An Doris

Künstlerinn! wir künsteln beide,
Du kannst stikken, ich kann malen.
Aber stikkst du denn nur Blumen?
Kannst du nicht mit goldnen Faden
Knaben oder Mädchens stikken?
Wag' es nur, es wird schon gehen.
Aber erstlich stikke Knaben.
Stikke solche, wie ich male,
Ohne Perlen, ohne Purpur,
Wie sie sich im Grünen iagen,
Oder wie sie sich das Hemde
Vor den Augen blöder Nimfen
Vorwerts auf die Knie halten.
Sieh' sie selbst, hier sind im Buche
Zwanzig Knaben abgeschildert,
Wähle dir den allerbesten,
Nimm den Knaben, der so lächelt,
Oder ienen, mit dem Bogen,
Der dich mit dem Pfeile drohet,
Nimm sie nicht, hier sind noch andre,
Sieh sie an, und wähle selber,
Ich will sehn, wie gut du wählest.
Diesen Knaben willst du stikken?
Diesen, der nach Küssen schmachtet,
Der halbnakkend sich nicht schämet?
Doris! dieses bin ich selber.
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Hat mein Pinsel mich getroffen?
Kennst du mich an diesen Zügen?
Gut, du sollst mich selber stikken.
Aber erst must du mich schildern.
Höre nur, wir wollen tauschen.
Ich will stikken, du sollst malen.
Hurtig gieb mir Gold und Nadel,
Diese Rose will ich enden;
Denn sie wird in blauer Seide
Einst auf deinem Busen blühen.
Unterdeß kannst du mich malen,
Und sobald du mich gemalet,
Sollst du das Gemälde stikken.
Da! hier hast du meinen Pinsel!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. An Doris [1]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D82E-8