[90] An das Rosenmädchen zu Lichstedt 1

Den 4ten Juli 1772.


Mädchen! in der kleinen stillen Hütte,
Wo die Unschuld und die alte Sitte
Ganz allein dich groß gezogen hat;
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Oder in dem ländlich wilden Garten,
Wo die Rosen heute dich erwarten,
Sieh! da sucht, aus einer fremden Stadt,
Dich des Unbekannten Blatt.
Der es schicket, hat dich nie gesehen,
Weiß nicht, wie viel Reitze dich erhöhen?
Deinen Namen selber weiß er nicht.
Wie viel andre Mädchen dich beneiden?
Wie viel Jüngling' heut' sich besser kleiden,
Weil sich jeder einst dein Ja! verspricht?
Nach dem allen fragt' er nicht.
Nur daß dir ein Herz im Busen schläget,
Schöner, als es oft ein Fräulein träget
Unter einem Orden auf der Brust;
Daß du zwar, an Kunst in deinen Mienen,
Hundert Damen, aber unter ihnen
Keiner in der Unschuld weichen mußt,
Dieses hat er nur gewußt.
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Auf! verlaß, du taubenfrommes Mädchen,
Heut' einmal dein bunt gemaltes Rädchen,
Deine Lämmer weid' ein andrer heut.
Sieh, das Dorf pocht früh an deine Hütte,
Mit verstecktem Kranz' in seiner Mitte,
Dich mit ungestümer Fröhlichkeit
Zu begleiten schon bereit.
Sieh, du Traute, um dich her, wie heute
Jeder Jüngling seinen Vordermann, zur Seite,
Um von dir gesehn zu werden, schiebt;
Deine Schulgespielen nach dir blicken,
Freundlich mit den Köpfen nach dir nicken,
Jede stolz es zu verstehen gibt,
Sie auch sey von dir geliebt.
Zwar es wartet dein kein goldner Wagen,
Dich zu deinem Krönungsfest' zu tragen,
Aber auf den Schultern trägt man dich.
Keiner fühlt, daß sich der Platz verenget,
Keiner merkt, daß ihn ein andrer dränget,
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Denn ein jeder selber dränget sich
Immer mehr heran an dich.
Geh hinein zu Gottes Heiligthume,
Tritt so schön erröthend, wie die Blume,
Die dich krönen soll, an den Altar.
Engel, die begierig um dich stehen,
Und dein Herz in deiner Miene sehen,
Preisen glücklich den aus ihrer Schaar,
Der bisher dein Schutzgeist war.
O wie schön bist du in diesem Kranze!
Eine Heilige im Sternenglanze
Würde selbst dich mit Vergnügen sehn.
Sieh! aus eines guten Jünglings Blicke
Spricht der Wunsch: »Ach! würde mir's vom Glücke,
Neben ihr am Traualtar' zu stehn!«
Sage, soll es bald geschehn?
Gib ihm deine Hand, und ziehet Kinder,
Die der gute Stifter einst nicht minder,
Als die Mutter heute, krönen läßt.
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Sag' dem Stifter: Der dieß Lied gesungen,
Kenn' ihn nicht; sey aber tief durchdrungen,
Von des Mannes Tugend, der ein Fest
Für die Unschuld feiern läßt.

Fußnoten

1 Der verstorbene Geheimerath und Kanzler zu Rudolstadt, Herr von Kettelhodt, hat auf seinem GuteLichstedt, zur Belohnung jungfräulicher Tugend, ein Rosenfest, nach dem Muster des zu Salency, gestiftet. Zum Rosenmädchen wird jährlich die Tugendhafteste unter den Jungfrauen des Dorfs ausgewählt, am 4ten Juli in Procession zur Kirche geführt, (welches der Erbprinz von Schwarzburg-Rudolstadt einigemal selbst gethan hat,) vor dem Altare mit Rosen bekränzt, und ihr mit den übrigen jungen Leuten hernach ein Ball gegeben. Sie erhält überdieß 20 Thlr. zum Geschenk.


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TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. An das Rosenmädchen zu Lichstedt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DF2F-1