Mein Leser

Du hast die freien Lieder, die mein scherzhafter Liebhaber nach der Natur und nach dem Anakreon gedichtet, deines Beifalls werth gehalten. Du hast sie nach kritischer Einsicht gebilliget: mir haben sie aus Zärtlichkeit gegen den Verfasser, und wenn ich sagen darf, aus einer kleinen Eitelkeit gefallen. Die meisten enthalten mein geheimes Lob. Gewisse verräterische Züge malen dir die Doris. Sie muß dir gefallen, so oft dir der Poet gefällt, und du must sie loben, so oft du den Dichter erhebst. Welch ein angenehmes Opfer für ein Frauenzimmer, gelobt zu werden! Ich kan meine Empfindungen nicht verläugnen, und ich statte dir hiermit für dein Lob öffentlichen Dank ab, indem ich dir zugleich noch eine Sammlung von Gedichten eben der Art übergebe. Konte ich wol eine bessere Gelegenheit ergreifen, dir meine Erkenntlichkeit zu bezeigen? 1 Es geschieht so gar wieder Wissen meines Geliebten, daß [61] ich dir diese neue Oden überreiche. Er hat sie meistens zu meinem einsamen Vergnügen gesungen. Bedenke, welche Gefälligkeit gegen dich! Ich setze mich deinetwegen der Gefahr aus, meinen zärtlichen Freund das erste mal zu beleidigen. Er ist in den Krieg gezogen. Ich habe schon dreimal behauptet, daß diese Welt nicht die beste sei, seit dem ich seinen Kuß entbehre. Ach, wie viel Unglükk richtet der Krieg an! Ich würde über seine Entfernung untröstbar seyn, wenn ich nicht zuweilen das Vergnügen hätte, seine Briefe, diese zärtlichen Briefe zu küssen. Er ist noch immer scherzhaft. Er hat mir geschrieben, daß er viele dieser Gesänge in seinem Zelte angestimmet, wenn Kugeln über dasselbe ehrerbietig hinweggeflogen sind, oder Bomben gewütet haben. Wie freundschaftlich haben diese wilden Geschöpfe an mir gehandelt! Zu der Erfindung des Plünderers hat ihm eine Begebenheit in dem Lager bei Lobesitz Anlaß gegeben. Ich habe gezweifelt, ob die betrübten Handlungen der Helden einem scherzhaften Dichter Stoff liefern [62] könten. Ich verwies es daher meinem Geliebten, daß er vor seiner Abreise, an seinen unvergleichlichen Freund, den Herrn von Kleist, schrieb:


Und wenn du tapfer schlägst, so will ich scherzhaft dichten.


Wer kan Feinde sehen, und doch scherzen? Ich besorgte damals, mein verwegner Freund würde zeitig genug gestehen müssen:


Vorm Anblikk ihrer furchtbarn Heere
Floh Scherz und Muse schüchtern hin;

Allein der Krieg hat seiner scherzhaften Muse keinen Zug ihrer lächelnden Minen verrükket, und er hat mir mit iedem Briefe neue Scherze überschikkt. Er verbot mir zugleich sie bekant zu machen. Er nennte sie, mit dem Herrn von Canitz, Ständchen, die er mir ins geheim brächte. Sie gefielen mir nicht weniger als die, welche gedrukkt und von keinem Kenner verachtet sind. Mein Geliebter hat mir oft selbst gesagt, daß mein Geschmakk richtig sei. Können also diese Gedichte von Leserinnen und Kunstrichtern verworfen werden, und hatte ich Ursach seinem Verbote zu gehorchen? Dein Urteil, mein Leser, soll mich strafen oder rechtfertigen.

Du hast Verlangen getragen, den Verfasser der scherzhaften Lieder zu kennen. Hier solte ich also, als an dem bequemsten Ort, sein Bildniß schildern, wie er das meinige geschildert hat. Allein wie leicht könte ihn mein Pinsel verfehlen? Er müste sich selbst malen. Doch ich will dir gestehen, wie ich einmal die Worte eines liebenswürdigen Dichters verändert habe, als ich das Bild meines Freundes einer eifersüchtigen Freundin kennbar machen wolte. Ich sagte zu ihr:


Auf seinen Wangen ist zu schaun
An statt der Jugend-Milch, ein lebhaft männlich Braun,
Den Augen fehlt kein Geist, noch Anstand den Gebehrden,
Er hat, was man gebraucht, von mir geliebt zu werden.

Ja, ich muß diesen vollkommenen Liebhaber lieben, und ich liebte ihn schon, ehe mich das zärtlichste von seinen Gedichten, und sein Kuß, bewegte, mein Herze zu verrathen. Hier ist das Gedicht. Es nöthigt mich ein gnädiger Befehl es nicht zurükk zu behalten:

[63] An Doris

Doris, ia, Du magst mich hassen,
Mich verstossen, mich verlassen,
Wiß, es blutet zwar mein Herz,
Doch, es ändert es kein Schmerz.
Unter meinen edlen Trieben
Ist kein Trieb veränderlich:
Doris! wilst du mich nicht lieben;
O so lieb ich dennoch Dich.
Doris, kanst Du mich verlassen?
Schönste, sprich, sollst Du mich hassen?
Mich, den nichts, als Du, betrübt,
Mich, der Dich so zärtlich liebt?
Mich, der iüngst die Welt noch schätzte,
Weil Du zu der Welt gehörst,
Welchen nichts darinn ergözte,
Wenn Du nicht darinnen wärst.
Deine Weisheit, Deine Tugend
Ubertrift noch Deine Jugend,
Dein holdseeliges Gesicht
Gleicht der schönen Seele nicht.
Rosen blühen auf den Wangen,
Lilien glänzen rund umher:
Doch sie würkten kein Verlangen,
Wenn Dein Geist nicht schöne wär.
Freundlichkeit in allen Minen,
Eifer, iedermann zu dienen,
Edelmut, Verschwiegenheit,
Menschenliebe, Zärtlichkeit;
Jede Tugend ist Dir eigen,
Jede hast Du Dir erwählt,
Und kein Lästrer kan mir zeigen,
Daß Dir auch nur eine fehlt.
[64]
Du gebietest meinen Trieben,
Dich allein kan ich nur lieben.
Tausend nennt man reich und schön,
Und ich mag sie doch nicht sehn.
Keine Schöne, keine Reiche
Ist Dir an Verdiensten gleich:
Wenn ich sie mit Dir vergleiche,
Dann ist keine schön und reich.
Laß mich meinen Kummer sagen!
Wirst Du mich gleich nicht beklagen,
So beklagt ein andrer mich,
Der Dich minder liebt, als ich.
Zeig ihm dieses Tuch voll Zähren,
Das mein Auge voll geweint,
Prüf ihn, Doris, laß Dir schwören,
Ob ers halb so redlich meint.
Sein verklagendes Gewissen
Wird die Treue loben müssen,
Die er zwar mit Nahmen nennt,
Aber die sein Herz nicht kennt.
Glükk und Dich will ich ihm gönnen,
Wenn er nur die Warheit spricht.
Warheit, zwing ihn zu bekennen:
Solche Triebe kenn ich nicht!
Nein, ich kann den Trieb nicht hindern,
Nein, ich kann mein Leid nicht mindern,
Was ich rede, denk und thu,
Setzt mein Herz doch nicht in Ruh.
Canitz rief die schnellen Stunden,
Und verging, wie sie, im Schmerz;
Was sein blutend Herz empfunden,
Das empfindet itzt mein Herz.
Denk an seine Trauerode!
Doris ringt noch mit dem Tode:
[65]
Folge dieser Doris nach,
Sprich, was einst ihr Schatten sprach:
Nur drei Worte darf ich sagen,
Ich weiß, daß du traurig bist.
Folge mir. Vergiß dein Klagen,
Weil dich Doris nicht vergißt.
Säh ich Dich in letzten Zügen
Sterbend auf dem Lager liegen,
Sprächest Du, daß Deine Treu
Mir im Tode sicher sey;
Könnt ich dann wol Abschied nehmen,
Wie erst Haller Abschied nahm?
Nein! Ich würde mich nur grämen,
Denn so stürb ich erst für Gram.
Freunde, Doris läßt mich sterben!
Seht, ich will den Ruhm erwerben,
Den sich iedes Herz erwirbt,
Welches liebt, und liebend stirbt.
Daß man einst von mir noch spreche,
Seht mein Leid und sagt es nach!
Tausend andre Tränenbäche
Würke dieser Tränenbach!
Dichter sollen mich bedauren!
Schönen sollen um mich trauren!
Denn ich weiß, es rührt mein Lied
Jedes zärtliche Gemüth.
Weint bei meinen Trauertönen,
Weint, gerührte Herzen, weint!
Sagt einst: Hier zerfloß in Thränen
Ein Verliebter und ein Freund.
Doris, bist Du zu erweichen;
O so denk an iene Leichen,
Die der treuen Liebe Macht
Vor der Zeit ins Grab gebracht!
[66]
Soll ich mich zu Tode grämen?
Sage ia. Es soll geschehn.
Laß mich nur beim Abschiednehmen
Dich noch einmal freundlich sehn.
Hörst Du, was die Liebe fodert?
Wann einst dis Gebeine modert,
Dann erwache Dein Gehör;
Doch, dann fodert sie nichts mehr.
Ruf einmal bei tausend Zähren
Meine Asche aus der Gruft.
Doch, vielleicht wird sie nicht hören,
Wenn Dein Mund gleich selber ruft.
Aber wenn ich noch im Grabe
Kräfte zum empfinden habe,
Wenn man dort noch sieht und hört,
Wenn mich dort Dein Gram noch stört;
O, was werd ich dann verspüren,
O, wie wird es Dich gereun!
Wie wird mich Dein Jammer rühren,
Wenn ich nicht kan bei Dir seyn.
Sorgen, die das Herz verletzen,
Tränen, die die Wangen netzen,
Nachreu in der zarten Brust,
Seufzer, über den Verlust,
Werden mich erwekken sollen.
Doris, ändre Deinen Sinn,
Dann wirst Du mich lieben wollen,
Wann ich halb verweset bin.
Werd ich Dir mit dürren Beinen,
Künftig in der Nacht erscheinen,
Komm ich als ein Geist zu Dir,
So erschrikk nur nicht vor mir.
[67]
Nein, mein Geist soll Dich nicht quälen,
Wenn er Dich gleich quälen kan!
Wird ihm Ruh im Grabe fehlen,
O so bist Du Schuld daran.
Ach mit tausend edlen Tränen
Wirst Du meiner Lieb erwähnen,
Und zur Lindrung Deiner Noth
Rufst Du wol noch selbst den Tod.
Wünsche Dir kein Sterbebette!
Warte bis der Tod Dich ruft:
Doch, nimm Deine Ruhestädte
Nur nicht weit von meiner Gruft.
Dann werd ich beim Auferstehen
Dich an meiner Seite sehen!
Dann mischt sich, in meiner Brust,
Liebe zu der Himmelslust.
Dann wirst Du mich erst erquikken,
Wann Du nicht mehr irrdisch bist.
Dann wird mich Dein Kuß beglükken,
Wann mich erst ein Engel küßt.
Welcher Donner, welche Freude,
Störet mich in meinem Leide!
Hört den lauten Freudenton,
Seht die Erde zittert schon.
Welten fallen aus der Höhe,
Sterne werden Sonnen gleich.
Dort, wo ich die Schaaren sehe,
Dort entsteht das Himmelreich.
Engel jauchzen in den Lüften,
Menschen steigen aus den Grüften,
Fromme werden schon verklärt,
Und mir wird mein Wunsch gewärt.
[68]
Doris, nun, will ich Dich führen,
Sieh, dort ist Dein Vaterland!
Komm, Du solst den Himmel zieren,
Zier ihn nur an meiner Hand!

Konte ich ihm wol wiederstehen? Malte er mir nicht zu schön sein Leiden ab?

Erlaubt mir nunmehro, geliebte Mitschwestern, daß ich mich mit euch unterhalte. Ihr seid so liederwürdig, als es die Schönen in Athen und Teios waren. Nehmt diese Versicherung statt des Danks an, den ich euch schuldig bin, weil ihr kein Verlangen bezeugt habt, die Lieder, womit euch mein Geliebter ergötzet hat, in Reime übersetzet zu sehn. Ihr habt sie gehöret, ohne dabei den Reichthum eines Reimregisters zu wünschen, und ihr habt dadurch bewiesen, daß der schöne Geschmakk des griechischen Frauenzimmers, welches Anakreon besang, der eurige sei. Wie wenig Ehre würde dasselbe noch ietzo davon haben, wenn es seine Lieder in Reime übersetzet hätte! Die Frau Dacier merkte, als sie diesen Griechen in ihrer Muttersprache unterrichten wolte, wie sehr der bunte Zierrath der Reime, der edlen Einfalt seiner Gedanken schaden würde, und sie lehrte ihn deshalb nur prosaisch sprechen. Die Lieder des Anakreon sind unsern bescheidenen Anzügen gleich, welche wir durch die Vielfältigkeit der Farben, und der Moden verderben würden. Longepierre und viel andere, deren Ubersetzungen mein Geliebter oft getadelt hat, haben sie durch ihre Reime verdorben. Ich könte es nicht verantworten, liebenswürdige Gespielen, wenn ich euch den Anakreon, von dessen Liedern ich mit euch rede, nicht näher kennen lehrte. Die Frau Dacier und mein Geliebter haben mich mit ihm bekant gemacht. Ihr wißt, daß er ihn den artigsten Geist unter den Alten genennet hat. Leset, was ich von ihm weiß.

Teios, eine Stadt in Jonien, war sein Geburtsort, weswegen er oft der Teiische Dichter heißt. Die Frau Dacier gibt ihm fürstliche Vorfahren. Er war glükklich, daß er vor mehr als zwei tausend Jahren zu der Zeit zweener Prinzen lebte, deren Einsicht in die Werke des Geistes so groß war, als ihre Macht. Diese waren Polykrates, welcher zu Samos sanft und glükklich regierte, und Hipparchus, auf den sein Vater die[69] Herrschaft über Athen gebracht hatte. Der Ruhm eines so artigen Dichters drang aus den Schaaren gemeiner Bewunderer, bis in die Versammlungen der feinsten Kenner der Höfe, durch welche er bis zu den Ohren der Fürsten gelangte. Konten sie wol von dem schönen Geiste, der die Zierde ihrer Zeiten war, Nachricht erhalten, ohne aufmerksam zu werden? Hipparchus ließ ein Schiff von funfzig Rudern ausrüsten, welches nach Teios segeln muste, daselbst den Anakreon abzuholen, und ihn nach seiner Residenz Athen zu führen, wo unter dem weisen Beherrscher, der gute Geschmakk herrschte, der den Verfassern witziger Werke Bewunderer zu verschaffen pflegt. Dis ist die Nachricht des Plato, eines Weltweisen, der so wenig lügen kan, als Doris, 2 und sie betrift einen Prinzen, dem die Geschichtschreiber das Lob eines Tugendhaften gegeben haben. Wie vortheilhaft ist dieser Umstand für den Lehrer meines Geliebten! Das Lob des Fürsten von Athen ist das Lob des Anakreon.

Können die Lieblinge ruhmwürdiger Prinzen lasterhaft seyn? Und kan ein Dichter, allein mit der Wissenschaft der Trinklieder und der Liebesbriefe, die Gnade erlauchter Fürsten verdienen? Diese Uberlegung, und die Nachricht, welche von mehr als einem Griechen bestätiget ist, daß Polykrates, der Fürst zu Samos, den Anakreon an seinen Hof gezogen, und ihn auch sogar alsdann um sich gehabt habe, wenn er mit den Abgesandten der Prinzen die Geheimnisse der Völker überleget hat, überzeugt mich völlig, daß die Erfindung scharfsinniger Werke das geringste Verdienst gewesen sei, welches ihm die Gunst der Grossen erworben.

Er hatte die Eigenschaften eines Ministers, wenn ihn sein Prinz zu Rathe zog, und man lobte die Aufführung des artigsten Hofmanns, wenn er sich unter den Fräulein zu Samos befand. Untersuchet die Anmerkungen der Frau Dacier über seine Lieder, wenn ihr wissen wolt, wie fein er mit ihnen getändelt hat. Sie wird euch durch das Lob, das ihr in denselben finden werdet, die Schönheit seiner Scherze empfindlich machen. Er scherzte nicht allein mit den Fräulein, die er eifersüchtig machte, sondern auch mit den Fürsten, in deren Gnade er stand. Es ist aus seinen Liedern zu ersehen, ich will es aber aus einer andern Nachricht[70] beweisen. Polykrates, sein gnädiger Herr, beschenkte ihn einst mit ohngefehr drei tausend Thalern. Er nahm sie an, verwahrte sie einige Tage mit einer verstellten Aengstlichkeit, und trug sie hierauf mit der Mine einer angenommenen Sorglosigkeit zu seinem Wohltäter, und ersuchte denselben ein Geschenk zurükk zu nehmen, welches ihm allzu viel schlaflose Nächte machte. Diejenigen, welche einen Anakreon nicht so gut kennen, als ich, versichern, daß der scherzhafte Grieche dis in Ernst vom Polykrates nicht verlangt habe; Allein, wie sehr irren sie sich nicht! Wie leicht hätte er drei tausend Thaler los werden können, ohne daß er seinem Prinzen die Mühe gemacht hätte, sie wieder anzunehmen! Der Maler, welcher seine Freundin so unvergleichlich abschilderte, als er sie beschrieb, hatte vielmehr verdient. 3 Ich will diese Irrende zurecht weisen. Anakreon scherzte auf die erzälte Art, über die Weltweisen, welche zwar von der Verachtung der Reichtümer predigen, und ihren Schülern eine edle Sorglosigkeit anpreisen, aber selbst ihre Lehren niemals so gut ausüben, als Johann, der muntre Seifensieder. 4 Wie sehr muß nicht dieser Scherz den Polykrates ergötzt haben? Stellt euch einen Hofmann aus eurer Bekantschaft vor, welcher dem Könige drei tausend Thaler zurükk bringt, weil er nicht davor schlafen kan. Ihr müßt verdrießlich seyn, wenn ihr nicht über ihn lacht.

Könt ihr wol den Lästerern glauben, liebenswürdige Mitschwestern, welche sagen, daß dieser Anakreon, den wir, wenn wir nicht undankbar seyn wollen, so hoch schätzen müssen, als ihn die Frau Dacier geschätzt hat, dem Wein und der Liebe tadelhaft ergeben gewesen sei? Schliesset niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben. Ihr werdet euch betriegen; denn sie schreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und solten sie auch dadurch ihre Tugend in Verdacht setzen. Sie characterisiren sich nicht, wie sie sind, sondern wie es die Art der Gedichte erfodert, und sie nehmen das Systema am liebsten an, welches am meisten Gelegenheit giebt, witzig zu seyn. Die matematischen Beweise der Wolfianer verschönern kein Gedicht, und die Weltweisheit des Plato schikkt sich nicht zum Inhalt scherzhafter Lieder. Ich empfehle sie den Dichtern, welche die Gottheit loben.

[71] Anakreon wäre nicht so alt geworden, wenn die Lehrsätze seiner frohen Muse, nicht auf die weiseste Art, die Vorschriften seines Lebens gewesen wären. Er war ein ehrwürdiger Greis von fünf und achzig Jahren, als er mit seinem Tode aufhörte zu scherzen. Er starb vermutlich so, wie die Nachtigall, die mein Geliebter besungen hat:


Tod, als du den Dichter holtest,
Sprich, scherzt er dir nicht entgegen?

Es soll der Kern einer Rosine sein Lebensende verursacht haben, und mein Freund hat mir einen römischen Schriftsteller genennt, welcher es der Gerechtigkeit der Götter zuschreibt, daß der angenehmste Dichter, eines so sanften Todes gestorben sei. Ich nenne einen solchen Tod, einen artigen anakreontischen Tod.

Nun wißt ihr, geliebteste Freundinnen, was ich von dem teiischen Dichter weiß. Es ist mir entfallen, woselbst man ihm eine Ehrensäule aufgerichtet hat; mich deucht aber, es sei zu Athen geschehen, und wenn dieses ist, so laßt uns die Athenienserinnen loben, welche zur Verherrlichung ihres Dichters, alles mögliche beigetragen haben.

Die Lieder, welche von demselbigen übrig geblieben sind, sind von allen freundlichen Völkern hochgeschätzt, und von Kennern feiner Schönheiten bewundert worden. Leset sie mit der Einsicht der Frau Dacier, wenn ihr Lust habt, ihnen Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. »Man findet in denselben eine solche Süßigkeit, und etwas so feines und zärtliches, als man vielleicht sonst nirgends findet. Alles, ist darinn schön und natürlich; ieder Gedanke ist eine Empfindung. Man findet da diese ungekünstelten Annehmlichkeiten, welche den Character des Liedes ausmachen, und dasselbe von allen andern Werken der Poesie unterscheiden. Man siehet da diejenigen lachenden Bilder, welche allemal gewiß gefallen, weil sie mit Geschmakk und Urteil aus der blossen Natur genommen sind.« 5 Die Gratien haben alle Annehmlichkeiten in denselben vereiniget, und sie verdienen von uns in alle Sprachen übersetzt zu werden. Ich habe mir niemals aus einer andern Ursache, die griechische Gelehrsamkeit der Frau Dacier gewünscht, als aus Verlangen, ihrem schönen Beispiel zu folgen, und ich würde noch heute fortfahren, die Sprache des Dichters aus Teios zu erlernen, [72] wenn der Freund meines Geliebten, der einmal an dem Ufer eines Teiches gelauscht hat, ihn nicht bereits gelehret hätte, ohne Anstoß deutsch zu sprechen. Ich ersuche – – –

Himmel, eben höre ich, daß mein Geliebter von dem Feldzuge zurükk gekommen ist – – – und meine Vorrede ist noch nicht gedrukkt. Wie leicht könte er mich überraschen! Ich fürchte sein Verbot. Entschuldigt mich, liebenswürdige Freundinnen. Ich muß ihn umarmen. Lebt wohl.


1744.


Doris.

Fußnoten

1

Ich darf meinen Geliebten wieder keine verdrießliche Geister vertheidigen. Seine Lieder sind nur freundlichen Kunstrichtern, und frölichen Lesern in die Hände gerathen. Die Frau von Sevigne, meine beste Freundin unter den Todten, deren Briefe so niedlich sind, als die Lieder des Anakreon, die ich für die beste Scherzrichterin halte, weil sie selbst so glükklich scherzte, war, bei gleicher Gelegenheit, nicht so glükklich, als ich. Wie muste sie sich nicht über die traurigen Feinde der scherzhaftesten Dichter Frankreichs, des Benserade, und des Fontaine ärgern, als sie an den Grafen von Bussy schrieb: Jouissons, mon cher Cousin, de ce beau sang, qui circule si doucement & si agréablement dans nos veines. Tous vos plaisirs, vos amusemens, vos tromperies, vos lettres & vos vers m'ont donné une véritable joie, & sur tout, ce que vous écrivez pour défendre Benserade & la Fontaine, contre ce vilain factum. Je l'avois déjà fait en basse notte à tous ceux, qui vouloient louer cette noire faire. Je trouve que l'Auteur fait voir clairement, qu'il n'est ni du monde, ni de la Cour, & que son goût est d'une pédanterie qu'on ne peut pas même esperer de coriger. Il y a de certaines choses qu'on n'entend jamais, quand on ne les entend pas d'abord: on ne fait point entrer certains esprits durs & farouches dans le charme & dans la facilité des Ballets de Benserade & des fables de la Fontaine: cette porte leur est fermée, & la mienne aussi; ils sont indignes de jamais comprendre ces sortes de beautez & sont condamnez au malheur de les improuver & d'être improuvez aussi des gens d'esprit. Nous avons trouvé beaucoup de ces pédants. Mon premier mouvement est toujours de me mettre en colère, & puis de tâcher de les instruire; mais j'ai trouvé la chose absolument impossible. C'est un bâtiment, qu'il faudroit reprendre par le pied; il y auroit trop d'affaires à le reparer: & enfin nous trouvions qu'il n'y avoit qu'à prier Dieu pour eux, car nulle puissance humaine n'est capable de les éclairer. C'est le sentiment, que j'aurai toujours pour un home qui condamne le beau feu & les vers de Benserade, dont le Roi & toute la Cour a fait ses délices, & qui ne connoît pas les charmes des fables de la Fontaine. Je ne m'en dédis point, il n'y a qu'à prier Dieu pour un tel homme, & qu'à souhaiter de n'avoir point de commerce avec lui.

Seht, welche verhärtete Köpfe unter den Landesleuten der Frau von Sevigne! Ich wiederhole mit Vergnügen folgenden Wunsch an die artigern Deutschen:

Lebt, überlebt die Splitterrichter,

Ihr Freunde, die ihr weislich lacht,

Und einem aufgewekkten Dichter

Nicht ieden Scherz zum Frevel macht!

2 S. den Versuch in scherzh. Lied. Vs. 12. [= 1. Teil, S. 12]

3 S. das Gedicht auf der 58. Seite.

4 Versuch in poet. Fabeln und Erzählungen. Bl. 116.

5 S. De la Nauze von den Liedern der alten Griechen, im zweiten Theil der Sammlung neuer Oden und Lieder.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Gedichte. Versuch in Scherzhaften Liedern, zweiter Teil. Mein Leser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D83A-A