Kalliste

O Leser! stelle dir mit zärtlichem Gemüte
Einmal die größte Schönheit vor,
Auf deren Stirn der Frühling lächelnd blühte,
Um deren Herz sich längst ein edelmütig Chor
Entzückter Jünglinge bemühte;
Die stell' itzt deinem Geiste dar
Und fühl' es recht, wie schön sie war.
Die, deren Schicksal ich erzähle,
Kalliste, groß durch ihren Stand
Und edler noch durch ihre Seele,
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Ließ, weil sie sich nicht wohl befand,
Und weil der Doktor ihr den Aderlaß befohlen,
Des Königs ersten Wundarzt holen.
Er, dieser so berühmte Mann,
Der schmachtend ingeheim Kallistens Reiz verehrte,
Weil ihm ihr hoher Stand ein größer Glück verwehrte,
Nahm die Gelegenheit mit tausend Freuden an.
Er kam. O wär' er nie gekommen!
Er nimmt den weißen Arm und streift ihn ängstlich auf
Und forscht, von Lieb' und Ahndung eingenommen,
Mit Zittern nach der Adern Lauf
Und streift in trunkner Angst den Arm noch einmal auf.
Kallistens Freundin sieht ihn zagen
Und sagt's ihr (heimlich sagt sie's ihr).
»O!« spricht sie: »Lassen Sie den Herrn nur ruhig schlagen,
Und schlüg' er zweimal fehl, so werd' ich doch nichts sagen;
Ich weiß, er meint es gut mit mir.«
Der Arzt sprach noch: »Das wollen wir nicht hoffen«,
Und schlug und rief: »O unglücksel'ger Schlag:
Ich habe ja den Puls getroffen!«
Und taumelte, bis er danieder lag.
Sie, noch für den besorgt (kann man was Edlers denken?)
Der so gefährlich sie verletzt,
Verbot ihm oft, sich nicht um sie zu kränken,
Und blieb zween Tage lang bei allem Schmerz gesetzt:
Doch dies war nur geringes Leiden.
Die Ärzte sahn nunmehr die tödliche Gefahr
Und wurden grausam eins, den Arm ihr abzuschneiden,
Weil sonsten keine Rettung war:
Und ohne sich darüber zu beklagen,
Reicht sie den Arm, den schönen Arm schon dar
Und bittet nur, den ja um Rat zu fragen,
Der schuld an diesem Unglück war.
So ward der Schönen denn das Leben
Für den Verlust des Arms gegeben?
So war das Leben denn für so viel Schmerz der Lohn?
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Sieh nur den Doktor an, sein Schrecken sagt dir's schon!
Er sieht den Brand und spricht mit bangem Ton:
»Sie können länger nicht als noch drei Tage leben!«
O Gott, wie kurz ist diese Frist!
Ihr Ärzte, helft ihr doch, wenn ihr zu helfen ist!
Auch hier blieb noch das große Herz gelassen.
»So«, sprach sie, »sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld.
Er würde gern für mich erblassen:
Gott hat's verhängt; Gott ehr' ich durch Geduld
Und bin bereit, den Augenblick zu sterben«;
(Der Wundarzt trat indem herein)
»Sie aber«, fuhr sie fort, »setz' ich hiemit zum Erben
Von allen meinen Gütern ein,
Sie möchten sonst unglücklich sein!«
Sie sprach's und schlief großmütig ein.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gellert, Christian Fürchtegott. Fabeln und Erzählungen. Fabeln und Erzählungen. Zweites Buch. Kalliste. Kalliste. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C24A-A