Damötas und Phyllis

Damötas war schon lange Zeit
Der jungen Phyllis nachgegangen;
Noch konnte seine Zärtlichkeit
Nicht einen Kuß von ihr erlangen.
Er bat, er gab sich alle Müh';
Doch seine Spröde hört' ihn nie.
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Er sprach: »Zwei Bänder geb' ich dir.
Auch soll kein Warten mich verdrießen;
versprich nur, schöne Phyllis, mir,
Mich diesen Sommer noch zu küssen.«
Sie sieht sie an, er hofft sein Glück;
Sie lobt sie, und gibt sie zurück.
Er bot ein Lamm, noch zwei darauf,
Dann zehn, dann alle seine Herden.
So viel? Dies ist ein teurer Kauf.
Nun wird sie doch gewonnen werden?
Doch nichts nahm unsre Phyllis ein;
Mit finstrer Stirne sprach sie: »Nein!«
»Wie?« rief Damötas ganz erhitzt,
»So willst du ewig widerstreben!
Gut, ich verbiete dir anitzt,
Mir jemals einen Kuß zu geben.«
»O!« rief sie, »fürchte nichts von mir,
Ich bin dir ewig gut dafür.«
Die Spröde lacht; der Schäfer geht,
Schleicht ungeküßt zu seinen Schafen.
Am andern Morgen war Damöt
Bei seinen Herden eingeschlafen;
Er schlief, und im Vorübergehn
Blieb Phyllis bei dem Schäfer stehn.
»Wie rot«, spricht Phyllis, »ist sein Mund!
Bald dürft' ich mich zu was entschließen.
O! thäte nicht sein böser Hund,
Ich müßte diesen Schäfer küssen.«
Sie geht; doch da sie gehen will,
So steht sie vor Verlangen still.
Sie sieht sich dreimal schüchtern um
Und sucht die Zeugen, die sie scheute;
Sie macht den Hund mit Streicheln stumm
Und lockt ihn freundlich auf die Seite;
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Sie sinnt, bis daß sie ganz verzagt
Sich noch zween Schritte näher wagt.
Hier steht nunmehr das gute Kind;
Allein sie kann sich nicht entschließen.
Doch nein, itzt bückt sie sich geschwind
Und wagt's, Damöten sanft zu küssen.
Sie gibt ihm drauf noch einen Blick
Und kehrt nach ihrer Flur zurück.
Wie süße muß ein Kuß nicht sein!
Denn Phyllis kömmt noch einmal wieder,
Scheint minder sich als erst zu scheun
Und läßt sich bei dem Schäfer nieder;
Sie küßt und nimmt sich nicht in acht;
Sie küßt ihn, und Damöt erwacht.
»O!« fing Damöt halb schlafend an,
»Mißgönnst du mir die sanfte Stunde?«
»Dir«, sprach sie, »hab' ich nichts getan,
Ich spielte nur mit deinem Hunde;
Und überhaupt, es steht nicht fein,
Ein Schäfer und stets schläfrig sein.
Jedoch, was giebst du mir, Damöt?
So sollst du mich zum Scherze küssen.« –
»Nun«, sprach der Schäfer, »ist's zu spät,
Du wirst an mich bezahlen müssen.«
Drauf gab die gute Schäferin
Um Einen Kuß zehn Küsse hin.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gellert, Christian Fürchtegott. Fabeln und Erzählungen. Fabeln und Erzählungen. Erstes Buch. Damötas und Phyllis. Damötas und Phyllis. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C456-9