An die Leser

Wenn Ihr, Du mein hochverehrter
Leser, und Du (leider nicht mein)
Holde, reizende und kluge
Leserin, in diesem Buche
Selbst zuweilen solchen baaren
Unsinn findet, der nicht Sinn hat,
Und bei welchem der Verstand uns,
Wie der Deutsche pflegt zu sagen,
Stillsteht: so erwägt zuvörderst,
Eh' Ihr mein Gedicht in's Feuer
Werft und mir, was noch viel härter,
Eure Gunst entzieht, erwägt erst
Meine drei Rechtfert'gungsgründe,
Die ich Euch hier unten künde.
Es ist nämlich sehr wohl möglich
Daß, selbst im verkehrten Sinne
[87]
Ungeeignet, hier zum Beispiel:
Dumm statt klug gebraucht ist, oder
Zopfig statt ehrwürdig, oder
Weise für verrückt; und schändlich
Für gerecht; Gattin und Gatte
Statt Geliebte und Geliebter;
Oben, hoch, statt unten, niedrig,
Fader Kerl' und dummer Junge
Statt Virtuose und statt Künstler;
Mannesstolz statt feiges Knechtthum;
Guter Bürger für Philister;
Hochgelahrtheit für Bornirtheit;
Unschuld, Keuschheit statt Geziertheit;
Heil'ger statt Vermaledeyter;
Allerliebst für unerträglich;
Lump statt Ritter; schlecht statt bieder;
Fromm für heuchelnd ... und so weiter!
Und dann umgekehrt dies wieder
Alles. Wie gesagt, sehr möglich!
Aber erstens soll sich jeder
Gutgesinnte – und wahrhaftig,
Ja, das bin ich! – gegenwärtig
[88]
Auf das Eifrigste bemühn, daß
Einem der Verstand, und nicht nur
Einem sondern möglichst Allen,
Und mit ihm das Wissen, stillsteht
Oder, besser noch, zurückgeht.
Zweitens gab ein Linguist hier –
Den als Freund ich grade deshalb
Schätzen lernte, weil er nie mich
Zu taxiren ihn veranlaßt,
Und mir deshalb just war theuer,
Weil er sich bewies so billig –
Mir den Rath: beim Uebersetzen
Aus der Sprache dieses Sternes
In das Deutsche je mitunter –
Um, worauf es doch alleine
Ankommt, meinem deutschen Volke
Das Verständniß zu erleichtern –
Auch Verkehrtes umzukehren
Wieder, also beispielsweise
Was nach unserm Erdbegriffe
Wirklich dumm ist, nach dem hies'gen
Aber klug und weise und just
[89]
Deßhalb wird durch »dumm« gepriesen:
Auch im Deutschen so zu geben;
Im gewohnten Styl zu bleiben,
Und zuweilen dumm zu schreiben.
Drittens endlich wird der Leser
Und die schöne Leserin wohl
Nicht Unmögliches verlangen,
Nicht verlangen, daß ich, Mitglied
Zweier Welten, sel'ges einer
Ganz vernünft'gen und gelehrten,
Und lebend'ges einer tollen
Unvernünft'gen und verkehrten,
Alle Tage unter Wesen,
Deren keins vollkommen Mensch,
Jedes Mensch und Thier zugleich ist;
Alle Tage so viel Tolles,
Abgeschmacktes und Verkehrtes
Hörend, sehend, fühlend, ja ich
Möchte sagen: ganz verrückte
Luft einathmend, daß ich, sag' ich
Nie mich irre,
Nie verwirre,
[90]
Niemals mente captus werde,
Sondern klarsten Kopfes bleibe
Und so denke und so schreibe
Wie vor Zeiten auf der Erde.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Glaßbrenner, Adolf. Gedichte. Die Verkehrte Welt. Fünfzehntes Kapitel. An die Leser. An die Leser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D611-5