Auf den Tod einer Nachtigall

an Herrn Naumann.


Singe! Meister starker Lieder,
Singe! Preis der Nachtigallen,
Singe! Liebling meines Freundes,
Die gewohnten Abendlieder.
Siehst du nicht? die Spree wird dunkel,
Und es dient ihr helles Ufer
Keiner Schönen mehr zum Spiegel;
Dennoch kommen sie gepaaret,
Aus Verlangen, dich zu hören,
Oder doch aus Lust zum Schatten.
Siehst du nicht, du Freund des Schattens,
Siehst du nicht die Sonne weichen?
Singe doch! sie geht zur Ruhe;
Singe doch den Stern zu Grabe.
Vogel! nein, bei todten Gräbern
Kannst du deine Lieder sparen.
Nein! du bist kein Leichensänger.
Du beschäm'st mit frohen Tönen
Tausend Opersängerinnen;
Du besingst nur Scherz und Liebe
Und das Volk im stillen Schatten,
Das für neue Leichen sorget.
Soll ich meine Doris holen?
Oder soll mein Freund im Schatten
Eine Schäferinn versönen?
Nachtigall! dann wirst du singen.
Aber wie? du bist so stille.
Schläfst du? oder bist du traurig?
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Denn es regt sich ia kein Flügel.
Freund! du bist noch nicht gestorben.
Hüpfe doch so frei, wie gestern.
Sieh! dort geht dein Herr gepaaret,
Sieh doch! welchen Schatz er führet.
Wilt du denn kein Brautlied singen?
Nachtigall! bald werd' ich schelten.
Hörst du keine Küsse rauschen?
Siehst du keine Zärtlichkeiten?
Keine Boten süsser Freuden?
Keine Zeichen der Verliebten?
Störe sie mit lauten Tönen
In der Reihe des Vergnügens.
Sage, willt du sie nicht stören?
Schweigst du noch? hör auf zu schweigen;
Schlage, daß sie sich erschrekken,
Stärker, wie die Abendglokke.
Hilft kein Bitten? Willt du trotzen?
Vogel! soll ich zornig werden?
Bald wird mich dein Schweigen ärgern.
Warte nur! man soll dich strafen;
Denn dein Herr soll auf mein Bitten
Dich von deiner Gattin trennen.
Höre doch ihr zärtlichs Girren.
Du, der stets die Liebe hörte,
Willt du sie denn ietzt nicht hören?
Doris! komm nur mit der Kerze,
Daß die Dämm'rung sich entferne;
Denn ich muß den Vogel sehen,
Und du sollt ihn zu dir nehmen
Und ihn meinem Freunde bringen,
Daß er seinen Trotz bestrafe.
Vogel! willst du noch nicht singen?
Warte nur! dort kommt die Kerze,
Rette dich noch von der Strafe.
Siehst du? Doris soll dich nehmen.
Nimm den trotzigen Gefang'nen,
Nimm ihn, Doris! bei den Flügeln,
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Und begleit ihn selbst zur Strafe;
Laß ihn – – Doris! welch ein Schrekken!
Siehst du wohl den armen Vogel?
Siehst du wohl? er ist gestorben.
Die betrübte Todtenfarbe
Dekkt den Schnabel und die Augen.
Must er denn so schnell erblassen?
Gestern sang er noch so munter.
Zwölf gelehrte Stimmenkenner
Priesen gestern seine Stimme.
Unter seinen hellen Tönen
Klang kein Ton, wie Trauertöne.
Warum sang er denn nicht traurig?
Wollt er etwa, wie ein Weiser,
Seinem Tod entgegen scherzen?
Ja, er wollt es, dir zu gleichen,
Denn er war ein weiser Vogel,
Und es ist die Art der Weisen,
Daß sie leben, wenn sie können,
Daß sie lachen, wenn sie sterben.
Warum sah' ich ihn nicht sterben?
Seine letzten frohen Töne
Hätt' ich, so wie sie erschallten,
Schnell auf Noten setzen wollen,
Daß du einst mit seinem Liede
Gleichfalls meine Todesstunde
Adeln und besingen könntest;
Daß ich oft auf meiner Flöte,
Nach den Küssen deines Mundes,
Mit den Tönen des Verstorb'nen,
Tod und Gruft verlachen könnte.
Tod! als du den Vogel holtest,
Sprich! scherzt er dir nicht entgegen?
Ja, er war gewohnt zu scherzen.
Er empfand Verdruß und Klagen,
Aber mitten unter Tränen,
Wenn verwais'te Augen trau'rten,
Scherzten dennoch seine Töne,
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Wie sie, wenn die Freude lachte,
Frölich mit darunter scherzten.
O! wie bald, wie sehr, wie sehnend
Wird mein Freund den Vogel missen,
Wenn sich keine frohe Lieder
Unter seine Scherze mischen.
O! wie wird mein Freund sich grämen,
O! wie wird er sich erschrekken,
Wenn er diese Leiche siehet.
Doris! sieh' sie doch, die Leiche,
Kann sie nicht dein Kuß erwekken?
Küß ihn doch, den kleinen Todten,
Gieb ihn her, ich will ihn küssen,
Und dann will ich ihn verbergen,
Daß mein Freund im Klee am Ufer
Mitten unter Scherz und Küssen
Keinen Todesfall erfahre.
O! wie wird mein Freund sich grämen!
Wär ich doch kein Trauerbote!
O! wie wird in ienem Bauer
Die betrübte Gattin trauren!
Doris! komm, ich will sie trösten.
Aber nein! sie mag nur trauren,
Denn ich mögte bei dem Trösten
Auch an unsre Trennung denken;
Und wer würde mich denn trösten?
Engel! werde nur nicht traurig.
Schweig! sonst machen deine Tränen
Den Verlust des Vogels grösser.
Schweig! sonst schätzen deine Tränen
Den Verlust des besten Sängers.
Doris! warlich, dieser Vogel
War der Preis der Nachtigallen,
War ihr bester Virtuose.
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Tausend Opersängerinnen,
Tausend Hälse halber Männer
Sollten ihn zu Grabe singen;
Denn er sang so schön, wie tausend.
Macht Catull den Sperling ewig?
O! es muß ein beßrer Dichter
Diesen Vogel ewig machen.
O! es muß ein beßrer Tröster
Meines Freundes Trauer tilgen.
Broks, der Herold seiner Brüder,
Broks soll ihm ein Grablied singen.

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TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Auf den Tod einer Nachtigall. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DB05-C