen großen Theil dieser materiellen Werthe concentrirt; der Credit und die problematischen Werthe, die sich weiter daran knüpfen, werden dann ungeheuer sein. Mit diesen Mitteln in Händen wird man mit Erfolg gegen die Rothschilds kämpfen und sie endlich erdrücken.«

»Ich begreife das.«

»Man wird mit diesen beweglichen Mitteln, mit diesem Crédit mobilier, alle staatlichen und privaten Unternehmungen an sich bringen und sich zu deren Herren aufwerfen können. Die Eisenbahnen, die Banken, die Bergwerke müssen uns in die Hände fallen. Sie haben die Anfänge bereits hier in Wien gesehen. Das Institut ist ein freies bewegliches, es kann überall in's Leben treten, überall seine Speculationen verbreiten. Wir richten unser Augenmerk zunächst auf Frankreich, – in weiterer Folge auf Oesterreich und Spanien, weil das die in ihren Finanzen bedrängtesten Staaten sind und jede herbeischaffende Speculation begünstigen werden. In Paris hat das Unternehmen bereits festen Fuß gefaßt. Der Kaiser Napoleon hat viele tüchtige Regenteneigenschaften, aber er ist kein Finanzmann. Der beginnende Krieg wird enorme Summen und Anlehen absorbiren, die napoleonische Eitelkeit gegenüber dem andern Europa desgleichen.«

»Aber der directe Zweck für uns, die Erfolge für die Revolution?«

»Sie liegen auf der Hand, Abbé, und ich begreife nicht, wie ein Mann von Ihrem Scharfsinn sie nicht sofort übersieht. Zunächst der bedeutende Gewinn, den die Verbindung aus allen diesen Geschäften ziehen muß. Geld ist Macht. Das Pfand- und Eigenthumsrecht über die Institute und Nerven des öffentlichen Verkehrs ist von nicht zu übersehendem Einfluß. Das Wichtigste aber von Allem, was das Schicksal Europa's in die Hände der ›höchsten Gewalt‹ legt, das ist –«

»Nun?«

»Das ist der Staatsbankerutt, der allgemeine Bankerutt der Nationen, der jeden Augenblick in der Macht der Unternehmer liegt. Denken Sie die kolossalen socialen Folgen, welche [313] ein solcher unter den jetzigen Verhältnissen haben muß, selbst wenn er nur nach einer oder der andern Seite hin ausgeführt wird!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

An dem Treppenaufgang der Villa traf Graf Pisani auf die Wirthin des Hauses, etwas erregt mit dem Kammerdiener und der Zofe scheltend.

»So geht es im häuslichen Leben, Graf, immer Aerger und Verdruß.«

»Und was erzürnt Sie, schöne Frau?«

»Mein zweiter Diener ist schon vor mehr als zwei Stunden nach der Stadt geschickt, um Allerlei zu holen, und der Mensch läßt uns im Stich und kommt nicht wieder. Ich habe ihm heute Morgen den Dienst gekündigt, weil er mir ohnehin nicht gefällt, und nun trotzt er wahrscheinlich, weil ich auf seine dringenden Bitten und Vorstellungen nicht nachgab.«

»Ei, gnädige Frau, das sind kleine Unannehmlichkeiten, wie sie jeder Haushalt mit sich führt. Darf ich das Vergnügen haben, Sie zu begleiten?«

Die Gesellschaft hatte sich mit dem Abend zum Theil wieder entfernt, zum Theil in den Salon und die Spielzimmer zurückgezogen. Der Graf sah sich mit Frau von Czezani einige Augenblicke allein.

»Ist die Gräfin gekommen?«

»Vor einer Viertelstunde. Ich glaube, sie befindet sich bereits im Pavillon und erwartet Sie.«

»Ich darf doch sicher auf den versprochenen Beistand rechnen, schöne Frau? Die Ereignisse drängen sich jetzt, und ich habe heute Mittag einige Bemerkungen gemacht, die mir Besorgniß einflößen würden, wenn der Zufall mir nicht glücklich zu Hilfe gekommen wäre.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich. Ich folge ihr nach Schloß Bisztra, und wenn Sie uns dort besuchen, werden Sie sie für Ihre Absichten möglichst vorbereitet finden. – Doch sagen Sie um des Himmels willen, Graf, wer ist dieser Pseudo-Marchese, den Sie uns heute zugeführt? Denn daß Titel und Namen falsch sind, sieht man auf zehn Schritt, und ich fürchte mich wirklich stark zu compromittiren, so unheimlich scheint ihm in unserer Gesellschaft, und so unheimlich wird mir in der seinen.«

Pisani lachte.

[314] »Es ist ein gezähmter Wolf und nicht zu fürchten. Sie sehen in dem lieben Marchese ein vollkommenes Exemplar eines Corsen vor sich, der einige kleine Unannehmlichkeiten gehabt hat. Sta Lucia schwor, seinen unschuldig von den Geschworenen auf die Galeere geschickten Bruder an den achtzehn falschen Zeugen zu rächen, die seine Verürtheilung herbeiführten. Er hat Wort gehalten; dem Einen hat er, nachdem er sich mit der Polizei nach der ersten Affaire gründlich überworfen, eine Kugel in den Leib geschickt, den Andern die Augen ausgedrückt, noch Anderen furchtbare Verstümmelungen beigebracht. Ein Einziger war noch übrig, der Schuldigste von Allen, der Anstifter des Verbrechens, der in seinem Hause in Ajaccio sitzen blieb. Als er eines Sonntags zur Kirche ging, warf ihn am hellen Mittag ein Dolchstich auf der Schwelle der Kirche zu Boden. Sta Lucia durchschreitet ungefährdet wie der Engel des Todes die Menge, läuft nach dem Meere und besteigt im Angesicht der ganzen Bevölkerung wieder die Barke, die ihn hergebracht. Später schloß er sich der Truppe Garribaldi's an, wo ich um kennen lernte, und lebt jetzt in Constantinopel.«

»Aber mein Gott, – ich habe mein ganzes Silberzeug so offen stehen – er wird doch nicht –«

»Keine Besorgniß, schöne Wirthin. Unser Freund ist Bandit aus Liebhaberei, aber kein Spitzbube. Sie könnten Säcke Gold offen stehen haben, und er würde sie nicht anrühren. Doch ich eile zu unserer kleinen Gräfin, der die Zeit lang werden dürfte. Beschäftigen Sie möglichst alle Uneingeweihten.«

Er verließ die Dame und begab sich nach kurzem Verweilen in der Gesellschaft durch das Gewächshaus nach dem daran stoßenden Pavillon, der ein achteckiges Gemach bildete, in dem für allen Schein ein Spieltisch arrangirt war, während eine Ampel nur im Halblicht das Gemach erhellte und die Läden fest geschlossen waren.

Er fand die Gräfin Helene Laszlo dort im eifrigen Gespräch mit dem Banquier und seinem Begleiter und einem alten Herrn, dessen faltenreiches Gesicht den scharfen sarmatischen Schnitt trug, Haar und Bart aber die Schneefarbe des Greisenalters.

»Ich sehe,« sagte der Oberst zu der jungen Wittwe, »unsere Freunde sind mir bereits zuvorgekommen, und haben Sie von der wichtigen uns heute Nachmittag zugekommenen Nachricht unterrichtet. Am 26. ist in Constantinopel die Kriegserklärung beschlossen worden, sie wird natürlich sofort erfolgen und die Feindseligkeiten [315] an der Donau werden alsbald beginnen. Damit ist auch für uns die Zeit eines energischen Handelns gekommen. Erringt der Sirdar, was bei der Schwäche der Russen kaum zu bezweifeln ist, an der Donau Vortheile, so kann jeder Aufstandsversuch in Ungarn sich auf ihn lehnen, er wird ihm den Rücken decken.«

»Aber die Wunden meines Landes sind noch tief und schwer; so sehr ich es wünsche, glaube ich kaum, daß es schon wieder die Kraft haben wird, dem Feinde entgegen zu treten.«

»Ein Volk verliert nie die Kraft, für seine Freiheit zu kämpfen, und ob Ströme seines Bluts vergossen werden. Wie aus der Kadmus Saat wachsen aus dieser geharnischte Männer. Ich meine auch keineswegs, daß die Erhebung sogleich erfolgen soll. Es ist vorerst nur nöthig, daß das Volk, und namentlich im Süden, auf die Bedeutung des orientalischen Krieges, auf diese Gelegenheit, seine Freiheit zu erringen aufmerksam gemacht, und daß die Verbindung mit den Ungarn in Omer's Armee hergestellt wird. Für den erstern Zweck hat das Comité in London entsprechende Proclamationen bereits erlassen. Wir rechnen auf Sie, Gräfin, uns bei der Verbreitung in den Theißgegenden behilflich zu sein.«

»Ich habe bereits mit der Frau Gräfin das Nöthige verabredet,« unterbrach der alte Magyare. »An einem geeigneten Ort auf einem ihrer Güter wird eine Druckerei errichtet werden. Der Herr Abbé übernimmt es, für ein zuverlässiges Personal zu sorgen.«

»Sehr gut, Doctor, wir verlassen uns ganz darin auf Ihre alte Erfahrung. Was den zweiten Punkt anbetrifft, so wird man besondere Vorsicht wegen des verstärkten Gränzcordons anwenden müssen. Es handelt sich vor Allem um erste ausführliche Besprechungen.«

»Ich werde von Bisztra aus meine Güter in der kleinen Walachei bei Krajova besuchen. Hier kann die Verständigung leicht erfolgen.«

»Das ist der beste Plan. Wenn die Frau Gräfin ihre Einladung nicht zurücknimmt oder mich nicht dringende Geschäfte abhalten, werde ich schon Ende dieses Monats die Ehre haben, ihr meinen Besuch zu machen.«

»Mein Retter von heute kann nur willkommen sein.«

»Wissen Sie schon, Herr Graf, die Nachricht, die uns hier eben Doctor Todd aus dem Ministerium des Auswärtigen von Olmütz bringt?« fragte der Banquier.

[316] »Nun?«

»Kaiser Franz Joseph, statt morgen, wie bestimmt war, hierher zurückzukehren, reist mit Herrn von Buol nach Warschau; eine Zusammenkunft zwischen ihm, dem Kaiser Nicolaus und dem Könige von Preußen soll dort stattfinden.«

»Das ist neu und – gefährlich!«

»Ich hoffe nicht,« sagte der Abbé. »Es gilt nur eilig unsere Freunde in Constantinopel zu benachrichtigen, daß alles Mögliche aufgeboten werden muß, eine Verzögerung im Beginn der Feindseligkeiten zu verhindern. Ist der Krieg erst im Gange, so sind alle Vermittelungen unnütz.«

Während des Gesprächs war Frau von Czezani auf einige Augenblicke eingetreten.

»Zum Glück habe ich die Nothwendigkeit sicherer Botschaft vorausgesehen. Ich habe den Boten sogar mit hierhergebracht.«

»Ich wollte meine Freundin bitten,« sagte die Dame des Hauses, »mit mir nach dem Salon zurückzukehren, man hat bereits nach ihr gefragt, und Vorsicht ist nöthig.«

»Ich habe Ihnen Allen eine wichtige Mittheilung zu machen, die ich in der Aufregung des Gesprächs beinahe vergessen,« rief die junge Gräfin. »Wissen Sie, daß unsere Zusammenkünste verrathen sind, daß man weiß, was unsere Gesellschaften verbergen sollen, – daß ich selbst auf das Bestimmteste gewarnt worden bin?«

Alle traten unruhig näher, mehrere Gesichter, namentlich das der Wirthin, wurden bleich.

»Unmöglich! Woher wissen Sie das?«

Die Wangen der Gräfin färbte eine dunkle Röthe.

»Das ›Woher‹ ist mein Geheimniß. Ich kann Sie jedoch heilig versichern, daß dem so ist.«

»Aber wenn die Polizei eine Ahnung hätte, wurde man bereits eingeschritten sein.«

»Nicht die Regierung ist davon unterrichtet, wenigstens zur Zeit noch nicht, – andere Personen. Ich glaube, daß wir der Gefahr begegnen werden, wenn wir die heutige Zusammenkunft hier die letzte sein lassen. Ich reise in den nächsten Tagen und Frau von Czezani braucht nur die Empfangsabende aufzuheben und mir zu folgen.«

»Aber so geben Sie uns doch einen Fingerzeig, damit wir dem Verräther auf die Spur kommen können,« sagte der Abbé.

[317] Der Oberst zog die schwarzen Brauen zusammen. Der scharfe Zug um seinen Mund zeigte entschlossene Härte und Grausamkeit.

»Der Tod muß nothwendig seinen Mund verschließen.«

– Ein leises kurzes Aechzen scholl durch das Gemach – Alle sahen sich erschrocken und fragend an – dann schüttelte Jeder verneinend den Kopf.

Die Augen liefen umher, gleich als könnten sie entdecken, woher der Laut gekommen man lauschte nach den Fenstern – –

Da plötzlich wies der Abbé stumm mit dem Finger nach dem Kamin.

Eine hölzerne Vorsatzthür verdeckte das Innere. Das scharfe Auge des Priesters hatte eine kaum merkliche Bewegung des Holzes erfaßt.

Wie ein Tiger sprang der Oberst auf den Ort los und riß mit einem Griff die Thür heraus – – im Innern des Kamins hockte zusammengekrümmt ein Mensch, mit bleichem, erschrockenem Gesicht, in Bedientenlivree.

Die Hand des Grafen riß ihn heraus, mitten in's Zimmer. Dort fiel die Jammergestalt auf die Knie und streckte stehend die gefaltenen Hände empor – die Zunge schien ihm vor Schreck und Angst den Dienst zu versagen.

»Johann – mein Diener!«

Der Oberst erinnerte sich dessen, was er vorhin zufällig von dem Ausbleiben des Menschen gehört.

»Wie kommst Du hierher?«

»Ach, gnädige Frau, verzeihen Sie mir,« jammerte der Elende. »Bei allen Heiligen im Himmel, ich kam zufällig herein und versteckte mich, wie ich die Herren kommen hörte.«

Jeder fühlte, daß der Mensch log, – daß er der Spion war, welcher sie verrieth. Die beiden Damen zitterten und waren leichenblaß.

»Das lügst Du, Bursche!« sagte der Oberst mit kalter Ruhe. »Zunächst wollen wir Dir ein Mal etwas näher auf den Zahn fühlen und Deine Geständnisse hören, zuerst uns aber Deiner versichern. Baron, reichen Sie mir den Shawl dort her!«

»Gnädige Frau – Sie werden mich doch nicht ermorden lassen! – Ich will ja Alles gestehen! – Zu Hil ...«

Die feste Hand des alten Ungars preßte sich auf den Mund des Elenden, daß der Ruf in seiner Kehle erstickte. Zugleich [318] schnürte der Oberst ihm mit Hilfe des Abbé den Shawl um Arme und Leib. Dann zog er aus der Brusttasche ein feines glänzendes Stilet, dessen Klinge er vor den starrenden Augen des Unglücklicken auf dem Nagel des Daums probirte.

Gräfin Helene stürzte auf ihn zu und fiel ihm in den Arm.

»Allmächtiger Gott, Sie werden den Menschen doch nicht morden wollen?«

»Wenn es nöthig ist, schöne Gräfin, warum nicht? Jeder ist sich selbst der Nächste. Aber beruhigen Sie sich, dies Instrument soll ihn nur ein Wenig schrecken und die Wahrheit an's Licht bringen. Das ist jedoch keine Scene für Damennerven und ich bitte Sie, sich zu entfernen.«

»Nicht eher, als bis Sie mir Ihr Wort geben, kein Blut zu vergießen!«

»Auf mein Ehrenwort, – es soll kein Blut vergossen werden! Baron Riepére, ich sehe Sie zittern, wie diese Damen; reichen Sie der Frau Gräfin den Arm und führen Sie dieselbe zur Gesellschaft. – Ich bitte, nehmen Sie sich zusammen; unser Aller Freiheit und Leben steht auf dem Spiel.«

Der Banquier beeilte sich, dem halben Befehl Folge zu leisten; er war selbst so bleich, wie der ertappte Spion.

Als der Graf Frau von Czezani zur Thür geleitete, flüsterte er ihr zu:

»Schicken Sie mir sogleich Sta Luzia hierher und bringen Sie ihn selbst bis an die Thür.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nach einer kurzen Zeit kehrte die Dame zurück mit dem Pseudo-Marchese, den der Oberst in das Zimmer schob, dessen Thür er wieder schloß.

»Merken Sie auf und fassen Sie sich,« sagte er zu der Zitternden. »Wie ich vorhin hörte, weiß keiner Ihrer andern Leute, daß der Diener bereits zurückgekehrt ist?«

»Niemand hat ihn gesehen; sie schalten noch vorhin auf seine Saumseligkeit.«

»Wo schläft der Mensch?«

»Mit dem Kutscher zusammen über den Ställen.«

»Wenn ich nicht in der Lokalität irre, so führt am Eingang des Gewächshauses eine dunkle Treppe nach dem obern Stock. Läuft diese bis zum Boden und sind die Thüren offen?«

[319] »Ich glaube ja.«

»Dann gehen Sie zur Gesellschaft und suchen Sie den Diener und das Mädchen in den Zimmern zu beschäftigen. Hüten Sie die Gräfin; bedenken Sie, Freundin, es geht um Tod und Leben.«

Sie versprach Alles und eilte davon.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Auf dem Sopha im Pavillonzimmer lag ausgestreckt und festgebunden, ein Tuch in den Mund gedrückt, der Diener. – –

Er hatte gebeichtet, – man wußte, was man wissen wollte, daß bis jetzt nur Unbestimmtes verrathen worden und daß die Entdeckung von heute Abend sie gerettet hatte.

Am Kamin standen die drei Männer, – auf der andern Seite des Zimmers lehnte die kräftige Gestalt des Banditen in der Fensternische.

Die Drei wechselten nur wenige Worte, – Alle empfanden die schreckliche aber unabweisbare Nothwendigkeit.

Der Oberst trat zu dem Corfen; auch ihre Unterhaltung war kurz.

»Kein Blut und kein Zeichen von Gewalt?« sagte der Bandit. »Ei, ich weiß ein vortreffliches Mittel; ich habe es bei dem Schuft von altem Advokaten versucht, der meinem Bruder auf die Galeeren half. Am andern Morgen glaubte ganz Ajaccio, der Schlag habe ihn gerührt, bis ich's selbst erzählte. Verschaffen Sie mir nur ein Kissen, Signor Conte.«

Der Oberst schaute umher – auf der Lehne der Sopha's lag ein weiches gesticktes Daunenkissen.

»Genügt dieses?«

»Ich denke, ja. Nehmen Sie seine Füße in Acht.«

Der Unglückliche mit weitgeöffneten Augen sah die Mörder auf sich zukommen. Vergeblich waren seine Anstrengungen zu schreien und aus den Tüchern, mit denen er gebunden, sich emporzuwinden. Der Bandit stand jetzt vor ihm und legte ihn das ziemlich große Kissen auf das Gesicht. »Ich sehe, Signor, Sie sind ein Geistlicher,« sagte er zu dem Abbé, »ich bitte Sie, sprechen Sie ein Gebet für den Sünder.« Dann schlug er selbst in der furchtbaren Blasphemie seiner Erziehung und seiner Natur das Kreuz und setzte sich mit der ganzen Wucht seines schweren Körpers auf das Kissen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[320] Pisani und der Abbé traten, im Gespräch begriffen, aus dem Garten in den Salon. Der Letztere war ein wenig bleich, der Oberst ruhig, wie immer; der tiefe Zug von grausamer Energie um Nase und Mund war in die gewöhnliche Falte verschwunden.

An einem der Spieltische stand der Banquier und pointirte zerstreut, die Gräfin saß an dein Klavier, ohne zu spielen, und schien kaum die Worte zu hören, die zwei Herren der Gesellschaft an sie verschwendeten. Ihre Augen richteten sich furchtsam, fragend auf die Eintretenden, auch der Baron warf einen haftigen Blick voll Angst auf sie.

»Es wird kühl im Garten,« sagte unbefangen der Oberst, »und wir sind wahrlich nicht so vertieft in den schönen Abend, wie der Herr Marchese und ihr gelehrter Landsmann, gnädige Frau, um nicht die Behaglichkeit des Salons vorzuziehen. – Wie steht's, Baron, ist das Glück wie immer auf ihrer Seite?«

Er trat zu den Spieltischen.

»Diesmal droht es mich zu verlassen,« entgegnete der Banquier mit Bezug, »die Chancen wenden sich gegen mich.«

»Ei was, man muß bei jeder Bedrohung den Muth nicht verlieren. Männer wie wir lassen sich nicht sogleich einschüchtern von einer Ungunst der launischen Fortuna. Ihr Spiel steht am Ende auch gar nicht so schlecht.«

»Wollen Sie für mich eintreten?«

»Ich pointire nicht in Karten, ich überlasse nie mein Glück dem Zufall.«

»Und sind Sie denn Ihres Erfolges immer gewiß?«

»Ich habe ihn gesichert

Der Banquier athmete tief auf, die Worte wälzten eine Bergeslast von seiner Brust.

Gräfin Helene wurde noch bleicher als vorher. »Ich will nach Hause, mir ist nicht ganz wohl – der Schreck von heute Mittag hat mich doch mehr angegriffen, als ich dachte.«

Ihr Aufbruch veranlaßte weitere Folge. Der Oberst nahm die Gelegenheit wahr, sich dabei Frau von Czezani zu nähern, deren Augen ihn schon lange befragt hatten. »Gute Nacht, gnädige Frau, und – wenn Sie morgen zufällig Etwas vom Boden Ihres Hauses holen lassen, so versäumen Sie die sofortige Anzeige bei der Polizei nicht. Ich glaube, der thörichte Bursche hat sich in Verzweiflung über seine Dienstentlassung aufgehängt.«

Fußnoten

1 Die telegraphische Nachricht wurde in der That erst am 3. in London und Paris bekannt.

Am Bosporus
[321] Am Bosporus.

Wo jenes prachtvolle, seit Jahrtausenden berühmte Meeresbecken das Marmorameer – die Propontis der Alten – im Nordosten wieder seine Ufer zweier Welttheile näher zusammentreten läßt, liegen einige liebliche Eilande, die Prinzeninseln; – näher und näher drängt sich darüber hinaus Asien an Europa, und ein Golf bildet sich, aus dem zwischen hohen Bergwänden jene weltberühmte Straße, der Bosporus, über sechs deutsche Meilen lang sich nach dem Schwarzen Meere in zahlreichen Windungen streckt. – Rechts aus Asien hervor springt das Cap Chalcedon; gegenüber auf dem europäischen Ufer beginnt Stambul, als drohende Warte gleichsam dem Reisenden von dem Vorsprung des Ufers das berühmte »Schloß der Sieben Thürme« mit seinen blutigen Erinnerungen entgegenstreckend.

Das Meer scheint sich gleichsam hier in drei Arme zu theilen; nach Nordosten die Bosporusstraße, im Süden der weite Blick auf das offene Marmorameer, gegen Westen eine prächtige, zwischen zwei Vorgebirgen des europäischen Ufers sich eindrängende Meeresbucht, das Goldene Horn.

Auf dem Ufervorsprung zwischen diesem und der Buchtung des Marmorameeres liegt die Sieben- Hügel-Stadt des Ostens, Byzanz, – ConstantinopelStambul! – Die drei Namen umfassen ihre Geschichte.

Gegenüber auf der nördlichen Seite des goldenen Hornes, dessen Ufer sich hier schroffer und steiler emporheben und als die westliche Felswand des Bosporus zum schwarzen Meere fortlaufen, liegen die neueren, zum Theil von den Genuesen und Venetianern gegründeten Stadttheile: um die äußere Spitze Tophana, daran [322] stoßend am innern Ufer des HornesGalata, über beiden terrassenförmig auf der Berghöhe Pera, die Frankenstadt. An Galata schließt sich Tershana, mit dem großen Schiffsarsenal und den Werften, Chaskiöi, Piri-Bascha undSidlische, bis am Ende der Meeresbuchtung, den sogenannten süßen Wassern von Europa, wo sich einzelne Binnenflüßchen in den Meeresarm ergießen, die Vorstadt Kara Agatsch die Verbindung mit Stambul, der Türkenstadt, bildet.

Auf der Höhe des Berges umziehen die VorstädteCassim-Pascha und St. Demetri die Frankenstadt Pera. Stambul selbst wird außerhalb der großen verfallenen Ringmauer, die es noch aus der Griechenzeit her einschließt, von den Vorstädten Ejoub (zunächst am goldenen Horn) und Daoud-Pascha umgeben. Gegenüber dem Eingang des goldenen Horns auf dem asiatischen Ufer liegt in prächtiger, sanft ansteigender Terrasse Scutari, das gleichfalls als Vorstadt Constantinopels gilt. Als solche werden auch die fortlaufenden zusammenhängenden Ortschaften entlang der beiden Seiten des Bosporus angesehen, welche hauptsächlich durch die Paläste und Villen der vornehmen Türken und Europäer gebildet werden, zunächst auf dem europäischen Ufer: Funduklu, Dolmabaghdsche, Orta-Koi, Kura-Tschesme, Arnaud-Koi, Rumili-Hissar das berühmte Schloß von Europa, Baltaliman, Jeni-Kioi, Therapia und Buyukdere, während auf der asiatischen Seite an Scutari sich Beglerbeg, Koi, Kandili, Anatoli-Hissar das Schloß von Asien, Kandtische, Beykos und Unkiar-iskelessi anreihen.

Das ist die allgemeine Topographie jener Stätte auf Erden, die ein Paradies erscheint von Außen, Moder und Verwesung im Innern.

Doch das ist nur das Menschenwerk! Was Gott auf jenem Fleck seiner schönen Welt geschaffen, das ist ein unvergänglicher, strahlender Diamant im Kranz ihrer Herrlichkeiten.

Ein blauer durchsichtiger Himmel wölbt seinen ewig heiteren Bogen über die leicht bewegte Fluth, deren Ultramarin die Orientalen mit dem Namen Giök-su – das ist: Himmelswasser – getauft haben. Auf mehrere Meilen weit durchdringt das Auge diese klare, reine Luft so deutlich und sicher, wie in nordischen Landen kaum auf die Entfernung einer Viertelstunde die Gegenstände sich ihm zeigen. Am leicht aufsteigenden Berghange, der sich in sieben Hügel gruppirt, hebt sich die riesige Stadt, ein Meer von [323] achtzigtausend Häusern – Byzanz – Constantinopel – Stambul – mit jenen tausendjähriqen Erinnerungen des alten Thraciens, des mächtigen Römerreiches – der Kreuzzüge – des Jahrhunderte langen Kampfes der Komnenen und Paläologen gegen die asiatischen Horden, des Kreuzes gegen den Halbmond, des Christenreiches gegen die Moslems, für dessen Hilferuf das kirchenprahlerische Europa kein Ohr hatte; – mit jenen Erinnerungen an Ströme von Blut, an jene Siege des Halbmondes, der von hier aus Europa bedrängte und seine Noßschweife bis vor die Thore Wiens trug.

Welche Weltgeschichte thürmt sich vor der Phantasie mit jenen Häusermassen in den blauen Himmelsdom!

Und da links – über die Kiosks und Bleidächer von seltsamer Form, die zwischen Platanen und dunklen Cypressen von der Landspitze des Horns das Auge fesseln, über das Serail – eine Stadt in der Stadt – hinweg hebt sich auch ein Dom, riesig und mächtig, ein Meisterwerk von Menschenhänden, wie die Erde kein zweites hat: – des großen Justinian heiliger Gedanke an Gott, – die Sophien-Kirche – jetzt die Aja Sophia, eine türkische Moschee, über deren Gigantenkuppel von 180 Fuß Höhe und 115 Fuß Spannung hoch in die Luft ein riesiger Halbmond sich streckt, als Wahrzeichen, daß Europa ja nicht vergessen möge seiner feigen Herzlosigkeit, ja nicht vergessen möge, daß es hier den Christenglauben von dem Moslem mit Füßen treten ließ!

Aus dem Meer von Häusern, alle klein, alle eintönig in ihrer rothbraunen Farbe, tauchen Paläste und die bleiglänzenden Kuppeln der beiden Bazars und zahlloser Moscheen empor, schießen die schlanken säulengleichen Minarets in die Höhe, mit den schmalen Rundgängen und den grünen hohen Spitzen, wie tausend Fingerzeige nach Oben. Dazwischen wechselt das Grün der Platanen, das dunklere der Cypressen von den Gärten und weiten Kirchhöfen auf der Höhe der Berge: der riesige Palast der Hohen Pforte streckt seine lange Front auf dem einzigen freien Platz zwischen den Häuserreihen, der Thurm des Seraskiers, der Feuerthurm, von dessen Höhe Tag und Nacht Wächter die weite Stadt überschauen, um alsbald den Ausbruch der gefährdenden Flamme verkünden zu können, hebt sich wie eine Warte des romantischen Mittelalters in die Luft. Und drüben auf der andern Seite des goldenen Horns – Chrysokeras, wie die Griechen wegen seiner vortheilhaften [324] Lage und seines Reichthums an Fischen diesen schönsten aller Meeresarme nannten, – da wo die Mauer von Galata Pera abscheidet, hebt sich eine wirkliche Warte aus jener Zeit, der alte Genueser Thurm, mächtig und frei von dem Berge ab, zu gleichem Zweck dienend, wie der jüngere Gefährte am Seraskiat. Von der Spitze Beider weht die rothe Fahne mit dem weißen Halbmond und den weißen Sternen.

Das Bergufer auf der Nordseite des goldenen Horns steigt, wie erwähnt, steiler empor, als das der Türkenstadt, und hier kann man die Straßen und Gassen leichter verfolgen. Massive Gebäude sind hier häufiger, während bei den Türkenhäusern nur das Erdgeschoß von Mauerwerk, der Aufsatz aber von Holz ist. Die Paläste der Gesandten, darunter das große, nach der Seite von Tophana abfallende russische Gesandtschaftshotel zeichnen sich aus. Am Ufer des Bosporus liegt die große Geschützgießerei Tophana, von der der Stadttheil seinen Namen hat. – Zwischen dem europäischen und asiatischen Ufer, doch näher an Scutari, erhebt sich, eine kleine Felseninsel aus dem Meer wie Caub im Rhein, der Thurm des Leander mit seinem Wasserschloß. Scutari erscheint, selbst aus der Ferne gesehen, – das Meer ist hier eine halbe deutsche Meile breit, – weit freundlicher und lichter, als die europäische Stadt. Nach dem Marmorameer zu erstreckt sich dort dicht am Meeresstrand die neu erbaute kolossale Kaserne, weiß und roth angestrichen, die mehrere Regimenter fassen kann. Auf der Höhe des Berges Burgulu, an dessen Senkung sich die Stadt ausbreitet, dehnen sich die meilenlangen großen Friedhöfe aus, die größten des Orients, denn auch aus Stambul lassen sich viele Türken hier begraben, um in der heimathlichen Erde der Mutter der Völker, Asiens, zu ruhen. Darüber hinaus in der Ferne hebt der Olymp seine Schneegipfel am Horizont.

Drei große schöne Schiffbrücken führen über das goldene Horn, diesen prächtigen und größten Hafen der alten Welt. Jede enthält zwei Bogen zum Durchlaß der Schiffe, und die Meeresbucht ist so tief, daß selbst die größten Linienschiffe sie durchkreuzen und bis dicht an's Ufer anlegen können. Hunderte und aberhunderte großer Schiffe jeder Art wiegen sich auf den blauen Wellen dieses Hafens und am Eingang desselben, riesige Linienschiffe, Fregatten. Kriegsdampfer, dazwischen die Unzahl der Handelsfahrzeuge jeder Form aus allen Gegenden und Zonen der Erde, die Brigg [325] aus den Häfen der Ostsee, der Fregattschooner von New-York und New-Orleans, die italienische Barkasse und die Tartane der afrikanischen Küste, die Nacht und der Prahm, die Galeotte und die plumpe Sloop; der Handel und Verkehr der Erde scheint sich hier ein Rendezvous gegeben zu haben. Dazwischen brausen Dampfer eilig hin und her, legen in jeder halben Stunde an der Brücke an, um Passagiere einzunehmen für Scutari, den Bosporus, die Prinzeninseln, oder ankern stolz auf der Rhede, um die weite Fahrt nach den Küsten des schwarzen Meeres, nach dem sagenhaften Trapezunt, nach Smyrna, Saloniki, Alexandrien, Triest, Malta, Marseille und noch weiter hinaus nach den Kreideküsten von Alt-England zu machen. Tausende von Kaïks, diesen Schwalben des Bosporus, – leichte, schlanke, schmale, auf beiden Seiten spitze Boote, – so eng und leicht gebaut, daß sie gewöhnlich außer dem Fanarioten oder Moslem, der das Ruder führt, nur eine Person tragen, die auf dem Boden des zierlich mit Schnitzwerk und Teppich gezierten Fahrzeugs kauern muß, kreuzen und schießen in allen Richtungen umher mit wunderbarer Schnelligkeit, gleich leuchtenden bunten Pfeilen über die Fluth. Darin sitzt mit gekreuzten Beinen der Türke in weiter orientalischer Tracht, den Turban auf dem geschorenen Haupt, oder in dem neuen unkleidsamen blauen Rock mit dem Feß, – der fränkische Kaufmann oder neugierige Fremde, – der Armenier in seinem schwarzen fliegenden Talar, – die Hanum in ihren weißen Yaschmal und den bunten Feredschi gehüllt – Alles kreuzt geschäftig oder im müßigen Vergnügen von Ufer zu Ufer und in der Meeresstadt umher, deren Häuser und Straßen die Schiffe der Nationen bilden. Es soll dieser Kaïks über 80,000 in Constantinopel geben und der größte Theil derselben ist fortwährend in Bewegung. Die Großen und Reichen haben deren in Menge von den verschiedensten Größen mit reichen Vergoldungen; die zahlreichen Bootschuppen am Ufer des Hornes zwischen der Moschee der Sultanin Valide und dem Serail bergen einen großen Theil.

Ueber die Brücken und durch die Gassen zunächst dem Horn und den Bazars – Besestan in Constantinopel genannt – wogt fortwährend ein Gedräng von Menschen, wie kaum die belebtesten Straßen von London es bieten, unvergleichlich in seinem bunten, immer wechselnden Anblick. Die Völker des Morgen-und Abendlandes begegnen sich hier in ihrem nationalen Costüm; neben dem [326] Perser mit dem steifen, blauen Kaftan und der hohen spitzen Mütze von schwarzem Lammsfell der englische und französische Matrose; neben dem Derwisch in seinem zerlumpten wollenen Mantel mit der, einem umgestülpten Eimer gleichenden Kopfbedeckung von grauem Filz der fränkische Kaufmann oder Handwerker aus Pera; zur Seite des in seine braune Decke gehüllten Drusen und Kopten die hohe Figur des Tscherkessen, der Arnaut mit dem Arsenal von Waffen in seinem Gürtel, der Baschi-Bosuk aus den Wüsten Syriens oder von den arabischen Horden; der geschäftige Grieche, der Turkomane, der verachtete Jude; – das elegante pariser Frauenkostüm neben den faltenreichen Hüllen der türkischen Weiber; – schwarze Sclavinnen – Bettler mit den widrigsten Gebrechen, die ihr »Allah il Allah« murmelnd an den Seiten der Brücke sitzen und reichliche Gaben in ihr Schälchen empfangen; – die Saka's, die Wasser- und Limonadenverkäufer; – Händler mit Zuckerwaaren; – die Hamals, die auf gekrümmtem Rücken die schwersten Lasten befördern; – Eseltreiber mit ihren Thieren – dazwischen ein einzelner Reiter, ein Offizier oder Beamter der Pforte auf dem kleinen türkischen Pferde, die Pistolenhalftern und Schabracken mit breiten Goldborten überladen, rechts zur Seite des Pferdes der Träger der Waffen, der Mappe oder Tasche, in welcher die Schriften aufbewahrt werden; links an den Schwanz des Pferdes sich haltend ein anderer Tschokadar mit dem Tabacksbeutel und Schibuck seines Herrn im langen blauen Sack; – alle Abstufungen von Farben in den Gesichtern, alle Pracht bunter Gewänder, reicher Gold- und Silberstickerei auf den Gestalten: – das ist das Bild dieses bunten Lebens, Treibens und Drängens.

Dennoch bewegt sich die ungeheure, ewig ab- und zuströmende Masse wenn auch nicht stiller – denn es herrscht durchgängig durch die zahlreichen Ausrufer und die Handelsleute ein betäubender Lärmen, – doch weit sicherer und geordneter als bei uns. Kein Wagen, keine Equipage sprengt den Strom der Fußgänger auseinander, nur selten fährt langsam ein von einem oder zwei vor einander gespannten Pferden – in den Umgebungen der Stadt auch von Ochsen – gezogener Araba daher. Es ist dies ein im Rococcostyl des Abendlandes gebauter Wagen mit roth angestrichenem und reich vergoldetem Kasten von fast dreieckiger Form, die Spitze nach unten, der in Riemen zwischen hohen Rädern hängt oder fest aufsitzt, und in dem die Frauen der reichen und vornehmen [327] Türken mit einer oder zwei Sclavinnen durch die Straßen fahren, um ihrer Neugier zu fröhnen und die Läden zu beschauen. Ein Eunuch oder Sclave führt das Pferd und wahrt die ohnehin in den abscheulichen Jaschmal verhüllten Frauen vor jeder Berührung mit den Männern. –

Sobald man das Ufer betritt, schwindet alle Herrlichkeit des schönen Bildes und die Faulheit, Unordnung und der Schmuz des Orients bieten sich in ihrer vollen Widrigkeit dem Blick des Europäers.

Diese ganze ungeheure Stadt müßte ein Flammenmeer gleich Moskau werden, um dann neu und herrlich aus den Händen des gebildeten Europa's an diesen paradiesischen Berghöhen emporzusteigen! – Die jetzigen systematischen Brandstiftungen, welche in bestimmten Perioden die türkische Regierung ausüben soll, um zu einem zweckmäßigeren Neubau zu zwingen, genügen nicht und vermehren nur die traurige Unordnung durch den Anblick wüster Brandstätten, die Jahrzehende lang unbebaut bleiben.

Und dennoch fragen wir uns unwillkürlich, würde mit dieser Unordnung, diesem Gewirr, selbst diesem Schmuz im Eintausch gegen europäische Regelmäßigkeit nicht auch jene Poesie des Orients schwinden, jener mährchenhafte Duft von Elend und Glanz, von Tod und Ueppigkeit, von Traum und Wahrheit, von Blut und Blumen, von Fanatismus und Lethargie, Liebe und Sclaventhum, Henkern und Houri's, Helden und Bettlern?

Würde die Newskoi-Perspective und der Winterpalast an die Felsenufer des Bosporus besser passen, als die schlanken Minarets, von deren Höhe der Muezzim zum Gebete ruft, oder als die geheimnißvollen Mauern und Kuppeln des Serails? – –

Dennoch läßt sich das Widrige, das Enttäuschende im Anblick dieses Schmuzes, dieser Vernachlässigung nicht hinwegläugnen. Außer vor dem Arsenal Tershana und vor dem Hofe der Geschützgießerei in Tophana giebt es um das ganze so trefflich geeignete Ufer des goldenen Horns keine Spur eines so nothwendigen und schönen Quais, wie die europäischen Seestädte sie bieten. Wo das Schiff oder Boot an's Ufer legt, da tritt der Fuß in Schlamm oder Schmuz, jedes Gäßchen, jedes Haus läuft unmittelbar auf den Meeresstrand aus und nicht hundert Schritt kann man auf demselben entlang gehen. Die Straßen sind, wie überall im Orient, eng und krumm und meistens Gäßchen, in denen oft kaum ein Fußgänger dem andern ausweichen kann. Selbst in Pera und Galata [328] herrscht diese Bauart und die große Perastraße ist nur sechs Schritt breit. Die Straßen sind nur zun Theil, und das so jämmerlich, gepflastert, daß es die Unbequemlichkeit erhöht. In der Mitte läuft die Gosse – wo eine solche existirt. Die Stadttheile an der nördlichen Bergwand, also Galata, Tophana, Pera etc., laufen so steil in die Höhe, daß der Weg ein bloßes Steigen und Klimmen ist. Die Häuser sind hier meist von Stein gebaut, mit europäischen Einrichtungen, die indeß wenig dem Klima entsprechen; die Hôtels der Gesandtschaften sind große prächtige Gebäude, ohne doch den Stadttheil zu zieren, da sie in hohe Mauern eingeschlossen oder durch enge und finstre Stiegen und Gäßchen abgesondert sind. Die Perastraße bietet eine Menge europäische Läden, mit dem Kram gefüllt, der in Europa als zurückgelegte Waare betrachtet wird. Galata ist der Hauptplatz des Verkehrs, halb türkisch, halb fränkisch. Die Kaufleute und zahlreichen Banquiers haben hier ihre Läden und Gewölbe, ebenso der türkische Handwerker, der in offener Bude an der Straße sein Geschäft übt. Der Verkehr ist hier nach der Hornseite zu enorm.

Erreicht man über die erste Schiffbrücke das Ufer von Stambul, so tritt man alsbald in's volle türkische Leben. Ueber niedere Häuser, deren Wände vom Boden bis zum Dach mit Hühnerkörben gefüllt sind, ragen die Kuppeln und Minarets der Moschee der Sultanin Valide empor, und man vertieft sich in die zahllosen Gassen und Gäßchen, die zum großen Bazar, zum alten Serail, zum Palast der Pforte, zum Hippodrom, zur Suleimania 1 und der Zahl reicher Prachtbauten der andern Moscheen führen. Die Bauart der türkischen Privathäuser ist ziemlich dürftig, ein Viereck, das nach dem innern Hof oder Garten zu geöffnet ist, während nach der Strafe hin entweder die Hofmauer es ganz absondert oder doch nur Erker und wenige Fenster hinausgehen, die mit grünen Holzjalousieen oder vergoldeten Stäben vergittert und geschlossen sind. Das untere Stock ist von Steinen erbaut, die obern, höchstens zwei Etagen, gewöhnlich aber nur eine, sind von Holz und Fachwerk und laufen bei der großen Vorliebe der Türken für Balkons, Erker und Vorsprünge, in denen sie behaglich [329] sitzen können, die eine über die andere auf Balkenunterlagen hinaus. Der Anstrich des Hauses ist gewöhnlich rothbraun, das Dach flach, mit niedern Mauern oder Wänden umgeben, so daß die Familie ungesehen von den Nachbarn auf seiner Höhe sitzen kann.

Das große Serail – Serai Burnu – das in der Abgränzung der umgebenden Mauern einen Flächeninhalt wie etwa die innere Stadt Wien einnimmt, war der eigentliche Palast und Wohnsitz der ottomanischen Herrscher und der Schauplatz aller jener Revolutionen und Blutthaten, die so häufig die Thronfolge änderten. Dennoch sind der gegenwärtige Sultan und seine Söhne die direkten Abkömmlinge Ottoman's, des Gründers der Monarchie, und gehören demnach zu den ältesten Herrschergeschlechtern der Monarchieen. Der Vater Abdul Medschid's, der politische Reformator Mahmud II., der die Janitscharen opferte und das Tansimat gab, verlegte die Residenz aus dem Serail, das noch von dem Blute seines am 28. Juli 1808 ermordeten Bruders und Sultans rauchte, nach den Bosporus-Palästen, um mit den Erinnerungen zu brechen, die sich für sein Geschlecht an jene Mauern knüpften. Er erbaute das Palais von Tschiragan am Ufer des Bosporus, nahe der Stadt, in dem noch der gegenwärtige Sultan residirt, bis das neue, von ihm erbaute und unfern, noch näher den Vorstädten belegene Palais vollendet ist. Zahlreiche Kiosks und Schlösser auf beiden Seiten des Bosporus und seinen zauberischen Höhen dienen außerdem zum wechselnden Aufenthalt des Sultans. Das ganze europäische Ufer des Bosporus bis Bujukdere hin ist bedeckt von Palästen und Landhäusern, die theils den türkischen Großen, theils den Gesandten und reichen Kaufleuten Constantinopels gehören, wo dieselben zur Zeit des Frühjahrs, Sommers und Herbstes wohnen. Während die Vorderfront der Häuser und Villen die Wellen des Bosporus bespülen, strecken sich auf der Rückseite prächtige Gartenterrassen an der steilen Bergwand in die Höhe.

Es kann natürlich nicht die Absicht dieses Buches sein, eine umfassende und detaillirte Beschreibung Constantinopels zu geben, das durch den gegenwärtigen Krieg Europa erst nahe gerückt ist. Zahlreiche ältere und neuere Reisebeschreibungen liefern eine solche weit besser und ausführlicher. Der Autor hatte nur die Aufgabe, dem Leser zur Verständniß der Scenen und der Erzählung, die uns häufig in diesen Centralpunkt des großen Kampfes zurückführen [330] muß, eine allgemeine Topographie zu geben, die näheren örtlichen und Sitten-Schilderungen den einzelnen Gelegenheiten überlassend.

Nur über das Verhältniß der Frauen des Orients bleibt uns noch Einiges im Allgemeinen zu sagen. Die Lage derselben wird in Europa noch vielfach falsch aufgefaßt, und die vage Meinung der Menge glaubt jeden Moslem im Besitz eines kleinern oder größern Harems und die Frauen des Orients als gänzlich willenlose untergeordnete, dem Herrn des Hauses knechtisch gehorchende Wesen.

Dies ist keinesweges der Fall. Die meisten Staats-und Privatintriguen entspinnen sich im Harem und werden dort geleitet. Der Moslem, bis zum Sultan hinauf, steht so gut unter'm Pantoffel, wie der Abendländer, und die Macht und Freiheit der Frauen ist – wenn auch außer dem Hause ziemlich beschränkt – in dessen Innern eine sehr große. Die Dragomans und die Harems der Würdenträger sind die politischen Faiseurs des Orients.

Es ist dem Mohamedaner erlaubt, vier Frauen zu heirathen, und dieselben gelten als seine rechtmäßigen Gattinnen; die Zahl der Frauen des Sultans kam sich auf sieben belaufen, doch ist es selten, daß dieser wirklich auch nur mit einer die gesetzliche Ceremonie der Heirath vollzieht. Jeder Türke hat dagegen das Recht, so viele Sclavinnen zu halten, als er will und seine Verhältnisse erlauben 2. Dieselben sind dann die Dienerinnen seiner rechtmäßigen Frauen, wenn er solche hat, oder seine Odalisken, und während ihre Reize ihm gehören, – wozu jedoch ihre freie Einwilligung gehört, – haben sie keinerlei Rechte der Gattinnen.

[331] Die Geburt eines Kindes, gleichviel ob Knabe oder Mädchen, von ihrem Herrn macht die Sclavin und das Kind jedoch frei.

Dies ist einer der Gründe, weswegen trotz der erlaubten Vielweiberei und des übermäßigen Genusses des geschlechtlichen Umganges die Zahl der türkischen Bevölkerung so gering ist und von Jahr zu Jahr abnimmt.

Um dem durch die Fruchtbarkeit drohenden Verlust der Sclavinnen zu entgehen, existiren jene empörenden Geheimnisse der Harems, welche die Frucht im Mutterleibe ersticken, oder das Weib zu seiner erhabenen natürlichen Bestimmung unfähig machen.

Der allgemeine Gebrauch dieser schändlichen Mittel ist theils ein erzwungener, theils ein freiwilliger. Denn selbst die angetrauten Frauen scheuen sich dessen nicht, und in den Harems der Reichen wird er häufig als Mittel betrachtet, den Vorzug über die Nebenbuhlerinnen zu gewinnen, und gerade hierin liegt der zweite Grund zu jener Erschlaffung des osmanischen Geschlechts. Da dem Muselmann die Liebe nur ein sinnlicher Begriff ist, sucht die Frau oder Odaliske jedes Mittel auf, alle die Sinnlichkeit des Mannes fesselnden Reize so lange als möglich zu bewahren und benutzt eben dazu jene Mittel, sobald sie ihm ein Kind geboren hat. Daher kommt es, daß, während im christlichen Europa die Kinderzahl in den Familien eine durchschnittlich bedeutende, namentlich bei den unteren Ständen, ist, in der Türkei bei den Familien der mittleren und unteren Stände selten mehr als ein oder zwei Kinder gefunden werden. Selbst der Sultan besitzt nur zwölf Kinder.

Es ist eine in politischer und physischer Hinsicht anerkannte Thatsache, daß eine gänzliche Abschneidung der Zufuhr von Frauen aus Georgien und Circassien und die darauf basirte Regeneration des Blutes der Türkei den Lebensnerv ihrer gegenwärtigen Einrichtungen abschneiden würde. Daher jenes vorerwähnte russische Verbot.

Wir bedauern, auf diese Details eingehen zu müssen, indessen ist es für die Aufgabe der treuen Schilderung, die wir uns gestellt, unbedingt nothwendig. Wir nehmen daher dieses Recht und diese Entschuldigung auch für Scenen in Anspruch, die sonst das ästhetische und moralische Gefühl beleidigen würden.

Verschiedene Anordnungen des Korans beschränken die Gewalt über die Sclavinnen und Sclaven, deren Verhältniß übrigens in der Türkei mehr das von zur Familie gehörenden Hausdienern ist. [332] Ueberhaupt ist der Türke in seinem gewöhnlichen Leben, wenn nicht besondere Leidenschaften ihn erregen, milde und gerecht. Es kommt häufig vor, daß die Sclaven nach einer längeren oder kürzeren treuen Dienstzeit frei gelassen und von dem Herrn ausgestattet, ja, mit einer Tochter der Familie verheirathet werden. Viele der ersten türkischen Würdenträger selbst der Neuzeit waren und sind solche freigelassene Sclaven 3.

Der Moslem schenkt oder verheirathet oft eine seiner Sclavinnen seinem Sohne, doch darf sie in einem solchen Fall nicht des Vaters Concubine gewesen sein und wird durch die Heirath frei. Die durch den Umgang mit den Sclavinnen erzeugten Kinder werden als legitim betrachtet. Die Scheidung von einer Frau ist sehr leicht, obschon selten.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Herrschaft der rechtmäßigen Frau im Innern des Hauses eine eben so große ist, wie im kultivirten Europa, und sie duldet eben so wenig eine Nebenbuhlerin in ihrer Nähe. Daher ist denn auch das Recht zur Heirath von vier Frauen im Allgemeinen ein sehr problematisches und wird nur von Denen ausgeübt, die reich genug sind, ein großes Harem oder jeder der Frauen eine besondere Wohnung zu halten. Der Neid und die Eifersucht in den Harems ist überaus heftig und artet häufig in Tätlichkeiten, ja in geheime und offene Verbrechen aus.

Die Abgeschiedenheit der Frauen außer dem Hause ist noch immer sehr groß. Während im Haremlik 4 ihr Anzug und ihre Sitte eine übertrieben freie ist, obschon sie auch da nur vor dem Mann, den Kindern, den Eunuchen und Frauenbesuchen unverschleiert erscheinen, ist jeder Verkehr mit anderen Männern auf das Strengste verpönt. Seit der Regierung des vorigen Sultans haben sie zwar größtentheils die Freiheit des Ausgehens und Ausfahrens, und man sieht, wie erwähnt, in den Straßen und Läden Constantinopels Frauen in Menge, doch immer streng verhüllt und verschleiert, und kein Muselmann übertritt die Sitte und schaut ihnen, wie es bei uns geschieht, in das Gesicht. Selbst der Mann [333] würde es für unschicklich halten, wenn er seiner Frau, die ihm begegnet, durch ein Zeichen merken ließe, daß er sie erkannt. Daß bei der Langeweile des Harems und des orientalischen Lebens im weiblichen Geschlecht sich auch alle Schwächen ihrer freien situirten Schwestern oft in erhöhtem Grade geltend machen, und Eitelkeit und Sinnlichkeit sie sehr häufig zum Kokettiren mit fremden Männern und zum gefährlichen Eingehen von Liebeshändeln führen, ist natürlich. Dergleichen Verständnisse sind in Constantinopel gar nichts Seltenes, sowohl mit jungen türkischen Effendi's, als mit Franken. Die Eitelkeit der Frauen hat übrigens den garstigen Yaschmak, der früher nur die Augen frei ließ, bereits bis zur Nasenspitze herabgerückt, und wo sich die Gelegenheit findet, fällt derselbe bei den Jungen und Schönen oft noch tiefer. Die französischen Hilfstruppen haben in dieser Beziehung Wunder gethan.

Die Verhältnisse im Harem des Großherrn sind natürlich in vielen Beziehungen verschieden. Der Harem des gegenwärtigen Sultans bestand im Sommer 1853 aus etwa 700 Odalisken, den schönsten Sclavinnen aus verschiedenen Ländern, welche die im Frühjahr desselben Jahres verstorbene Sultana Valide zum großen Theil selbst gewählt. Alles, was an Schönheit und Reiz der weiblichen Formen, auf die der Asiate so viel giebt, sich in den verschiedenen Abstufungen der Farben findet, ist hier versammelt: die prächtige Büste der üppigen Georgierin mit den großen mandelförmigen Augen und den feingeschnittenen Brauen, die schlanke, ebenmäßige Figur der circassischen Schönheit, wie der volle Wuchs und der feine, zarte Teint der Frauen von den griechischen Inseln, bis zur Ebenholzfarbe und der großen apollinischen Gestalt der schwarzen Sclavin aus jenen Stämmen des Sennar und Darfur, die sich durch ihren ebenmäßigen Körperbau auszeichnen; die feine zierliche Gestalt der ächten Araberin mit ihrer blaßbraunen durchsichtigen Haut und den Rehaugen, und selbst die Europäerin, namentlich aus den südlichen Staaten, Italien, Spanien, Sicilien etc.; denn obschon die Geheimnisse des Harems ziemlich unzugänglich sind, verlautet doch gar Vieles daraus und es ist bekannt, daß der Harem des vorigen und des gegenwärtigen Sultans viele Europäerinnen enthalten. Die Frauen, die der Sultan aus der Zahl der Odalisken zur Theilung seines Lagers wählt, heißen Kadinen, und die erste derselben, die dem Padischah einen männlichen Erben schenkt, gilt als die Favorit-Sultana und ihr Einfluß ist sehr bedeutend. [334] Sobald ihr Sohn zur Regierung kommt, führt sie den Titel Sultanin Valide. – Der Sultan entläßt und wechselt übrigens, mit Ausnahme der Mütter seiner Kinder, seine Kadinen nach Belieben und häufig werden sie und die Odalisken mit Würdenträgern des Reichs vermählt, oder ihnen geschenkt. Das Salische Gesetz hat in der Türkei volle Geltung, denn die Thronfolge erbt nie auf die Töchter fort und nur in der männlichen Linie weiter. Ein furchtbarer Gebrauch in der regierenden Familie vom Stamme Osmans und ein Regierungsprincip ist es, daß weder die Brüder noch die Söhne des Sultans überhaupt Nachkommenschaft, ihre Schwestern aber mir weibliche haben dürfen. Die Söhne derselben werden sofort nach der Geburt erdrosselt.

Das ist auch eines der dunklen Geheimnisse der Harems!

Die Kadinen eines verstorbenen Sultans dürfen nicht wieder heirathen und werden nach dem Eski-Serai – dem alten Serail, in der Mitte von Stambul belegen, – gebracht; der Harem des regierenden Sultans bewohnt gegenwärtig den nördlichen Flügel des Palastes von Tschiragan und folgt seinem Herrn ganz oder zum Theil nach den verschiedenen Schlössern; in welchen er seinen Aufenthalt nimmt. Derselbe wird bei Weitem strenger überwacht, als der Harem eines Privatmannes. Die große Zahl von jugendlich kräftigen Frauen bleibt fortwährend in den Gemächern eingeschlossen und ihre einzige Erholung in frischer Luft ist, wenn – was höchstens drei bis vier Mal im Jahre geschieht – der Sultan die Erlaubniß giebt, daß sie die kaiserlichen Gärten von Dolmabagdsche betreten dürfen.

Diese – von hohen Mauern umgeben und jedem Auge, als dem der Eunuchen versperrt – sind dann der Schauplatz einer solchen Ausgelassenheit und eines so unbeschränkten tobenden Genusses der kurzen Freiheit, daß die europäischen Gärtner des Großherrn, wenn ihnen ein solcher Besuch angekündigt wird, sorgfältig alle Früchte und Blumen vorher entfernen, denn kaum ein Blatt bleibt ungebrochen von dem Muthwillen der entfesselten Lebenskraft. Außerdem besuchen zuweilen unter strenger und zahlreicher Bewachung der Eunuchen die Kadinen und Odalisken in kleinerer Zahl die süßen Gewässer von Asien und Europa, diese Lieblingsorte der Frauen von Stambul.

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Nenn man das erste der sieben Vorgebirge, die auf jedem [335] Ufer mit entsprechenden Buchten den Lauf des Bosporus bilden, auf der europäischen Seite – Tophana – das alte Metopon, hinter sich hat, fährt der Kaïk in die schöne Bucht von Dolmabagdsche ein, an dem Ufer entlang, an dem früher ein Altar des Ajax und der Tempel des Ptolemäus Philadelphus stand, dem die Lateiner göttliche Ehre erwiesen. Auf dieser Rhede, dem Pentecontoricon: der Rhede für die fünfzigruderigen Schiffe, ließ der Scythe Taurus auf dem Wege nach Creta seine Fahrzeuge ankern. Am Ufer liegt die Moschee Anni-Effendi und weiter hinauf am Ufer gegenüber der Stelle, wo er seine Flotten zu sammeln pflegte, um den Schrecken an die Küsten des mittelländischen Meeres zu tragen, steht das einfach malerische Denkmal Hairaddins Barbarossa's, des berühmtesten türkischen Seehelden.

Am Ufer streckt hier der Palast Tschiragan seine lange Fronte von Stein- und Holzbau mit Arabesken und Stuckaturen hin. An den höhern Mittelbau schließen sich zwei Flügel, die wiederum von vorspringenden Seitengebäuden flankirt werden. Ein schmaler Quai von schönen Marmorquadern, in den das Wasserthor für die Kaïks des Großherrn einmündet, scheidet das Palais von dem Spiegel des Bosporus, auf den nach beiden Seiten hin die Fenster und Erker des Gebäudes eine prächtige Aussicht haben. Der nördliche Seitenflügel enthält das Haremlik des Padischah; vergoldete Fenstergitter scheiden es von der Außenwelt und schützen es gegen zudringliche Blicke, während sie den neugierigen Augen der Frauen volle Freiheit lassen, umherzuschweifen. – –

Die Sonne neigte sich zum Untergang und der kühle Seewind strich vom Pontus her durch die Eugen des Bosporus. Die Fenster des Kiosks 5 im zweiten Stockwerk des Haremlik waren geöffnet und ließen die trotz der Herbstzeit warme angenehme Luft in das Gemach. Dasselbe bildete ein großes Quadrat, dem sich am untern Ende den Fenstern gegenüber ein ähnliches anschloß, dessen von feinen Hölzern getäfelter Fußboden jedoch eine Stufe tiefer lag, als der des obern Zimmers, und von diesem außerdem durch ein Geländer von Cedernholz geschieden war, das in der Mitte einen Durchgang ließ. Das obere Ende des so entstandenen großen Oblongums enthielt die Fenster, und zwar vier dicht an [336] einanderschließende auf jeder der drei Seiten, so daß eine Art von Glaspavillon gebildet wurde, aus welchem die Aussicht nach allen Seiten unbehindert war. Der erhöhte Obertheil des Raumes enthielt rund um die drei Wände einen etwa anderthalb Fuß hohen und vier Fuß breiten Divan von rothem Tuch, dessen Goldfransen auf den Boden niederhingen. Ueber den Fenstern lief durch das ganze Gemach ein Karnies, von dem faltenreiche Vorhänge von grüner, golddurchwirkter Seide, durch vergoldete Broncehalter aufgenommen, niederfielen. Ueber diesem Karnies lag eine zweite Reihe von Fenstern mit doppelten Scheiben von gefärbtem Glase und zwischen diesen und der Decke war die sonst einfach in weißgrauer Farbe gestrichene Wand mit Blumen, Früchten und Waffenarabesken gemalt. Die gleichfalls schön gemalte und verzierte Decke war in zwei Theile gesondert, von denen der über dem untern Raum niedriger und flacher war, als der erste. Einzelne Koffer und schön gemalte, vergoldete und ausgelegte Kisten von wohlriechendem Holz standen an den Seitenwänden des Untertheils, oder an dem Geländer, welches die beiden Räume schied. Im der Mitte des Vorgemachs sprudelte aus einem Marmorbecken fortwährend ein Fontainenstrahl, zuweilen von den Sclavinnen mit Rosen- oder Orangenwasser vermischt und einen starken Duft verbreitend. In der Ecke befand sich das Tandur, der in der Türkei gebräuchliche tragbare Heerd, aus einem Holzrahmen bestehend, in dem sich ein kupfernes Gefäß mit Holzkohlen befindet, theils für die alle Augenblicke sich wiederholende Kaffeebereitung, theils für das Anzünden der Schibuks und Nargilehs bestimmt.

Vor dem rechten Ecksitz an den Fenstern, dem Ehrenplatz in türkischen Gemächern, lag der Schilteh, – das dünne, viereckige Kissen, welches das Schaaffell des Turkomanenzeltes vorstellen soll, dem die Nation entsprossen.

Im Untertheil führten zwei mit schweren Teppichen verhangene Thüren aus der Querwand und eine eben solche aus der Seitenwand nach dem Gebäude hin in die Divan-Hane, die große Mittel-Halle des Hauses, welche den freien Zugang zu allen Gemächern bildet. Ausnahmsweise – da sonst in den türkischen Zimmern nur ein Eingang zu sein pflegt, – befand sich auf derselben Seite auch eine gleiche Thür im Obertheil.

Ein dicker persischer Teppich bedeckte den Fußboden desselben vor den Fenstern. Obschon viele Personen und Gruppen in dem [337] Gemach versammelt waren, blieb der Ehrensitz und sein nächster Umkreis doch frei.

Es befanden sich ungefähr zwanzig Frauen in dem Obertheil des Gemachs, während eine gleiche Anzahl von Dienerinnen den unteren in verschiedenen Beschäftigungen einnahm. Zwei Schwarze von unförmlich dicker Figur, unglückliche Geschöpfe, die für die Gebräuche des Despotismus schon als Kinder der Mannheit beraubt worden, in weiten orientalischen Kleidern von schreiend rother Farbe, standen an den beiden Eingangsthüren, theils um Wache, theils um Ordnung zu halten unter den oft sehr aufrührerischen Odalisken.

In der linken Ecke des Kiosk, dem Ehrenplatz gegenüber, schien sich die Hauptgruppe der drei versammelt zu haben, welche das Obertheil einnahmen. Auf den Kissen des Divans saßen zwei Frauen in überaus reicher Kleidung, während eine dritte auf der Decke vor ihnen kauerte, alle Drei im eifrigen, obschon leise geführten Gespräch. Zwei junge Wohrinnen, Mädchen von etwa 12–13 Jahren, bedienten sie, indem sie von Zeit zu Zeit mit einer silbernen Zange eine frische Kohle auf den duftenden Tabak von Schiraz legten, der im vergoldeten Kopf des Nargileh's brannte, dessen zierlich aus Gold- und Silberfäden gewundener Schlauch mit edelsteinbesetztem Mundstück aus dem in der Türkei so hochgeschätzten weißen Bernstein den Rauch durch das mit Rosenwasser gefüllte Krystallgefäß zu den Lippen der Damen führte. Häufig nahm dabei Eine oder die Andere derselben einen Löffel von dem süßen Eingemachten, das aus Rosenblättern, Mastix, Limonen und Weichseln bestehend, in vergoldeten Schaalen auf einem gleichen Präsentirbrett von den Sclavinnen ihnen gereicht wurde, und dessen häufiger Genuß, jedes Mal mit einem Schluck Wasser nächst dem Naschen des Zuckerwerks und dem Kaffee zu den Liebhabereien der türkischen Frauen gehört.

Die eine der Damen auf dem Divan war eine hohe und trotz des weichlichen Lebens ebenmäßige Figur, zwar über die Frauenjugend hinaus und anscheinend bereits im Anfang der dreißiger Jahre, aber keineswegs schon verblüht, was so häufig bei den orientalischen Frauen in einem Alter der Fall ist, dabei uns Nordländern erst vollkommen die Frauenschönheit zu entwickeln pflegt. Ihre Gesichtszüge zeigten den reinen klassischen Typus der kaukasischen Raçe, belebt durch ein feuriges Auge, aus dem Stolz [338] und Herrschsucht sprachen. Das dunkle Haupthaar war in zahllose Flechten gelegt, die, mit Goldmünzen und Perlen durchwunden, zu beiden Seiten des Gesichts und im Nacken herunterhingen, während ein gelbseidenes Tuch um den Scheitel geschlungen und dort mit großen Brillantnadeln festgehalten war. Eine dicke, drei Mal umgelegte Perlenschnur umgab den vollen, ebenmäßigen Hals und fiel auf den Busen herab, der von einer aus Goldstoff bestehenden Weste fast gänzlich entblößt gelassen wurde. Weite Beinkleider von Purpurseide aus Brussa, aus denen die nackten, auf den Zehen mit goldenen Ringen geschmückten Füße hervorsahen, indeß die gelben, kaum die Spitze bedeckenden Pantoffeln vom Divan geglitten waren, bildeten die untere Bekleidung. Auch die Arme waren fast bis an die Schulter entblößt, von der ein der Weste entsprechender offener Aermel von Goldstoff niederhing. Schwere Ohrgehänge von jenen großen Türkisen, die allein in den Minen von Nischagur in Indien gefunden werden, und eine Unzahl goldener Armbänder um beide Handknöchel vollendeten den Putz.

Eben so reich, obschon weniger frei, waren die beiden andern Damen, namentlich die zweite, gleichfalls auf dem Divan Sitzende gekleidet. Das reiche Geschmeide dieser überstrahlte sogar an Glanz und Werth bei Weitem den Schmuck der Erstern. Diamanten und Smaragden waren sowohl an ihrem turbanartigen Kopfputz, als an der Stickerei ihres dunkelrothen Mieders verschwendet, über welches ein mit schwarzem Pelz verbrämtes kaftanartiges Oberkleid von gelber Seide fiel. Die gestickten gelbledernen Socken an ihren Füßen, welche die Türkinnen statt der Strümpfe tragen, und die beiden Yaschmacks, welche neben ihnen lagen, der eine mit goldenen Sternen gestickt, bewiesen, daß die Beiden nicht in den Harem gehörten und nur zum Besuch dort waren. Die Zweite der Damen war eine türkische Schönheit von etwa 27 Jahren, deren männliche Züge stark an den verstorbenen Sultan Mahmud II. namentlich in den buschigen Augenbrauen und der vollen, kräftigen Bildung des Mundes und Kinnes erinnerten; – die dritte auf dem Teppich Kauernde dagegen mochte bereits an Vierzig zählen, und in ihrem Gesicht sprach sich ein hoher Grad von Verschlagenheit, Lust und Fähigkeit zur Intrigue aus.

Etwas entfernt von der Gruppe, nach der Seitenthür zu, die an der Balustrade des Obertheils zu den innern Gemächern führte, befand sich eine zahlreichere Gesellschaft von jungen und schönen [339] Frauen, im Genre der erst erwähnten Dame ähnlich üppig und wo möglich noch freier gekleidet, obschon nur zwei unter ihnen durch besondern Schmuck sich auszeichneten und dadurch dem kundigen Auge bewiesen, daß sie unter der Schaar der Odalisken zu Kadinen des Padischah sich durch die Macht ihrer Reize emporgeschwungen hatten. Alle hockten in den verschiedensten Stellungen und mit dem Ausdruck einer kindischen Neugier und Lüsternheit um den großen Kasten mit Schmuck- und Bijouteriesachen und Schönheitsmitteln, den eine Frau von demüthiger Haltung aber überaus gewandter Zunge, in der einfachen Kleidung einer orientalischen Jüdin, an dem gelben Zeichen auf der Brust und den dunklen Strumpfschuhen kenntlich, vor ihnen ausgekramt hatte. Der Handel war in vollem Gange und der Inhalt des Kastens wanderte Stück für Stück durch die an Fingerspitzen und Nägeln mit Hennah gefärbten Hände, während das wirre Geschnatter und Geschwätz der Beschauerinnen kaum das eigene Wort verstehen ließ.

Dieser Gruppe gegenüber auf der Ecke des Divans, welcher zum Ehrensitz fortlief, lehnte eine dritte, doch nur aus zwei Personen bestehend, beide der Typus einer auffallenden und doch sehr verschiedenartigen Schönheit, Herrin und Dienerin. Die Erste war ein junges Mädchen von kaum siebzehn Jahren, nicht nach gewöhnlicher türkischer Sitte auf dem Divan mit untergeschlagenen Füßen hockend, sondern halb liegend in die weichen Polster gelehnt. Ein zartes, blasses Antlitz von überaus schöner Form, von den im Orient so ungewöhnlichen aschblonden Haaren umgeben, die in einem reichen Lockenwald auf Hals und Brust fielen, erhielt durch die bei dieser Farbe eben so seltene Zierde schwarzer Augen, in denen eine gewisse melancholische Schwärmerei lag, einen wunderbaren Reiz. Die Züge dieses Gesichts waren edel, verständig und harmonisch, die Figur unter Mittelgröße, zart und schlank, und obschon die Schöne, die den Kopf in die rechte Hand gestützt, sinnend und theilnahmlos vor sich hin schaute, in orientalische Gewänder gekleidet war, hatte Alles an ihr doch den Typus einer Züchtigkeit und Schaam, der offenkundig der Kleidung der anderen Frauen fehlte. Vor ihr knieete, mit ihren Locken spielend und von Zeit zu Zeit ihr allerlei Erfrischungen anbietend, eine junge Mohrin von wahrhaft junonischem Wuchs und einem Ebenmaaß der Körperformen, der einem Bildhauer hätte zum Modell dienen können. Sie war in ein weißes Gewand gekleidet, das die dunkle Broncefarbe[340] noch mehr hervorhob, während breite goldene Reife den nackten Hals, die Anne und Knöchel zierten. Eine fast antike Kopfbildung bewies, daß sie zu einem der Stämme Abessyniens gehörte, die sich durch ihre Körperschönheit von allen Mohren so sehr auszeichnen, daß sie kaum zu den Negergeschlechtern gezählt werden dürfen. Einige Jahre älter als die Herrin auf dem Divan, schien sie mit einer wahrhaft mütterlichen Liebe an dieser zu hängen und für sie zu sorgen, denn selbst der lockende Anblick des reichen Schmucks, der auf der andern Seite ausgelegt wurde und das neugierige Zudrängen der Dienerinnen aus dem untern Raum vermochte sie höchstens, von Zeit zu Zeit die schöne Odaliske durch eine Bemerkung aus ihrem Nachsinnen zu stören und darauf aufmerksam zu machen.

Im untern Theil des Gemachs um den Springbrunnen waren in ihrem trägen Schlendrian mehrere Dienerinnen und schwarze und weiße Eunuchen beschäftigt, oder pflegten selbst des Käff, jenes dolce farniente der Moslems; denn im Orient besteht die Sitte, daß in einem nur einigermaßen zahlreichen Haushalt jeder Diener und jede Dienerin ein einzelnes bestimmtes Geschäft verrichtet und nie die Hand zu einem andern anlegt. Dazwischen gingen mit jenem unhörbaren Schritt und jener Ruhe, welche die asiatische Dienerschaft auszeichnet. Einzelne durch die Teppiche des Eingangs ab und zu.

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»Mashallah,« sagte die zweite Dame der Gruppe in der obern Ecke des Gemaches aufgeregt zu ihrer Gefährtin, »ist der Padischah, mein Bruder, ein Esel oder bist Du nicht die Sultana seines Harems und die Mutter des Thronerben, daß Du nicht die Macht haben solltest, einen Mann zu dem zu bewegen, was uns das Beste dünkt?«

»Ich küsse Deine Augen, Sultana Adilé,« entgegnete die Circassierin, »Allah und die Zuflucht der Welt 6 haben es gewollt, daß ich die erste Frau seines Herzens bin, aber Dein Bruder ist veränderlich und die Sonne seiner Gunst ist auf ein Geschöpf gefallen, von dem ich glaube, daß sie unsere Feindin ist.«

Die Augen der drei Frauen wandten sich bei dieser Erwähnung einen Moment lang auf die blonde Odaliske am Ende des [341] Divans, die in ihrem Träumen nicht bemerkte, daß von ihr die Rede war.

»Half! Half! 7 Eine verkehrte Stunde hat sie hierher und vor den Großherrn gebracht. Wir werden es Ali Pascha gedenken der sie ihm zum Geschenk gemacht hat. Sie ist offenbar eine Moskau 8. Aber ich müßte die Sultana nickt kennen, wenn ich glauben sollte, sie werde ohne ihre Erlaubniß eine Kadine werden und ihm ein Kind gebären.«

»Wallah! Haltet Ihr mich für eine turkomanische Kub? Ich habe Augen in meinen Kopf und sie sind offen.«

Ein rascher Blick verständigte Beide.

»Es ist gut. Doch laßt uns von dein Geschäft reden, um das Mehemed Ali Pascha, mein Mann, mich hierher gesandt.«

»Allah behüte Euch, Ihr redet Wahrheit, Sultana,« mengte sich die ältere Frau in die Unterhaltung, »und Mehemed Pascha ist der wahre Hort der Gläubigen. Hier ist das Schreiben meines Herrn, des Sirdar, eines so guten Moslems, wie nur je einer das Antlitz des Padischah geschaut hat, obgleich sein Vater und seine Mutter als Ungläubige verdammt sind. Omer meldet darin, daß er am zwanzigsten Tage des Muharem 9 den Krieg gegen die Ungläubigen beginnen wolle. Wir zählen heute den gesegneten Tag des siebzehnten, und es gilt vor Allem zu verhindern, daß der Sirdar keinen Gegenbefehl vom Schatten Gottes 10 erhalte.«

»Du weißt, was geschehen ist heute Morgen im Rath, Sultana?«

»Mashallah, was werde ich nicht? für was habe ich Augen und eine Zunge im Munde? Ist der Kapu Agassi 11 ein Mann, der auf die Stimme der Sultanin nicht zu hören wagt?«

»Die Inglis und Franken sind Leute, welche die ganze Welt in dem Winkel ihres Auges tragen und eine gespaltene Zunge haben. Sie haben den Padischah gebeten, daß er ihre großen Schiffe unter seine Obhut nehme und das Kaïk mit dem Rauch ist heute[342] nach Dardanelli gefahren, um sie zu holen. Sie sind Giaurs, aber sie sind mächtig.«

»Jock! Nichts! was sind sie in Rum 12? Der Padischah ist Alles.«

»Das ist es nicht, was uns den Stein der Sorge auf's Herz legt,« fuhr beharrlich die Gattin Mehemed's, dieses Hauptes der alttürkischen Partei fort. »Aber man hat auf das Verlangen der Christen im Divan heute berathen und beschlossen, daß Dein Mann o Khanum noch zögern solle, den rebellischen Vasallen in Moskau die Schärfe des Schwertes fühlen zu lassen.«

»Fluch über die Feiglinge,« sagte eifrig die Khanum; »die das gerathen sind Söhne eines Hundes, ihre Väter sind Hunde und ihre Mütter sind Hündinnen. Sie verunreinigen mit ihrem Athem den Ruhm des Großherrn.«

»Allah bilir, Gott allein weiß es!« stimmte die Schwester des Padischah bei. »Wer wird unsere Schulden an diese Armenier und Juden bezahlen, wenn es nicht zum Kriege kommt und unsere Männer Geld verdienen? Ai gusum, sieh mich an, Licht meiner Augen, Sultana Fatima, Du mußt es verhindern!«

Die Circassierin wiegte schlau den Kopf.

»Der Padischah ist unser Aller Herr. Wie kann ich thun, was Du sagst, ich bin Nichts als ein Weib.«

Die erste Khanum des türkischen Heerführers, eine frühere Dienerin des Palastes, durch deren IntriguenOmer hauptsächlich seine rasche Carriere gemacht hat, verstand jedoch in ihren Augen zu lesen.

»Allah erbarme sich! wo wäre unsere große Sultana, wenn Sie nicht für jede Gefahr ein Mittel hätte. Ich weiß, was ich weiß.«

»Wie viel Sonnen braucht ein Tartar 13, um zu Deinem Gatten zu kommen?«

»Der Sirdar ist in Rustschuk. In drei Tagen macht der Tartar den Weg, wenn die Balkanpässe offen sind.«

»Pek äji, sehr wohl. Wißt Ihr, ob die Botschaft schon abgesandt ist?«

»Was soll ich sagen? Mein Gatte Mehemed fürchtet es.«

[343] »Ein Mann ist ein blindes Thier; er sieht bosch, Nichts. Der Padischah hat sie in der Tasche behalten.«

»Adschaid! Wunderbar!«

Beide Frauen hoben die Hände in die Höhe.

»Ihr seid keine Eselinnen, Euer Witz ist gut; wißt Ihr warum?«

»Wir sind Staub unter Deinen Füßen,« liebedienerte die Khanum, »wir wissen Nichts.«

»Bak, seht.«

Ihr Finger wies wiederum auf die blonde Sclavin, die in dem Augenblick halb aufgerichtet aufmerksam auf die Jüdin schaute.

»Ne olda 14

»Wenn wir ihn fern von dieser halten können, wird auch die Botschaft gar nicht abgesendet werden. Wir brauchen nur zwei Tage Zeit. Hafiz sagt: Der Wille eines Mannes ist Wachs in der Hand des Weibes, das sein Lager theilt.«

Die Frau des Sirdars nickte verstehend.

»Wird der Herrscher der Gläubigen die Nacht in diesem Harem zubringen?«

»Ich glaube es. Es ist unsere Reihe und er hat mir seinen Besuch verkünden lassen.«

»Die Macht Deiner Reize ist groß, o Sultana, sie blühen wie die Rosen von Schiraz. Aber warum hast Du denn diese Schlange hier behalten?«

»Du redest Thorheit. Das böse Auge der Buhlerin hat den Padischah bezaubert, und wenn er sie nicht hier wüßte, würde er zu den andern Kadinen gegangen sein, oder zu ihr allein. Glaubst Du, daß Diese da mir schaden werden?« sie wies nach den beiden Frauen in der Gruppe um die Jüdin; »bah, sie sind der Hauch meines Odems!«

Die schlaue Circassierin hatte wohlberechnet die beiden jüngsten und schönsten Kadinen in ihre Umgebung gezogen und in die Abtheilung des Harems, die sie bewohnte. Ebenso hatte sie zu vermitteln gewußt, daß die junge blonde Odaliske, die erst seit Kurzem den Harem des Großherrn zierte, von diesem aber die auffallendsten Beweise großer Zuneigung erhielt, in ihrem Haremlik blieb.

»So wirb die Sultana selbst das Lager der Zuflucht der [344] Welt besteigen und seinen Willen einschläfern auf den Kissen ihres Busens?«

»Nicht ich, Effendi 15, auch Jene nicht, obschon ich ihnen vertrauen kann. Der Padischah soll eine Ueberraschung erhalten, die seinen Geist während der nächsten Tage in den siebenten Himmel des Propheten verseht. Hört!«

Sie klatschte zwei Mal stark in die Hände und augenblicklich näherte sich ihr aus dem Untertheil eine so widerwärtig scheußliche Figur, wie sie eben nur in dem Harem von Moslems geduldet werden kann, die eine ganz besondere Vorliebe für Verwachsene und Zwerge zeigen. Aus einem kleinen breiten Körper mit Säbelbeinen hockte ein unförmlicher kürbisartiger Kopf mit einem Munde, der förmlich das Gesicht in zwei Hälften schnitt. Aus den Augen leuchtete Bosheit und List und die rothe Kleidung bewies, daß er zu den Eunuchen des Harems gehörte, wie die Peitsche an seinem Gürtel, daß er einer der Aufseher über die Sclavinnen war.

Der Zwerg verbeugte sich tief vor der Sultana und blieb, die Hände über die Brust gekreuzt, in gebückter Stellung vor ihr stehen.

»Hast Du Nachricht für mich, Sohn eines Zwerges und einer Hündin?« fragte die Sultanin. »Ist Neues vorgefallen?«

»Ich küsse den Stand Deiner Sohlen; bosch, – es ist Nichts.«

»So können wir auf den Sir Kiatib 16 und seine Versicherung rechnen, daß der Ferman noch nicht abgesandt ist?«

»Bei meinen Augen, Herrin. Er lag zur Unterschrift des Padischah bereit, aber der heilige Scheik ul Islam 17 hat das Versprechen des Schatten Gottes, daß die Sache nochmals berathen werden solle. Der heilige Mann und der Saderel Azan 18 haben sich böse Worte gesagt.«

»Er ist unser Feind,« warf die Schwägerin der Sultana ein; »möge seine Leber schwarz werden.«

»Ist Alles geschehen, wie ich befohlen? Sind die Alme'n 19 [345] bereit und das Spiel? Haben die Weiber die Sclavin vorbereitet und sie gesalbt?«

»Möge das Licht Deiner Augen auf Deinen Sclaven fallen. Das Mädchen hat so eben das letzte Bad erhalten und ihre Schönheit strahlt, wie der Abendstern, neben der Sonne der Sultana.«

»Es ist gut. Laßt uns das Ende erwarten. Allah möge uns beistehen.«

Der durchdringende helle Klang zweier in einiger Entfernung zusammengeschlagenen Becken unterbrach das Gespräch.

»Der Padischah!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Während am Ende des Obertheils die Weiberintrigue im Interesse der alttürkischen Partei sich schürzte, um den Ausbruch des Krieges herbeizuführen, war unsern der Gruppe eine andere geheimnißvolle Scene vor sich gegangen.

Der Leser wird sich erinnern, daß in dem Augenblick, als die Favorita auf die blonde Odaliske deutete, diese mit aufmerksamerem Blick als bisher die Gruppe gegenüber zu betrachten begann, die sich um den Schmuckkasten der jüdischen Juwelenhändlerin drängte. Dir Ursache hiervon war diese selbst, indem sie in einem Augenblick, als zufällig das Auge des jungen Mädchens auf sie fiel, ein rasches Zeichen machte und den Zeigefinger der linken Hand auf die Lippen legte.

Die Odaliske wandte der Verkäuferin nun ihre volle Aufmerksamkeit zu, und als ein zweiter und deutlicher Wink der Augen ihr gezeigt, daß die Jüdin ihr Etwas mitzutheilen habe, aber vor den bewachenden Augen der Sultaninnen sich nicht selbst ihr zu nahen wage, erhob sie sich langsam und trat wie gleichfalls neugierig zu der Gruppe ihrer Gefährtinnen heran und nahm einen oder den andern der Gegenstände in die Hand. Die gewandte Jüdin ergriff sofort den Moment.

»Aï, Herrin,« sagte sie, indem ihr Blick die Odaliske bedeutete, aufzupassen; »der Gott Abrahams segne Eure Schönheit. Wollt Ihr nicht dieses Halsband versuchen? es sind reine Amethysten aus dem kalten Lande der Moskowiten, unserer Feinde, wo der Schnee das ganze Jahr lang auf der Erde liegt, obschon ich mir habe sagen lassen, daß die Sonne die Hälfte der Zeit [346] dort nicht untergeht und die andere Hälfte Nacht ist 20. Nehmt, Effendi, und prüft es an dem Elfenbein Eures Halses.«

Sie drängte der Odaliske das Halsband auf und diese fühlte zugleich, daß aus dem weiten Aermel der Jüdin ein anderer Gegenstand mit in ihre Hand glitt. Besonnen trat sie vor einen der großen Spiegel, die, meist Geschenke europäischer Fürsten, in prachtvollen Nahmen an der Wand des Kiosks ohne alle Regelmäßigkeit aufgehängt, eine Lebensnothwendigkeit für die eitlen und putzsüchtigen Haremsbewohnerinnen sind, und legte das Halsband wie prüfend um, indem sie geschickt dabei den zusammengerollten Streifen Pergament, den sie zugleich erhalten, in das süße Versteck aller Frauen, den Busen, gleiten ließ. Dann gab sie ablehnend den Schmuck wieder zurück und wandte sich nach ihrem Platz.

Noch ehe sie diesen erreicht, erscholl das Zeichen, welches den Besuch des Großherrn verkündete. Wie mit einem Zauberschlage änderte sich das Bild. Die Jüdin raffte ihre Sachen eilfertig zusammen, warf der Odaliske noch einen raschen bedeutsamen Blick zu und wurde von den Verschnittenen aus dem Gemach getrieben. Auch die erste Khanum Omer Pascha's schlug ihren Yaschmak um das Haupt und barg sich nach einigen rasch mit der Favoritin gewechselten Worten unter den Dienerinnen im Untertheil des Gemachs. Während die beiden Kadinen zu der Sultana traten, stellten sich die Odalisken in zwei Reihen entlang der Divans auf, die Hände über die Brust gekreuzt und die Augen zu Boden gesenkt, ebenso die Dienerinnen und Eunuchen im Untertheil.

In der Bewegung, die dieser Anordnung voranging, gelang es Mariam, der blonden Odaliske, den Zettel in der hohlen Hand zu lesen. Derselbe enthielt die Worte:

»An die Khanum Mariam. – Die Verschiebung des Angriffs um zehn Tage ist heute zwar im Divan auf den scheinbaren Rath des englischen Eltschie 21 beschlossen, heimlich aber drängt man den Sultan, die Absendung des Befehls zu verzögern. Erlange um jeden Preis seine Unterschrift und die Absendung des Fermans, womöglich noch in dieser Nacht, denn morgen wachen die Feinde. Im Namen des Gottes, den Du im Herzen verehrst. Die Sache ist wichtig.«

[347] Sie bog den Pergamentstreif zusammen und verbarg ihn in dem Gewande, denn der Zug des Sultans nahete, wie das Zusammenschlagen der silbernen Becken verkündete.

Einen Augenblick hielt er vor dem großen Eingang des Gemachs, während die mit entblößten Säbeln Wache haltenden Eunuchen den Vorhang zu beiden Seiten emporhielten.

Zunächst traten vier Itschoklans 22 – schon in ihrer Jugend verstümmelte Kinder – ein und schritten bis zu dem Aufgang des Obertheils vor. Ihnen folgte eine gleiche Anzahl schwarzer Eunuchen, die Becken schlagend, und darauf der Tschannador-Aga 23, den großen Pfauenwedel tragend, womit die Pagen dem Großherrn Kühlung zufächeln. Hinter ihm kamen die beiden Schwertträger des Sultans und dann dieser selbst auf den Arm des Kislar-Aga gestützt. Der Kapi-Aga (Agassi) oder das Oberhaupt der weißen Verschnittenen schloß den Zug, an der Spitze von vier mit blanken Säbeln bewaffneten circassischen Sclaven.

Der Großherr – Abdul-Medschid-Khan – zur Zeit unserer Erzählung im einunddreißigsten Jahre stehend 24 – war eine große Gestalt mit vollem fleischigem, aber blassem Gesicht, das zwar unverkennbar einen Zug von Gutmüthigkeit trägt, aber – offenbar von dem frühen Genuß der Haremsfreuden, zu denen ihn seine ehrgeizige Mutter verleitete – den Ausdruck des Schlaffen, Theilnahmlosen hat. Alles innere Leben scheint aus diesem Antlitz verschwunden, das durch die breite offene Stirn und die edle Form der Nase selbst schön zu nennen wäre, wenn das große dunkelbraune Auge mehr Feuer und nicht jenen melancholischen Blick der Seelenapathie zeigte. Es ist gewöhnlich zu Boden geschlagen, oder wenn es erhoben wird, starr und kalt; nur selten sprüht ein Blitz der Leidenschaft oder des Bewußtseins der Macht daraus hervor, und dann wird es dem scharfen wilden Auge seines großen Vaters ähnlich.

Der Sultan trug die halb europäische Kleidung: weiße Pantalons, darüber einen zugeknöpften indigoblauen Rock mit steifem Kragen und den rothen Feß, statt der gewöhnlichen schwarzen [348] lackirten Stiefeln 25 jedoch gelbe Pantoffeln. Die einzige Auszeichnung, die ihn schmückte, war ein mit großen Diamanten besetztes Brustschild, da wo der Rockkragen sich schloß. Alle seine Begleiter trugen gleichfalls den abscheulichen Feß, diese unkleidsame und zweckwidrige Tracht, welche die Reform des verstorbenen Sultans für die Civilbeamten und das Militair eingeführt hat. Mit dem letzten Janitscharen sank die malerische Kleidung der türkischen Krieger.

Als der Großherr über die Schwelle des untern Gemachs trat, fiel die Reihe der Dienerinnen und Eunuchen knieend zu Boden, mit der Stirn fast die Erde berührend, auch die Odalisken beugten sich tief und verharrten, Alle das »Selam Aleikum« 26 murmelnd, in dieser Stellung, bis der Sultan, der nie den Gruß eines Unterthanen erwiedern darf, durch ihre Reihe hin- und zu dem Ehrensitz in der Ecke geschritten war, auf dem er Platz nahm. Ein rascher kurzer Seitenblick, als er an Mariam vorüberging, der nicht blos von dieser, sondern auch von den beiden Sultaninnen sehr wohl bemerkt worden war, bewies, daß er trotz seiner äußern Gleichgültigkeit auf seine Umgebung achtete. –

Der jetzige Großherr hat, wie gesagt, in seinem Wesen keineswegs das Entschlossene, Gebietende des Despoten, was man wohl an dem unumschränkten Herrscher des Orients erwartet und was in den meisten Gliedern seiner Familie ausgeprägt war. Viel mehr liegt etwas Schüchternes, Unentschlossenes in seinem Wesen und er ist nicht einmal der Gebieter in seinem Harem. Die Erfahrungen seiner Jugend mögen daran schuld sein, zuerst der Druck seines despotischen, keinen Willen neben dem seinen duldenden Vaters, und die Erziehung nicht im Feldlager, sondern im Harem, in dessen Genüsse er bereits mit seinem dreizehnten Jahre eingeweiht wurde. Etwa anderthalb Jahre vor seinem Tode 27 schenkte ihm Sultan Mahmud eine wunderschöne Circassierin, zu welcher der Jüngling eine heftige Liebe faßte, die bald auch Folgen hatte. Wir haben oben bereits das unnatürliche Regierungsprinzip erwähnt, daß die Söhne und Brüder des Sultans bei seinen Lebzeiten keine Kinder haben dürfen. Die Circassierin weigerte sich, eines jener abscheulichen [349] Mittel anzuwenden, welches das Kind unter ihrem Herzen tödten sollte, und der Prinz konnte sich nicht entschließen, sie dazu zu zwingen. Er rechnete auf den Tod des Sultans, der sich bekanntlich dein Trunk ergeben und schon mehrere Anfälle des delirium tremens gehabt hatte, um dann als Herr und Gebieter die Sclavin und ihr Kind anzuerkennen. Bis dahin suchten Beide auf alle mögliche Weise die Schwangerschaft zu verbergen. Aber der Neid der Odalisken brachte sie an den Tag, und der Sultan stellte die grauenvolle Wahl, daß entweder das ungeborene Kind oder die Sclavin geopfert werden müsse. Die Geliebte des Prinzen weigerte auch jetzt noch standhaft das Verbrechen gegen die Natur, und als der junge Abdul zwei Abende darauf den Harem besuchte – war sie verschwunden: man hatte sie erdrosselt.

Vier Wochen nachher starb Sultan Mahmud am Delirium in seinem Kiosk auf den Höhen von Goksu am asiatischen Ufer des Bosporus.

Abdul Medschid gelangte mit sechszehn Jahren zum Sultanat, doch hatte er damit kaum den Herrn gewechselt, denn die Sultanin Valide, seine Mutter, und die Intriguen des alten Chosrew-Pascha hielten ihn unter ihrem Druck, bis zwischen Beiden selbst Feindschaft ausbrach. Auch nachher noch gönnte er seiner Mutter einen großen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte, bis sie im Frühjahr 1853 starb.

Kurz vorher, ehe sie erkrankte, hatte der Großherr von Ali Pascha, dem Gouverneur von Brussa, die Odaliske Mariam zum Geschenk erhalten und ihr alsbald eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da sie seiner gemordeten ersten Geliebten auffallend ähnlich sein sollte. Dieser Vorzug hatte natürlich unter den Frauen des Harems bedeutende Aufregung und Eifersucht hervorgerufen und ihre Intriguen und die Herrschsucht der Mutter des Thronfolgers erschwerten den Umgang des Sultans mit seiner neuen Geliebten auf alle mögliche Weise. Man sah in ihr nicht nur die gefährliche Nebenbuhlerin um die persönliche Gunst des Sultans, sondern auch um den politischen Einfluß, und es ging das Gerücht im Harem, daß sie eine heimliche Christin und von der russischen Partei in den Harem gebracht sei. Wir haben bereits angedeutet, daß man einer Schwangerschaft zuvorgekommen war, da sie die Geburt eines Kindes den Sultaninnen mindestens gleichgestellt [350] hätte, während die Unfruchtbarkeit der Kadinen für eine Schmach gehalten wird und diese ohne Rechte nur in der Lage einer begünstigten Sclavin verbleiben läßt. Selbst der Wille und die Macht des Sultans vermochten sie kaum genügend gegen die Angriffe ihrer Feindinnen zu schützen.

Wir haben oben die eigenthümliche Schönheit der jungen Odaliske beschrieben. Sie war eine Mingrelierin von Geburt, mit ihrer Mutter – einer Russin – als Kind in die Hände kurdischer Räuber gefallen und später unter den Schutz Ali Pascha's gekommen, der sie dem Harem seines Gebieters bei passender Gelegenheit zum Geschenk machte. Näheres wußte und erfuhr man nicht von ihr, doch war es bald offenbar, daß sie dankbar für die Gunst des Großherrn diesem mit ganzem Herzen anhing und ihn hingebend liebte. –

Ein Schlag der Silberbecken, die während des Ganges durch das Gemach geschwiegen hatten, verkündete, daß der Großherr Platz genommen, und auf dies Zeichen erhoben Alle das Haupt und es bildete sich eine Gruppe um den Padischah. Die Favorit-Sultana und die Schwester des Großherrn nahmen auf Kissen am Boden an seiner Seite Platz und neben ihnen die beiden andern Kadinen, während die Odalisken jenseits der Fenster an den Wänden entlang auf dem Divan sich reihten. Neben den Kadinen nahmen der Kislar-Aga und der Kapu-Agassi ihre Stelle ein, während der Tschannador alsbald eine mit Edelsteinen reich verzierte Pfeife mit einem Rohr von Jasminholz, das mindestens sieben Fuß lang war, auf dem Mittelfinger der rechten Hand wiegend, feierlich heranschritt. Ein Offizier der Eunuchen setzte zugleich eine silberne runde Schaale im richtigen Augenmaaß auf den Boden, so daß, als der Tschannador den Kopf der Pfeife auf diesen Teller setzte und diese nun zierlich herumschwang, das Mundstück gerade zu den Lippen des Großherrn reichte. Ein anderer Offizier brachte in der silbernen Zange, welche die meisten Türken in einem Futteral am Gürtel tragen, aus dem Tandur die brennende Holzkohle für den Taback, und dann erst, als die Pfeife in Brand war und er mehrere Züge des duftigen Dampfes gethan, indeß die Offiziere rückwärts gehend nach dem Untertheil zurückschritten und dort mit gekreuzten Armen stehen blieben, wandte sich der Sultan zu seiner Schwester und der Sultana und begann das Gespräch mit der [351] üblichen Formel: Kosch dscheldin 28 und der Frage: Kiefiniz aji me: Ist Eure Laune gut?

Die Sonne war unterdeß am Horizont verschwunden, und dies ist die Zeit, wo die meisten Bekenner des Propheten die einzige oder wenigstens die Hauptmahlzeit des Tages zu sich nehmen. In den Gängen des Palastes erscholl zugleich der Ezan, der Ruf des Imaum's zum Gebet, und sofort knieete der Sultan mit dem Gesicht nach Mekka auf dem Teppich nieder, während alle Anwesenden sich zu Boden warfen, und verrichtete das Abendgebet. Erst als der Padischah wieder Platz genommen, erhoben sich die Andern. Alsbald wurde der Kaffee dem Sultan gebracht und während sich die Sultana Adilé verabschiedete und rückwärts schreitend von ihrer Schwägerin bis an die Thür der Frauengemächer geleitet, ihren kurzen Heimweg im Kaïl nach dem Harem Mehemed-Ali-Pascha's antrat, wurde das Gemach mit einer Unzahl von Wachskerzen erhellt, worauf die Baltahgies, die Köche des Harems, eintraten, und auf einem vor den Großherrn gestellten Tisch die zahlreichen Gerichte ordneten. Dieselben bestanden – wie stets, wenn der Großherr im Harem speist – aus türkischen Speisen, der Thorba oder Fischsuppe, Dolmas: Reis mit Fleischkugeln in Weinblätter gewickelt, Kaftas: farcirtem Fleisch, einem gebratenen Lamm in einem Berge von gekochtem Reis, und Halvas oder Zuckerfrüchten und Eingemachtem, von denen eine Unmasse kleiner silberner Schüsseln aufgesetzt wurden.

Der Padischah speiste allein, von den Pagen knieend bedient, da es nicht erlaubt ist, daß ein Mann und noch weniger eine Frau seine Mahlzeit theilt. Doch sandte er häufig durch einen Wink an die Pagen einer oder der andern der Frauen, darunter auch Mariam eine silberne Schaale mit eingemachten Früchten oder Leckereien. Während der Mahlzeit, die schweigend vollbracht wurde, verrichtete am Eingang des Obertheils die Massaldschi 29 ihr Amt, indem sie in halbem, eintönigen Gesang eines jener phantastischen Mährchen erzählte, deren Anhören in den Kaffeehäusern, auf den Straßen und in den Harems einer der größten Genüsse der Moslems ist. Die Erzählung, mit den ausschweifendsten Farben das Liebesglück schildernd, wurde fortgesetzt, während die Sultana dem[352] Großherrn aus einer goldenen Kanne Wasser über die Hände goß, indeß einer der Pagen knieend das Becken von gleichem Metall hielt, in dem der Padischah die vom Koran vorgeschriebenen Abwaschungen vollführte. Alsdann wurde mit gleichen Ceremonieen wie vor der Mahlzeit dem Gebieter der Kaffee und eine neue Pfeife gebracht 30.

Der »Herr der Welt« erlaubte jetzt durch seinen Wink den begünstigten Frauen, gleichfalls ihr Nargileh zu nehmen, da die Unterhaltungen des Abends beginnen sollten.

[353] Die Dienerinnen naheten sich ihren Gebieterinnen und Nursädih, die schwarze Sclavin Mariam's, that dasselbe. Diese Gelegenheit benutzte die Odaliske zu einem raschen Gespräch mit ihr.

»Ist Dein Bruder Jussuf, der Courier, im Palast?«

»Du sagst es, Herrin.«

»Wohl. Höre meine Worte. Laß ihn sich bereit halten zu einer Reise nach dem Lager des Sirdar. Er soll das schnellste Pferd nehmen, das ihm zu Gebote steht, und nicht rasten unterwegs.«

»Du kennst seine Schnelligkeit, o Khanum. Der Pfeil vom Bogen verfolgt seinen Weg nicht gerader denn er.«

»Der Padischah, mein Gebieter, wird mich zu seiner Kadina wählen an diesem gesegneten Abend, sein Auge sagte es mir. Nun merke auf. Zu welcher Stunde der Nacht es auch geschehe, daß ich Dich rufe, so sei zur Hand und laß Deinen Bruder den Fuß im Bügel halten.«

»Auf mein Haupt komme es.« – –

Die Favorit-Sultana klatschte in die Hände und eine Musik von Zithern und Triangel erschallte aus dem Untertheil des Gemachs. Mit ihren ersten Takten traten die Almen, die vor dem Padischah ihre Tänze aufführen sollten, herein. Die Sultana hatte für diesen Abend die jungen Mädchen – Kinder sollten wir sagen – gewählt, die von zartem Alter an im Harem für dessen Zwecke erzogen und ausgebildet werden. Wenn auch nicht im Serail des Großherrn, – wo dessen Person der alleinige Zweck und Mittelpunkt ist, um den sich Alles dreht – so doch in vielen andern Harems speculiren die Frauen förmlich in jungen Mädchen, die sie als Kinder ankaufen, erziehen und in verschiedenen Künsten unterrichten lassen, um sie dann, wenn sie mannbar geworden sind, oft mit großem Vortheil an alte Lüstlinge zu verhandeln.

Die Almen der Sultana waren Mädchen von 10–14 Jahren, ein Alter, wo unter diesem Himmelsstrich bereits die jungfräulichen Formen vollständig sich entwickeln. Sie betraten den obern Raum an der Barriere zwischen den Sitzen der Odalisken und stellten sich – sechs an der Zahl – in einem Halbkreis auf, worauf sie zugleich auf die Knie sanken und mit der Stirn zum Zeichen des Grußes den Boden berührten.

Das Costüm oder vielmehr die Ausstellung dieser jungen Geschöpfe war so lüstern und schaamlos, wie sie eben nur für die [354] Zwecke sinnlicher Aufregung dienen kann. Der obere Theil des Leibes von den Hüften aufwärts war gänzlich unbekleidet, Arme und Hals waren mit Goldspangen und Perlenschnüren umgeben, und nur die über die Brust gekreuzten Hände verbargen den emporschwellenden jugendlichen Busen. Eine Kappe von eigenthümlicher Form aus Goldbrokat bedeckte das Haupt, von dem wohl in zehn mit Perlen und Bändern durchwundenen Flechten und Zöpfen das Haar herunter hing. Türkische Beinkleider von rother Seide gingen bis zum Knie, von wo ab das Bein wieder nackt war, indeß der Fuß in goldgestickten niedern Schuhen von gleicher Farbe wie die Beinkleider steckte.

Nach dem eintönigen Takt der Musik begann hierauf der Tanz, indem sie drei lange Shawls von farbiger Seide zu allerlei Draperieen und Dekorirungen verschlangen, erst langsam – dann immer rascher und wilder bis zu den üppigsten Bewegungen der Flucht und der Hingebung. Die jungen kaum erschlossenen Körper wanden sich in Geberden und Stellungen des Verlangens und der Verführung einer Leidenschaft, die ihnen noch unbekannt war, während die nackten Glieder in hundert Bewegungen und Verschlingungen sich kreuzten.

Der Tanz dauerte wohl eine halbe Stunde, während der die Sultana die Blicke häufig auf das Antlitz des Großherrn beobachtend gerichtet hielt. Doch vergebens suchte sie den gewünschten Ausdruck – die Augen des Padischah blieben schlaff auf das gewohnte Schauspiel geheftet, es vermochte nicht seine Nerven zu erregen, und als jetzt nach einem Zeichen der Sultana, den Tanz zu enden, die Aelteste der Almen näher trat und knieend dem Padischah eine silberne Schaale vorhielt, warf er mit derselben Gleichgültigkeit einige Goldmünzen hinein. Mit Wuth und Erbitterung nahm die Favoritin wahr, daß dabei der Blick des Sultans immer wieder nach der Stelle sich wandte, wo Mariam auf dem Divan saß.

Auf ein zweites Zeichen der Sultana ließen jetzt die Eunuchen von der Decke des Unterraums einen straffgezogenen Leinwandvorhang fallen, die Lichter im obern Theil diesseits des Vorhangs wurden ausgelöscht und die Musik, verstärkt durch mehrere Tambourins und Handtrommeln, eröffnete eine neue Melodie.

Es folgte nunmehr in Form eines Schattenspiels eines jener scheußlichen Schauspiele, halb Pantomime, halb Dialog, die in Stambul die Stelle unserer Arlequinaden und Hanswurst-Theater [355] ersetzen. Die Hauptfigur derselben, Karagoïs genannt, ist eine Art komischer Don Juan oder frivoler Hanswurst, der in verschiedene Liebesabenteuer geräth, wobei namentlich Griechen und Griechinnen fungiren. Der Dialog wimmelt, wozu die türkische Sprache leicht Gelegenheit giebt, von den infamsten Zweideutigkeiten, die Actionen und Scenen aber sind der Art, daß die »Sittlichkeit« der europäischen Bordelle davor erröthen würde.

Diese Sorte von Schauspielen ist nicht allein unter dem Volk in Stambul eine der beliebtesten Unterhaltungen und findet öffentlich argen Entré statt, wobei ein großer Theil des Publikums aus Kindern besteht, sondern sie sind eben so ein gesuchtes Amüsement in den Harems der Reichen, und viele der Würdenträger halten sich besondere Darsteller. Namentlich erpicht sind die Frauen aus diese Schauspiele und es giebt für dieselben auch besondere öffentliche Theater, in denen sie in Gitterlogen sitzen.

Die Variationen derselben sind sehr mannigfaltig. Was die ausschweifendste, aller Schaam baare Phantasie erdenken kann, ist durchgängig der Gegenstand nicht nur der Worte, sondern der Action, um die physische Erschlaffung aufzustacheln. Unter solchen Verhältnissen wird es der Leser dem Autor erlassen, auf eine nähere Beschreibung des angedeuteten Schauspiels einzugehen.

Es hatte wohl eine Stunde gedauert, als der Padischah selbst das Zeichen zu seiner Beendigung gab. Die Schauspieler und der Vorhang verschwanden, die Kerzen wurden auf's Neue angezündet und Kaffee und Zuckerwerk gebracht.

Diesmal sah die Sultana ihre Arrangements von einem Erfolg begleitet. Die Stirn des Großherrn zeigte eine leichte Röthe, seine Augen hatten sich belebt, und als der Glanz der Lichter das Gemach wieder durchstrahlte, irrten sie über den Reizen seiner Odalisken umher und blieben dann auf Mariam, der Mingrelierin, mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit und Feuer haften, dessen Bedeutung nicht zu verkennen war und den das Mädchen mit gleicher Sehnsucht erwiederte.

Der Padischah machte eine Bewegung nach dem Kislar-Aga, zu dessen Vorrechten es gehört, der begünstigten Kadine oder Odaliske die ihr zugedachte Auszeichnung zu verkünden, als die Sultana dem Befehl zuvorkam und sich vor dem Großherrn auf die Knie warf.

»Möge das Licht der Welt,« sagte sie schmeichelnd, »seiner [356] Sclavin noch einige Augenblicke seiner kostbaren Zeit gewähren und seine Augen auf ein Geschenk werfen, das sie für ihn bereit hält.«

Der Sultan setzte sich wieder.

»Was ist es, o Khanum? Du weißt, daß ich der Mutter meines Sohnes ihr Recht nicht verweigere.«

Die Sultana verneigte sich. Als sie sich erhob, streifte ihr Blick mit dem Vorgefühl des Triumphes über die getäuschte Nebenbuhlerin hin, die mit einiger Beunruhigung auf den unerwarteten Zwischenvorgang sah. Dann klatschte sie zwei Mal in die Hände und alsbald öffnete sich der Vorhang der untern Seitenthür nochmals, und von zwei schwarzen Sclavinnen geführt, trat eine ganz in einen weiten Schleier und braunen Feredschi gehüllte weibliche Gestalt ein, die langsam – während ihre Begleiterinnen zurückblieben – die Stufe herauf und bis in die Mitte des Obertheils vorschritt, wo sie sich vor dem Sultan zur Erde verneigte und dann, in ihre Gewänder verhüllt, gleich einer Statue stehen blieb.

Erstaunt schaute der Großherr auf die ungewohnte Erscheinung und dann fragend auf die schlaue Sultana.

Diese zögerte – wie um die Neugier zu reizen – einen Augenblick, dann gab sie das zweite Zeichen.

Im Nu flogen die Gewänder und der Schleier zur Seite und ein reizendes Bild stand vor den Augen des Herrn.

Es war eine Tänzerin, halb europäisch, halb orientalisch gekleidet, in raffinirter Berechnung auf die Erregung der Sinne, – ein griechisches Mädchen von wunderbarer Schönheit, – Nausika, die geraubte Tochter des Räubers und Mörders Janos, des Kameeltreibers, die Tochter des blutigen Feindes der Moslems, dessen kühne That einst die Gräuel von Chios gerächt hatte!

Der Leser wird sich erinnern, daß der Musselim von Tschardak das sechszehnjährige Mädchen kurz vor ihrer Hochzeit aus dem Hause ihres abwesenden Vaters mit Gewalt geraubt hatte, um sie seinem Gönner, Mehemet Ali, in Stambul zum Geschenk zu machen, und daß dieser Raub es war, welcher Janos auf's Neue zum Krieg gegen die Moslems trieb und ihn zum Schrecken Smyrna's machte. Mehemet, dessen Haus die Schwester des Sultans streng beherrschte, hatte die reizende Sclavin durch seine Frau der Sultana für den Harem seines Schwagers übergeben lassen, und diese beschlossen, sich in der Sclavin eine Anhängerin und – beim Verblühen der eigenen Reize – ein Mittel zu schaffen, [357] auf die Sinne des Sultans zu wirken und seine Neigung in der Gewalt ihrer eigenen Interessen zu behalten.

Zugleich war sie klug genug, einzusehen, daß hier selbst bei aller Schönheit des Mädchens das Gewohnte nicht fesseln und reizen könne, da der Harem der schönen Frauen so viele barg, sondern daß es galt, einen außergewöhnlichen Eindruck auf die Sinne des Gebieters hervorzubringen. Sie fiel auf den Gedanken, die griechische Sclavin während ihrer Gewöhnung zu den Sitten des Harems durch einen italienischen Tänzer ausbilden zu lassen, und diesem war es gelungen, in der Frist eines Jahres aus dem bildsamen Mädchen eine üppige orientalische Pepita zu schaffen. Zugleich vergaß in den Lockungen des Ehrgeizes und Wohllebens die Griechin Familie, Glauben und Vaterland, gleich der ersten Liebe zu dem entrissenen Bräutigam, und während ihr Vater auf den Bergen Anatoliens mit blutiger Hand ihren Raub an den Bekennen, des Propheten rächte, war die Tochter bereits die gefügige Odaliske des Harems, die sinneberauschende Alme geworden, die – bisher sorgsam vor den Augen des Großherrn verborgen – heute ihr erstes Debüt machen sollte.

Mit der Raffinerie der Wollust war die junge Tänzerin gekleidet, verhüllend und entblößend – lockend und verheißend! Um das dunkelbraune, fessellos über den Nacken fallende Haar, worin lange Schnüre von kleinen Goldmünzen eingeflochten glänzten, war ein duftender Kranz von damascener Rosen geschlungen. Große blaue Augen unter dunklen Brauen und der üppig aufgeworfene Mund predigten Lüsternheit und Sinnenrausch. Die antik schöne Nase und das Oval des Gesichts mit seinem reizenden weiß und rothem Teint bildeten ein äußerst liebliches Bild des Kopfes, der auf schlankem Hals und üppig geformter Büste saß, die von einem weit bis zur Herzgrube ausgeschnittenem Mieder von drap d'argent gegen die legère orientalische Sitte zur schlanken Taille eingeschnürt war. Um die breiten beweglichen Hüften bauschte ein schwarzer spanischer Seidenrock, kaum bis zum Knie reichend, während aus der Hülle der zahlreichen weiten Unterkleider von weißem Spitzengrund die klassische Form des völlig nackten Beines sich hervorstahl, dessen zierlicher Fuß allein mit fleischfarbenen Seidenschuhen bekleidet war. Eben so von der Achsel ab, wo sie eine kurze schwarze Spitzendraperie einschloß, entblößt waren die Arme, an den Handgelenken mit breiten goldenen Bracelets geziert. Ein Strauß [358] frischer Blumen, Rosen und Camelien schmückte und schloß den Ausschnitt des Busens.

Die rechte Hand mit der Castagnette über das reizende Haupt erhoben, die linke stolz auf die breite Hüfte gestemmt, stand die Tänzerin in malerischer Stellung einige Augenblicke vor den erstaunten Augen des Großherrn. Dann erklangen die rauschenden Töne eines spanischen Tanzes, von Flöte und Violinen vorgetragen, die draußen im Divan-Hane, dem Vorzimmer, postirt waren, durch die Vorhänge der Thüren herein dringend, und im kecken Sprunge flog die Alme auf den Padischah zu, den einen Fuß aus der neidischen Hülle üppig-graciös den von den unerwarteten Reizen entflammten Augen entgegenwerfend. Dann in jenen Windungen und Geberden, die so reizend das wollüstige Verlangen und Empfinden des spanischen und italienischen Tanzes ausdrücken, – in denen der Oberkörper schmachtet und lockt, während von der Taille ab der untere Theil in glühendem Feuer sich zu erschöpfen scheint, oder in den Sprüngen bacchantischer Lust tobt und rast, – bald dem Padischah nahend, bald sich wieder von ihm nach dem frischen, aufregenden Takt der Musik entfernend, schien die Tänzerin alle Leidenschaften herauszufordern und ihr keckes Spiel mit ihnen zu treiben, bis zuletzt mit der endenden Musik sie in einer reizend lockenden Attitüde am Boden knieete.

Der Padischah war bei dem Ende des Tanzes empor gesprungen; seine sonst so theilnahmlosen Augen flammten mit verzehrendem Blick auf die schöne Erscheinung. Selbst die verachteten Halbmänner an seiner Seite schienen neu ermannte Wesen voll Verlangen und Erregung: – mit raschem Schritt – vom glühenden, Triumph strahlenden Blick der Sultana verfolgt – trat er auf die Knieende zu und hob das seidene Schnupftuch, um selbst mit eigener Hand das Amt des Kislar-Aga zu vollziehen und ihr Haupt damit zu bedecken, das Zeichen, daß die Wahl auf sie gefallen, an diesem Abend sein Lager zu theilen.

Da scholl ein schmerzlich gellender Schrei, wie aus zerrissenem Herzen grell durch das Gemach und fesselte seine Hand.

Auf dem Divan lag marmorbleich die schöne Gestalt Mariam's in Ohnmacht.

Während die Frauen mit Nursädih herbei eilten und sich um die Mingrelierin drängten, stand der Sultan einige Augenblicke stumm und unentschlossen, – sein Blick hatte die Geliebte erkannt, [359] – dann legte er die Hand wie sinnend an die Stirn, die Röthe verließ das Antlitz, die leidenschaftliche Gluth der sinnlichen Erregung das Auge, und er wandte sich, ohne weiter einen Blick auf sie zu wagen, von der verführerischen neuen Bereicherung seines Harems und trat zu der um Mariam beschäftigten Gruppe, die ihm scheu Platz machte. Es war, als fühlte die bleiche Odaliske seine Nähe; denn alsbald öffneten sich ihre Augen und ihr Blick wandte sich zärtlich und flehend auf den des Sultans, während sie ihm wie Schutz suchend die Arme entgegenstreckte. Der Großherr beugte sich zu ihr, flüsterte ihr einige Worte zu und legte der Erröthenden das Tuch auf das bleiche Gesicht.

Auf ein Zeichen des Tschannador schlugen sogleich die Silberbecken wieder zusammen, und der Kapu-Agassi umgab mit seinen Verschnittenen alsbald die Glückliche, der sofort ein grüner Feredschi über Kopf und Gestalt geworfen wurde, während der Großherr in Begleitung des Kislar-Aga und der Pagen sich nach der Thür wandte, die in der Seitenwand des Obertheils in die Schlafgemächer des Harems führt. Aber hier warf sich ihm die Favoritin, von den beiden andern Kadinen assistirt, in den Weg, wuthblitzenden Auges, die Adern der Stirn vor Zorn geschwollen.

»Haif! Will der Padischah ein Mann sein, und thut seinen Frauen die Schmach an, daß er auf das Geschrei einer Kuh von Kreuzträgerin hört? Mashallahl Er ist ein Lügner in seinen eigenen Bart und ein Weib in seinem Hause, nicht besser als dies Thier von einem Halbmann!« wobei sie verächtlich mit der Fläche der rechten Hand sich auf den linken Ellbogen schlug, das Zeichen der tiefsten Geringschätzung.

»Haif! Haif!« 31 schrieen dazu die andern Weiber, sich um ihre Verfechterin drängend und den Eunuchen die gespreizten Finger in das Gesicht streckend.

Der arme Sultan schien dergleichen Pantoffelauftritte gewöhnt, denn ohne ein Wort zu entgegnen, suchte er stillschweigend durch ein Manöver die barrikadirte Thür zu gewinnen, während der Kislar-Aga und sein Tschannador sich zwischen die wüthende Frau und ihren Herrn warfen. Aber diese Pflichterfüllung sollte ihnen schlecht bekommen, denn die Sultana war eine böse Segnerin und [360] die Schärfe ihrer Nägel so gut, wie die ihrer Zunge im ganzen Serail bekannt und gefürchtet.

»Bah!« schrie die Erbitterte, als der Aga, dessen Gesicht die blutigen Maale der bösen Finger zeigte, unwillkürlich nach dem Handjar im Gürtel griff und die Augen grimmig rollte; »was soll das heißen, Du ägyptisches Vieh? Meinst Du, ich fürchte mich vor einem Manne, der kein Mann ist? Wallah! der schlechteste Knecht ist besser als Du, und ich will dem Grabe Deines Vaters anthun, was ihm gebührt. Ist dies der Bluttrinker 32, oder ist er Deinesgleichen? für was bin ich seine Bujuk-Hanum 33, wenn er meine Sclavin verschmäht? Bana bak, sieh mich an, bin ich bosch, Nichts? Der Padischah ist eine blinde Kuh und seine Aga's sind Esel! Haiwan der, es sind Thiere!«

»Aman! Aman!« 34 schrieen die Weiber. »Allah bila versin!« 35

Die Eunuchen drängten jetzt mit Gewalt die Tobenden zurück, während es dem Sultan gelang, durch die Thür zu entwischen. Sein letztes Wort an den mißhandelten Aga war: »Awret der: Es ist ein Weib! Delhi der: Es sind Tolle!« Der hohe Beamte aber war mit dieser Entschuldigung wenig zufrieden, denn kaum war der Vorhang hinter seinem Gebieter wieder herabgefallen, als er seinem Zorn freien Lauf ließ, nach der Peitsche in seinem Gürtel griff und ohne Unterschied auf die tobenden Frauen losschlug, die alsbald das Feld räumten und sich eilig auf ihre Divans zurückflüchteten.

Mariam war unterdeß von den weißen Eunuchen der Eifersucht der Odalisken entzogen und hinausgeführt worden, um den alten Frauen übergeben zu werden, welche die Schönen für das Lager des Sultans »vorbereiten«, und die Beamten zogen sich nun eilig zurück, im Stillen über die Schwäche ihres Gebieters grollend. Zur wuthkeuchenden Sultana aber, die eben das griechische Mädchen, das ihr nahte, erbittert mit dem Fuße von sich stieß, eilte die Khanum des Sirdars tröstend und berathend herbei.

»Was nun, o Sultana?«

»Fluch über die Christin! Mögen ihre Augen verdorren und [361] meine Thorheit mir Unglück bringen, daß ich sie so lange geschont. Unser Plan ist ein Rauch, bosch! – Die hunderttausend Piaster,« setzte sie flüsternd zur Freundin hinzu, »die mir der Eltschie von Frangistan hat versprechen lassen, sind Wind. Ne apalum! was kann ich thun?«

Die intriguante Gattin des Sirdar sann nach.

»Mashallah!« sagte eine der Kadinen, »ich habe da einen Talisman bei der Moskowitin gefunden, als sie in Schwachheit lag und wir ihr helfen wollten. Was weiß ich? vielleicht ist es der Zauber, den sie gegen den Padischah anwendet.«

Sie brachte den Pergamentstreif zum Vorschein, den sie im Busen der Unglücklichen gefunden.

Die Khanum nahm ihn schnell und überflog die Schrift, da sie die Einzige war, die in der Versammlung lesen konnte.

»Allah kerim! Gott ist groß!« rief sie, »wir haben das Verderben der Moskau in dieser unserer Hand. Ich eile zu Fuad-Effendi, er ist ein schlauer Mann und wird uns rathen!«

Die lebhaft erregte Neugier der Odalisken mußte sich jedoch mit diesen Worten begnügen, denn nach einem kurzen heimlichen Gespräch mit der Sultana, das diese hoch zu erfreuen schien, verließ die Vertraute hastig den Harem. – – –

Kaum zehn Minuten darauf strich ihr Kaïk, von zwei Ruderern getrieben, eilig über die Fluthen des Bosporus und nahm seinen Weg stromaufwärts nach Kura-Tschesme, wo das Landhaus des Sirdars liegt. Anstatt aber dort anzuhalten, befahl sie plötzlich den Ruderern, quer über den Bosporus die für die kleinern Kaïks nicht ganz ungefährliche Fahrt zu machen und nach Kandili am asiatischen Ufer sich zu wenden. Hier hielt der Kaïk am Wasserthor einer einfachen, mehr im europäischen Geschmack erbauten Villa, und die Khanum schickte einen der Kaïkschi's in das Haus mit einer Botschaft für dessen Herrn.

Schon nach wenig Augenblicken erschien derselbe, ein Mann von etwa 30–35 Jahren, großer körperlicher Schönheit und höchst eleganten französischen Manieren. Es war Fuad-Effendi, der junge Staatsmann, der offenbar befähigt und bestimmt ist, in der Geschichte seines Vaterlandes noch eine hervorragende Rolle zu spielen, wie jetzt schon beim Beginn der orientalischen Verwickelung seine Stellung und Thätigkeit von Bedeutung war.

Schon früher, als Fuad seine Erziehung in den Salons von [362] Paris und auf den Missionen nach London, Madrid und Lissabon vollendete, richteten sich die Augen der europäischen Diplomaten auf sein Talent, und als er zuerst, damals Großreferendar des Divans, nach dem Ausbruch der Revolution in Bukarest und der Vertreibung des Fürsten Bibesco im Juni 1848 als Commissarius der Pforte in den Fürstenthümern auftrat, um, unterstützt durch das Besatzungsheer Omer Pascha's, die Fehler Soliman's wieder gut zu machen und zugleich der russischen Einmischung die Wage zu halten, entwickelte sich seine spätere Stellung. Weder den russischen Diplomaten 36, – welche die gleiche Mission erhalten, – noch den russischen Generälen 37 gelang es, mit der eleganten, schlangengleichen Gewandtheit Fuad-Effendi's in die Schranken zu treten, und die Brutalität Mentschikoff's, mit der er später diese Niederlage in Constantinopel selbst rächte, kann die Thatsache nicht verwischen. Von jener Zeit her, in welcher die Khanum den damaligen Muschir 38 begleitete und, da seine Frauen keineswegs die gewöhnliche orientalische Absperrung erlitten, den Großreferendar persönlich kennen lernte, schreibt sich die Verbindung desselben mit Omer Pascha, die indeß nur ein Bündniß zweier ehrgeiziger Gemüther ist, so lange ihre Zwecke zusammengehen.

Als später (1849) Fuad-Effendi als Gesandter nach Petersburg ging, während der Muschir selbst die Verwaltung der Fürstenthümer übernahm, lernte das petersburger Kabinet die volle Gefährlichkeit des jungen Diplomaten kennen, der die Lage seines Vaterlandes und die drohende Suprematie Rußlands sehr wohl zu würdigen verstand, und als später alle Versuche scheiterten, ihn in Constantinopel für die russischen Interessen zu gewinnen, er vielmehr einer der Hauptbeförderer des englischen und französischen Einflusses und zugleich Minister des Auswärtigen wurde, war seine Entfernung aus dem Cabinet eine der ersten Bedingungen, die Fürst Mentschikoff stellte und durchsetzte.

Fuad zog sich bei seinem Rücktritt nach Kandili zurück, wo er nahe genug dem Mittelpunkt der Intrigue war, um täglich in das Spiel eingreifen zu können.

[363] Dies war der Mann, der zu der Khanum an's Ufer trat, worauf diese das Boot verließ und Beide sich abseits eine kurze Zeit besprachen. Dann führte der Effendi die Dame höflich wieder zu ihrem Sitz zurück.

»Sei versichert,« sprach er zum Abschied, »ein Geschäft, das Fuad übernimmt, wird er auch zu Ende führen. Der Ferman soll beim Propheten Deinen Gatten, den Sirdar, nicht an dem Uebergang über die Donau hindern! Morgen erhältst Du Botschaft.«

Während der Kaïk der Dame seinen Weg nach dem europäischen Ufer zurücknahm, gab der frühere Minister der Dienerschaft seine Befehle und ehe zehn Minuten vergingen, flog er in einem vierrudrigen Boot mit der Schnelligkeit des Dampfers durch das Dunkel auf Stambul zu. – – –

Pera und die fränkische Bevölkerung hat zwei öffentliche Vergnügungsorte, wo sie im Freien die Kühle des Abends genießt. Der Eine ist die Promenade am kleinen Campo 39 zwischen Pera und Tershana, eine etwa 200 Schritt lange Art von holpriger Esplanade, 30 Schritt breit, auf der einen Seite durch ein eisernes Gitter von dem Begräbnißplatze geschieden, auf der andern von hohen steinernen Häusern begränzt, in deren Parterre einige Kaffeestuben und Conditoreien sind.

Hierhin wandelt Jahr aus Jahr ein jeden Abend der fränkische Kaufmann, der Fremde, der Beamte, und athmet nach des Tages Arbeit bei einer Tasse Kaffee, einem Glase Eis oder Limonade die erfrischende Abendluft ein. Alle Sprachen Europa's sind hier vertreten. Ueber die Cypressen des den Bergabhang deckenden Campo's hinweg erfaßt das Auge einen im Sternenlicht glitzernden Streifen des goldenen Horns und darüber hinaus das aufsteigende Häusermeer des westlichen Stambuls mit seinen Minarets und Kuppeln und den zahllosen Lichtern. Zur Zeit des Beirams gewährt das einen prachtvollen Anblick am Abend, da die Kuppeln der Moscheen, wie die Rundgänge der schlanken Nadeln gleichen Thürme dann mit Kränzen farbiger Lampen illuminirt sind.

Der andere Vergnügungsort ist ein Garten in der Verlängerung der Perastraße, auf dem Wege zum großen Campo, zwischen Häusern und Mauern versteckt und ziemlich europäisch eingerichtet. Hier findet man gegen ein kleines Entree ein nicht schlechtes Concert[364] von italienischen und deutschen Musikern. Trotz der verhältnißmäßig großen Zahl der Europäer in Pera und Galata ist der Garten doch nur sehr mäßig besucht.

In einer Laube desselben, dem Vortrag der Ouvertüre der Lucia lauschend, saßen drei Männer, in deren Einem wir Doctor Welland wiederfinden. Der Zweite war eine große aristokratische Gestalt von den Manieren eines Weltmannes, etwas Avantürier und gascognirend, aber interessant und überaus gewandt, der seiner Zelt in zwei Welttheilen und in den verschiedensten Verhältnissen vielbekannte BaronOelsner von Montmarquet. Ein ganzes Collier von Orden an seinem Frack unterstützte den etwas zweifelhaften Titel.

Der Dritte schien ein Italiener, obschon er in der Unterhaltung geläufig deutsch sprach, ein herausforderndes, etwas unverschämtes Gesicht, seit 4 bis 5 Jahren in Pera als Banquier und Geschäftsmann ansässig und überall zu finden. Eine breite Narbe am linken Schlaf zeichnete das Antlitz aus.

Mit beiden Personen war der Doctor durch Briefe, die er an sie überbracht, bekannt geworden und in häufigem Verkehr, da sein Leben in Constantinopel bisher ziemlich langweilig und beschäftigungslos gewesen war, eine Muße, die er zum Studium der zahlreichen historischen Merkwürdigkeiten, der türkischen Sprache und der türkischen Sitten benutzte. Er hatte sich zum Eintritt als Arzt bei der Armee in Bulgarien im Seraskiat gemeldet, doch durch allerlei Verzögerungen seine Anstellung bis jetzt hingehalten gesehen.

Das Treiben des Barons war für den Deutschen ziemlich räthselhaft, denn Jener schien mit allen Parteien in Constantinopel aus gleichem Fuß zu verkehren und von allen Vorgängen und Intriguen in der genauesten Kenntniß. Die bedeutenden Geldmittel, über die er offenbar disponirte, vermehrten diesen Einfluß, und selbst Welland hatte sich ihm nicht ganz zu entziehen vermocht; denn, nachdem er den Baron von einem jener leichten Uebel durch seinen ärztlichen Rath befreit hatte, die häufig im Orient sich einstellen und nur durch Vernachlässigung gefährlich werden, hatte der Genesene ihn mit Diensten überhäuft und war sichtbar bemüht, ihn an sich zu fesseln.

Paduani, der Dritte, gehörte als Lombarde zur liberalen Partei und zeigte seine Gesinnung mit einer gewissen Ostentation, die namentlich gegen Oesterreich Partei nahm. Dabei verkehrte [365] er viel mit den Führern, der Flüchtlinge und Emigrirten, die jetzt, von jeder Nation, Constantinopel zu überfüllen und einen ähnlichen Uebermuth an den Tag zu legen begannen, wie dies im Frühjahr und Sommer der Fall gewesen war. Offenbar trug dazu der Bruch des russischen und das Sinken des österreichischen Einflusses bei, während der französische und englische Schutz jetzt allgewaltig waren. Dennoch hatte Welland bald die Beobachtung gewacht, daß man dem Italiener nicht recht zu trauen schien. Da er jedoch mit den Personalverhältnissen in Constantinopel sehr vertraut war, hielt sich der Deutsche, der erhaltenen Instruktion gemäß, in Verbindung mit ihm.

Das Gespräch drehte sich, wie jetzt überall der Fall, im Kreise der großen Tagesfragen. Die Kriegserklärung war am 26. September im großen Rath der Pforte, aus 172 Mitgliedern bestehend, beschlossen worden. Kaiser Nicolaus hatte mit dem österreichischen Kaiser am 26. bis 28. eine Zusammenkunft im Lager von Olmütz gehabt, aus der unter Aegide des österreichischen Premiers ein neues Notenproject hervorgegangen war, das zwar das wiener Kabinet in Paris, London und Wien befürwortete, doch erwies sich die Zeit den Ausgleichungsvorschlägen keineswegs mehr günstig und die Forderungen und Gegenforderungen verwickelten sich immer mehr. Während die drei Monarchen der heiligen Allianz am 3. October noch eine Zusammenkunft in Warschau hielten, erließ der Sultan, von allen Seiten gedrängt, am 4. October – am 1. Muharem nach türkischer Zeitrechnung – ein Manifest an sein Land mit der Kriegserklärung gegen Rußland, und Omer Pascha richtete auf den Befehl der Regierung unterm 6. die Aufforderung an den Fürsten Gortschakoff, den Oberbefehlshaber der russischen Besatzungstruppen, die Fürstenthümer bis zum fünfzehnten Tage zu räumen, widrigenfalls die Feindseligkeiten eröffnet werden würden. Der Fürst erwiderte in sehr gemäßigter Weise, daß er keine Vollmacht habe, Krieg zu führen, Frieden zu schließen oder die Donaufürstenthümer zu räumen.

Während noch immer Friedensvorschläge sich von Constantinopel, Wien, Paris und London her kreuzten und so einer sich im andern aufhob, drangen die Gesandten der Westmächte in den Sultan, die Flotten aus der Besika-Bai in den Bosporus zu berufen, und erlangten endlich nach langem Sträuben des Großherrn am 15. den Ferman dazu. Admiral Dunbas, der Oberbefehlshaber [366] des englischen Geschwaders, hatte zugleich die Anweisung seiner Regierung erhalten, den Admiral in Sebastopol zu benachrichtigen, daß, wenn die russische Flotte ausliefe, um Truppen auf türkisches Gebiet zu bringen, oder irgend einen Akt offener Feindseligkeit gegen die Pforte zu begehen, er den Befehl habe, die Besitzungen des Sultans gegen jeden Angriff zu schützen.

Diese Ankündigung deutete bereits klar auf die Absichten der Westmächte hin, da der türkischen Flotte keineswegs eine Reciprocität auferlegt wurde und türkische Fahrzeuge fortwährend Kriegsmaterial und selbst Zuzüge an die tscherkessischen Küsten schafften.

Kaiser Nicolaus machte noch einen persönlichen Versuch, die deutschen Kabinette für seine Interessen zu gewinnen, und traf zu diesem Ende am 8. October in Saussouci ein, seinen erlauchten Gast und Schwager, den König von Preußen, dahin zurückbegleitend. Es war das letzte Mal, daß der mächtige Kaiser die fremde liebliche Stätte sah, von der er einst die Mutter seiner Kinder geholt hatte. Schon in der Nacht zum 10. trat er wieder die Rückreise nach Petersburg an. Der König von Preußen begleitete ihn – ein treuer Freund! – bis zum stettiner Bahnhof in Berlin – Augenzeugen berichten, daß er mit Thränen dort von dem Kaiser schied. Welche Gefühle mögen beide große Herzen bei jenem Abschied bewegt haben, wenn sie auch nicht ahnen konnten, daß es das letzte Schauen im Leben war! Zwei treue vielgeprüfte und vielbewährte Freunde auf hohen Thronen, die letzte Mahnung des königlichen Paters ehrend – hat nur das Grab ihr Bündniß gebrochen.

Unter dem Vielen, was das preußische Volk KönigFriedrich Wilhelm IV. schuldet, sind gewiß jene Tage in Sanssouci nicht das Kleinste. Dem Freunde, dem Schwager, den historischen Erinnerungen und dem eigenen Herzen gegenüber blieb der preußische König fest bei seinem Entschluß, sein Volk fern zu halten von dem sich bereitenden Kampfe, dessen Veranlassung er für keine gerechte hielt, so lange nicht die unumgängliche Nothwendigkeit ihm das Schwert in die Hand drängen würde. – Wenige wissen es – aber in den Herzen dieser Wenigen ist die Bewunderung desto tiefer eingegraben, – welche Kämpfe in jenen Tagen der König bestand, welche hohen Lockungen dem Hause Hohenzollern wurden und wie schwer der gerechte Sinn Friedrich Wilhelm's damals in die Wage der Völkerschicksale fiel! – Dagegen hat er eben so [367] treu sein Freundeswort gehalten und durch keine Drohung, kein Drängen von der andern Seite sich bewegen lassen, sich den Feinden anzuschließen. Preußens eherne Haltung hat offenbar Rußland gerettet! – –

Bereits am 17. hatten die Türken eine Insel auf der Donau zwischen Kalafat und Widdin besetzt, doch war noch keine Feindseligkeit erfolgt. Omer Pascha rechnete den 24. als den Ablauf der dem Fürsten Gortschakoff gesetzten Frist.

Am 20. beriefen Lord Stratford und Herr de Latour die Flotten nach Constantinopel. In diesem letzten Augenblick machte der österreichische Gesandte, Baron von Bruck, noch einen Versuch und drang auf Aufschub der Feindseligkeiten. Lord Stratford interessirte sich scheinbar dafür und in der That wurde im Divan durch den Einfluß der Friedenspartei der Aufschub um zehn Tage beschlossen und der Ferman an den Sirdar dem Sultan zur Unterzeichnung vorgelegt.

Für Rußland wäre dieser Aufschub von großer Wichtigkeit gewesen, da bei der verhältnißmäßig geringen Zahl des Besatzungsheers in den Fürstenthümern wichtige strategische Operationen und Vorbereitungen noch im Rückstand waren. – –

Während Welland mit Paduani über die am Tage vorher bei dem englischen Gesandten stattgefundene Conferenz der Vertreter der vier Großmächte sich unterhielt, hörte der Baron offenbar zerstreut und mit wichtigen anderen Gedanken beschäftigt der Unterhaltung zu und blickte häufig nach dem Eingang des Gartens. Auch Paduani schien verstimmt und nachdenkend und lenkte mehrmals das Gespräch auf Vorbedeutungen und Ahnungen. »Es ist heute ein Tag unangenehmer Erinnerungen für mich,« sagte er endlich, »und ich habe mich seit dem frühen Morgen mit einer seltsamen Unruhe getragen. Glauben Sie an Ahnungen, Doctor?«

»Im Allgemeinen nicht, – in einzelnen Fällen: Ja! Der Dänenprinz hat Recht, wenn er sagt, es ist Vieles zwischen Himmel und Erde, das wir nicht begreifen können. Ueberdies leben wir ja im Lande der Vorbestimmung und dürfen also an einer Ahnung derselben nicht zweifeln.«

»Ohne Winkelzüge – sagt Ihnen Ihre Erfahrung Ja oder Nein?«

»Ich lernte in Paris einen jungen Engländer kennen, Master Morton, Capitain bei der schottischen Garde. Er ist der jüngere [368] Sohn der berühmten schottischen Familie der Earls von Faulconbridge, in denen das zweite Gesicht seit Jahrhunderten sich vererbt haben soll. Es wiederholte sich auch bei seinem Vater. Im Jahre 1835 gegen Ende Novembers kam Lord Faulconbridge von London nach seinen Besitzungen in Schottland, wo seine Familie, darunter der Sohn, der mir die Thatsache mitgetheilt, ihn bereits erwartete. Als der vierspännige Reisewagen in die breite Ulmenallee einbog, die zum Schloßportal führte, sah der Lord dieses plötzlich mit Fackeln erleuchtet und eine Schaar Männer, welche in tiefer Trauer einen von der inneren Halle aus kommenden Leichenzug zu erwarten schien. Zum Tode erschrocken befahl er zu halten, aber schon war die Vision verflogen. Weder der Postillon noch die Diener hatten Etwas gesehen. Lady Faulconbridge suchte ihrem Gemahl das Ganze auszureden, aber am dritten Tage um die Stunde des Gesichts sank der Lord plötzlich zu Boden, als er sich mit den Seinigen eben zum Diner niederlassen wollte. Ein Nervenschlag hatte ihn getroffen. Capitain Morton war fest überzeugt, daß auch ihm sein Tod vorher verkündet werden würde.«

Paduani hatte den Kopf in die Hand gestützt. »Ihnen, Doctor, Ihnen – Ihre eigenen Erfahrungen?«

Der Arzt sann einige Augenblicke nach. »Zwei Erinnerungen aus meinem Leben sind es, welche mir jene unerklärlichen und doch unleugbaren Fäden nahe gebracht haben, durch welche der Mensch mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen scheint. Ich erzähle sie Ihnen wohl ein ander Mal.«

»Nein, jetzt, ich bitte Sie. Sie möchten sonst keine Zeit mehr dazu haben!«

Welland schaute den Italiener bei den seltsamen Worten aufmerksam an; das Gesicht desselben hatte eine aschbleiche Farbe angenommen, er befand sich offenbar in der größten Aufregung, der er mit aller Mühe Herr zu werden suchte. Der Arzt schüttelte den Kopf, doch folgte er seinem Wunsche.

»Ich war,« erzählte er, »ein junger Mensch von 16 Jahren, und in Breslau auf Schulen. Meine Eltern hatten mich bei einem Gelehrten in Pension gegeben, der in einem frühern Kloster an der Oder wohnte. Die älteste Tochter der Familie, Amalie, war eine Blondine mit herrlichen Locken, so schön, wie ich sie nie wieder im Leben gesehen, ein Madonnengesicht, die Stirn von breiten Goldflechten gleich einem Diadem eingefaßt, das erste und einzige [369] Weib, in das ich wahrhaft verliebt gewesen bin. Es war eine halb kindische Leidenschaft, denn das Mädchen war mehrere Jahre älter als ich und trug den Gram einer unglücklichen Liebe im Herzen. Ein junger interessanter Maler war von ihr durch die Eltern getrennt worden und bald darauf in räthselhafter Weise verschwunden – man glaubte an einen Selbstmord, später erwies sich, daß er im Duell gefallen und von den Secundanten in die Oder geworfen worden war. Ein einziges Andenken war dem Mädchen aus der Zeit ihres Umgangs geblieben, ihr eigenes von dem Geliebten entworfenes aber nicht beendetes Portrait, von dem auffallender Weise nur der Kranz der goldenen Haare vollendet war, während das Gesicht noch in der Scizzirung der ersten Anlage verschwamm. – Ich war etwa ein Jahr im Hause gewesen, als Amalie plötzlich an einer nervösen Krankheit starb, – ich fand sie bei meiner Rückkehr von den Ferien als Leiche im Sarg und war untröstlich. Am Abend vor dem Begräbniß, als ich sie noch ein Mal besuchte, schnitt ich ihr eine der breiten Flechten ihres schönen Haares ab, um dieselbe zum Andenken zu bewahren. Es war Mitternacht, als ich ruhelos bei einem Buch in meinem Zimmer, einer ehemaligen Klosterzelle, saß; hinter mir hing das vorhin beschriebene Bild an der Wand. Zufällig blickte ich vom Buch auf und in den großen Spiegel mir gegenüber. Da sah ich das Portrait sich darin spiegeln, aber – schrecklich! in veränderter Form: das klar ausgeprägte blasse Leichengesicht, wie ich es eben verlassen, dagegen mit kahlem, aller Haare beraubtem Scheitel! Ich hatte die Kraft, mich langsam umzuwenden nach dem Bild an der Wand und – dasselbe Todtengesicht ohne den Lockenschmuck starrte mich an. Mein Haar sträubte sich, ich glaubte eine Mahnung der Todten zu sehen, daß ich einen frevelhaften Raub an ihr begangen; denn selbst ihrem Geliebten hatte sie stets die Gabe ihrer Haare verweigert, aus die sie auffallend hielt. Ohne das Auge von der schrecklichen Erscheinung abwenden zu können, taumelte ich rückwärts zur Thür meines Zimmers und öffnete sie; – drüben über dem Gang hörte ich das Mädchen noch handthieren und rief dasselbe. Sie kam mit Licht, – ich bat sie, noch ein Mal mit mir zur Leiche zu gehen und – legte still die Flechte wieder in den Sarg, wohin sie gehörte. – Sie sehen,« sagte der Doctor nach einer kleinen Pause, »wohin die aufgeregte Phantasie führen kann.«

[370] Der Baron war während der Erzählung aufgestanden und nach dem Eingang des Gartens zu gegangen, wo er mit einem eben Eingetretenen eifrig sprach, der die Kleidung eines jüdischen Handelsmannes trug. Paduani hatte aufmerksam zugehört, doch schien ihn die Erzählung nicht zu befriedigen. »Und die andere, Doctor, die andere?«

»Der zweite Fall, ich muß es gestehen, ist mir selbst unerklärlicherer Natur und beweist mir allen Zweifeln gegenüber die Gabe des zweiten Gesichts bei gewissen Personen. Während meiner Studienzeit besuchte ich von Berlin aus Verwandte in Stendal, einer Stadt in der Nähe von Magdeburg. Eines Abends waren wir in Gesellschaft und man erwähnte einer Dame, die erwartet wurde, und die ich noch nie gesehen, da sie sich fast von allem Umgang zurückgezogen hatte und nur einer nicht auszuschlagenden Einladung diesmal gefolgt war. Es schien mit ihrer Person ein gewisses Geheimniß verknüpft, obschon Niemand recht mit der Sprache heraus wollte, die Meisten aber die Sache verspotteten. Endlich erschien die Dame, eine Frau, bereits im mittleren Alter, wahrscheinlich noch heute lebend, von blassem seinem Aussehen, ohne alles Auffallende, und die Gesellschaft nahm ihren gewöhnlichen Gang. Plötzlich, mein Auge war grade auf sie gerichtet, sah ich die Fremde unruhig und ängstlich werden. Sie versuchte offenbar dies Gefühl mit Gewalt zu unterdrücken, doch schien es ihr nicht möglich, denn sie entfernte sich bald darauf in ein Nebenzimmer und ließ von hier aus um Hut und Mantel bitten. Ich war grade in dem Zimmer anwesend, als Wirth und Wirthin in die Dame, eine Verwandte von ihnen, drangen, zu bleiben, oder ihnen wenigstens den Grund ihres raschen Weggehens zu sagen. Lange weigerte sie sich, endlich sagte sie zitternd und höchst aufgeregt:

›Sie kennen das unglückliche Geschenk, mit dem mich leider die Vorsehung ausgezeichnet und das mir schon so vielen Kummer und so viele Unannehmlichkeiten bereitet hat, daß ich mich lieber aus allen Kreisen zurückgezogen habe. Während ich vorhin unter den Fröhlichen saß, überfiel mich wieder diese schreckliche Gabe des doppelten Gesichts und ich sah ein Mitglied der Gesellschaft als Leiche vor mir auf dem Tische liegen!‹ –

Der Wirth des Hauses, etwas ungläubiger Natur und auch erst seit Kurzem im Ort, suchte ihr die Grille auszureden und lachte gradezu, als die Dame ihm auf sein Drängen endlich einen [371] Herrn, einen lebenskräftigen kerngesunden Hagestolzen von einigen vierzig Jahren als denjenigen bezeichnete, den sie als Leiche gesehen. Die Dame aber war nicht zu bewegen, wieder zur Gesellschaft zurückzukehren und ich bat daher um die Erlaubniß, sie nach Hause führen zu dürfen. Unterwegs suchte ich sie mit gleichgültigen Gesprächen zu zerstreuen, doch blieb sie still und traurig, und nahm an der Hausthür mit Thränen von mir Abschied.

›Sie werden leider erfahren, mein Herr,‹ sagte sie, ›daß ich mich nie täusche. Die traurige Erfahrung hat mich's schon zu oft gelehrt.‹ –

Als ich in die Gesellschaft zurückkehrte, fand ich, daß der Wirth nicht still geschwiegen, sondern von der Prophezeihung gesprochen hatte, und daß man sich allgemein bemühte, darüber zu lachen. Vor Allem war das bezeichnete Opfer der Ungläubigste und Heiterste. Man spielte ein Pfänderspiel und wirklich war bald in der allgemeinen Lust der unangenehme Auftritt vergessen. Da – nach ungefähr zwei Stunden, während ich eben wieder im Nebenzimmer plauderte, hörte ich plötzlich lauten Hilferuf, Gekreisch und Geschrei. Alles stürzte herbei – der Herr, den die Seherin bezeichnet, hatte frisch und gesund noch einen Augenblick vorher auf seinem Stuhl gesessen und sich nach der Gewohnheit Vieler dabei auf den Rückbeinen desselben hin- und hergewiegt, als er plötzlich das Gleichgewicht verlor und mit dem Stuhl hinten überschlug. Man legte eben in der ersten Angst den Körper auf den nämlichen Tisch, den die Dame bezeichnet: – er hatte im Zimmer den Hals gebrochen und war eine Leiche, ehe man ihn aufhob.«

»Ei, Doctor, was erzählen Sie da für Schauergeschichten,« sagte lachend der Baron, der wieder hinzugetreten war, »und ich glaube wahrhaftig, Herr Paduani läßt seine italienische Phantasie davon in Schrecken setzen. Doch kommen Sie einen Augenblick, Freund, ich möchte Sie um eine kleine medicinische Auskunft bitten.«

Er nahm den Arm des Doctors und führte ihn, offenbar sehr aufgeräumt durch eine empfangene Nachricht, in einem Spaziergang durch den Garten.

»Sie haben bereits von der infamen Sitte in diesem Lande gehört,« sagte er nach einem kurzen Bedenken, »den Lebenskeim oft im Mutterschooß zu tödten. Das geschieht nicht blos durch eigenes Verbrechen, sondern häufig auch durch fremde Bosheit. [372] Ist es möglich, in einem solchen Falle den Folgen des Verbrechens zu begegnen, sie aufzuheben und das Opfer wieder zur erhabenen Bestimmung des Weibes zu befähigen?«

»Die Angaben sind sehr allgemein,« sagte ernst der Arzt; »zunächst müßte man wissen, welche höllischen Mittel hier angewendet sind. Es würde nöthig sein, die Kranke zu sehen.«

»Das geht nicht,« erwiderte der Baron ziemlich barsch; »auch ist hier von keiner Kranken die Rede. Ich frage Sie blos, ob es in dieser Beziehung Gegengifte giebt? Im Orient, müssen Sie wissen, ist man Meister in der Giftmischerei, und unsere Haremsdamen könnten den Borgia's Etwas zu rathen aufgeben.«

»Die Natur ist unerschöpflich, Herr Baron,« sagte Welland, etwas verletzt von dem ungewohnten Ton, »und sie reproducirt ewig in ihren geheimnißvollen Werkstätten, deren wunderbarste der menschliche Körper ist. Die Erfahrung lehrt, daß selbst jene Unglücklichen, die in den Höhlen des Lasters sich feil bieten und bei denen jeder Keim der Mutterkraft längst erstickt scheint, bei geordnetem Leben mit der Zeit dieselbe wiedergewinnen. Ich glaube, daß die Zeit allein heilen kann – ein Gegengift aber ist nicht möglich, wenn man das Gift selbst nicht kennt. Ich würde mich nicht entschließen, ein solches zu geben, wenn ich nicht mindestens vorher die Person gesehen habe.«

»Das ist nicht möglich, ich wiederhole es.« Seine Stirn faltete sich mißmüthig. »Man muß sie aufgeben und auf andere Mittel denken,« murmelte er und reichte dem Arzt die Hand. »Leben Sie wohl, Doctor; ich habe eine Nachricht bekommen, die mir noch einige Geschäfte auflegt. Ich hoffe, wir sehen uns morgen. Bringen Sie den Italiener nach Hause, der Mann hat heute ein seltsames Wesen an sich.«

Damit schied er.

Als Welland zu der einsamen Laube zurückkehrte, fand er den Banquier mit starren Blicken vor sich hin in die Luft stierend, zuweilen mit der Hand wieder die Augen bedeckend, als wolle er einer äußern Erscheinung entfliehen.

»Sie hatten Recht, Doctor, mit Ihrer ersten Geschichte,« sagte er fröstelnd; »alle diese Bilder sind mir ein Spiel der aufgeregten Phantasie. – Und doch sehe ich ihn in diesem Augenblick so deutlich vor mir stehen, – schauen Sie,« er wies in die leere Luft, »mit dem ausgelaufenen Auge, wo die Kugel in den[373] Schädel gedrungen ist, und den zwei blutigen Wunden in der Brust – gerade wie sie ihn aus dem Glacis zur Morgue gebracht haben!«

Er bedeckte schaudernd wieder die Augen mit der Hand.

»Wen sehen Sie denn dort?« fragte forschend der Arzt.

»Wen? – wen anders als den Capitano Blum, den deutschen Revolutionsmann, von dem sie thörichter Weise sagen, daß ich ihn im Gefängniß verrathen hätte. Die Narren! als ob ich damals in Wien gewesen wäre. Ich heiße doch Paduani und nicht ...«

Er ermannte sich.

»Ich rede irre, Doctor, ich glaube, ich bekomme ein Fieber und werde Sie morgen um Ihren Rath bitten müssen.«

»Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen? ich werde Sie begleiten.«

»Nein, Signor, lassen Sie uns in frischer Luft bleiben, ich fühle, mir wird schon besser, es war ein böser Anfall, dem ich manchmal unterworfen bin und ich menge da tolles Zeug zusammen; achten Sie nicht darauf.«

In der That schien er sich zum Erstaunen des Arztes auch ganz wieder zu erholen, erwähnte mit keiner Sylbe mehr der wüsten Gedanken und nahm das frühere Gespräch über die politischen Ereignisse wieder auf. Nur schien er den Heimweg so lange als möglich zu verzögern, und Mitternacht war bereits nahe und der Garten längst menschenleer, als sie auf Welland's Erklärung, daß er nun die Ruhe suchen wolle, sich auf den Weg machten. Beide trugen die in Constantinopel nach Eintritt der Dunkelheit vorgeschriebene kleine Papierlaterne, da eine öffentliche Beleuchtung nicht existirt, und scheuchten auf ihrem, bis in die Nähe des englischen Gesandtschaftshotels zusammenführenden Wege häufig jene eigenthümlichen Straßenbewohner, die zahllosen Hunde, auf, die auf allen Straßen Constantinopels bei Tage und bei Nacht ihr Lager halten und die Sanitäts- und Reinigungspolizei der türkischen Hauptstadt bilden.

Paduani war jetzt ganz verändert und spottete selbst über seine frühere Erregung.

»Wissen Sie,« sagte er lachend zu Welland, während sie an dem Kreuzwege standen, der sie trennte, »was vorhin mir den tollen Spuk durch den Kopf jagte? Eine dumme Prophezeihung. Als ich heute Morgen eines Geschäftes wegen in St. Demetri [374] war, begegnete mir auf dem Campo eine alte bulgarische Zigeunerin und bettelte mich an. Ich hatte zufällig keine kleine Münze bei mir und wies sie etwas barsch ab. Da hob sie drohend ihre Krücke und schrie mir nach, Azraël, der Engel des Todes, wie die Moslems sagen, halte bereits seine Fittiche über mir und ehe der Tag um sei, werde ich Niemandem mehr eine Gabe reichen. Der Tag ist vorbei und – auf Wiedersehen morgen!«

Er reichte ihm die Hand und bog trällernd in die Seitenstraße, in der sein Haus sich befand. Welland, der in einer Pension an der Perastraße seine Wohnung aufgeschlagen hatte, setzte seinen Weg ruhig fort, doch war er noch keine zweihundert Schritt gegangen, als er plötzlich einen entfernten Hilferuf zu hören glaubte. Er hielt inne – ein zweiter lauterer Ruf erscholl und ließ ihm über die Richtung keinen Zweifel: er kam aus der Gegend, in der Paduani's Wohnung lag. Eilig – im Laufe die lästige Laterne von sich werfend – flog er zurück und rief nach der nicht sehr entfernt einquartierten türkischen Schaarwache. Am Eingang der Gasse, die zu Paduani's Haus führte und die er im Fluge erreicht hatte, kamen in vollem Rennen ihm zwei dunkle Gestalten entgegen. Er rief ihnen sein Halt zu, doch achtlos sprang der Erste an ihm vorüber, dem Zweiten warf er sich in den Weg und hielt ihn mit beiden Armen fest. »Diavolo!« fluchte eine wilde Stimme und eine riesige Kraft warf ihn zu Boden. Dennoch hielt er fest und klammerte sich, laut nach Hilfe rufend, an den Fremden. Die Klinge eines Dolches blitzte im Mondlicht hoch geschwungen über ihm und ehe er selbst zu einer Waffe greifen konnte, glaubte er sie niederfahren zu sehen auf seine unbeschützte Brust – da warf sich ein dunkler Körper zwischen ihn und die morddrohende Faust, eine Hand faßte dieselbe und rang mit ihr um die Waffe, während eine jugendliche Stimme neben ihm den Hilferuf schreiend wiederholte. Der Mörder, eine kräftige Gestalt, riß den Arm los, stieß den unbekannten Helfer zur Seite und sprang an der Gruppe der herbeikommenden Schaarwache vorüber, deren schwere eisenbeschlagene Stöcke auf dem Steinpflaster rasselten. Ein Pistolenschuß knallte hinter ihm drein, aber die Kugel schlug neben ihm hin in die Häuserwand und er setzte unbehindert seine Flucht fort, alsbald in den Quergäßchen, die nach Tophana hinunter führen, verschwindend.

[375] Unterdeß richtete der fremde Retter den Deutschen empor, – die Laternen der herbeieilenden Wache erhellten die Scene.

»Gregor?!«

»Welland?!«

Vor ihm stand Caraiskakis mit dem KnabenMauro, die so seltsam der Zufall zu seinen Rettern gemacht hatte. Ein nahes Stöhnen und Wimmern verhinderte jedoch alle Fragen und Erörterungen, Alle eilten die Straße hinauf, und vor Paduani's Thür – den Schlüssel zum Oeffnen in der Hand, – auf der eigenen Schwelle im Todeskampf sich windend, fanden sie den blutigen Körper des Italieners von fünf Dolchstichen durchbohrt 40. – –

Es war spät in der Nacht, als Welland mit den wiedergefundenen Freuden das Haus des Ermordeten verließ, nachdem alle Bemühungen zu dessen Rettung sich vergeblich gezeigt hatten.


Wenn man von der Perastraße am russischen Gesandtschaftshotel vorüber den Weg nach Tophana zur Moschee Kilidsch-Ali-Pascha und zur Kanonengießerei treppenartig hinuntersteigt, findet man rechts nach den belebten Theilen von Galata hin eine Menge wirrer einsamer Quergäßchen, deren Aussehen schon keineswegs sehr viel Sicherheit verspricht.

Hier befindet sich der berüchtigtste Schlupfwinkel aller Räuber und Mörder von ganz Constantinopel, das Malthesergäßchen, das Hauptquartier des Auswurfs aller Nationen, der hier ungestört und sicher sein Wesen treibt; denn nach Dunkelwerden wagt sich kein ehrlicher Mensch mehr in diese Umgebung und die türkische Polizei hält höchstens ein Mal, wenn der Gesandte einer großen Macht wegen vorgefallener Räubereien oder Mordthaten an Unterthanen derselben Lärm erhebt, eine Razzia, die gewöhnlich zu Nichts führt, als daß ein oder der andere gewöhnlich unschuldige Vagabond aufgegriffen und einen Kopf kürzer gemacht wird.

Zur Zeit unserer Erzählung war die Unsicherheit in Constantinopel auffallend im Wachsen, was offenbar mit dem Zusammenströmen der Ausgestoßenen aus allen Himmelsgegenden zusammenhing, die bei den Kriegsereignissen entweder eine Beschäftigung oder eine Gelegenheit zu Raub und Plünderung zu finden hofften. Die Kathegorieen, in die sich diese Gesellschaft verzweifelter Menschen theilte, waren natürlich sehr zahlreich. Von den Führern und Propagandisten der Revolutionen in Frankreich, Italien, Ungarn,[376] Deutschland und Polen, von den Offizieren der Schlachtfelder von Novara, Wien, Waghäusel und Schäßburg, die ehrlichen Dienst im türkischen Heer suchten oder die Zwecke der revolutionairen Propaganda verfolgten, bis zum malthesischen Banditen und dem tunesischen Räuber herab, der um Para's einen Dolchstoß giebt und um wenige Piaster ein Menschenleben mordet. Welche furchtbaren Scenen in diesen Spelunken der Schande und des Verbrechens mit einander wechseln, würde selbst die Feder des Autors der Mysterien von Paris nicht genügend zu schildern vermögen, da der Orient in den Typen des rohen Verbrechens weit über die Metropole der Civilisation hervorragt.

In einen leichten Mantel gehüllt, schritt eine mittelgroße schlanke Männergestalt in den Eingang der verrufenen Gasse; etwa dreißig Schritt hinter ihr folgten zwei Kaïkschi's, kräftige Gestalten, die Faust am Kolben der Pistolen, den Handjar im Gürtel. Der kecke Fremde war noch keine drei Häuser weit in der Gasse vorgeschritten, als rechts und links zwei Männer auf ihn lossprangen und ihn an den Armen faßten. Blanke Messer blitzten im Sternenlicht, rauhbärtige wilde Gesichter starrten ihn grimmig an.

»Dein Geld her, Bursche, oder wir machen Dich kalt!«

»Es ist ein Türke,« sagte prüfend der Zweite. »Soll ich ihn zwischen die Rippen stoßen, Stephano?«

Der Fremde wickelte, ohne ein Zeichen von Furcht, unbefangen die Hand aus den Falten des Mantels.

»Mashallah – nicht so laut, Freunde, meine Begleiter da hinten möchten Euch hören und unrecht verstehen. Die Teufelskerle schneiden einen Kopf ab, ehe Ihr sagen könnt: Kale espera! 41 Auch liebe ich's gern, daß man mir drei Schritt vom Leibe bleibt, die Kleinigkeit da ist nicht angenehm in zu großer Nähe.«

Unter dem Mantel hervor blitzte ein sechsläufiger Revolver; zugleich nahten die Schritte der beiden türkischen Diener und das Waffen-Arsenal in ihren Gürteln klang verdächtig zusammen. Verdutzt und mit einer Art von Respect fuhren die beiden Räuber zurück in das Dunkel der Häuserschatten.

»Ah bon, so lieb' ich's,« sagte der kleine Moslem; »das ist eine respectable Entfernung. Aber lauft nicht fort, Kerls, ich habe mit Euch zu reden und Ihr sollt Euer Goldstück diesmal ehrlicher verdienen, als gewöhnlich. Wo ist die Pension des Griechen Palurgos?«

»Wir wissen nicht, wer Ihr seid,« sagte nach einer Pause die rauhe Stimme eines der Banditen, »und ob man Euch ohne Verrath zu begehen, antworten darf. Gebt erst ein Loosungszeichen.«

»Bestia! – wenn ich einer Deiner Collegen wäre, würde ich nicht so lange mit Dir die Zeit vertrödeln! Kennt Ihr einen Signor Tomaso, den Magyaren?«

[377] »Gewiß!«

»Wohl! den muß ich sprechen, ich habe Geschäfte für ihn, und wenn ich ihn recht kenne, wird er's Euch schwerlich danken, daß Ihr mich unnütz hier aufhaltet. Bismillah! macht, voran oder ich suche den Weg allein.«

Die beiden Griechen krauten sich verlegen in den Haaren – das moralische Uebergewicht des Fremden hatte sie besiegt.

»Nun wohl, Effendi, auf Eine Gefahr!«

Sie gingen vor ihm her eine kurze Strecke, dann bogen sie in einen der kaum zwei Ellen breiten Durchgänge und blieben an einer Mauer stehen.

»Aber Ihr müßt allein kommen, Eure Sclaven dürfen nicht mit.«

»Wohl. Sie bleiben hier, doch Einer von Euch bei ihnen, theils um sie vor unnützem Angriff zu bewahren, theils als Bürgschaft für mich. Euer Lohn wird verdoppelt werden, wenn ich unbelästigt zurückkehre.«

Die Banditen besprachen sich einige Augenblicke, dann willigte der Eine in den Vorschlag, und der Osmanli sagte seinen beiden stummen Begleitern einige Worte auf Arabisch, worauf er seinem Führer andeutete, voran zu gehen.

Der Bandit klopfte vier Mal in eigenthümlicher Weise mit dem Griff seines Dolches an die verschlossene Thür, worauf diese sich öffnete und Beide in den Hof traten. Im matten Schein einer Laterne bemerkte der Fremde, daß ein griechischer Knabe die Pforte geöffnet hatte und hinter ihnen sorgsam wieder schloß, er hatte jedoch keine Zeit zu weitern Betrachtungen, denn sein Führer schritt voran nach dem Hause, aus dem ein wüster Lärmen ihm entgegen scholl, und öffnete die Thür, die sofort in ein großes Gemach führte. Die Scene, die sich hier den Blicken des kühnen Orientalen bot, war eine Orgie der schrecklichsten Art. Rings umher auf schmuzigen breiten Divans lag und saß eine Gesellschaft, die würdig gewesen wäre, die Hölle auszustaffiren, Schwarze und Weiße, Renegaten, Maltheser, Griechen, Italiener, in dem buntesten reichen oder zerlumpten Costüm, Alle bewaffnet, – theils spielend mit schmuzigen Karten, das blanke Messer gleich neben sich an den Boden geheftet, zum Angriff und zur Vertheidigung bei entstehendem Zank, oder das Moro 42 haltend, – theils träg dahingestreckt, Kaffee oder Rakih 43 und andere hitzige Getränke schlürfend, plaudernd, schwörend, Zoten reißend mit zwei jüdischen Mädchen, dem Auswurf der eklen Höhle. Dazwischen fuhr der griechische Wirth umher, mit Hilfe eines größern Knabens die lärmenden Wünsche seiner Kunden befriedigend. Die einzelnen Gruppen zu mustern, blieb dem Effendi keine Zeit, denn die meisten Inhaber des Gemachs fuhren empor, als sie einen in europäischer Weise gut gekleideten Türken eintreten sahen, der ihnen Allen fremd war; [378] einige Worte des Führers beruhigten sie jedoch und sie setzten achtlos die unterbrochene Beschäftigung fort.

»Signor Tomaso, ist er zu sprechen?«

Der Kahvedschi 44 wies dienstfertig auf eine Stiege, die nach dem obern Gemach führte.

»Wollen Excellenza belieben, hier hinauf zu spazieren? der General ist in seinem Zimmer.«

Der Moslem stieg die Treppe hinauf, öffnete am Ende derselben eine Thür und trat in das Gemach.

Zwei Personen saßen darin, in Wolken von Tabacksdampf gehüllt, ein etwa fünfzigjähriger Mann von mittelhohem Wuchs und militairischer Haltung, häufig den ergrauenden langen Schnurrbart von ungarischer Form streichend. Den magyarischen Thyus zeigte auch das Gesicht, die gebogene schmale Nase, die breiten Stirnknochen und das scharfe blitzende Auge, in dem etwas Finsteres, Herrisches lag. Der Zweite war ein jüngerer Mann in eleganter französischer Kleidung, mit Papieren und Briefschreiben eifrig beschäftigt.

»Mon dieu – der Minister!«

»Ah sieh, Herr Dechambeau,« sagteFuad – denn dieser war der Eintretende – mit leichtem Spott zu dem aufspringenden jüngern Mann, »lassen Sie sich nicht stören in Ihrer Erholung von den anstrengenden Arbeiten der Redaction. Sie haben ja gestern einen vorzüglichen Artikel im Spectateur geliefert. Ich kam blos, um meinen Freund, den General, zu besuchen, der auch so stark beschäftigt scheint, daß er für seine alten Bekannten keine Zeit mehr übrig hat. Wenigstens ist er seit länger als einem Monat nicht bei mir gewesen, und ich kann doch nicht glauben, daß meine gegenwärtige Entfernung aus dem Divan die Ursache sein sollte.«

Der Militair hatte sich erhoben und dem Ankommenden die Hand gereicht. »Das wissen Sie besser, Hoheit 45. Sie haben mich damals in der Walachei vom Strick gerettet, der mir sicher bei den Oesterreichern geworden wäre, und dergleichen vergißt man ohne Noth nicht, wenn man auch Revolutionair von Profession ist. Ich hätte jedoch sicher morgen oder übermorgen Ihnen meinen Besuch gemacht, da ich, aufrichtig gestanden, Ihres Einflusses für einige Anstellungen von Schützlingen in der Donau-Armee bedarf.«

»Er steht Ihnen zu Diensten, General,« sagte der frühere Minister höflich. »Sie wissen, wir müssen nur die Form wahren, da wir in der Flüchtlingsfrage gegen den wiener Hof Verpflichtungen eingegangen sind und uns trotz der englischen und französischen Zusicherungen Oesterreich nicht auf den Hals laden mögen. Uebrigens komme auch ich nicht ohne Absicht in diese abscheuliche Mördergrube, wohin Sie sich einmal incognito einquartiert haben. [379] Ich – –« sagte er mit einem leichten Zögern, »bedarf Ihrer Hilfe zu einem geheimen und schleunigen Dienst.«

»Geniren Sie sich nicht, Hoheit – Herr Dechambeau ist mit meinen Angelegenheiten vollkommen vertraut.«

»Also zur Sache,« sagte der Moslem, der sich auf den Divan niedergelassen. »Sie haben wahrscheinlich schon gehört, daß gestern im Divan der Aufschub der Feindseligkeiten beschlossen worden ist. Der Befehl dazu wird spätestens morgen früh nach Schumla und Rustschuk abgehen.«

Der General sah ihn aufmerksam und fragend an.

»Der Tatar mit dem Ferman darf nicht ankommen, mindestens nicht vor dem 25. Der Sirdar hat seine Instruktionen und die Eröffnung der Feindseligkeiten darf unter keinen Umständen verhindert werden.«

»Ich verstehe, aber wie soll ich das hindern?«

»Sie haben geeignete Leute genug zur Disposition. Einer oder Zwei müssen den Tataren aufhalten und ihm Ferman und Paß mit Gewalt abnehmen. Inshallah, was kommt es auf so ein Thier an, wo so viel auf dem Spiel steht! Hier ist Gold, fünfzig Ghazi's 46 für den Mann; eben so viel erhält er, wenn er den Ferman bringt.«

»Aber wird die Sache nicht vieles Aufsehen machen?«

»Die Ordre soll auch keinesweges unterschlagen werden, schon um der Einmischung der Gesandten willen nicht, sie soll nur zu spät kommen. Am zweiten Morgen sendet man dann einen andern vertrauten Boten mit Ferman und Paß in Stelle des Beseitigten ab. Haben Sie die passenden Männer zur Stelle? – ich werde sie in meinem Boot noch diese Nacht bis Kütschük-Tschekmedgeh bringen lassen, wo die beiden Straßen nach Adrianopel sich theilen, damit wir keine Vorsicht versäumen. Dort müssen die Leute sich in Hinterhalt legen und warten; ich denke, der Bote wird erst zwei Stunden nach Sonnenaufgang vorüber kommen, doch muß man auf der Wacht sein, unsere Gegner sind thätig und schlau und werden sicher einen zuverlässigen entschlossenen Mann senden.«

Der General sann nach. – »Ich wüßte im Augenblick kaum, wem ich als zuverlässig den Auftrag anvertrauen könnte!«

Der Journalist, der bisher schweigend zugehört, wandte sich zu ihm. – »Sta Lucia,« sagte er, »er weicht nie von seiner Aufgabe.«

»Ja, aber Sie wissen – –«

Ein Lärmen im untern Gemach unterbrach ihn. Die Treppe herauf stürmte ein schwerer Männertritt, und ehe weiter ein Wort gesprochen, stand der Ebengenannte in der Thür. Er schien erhitzt, athemlos von einem raschen Lauf, seine Kleidung war in Unordnung und wie Hände und Gesicht mit Blut bespritzt.

»Was ist geschehen?«

[380] Der Bandit trat langsam bis zu dem Tisch vor und stieß mit gewaltiger Kraft den Dolch, den er in der Faust hielt, dicht vor dem General in die Platte, daß die breite Klinge fast zwei Zoll tief in das Holz fuhr. – »Der Schuft wird den 9. November 47 nicht mehr sehen! Ich wollte zwar warten bis zum Jahrestage seines Verraths, aber die Gelegenheit war heute günstig. Doch muß ich mit Hassan dem Arnauten für einige Tage fort, General, man hat uns dabei überrascht und die türkischen Hunde waren hart auf meinen Fersen.«

»Ein Verräther verdient den Tod,« sagte der General ernst, »und Dieser war ein doppelter, der sein Spiel lange genug mit uns getrieben. – Es trifft sich glücklich, daß ich Euch sogleich entfernen kann. Der Gefährte dieses Mannes kann, wenn es Euch genehm, Effendi, sogar den Courierritt nach Schumla machen. Er diente früher als Tatar bei der englischen Gesandtschaft und mußte gewisser Vorgänge wegen verschwinden.«

Der Minister, der mit Interesse den Banditen betrachtet hatte, nickte zustimmend, und nachdem Hassan in das obere Gemach gerufen war, wurde der Auftrag den Beiden kurz auseinander gesetzt. Der Kaïk des Effendi mit den vier Ruderern sollte sie sofort um die Spitze des Schlosses der sieben Thürme bringen bis in die Bucht von Kütschük-Tschekmedgeh, an deren Ufer die Straße nach Adrianopel vorüberläuft. Am Nachmittag, zu einer bestimmten Stunde, sollte der Effendi oder ein Vertrauter mit dem nöthigen Gelde an dem Ufer des Lykus vor dem Thore von Adrianopel (Edrene-Kapussi) auf den Boten harren, der Nachricht über den Erfolg des Unternehmens und womöglich den Ferman zurückbringen würde.

Die Verhandlungen waren rasch geschlossen, und nachdem die Banditen das Aufgeld in Empfang genommen, verließen sie mit dem Minister zugleich die Spelunke und eilten zu dem harrenden Kaïk. Derselbe setzte seinen Herrn in der Nähe des Serails in Stambul an's Land, um sein Haus in der Stadt zu erreichen, und dann, von acht kräftigen Armen getrieben, seinen Weg entlang der Seeseite fort. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es mochte gegen vier Uhr Morgens sein, als der Teppichvorhang vor der Thür des innern Schlafgemachs des Großherrn ein Geringes zurückgeschlagen wurde und das schöne Haupt der Odaliske Mariam in der Oeffnung erschien. Ihr Auge schaute forschend umher, von den beiden Verschnittenen, welche, den entblößten Handjar in der Faust, auf der Schwelle des Gemachs schliefen, nach dem Divan gegenüber, auf dem es Nursädih ruhend erblickte. Ein leiser Ruf erweckte dieselbe und brachte sie vorsichtig herbei. Die Herrin reichte ihr ein in einen seidenen Beutel gehülltes Papier und eine Börse mit Gold.

[381] »Jussuf, Dein Bruder, möge sofort den Fuß in den Bügel setzen und nicht ruhen, bis er dies in die Hände des Sirdars gelegt hat. Der Bujurulteh 48 ist unnöthig, seine Erlangung würde nur die Abreise verzögern und gefährlich machen; in dem Beutel ist Gold genug, um überall Pferde zu kaufen. Geh' und – der Gott, zu dem wir Alle beten, begleite Dich und ihn!«

Der Vorhang fiel zurück. – – – – – – – – –

Da, wo unfern der ersten tiefen Buchtung des Marmorameers in das südliche Ufer der rumelischen Landspitze, auf welcher Constantinopel liegt, – etwa zwei Stunden von den Thoren der Stadt, die Straße nach Adrianopel sich in zwei Richtungen, in die über Silivria und Burgaz, und in jene über Tschataldscha und Wisa, theilt, – windet sich der Weg zwischen einem Felsufer hin, dessen Ausgang ein Gebüsch von Feigen und wilden Myrrthen umgiebt. Hier hatten sich seit etwa einer Stunde die beiden Banditen in Hinterhalt gelebt, ihr Opfer erst im Laufe des Vormittags erwartend, als plötzlich der nahende Galopp eines Pferdes sie aufmerksam machte.

»Diavolo!« sagte der Corse; »ob das am Ende gar schon unser Vogel ist? Leg' Dich quer in den Weg, Hassan, so muß er einen Augenblick halten, und wir können uns wenigstens der Sache versichern.«

»Jawasch 49!« antwortete der Arnaut, indem er die Waffen in seinem Gürtel zur Hand rückte. »Ich bin nicht umsonst Tatar gewesen und kenne einen Kameraden.« Damit legte er sich mitten auf die Straße, während sein Gefährte sich in die Schatten des Gebüsches verbarg.

Einige Augenblicke darauf erklang der Hufschlag näher und der Reiter ritt in den Hohlweg ein.

Hassan fing an, jämmerlich zu stöhnen. Im nächsten Moment sprengte der Reiter heran: es war Jussuf, der Bote Mariam's und des Padischah's.

»Gieb Raum da, daß ich vorüber kann.«

»Aman! Aman! Allah sendet Euch mir zum Beistand, Effendi! Steigt ab und helft mir, ich bin ein armer Mann, der vom Pferde gefallen ist und das Bein gebrochen hat.«

»Inshallah, ich habe keine Zeit. Des Bluttrinkers Zorn sitzt hinter mir, wenn ich nicht eile! Mach' Dich zur Seite!«

»So seid Ihr ein Bote des Padischah?«

»Ich bin sein Tatar! Fort, oder auf Dein Haupt komme es!« Der Mohr gab dem Pferde die Sporen und es setzte zum Sprunge an. Im Nu war der Bandit auf den Beinen und griff ihm in die Zügel, zugleich knallte aus dem Gebüsch ein Pistolenschuß und Jussuf wankte im Sattel.

[382] »Pesevenk 50

Er stürzte schwerfällig zu Boden; während Hassan das Pferd bändigte, warf sich der Corse über den Blutenden und begann ihn zu durchsuchen. Um den Hals gebunden, fand er den seidenen Beutel mit dem wichtigen Dokument, im Gürtel des Tataren die schwere Geldbörse. Der Verwundete versuchte vergebens, das anvertraute Dokument zu vertheidigen, während seine großen Augen in Schmerz und Verzweiflung auf den Mörder rollten.

»Laßt mir den Beutel, es ist ein Brief des Großherrn und nützt Euch Nichts!« stöhnte er.

Sta Lucia lachte. – »Das kannst Du nicht wissen, mein junger Rabe! Eben um den Brief war's uns zu thun. Und nun zum Teufel, wo ist Dein Bujurulteh?«

Der Mohr deutete verneinend an, daß er keinen besitze, dann aber wurde er von dem Blutverlust ohnmächtig. Die Kugel hatte ihn in die linke Seite getroffen.

»Wir haben, was wir brauchen,« sagte der Corse zu seinem Gefährten, »und mehr als das. Was thun wir mit dem Burschen da?«

»Schneid' ihm die Kehle durch und laß ihn liegen.«

»Nein, das geht nicht, man würde ihn finden und das könnte unsere Sache stören. Hilf ihn mir auf's Pferd laden, der schwarze Halunke hat vollkommen genug und wir wollen ihn in die Schlucht am Meer werfen, an der wir vorbeigekommen. Dort liegt er ungestört, bis ihn sein und Dein Prophet erwecken mag.«

Beide legten Hand an und über den Sattel geworfen, führten sie den leblosen Körper eine Strecke in's Land mit sich fort. Erst am Rande der Schlucht, als Sta Lucia ihn in seine nervigen Arme faßte, schien dem Unglücklichen noch ein Mal das Bewußtsein wiederzukehren und seine Augen blitzten finster und drohend den Mörder an, während die Hand sich auf die Wunde preßte. Ein kräftiger Schwung – und hinunter flog der Körper über die Klippen und Beide hörten seinen Fall in's Wasser.

Sta Lucia schwang das verhängnißvolle Papier hoch in der Hand. »Hundert Ghazi's gewonnen, Kamerad, außer diesem Beutel und dem Pferd! Bei allen Teufeln, das war keine schlechte Morgenarbeit. Fort nach Stambul!« – – – – – – –

Am 23. October wurde gegen russische Kriegsfahrzeuge, welche die Donau hinauffuhren, von der türkischen Festung Isakscha unterhalb der Pruthmündung das erste Feuer eröffnet. Die Russen erzwangen mit starkem Verlust die Passage.

Am 25. ging auf Befehl des Sirdars ein türkisches Corps bei Widdin über die Donau und setzte sich in Kalafat fest.

Zu spät traf der Ferman des Padischah am 27. im Hauptquartier ein: der Krieg hatte begonnen!


(Schluß des ersten Theils.)

Fußnoten

1 Die schönste Moschee Constantinopels, im äußern Anblick selbst großartiger und symmetrischer als die Sophia, 1550–56 von dem Baumeister Sinan erbaut.

2 Zum Verkauf auf dem Sclavenmarkt kommen jetzt nur noch, und auch diese nicht öffentlich, die schwarzen Sclavinnen. Der Preis für dieselben wechselt von 1000–6000 Piastern (10–60 Napoleond'ors). Die weißen Sclavinnen, die von den Sclavenhändlern in Circassien und Georgien oft noch als Kinder von den Eltern gekauft werden, haben gewöhnlich schon ihre Bestimmung, ehe sie Constantinopel erreichen, und werden je nach ihrer Schönheit um ihren buhlerischen Talenten oft mit 100,000–120,000 Piastern (1000–1200 Napoleond'ors) bezahlt. Sie werden immer noch in großer Zahl nach Constantinopel gebracht, und da Rußland im Jahre 1842 diesen Menschenhandel aus jenen Ländern verbot und die türkischen Schiffe streng controllirte, wurde der Transport von Trapezunt aus gewöhnlich durch englische Dampfer vermittelt. England verfolgt bekanntlich ausanderen Meeren den Sclavenhandel.

3 Z.B. Chosrew Pascha. Selbst Mehemed Ali Pascha, der Schwager des Sultans, war ein circassischer Sclave.

4 Der Theil des Hauses, in dem die Frauen wohnen; Selamlik: die Wohnung der Männer.

5 Diesen Namen führen die nachbeschriebenen größeren Zimmer in den türkischen Wohnungen.

6 Alem Penah, einer der Titel des Großherrn.

7 Schande, Schande!

8 Moskow, ein Moskowite, Russe.

9 Den 24. October.

10 Zil Allah. Titel des Sultans.

11 Das Oberhaupt der weißen Verschnittenen und der Major Domo des Palastes.

12 Die Welt.

13 Türkischer Courier.

14 Was giebt es?

15 Der Titel Effendi wird selbst Frauen gegeben.

16 Der Secretair des Sultans.

17 Der oberste Geistliche und Richter.

18 Titel des Großveziers. Mustapha gehörte zur Friedenspartei.

19 Tänzerinnen.

20 Sibirien, woher die schönsten Amethyste kommen.

21 Gesandter.

22 Pagen des Sultans.

23 Der Zweite unter den schwarzen Verschnittenen. Kislar-Aga, das Haupt derselben, einer der einflußreichsten Posten.

24 Er ist am 23. April 1823 geboren.

25 Diese werden im Orient jetzt trotz des theuren Preises sehr viel getragen.

26 Der türkische Gruß.

27 2. Juli 1839.

28 Ihr seid willkommen.

29 Mährchenerzählerin.

30 Die Ceremonieen der Ueberreichung, des Kaffee's in den vornehmen Häusern auch bei den Besuchen sind so charakteristisch, daß eine kurze Beschreibung nicht uninteressant sein wird. Nach dem Befehl»Cave Smarla« erscheint der Kafidschi – der Kaffeebereiter – im Untertheil des Zimmers, an der Stufe, auf beiden flachen Händen in der Höhe der Brust ein schmales Präsentirblech haltend, worauf die von einer reichen Decke ganz verhüllten kleinen Kaffeekannen und Tassen stehen. Sofort drängen sich die Diener um ihn, die verhüllende Decke wird abgenommen und dem Kafidschi über Kopf und Schulter gelegt. Wenn jeder Diener – für jeden Gast ein besonderer – mit seinen Tassen in Ordnung ist, drehen sie sich zugleich um und gehen langsamen Schrittes auf die verschiedenen Gäste zu. Die kleinen, kaum wie ein halbes Ei großen Tassen (Flindschan) stehen in silbernen Untertassen (Zarf) von derselben Form, wie die Obertassen, nur am Boden etwas weiter; sie bestehen aus durchbrochener Silberarbeit oder Filigrän, auch aus Gold mit Edelsteinen oder aus seinem Porzellan. Die Diener tragen sie zwischen den Fingerspitzen und dem Daumen mit leicht gebogenem Arme vor sich her. Sind sie nahe an die Gäste hingetreten, so machen sie eine Sekunde Halt, strecken die Arme aus und bringen die Tassen mit einer Art leichten Schwunges in die Mundnähe der Gäste, welche so dieselben hinnehmen können, ohne Gefahr zu laufen, den Inhalt zu vergießen oder die Hand des Domestiken zu berühren. So klein und zerbrechlich auch diese Tassen zu sein scheinen, werden sie doch niemals verschüttet oder zerbrochen. Die Diener gleiten mit so leisen aalgleichen Bewegungen dahin, daß man beim Kaffeepräsentiren, ob gleich lange Pfeifen und die gewundenen Röhren der Nargileh's den Boden bedecken, niemals einen Unfall sieht; und dennoch ist die Schwierigkeit noch durch das Rückwärtsgehen vermehrt, weil die Diener den Gästen immer das Antlitz zukehren müssen. Dem Sultan wird Alles knieend dargeboten. Wenn Her Kaffee überreicht ist, ziehen sich die Diener nach dem untern Theil des Gemachs zurück, wo sie mit gekreuzten Armen stehen bleiben und jeder die Tasse, die er präsentirt hat, beobachtet, bis er sie wieder zurücknehmen kann. Alsdann hält, damit nicht die Finger des Dieners berührt werden, der Gast die Tasse in der Unterschaale vor sich, der Diener hält eine offene Hand darunter, legt dann die andere aus den Rand der Tasse, der Gast läßt los und der Diener zieht sich rückwärts zurück.

31 Schande! Schande!

32 Titel des Sultans.

33 Die erste Frau.

34 Jammer! Jammer!

35 Gott sende ihnen Unglück.

36 General Du-Hamel und Herr von Kotzebne.

37 Das russische Besatzungscorps wurde damals vom General-Adjutanten General Lüders commandirt.

38 Ein Titel, etwa wie Geheimer Rath. Omer erhielt ihn nach seiner Unterdrückung des Aufstandes im Libanon.

39 Campo santo, Begräbnißplatz.

40 Der Mord Paduani's ist historisch, wie – wir wiederholen es – fast alle Scenen dieses Romans wenigstens ihre historische Basis haben.

41 Neugriechisch: Guten Abend!

42 Das bekannte italienische Fingerspiel.

43 Branntwein.

44 Kaffewirth.

45 Titel, den man höflicher Weise den Pascha's giebt.