Der Spielmann von Lys

(Bretonisch.)


Im Forst von Lys am tiefen See
Erglüht die Mittagsstunde,
Die hundertjährigen Eichen stehn
Verschlafen in der Runde.
Kein Lüftchen geht, man hört von fern
Den Specht in Waldesmitten,
[124]
Da kommt der Spielmann durch den Busch,
Der braune Geselle, geschritten.
Er trägt ein Wams von Flicken bunt,
Trägt Farnkrautblüt' am Hute,
Sein schwarzes Auge lacht und blitzt,
Er singt mit lachendem Mute:
»Ich bin des grünen Waldes Kind,
Die Tierlein kennen mich alle;
Woher ich komme, das weiß der Wind,
Der Wind, wohin ich walle.
Des Bauern lach' ich hinterm Pflug,
Des Grafen hoch im Saale;
Mein Truchseß ist der Brombeerstrauch,
Mein Schenk der Quell im Tale.
»Im Winter schlaf' ich bei dem Fuchs,
Im Lenz auf sonnigem Rasen,
Und wird die Weile mir lang einmal,
So heb' ich an zu blasen.«
Er zieht hervor die Pfeif' aus Rohr,
Den Klang versucht er leise;
Fremdartig durch die stille Luft,
Verlockend schwillt die Weise.
Sie jauchzt wie wirbelnder Lerchenschlag,
Sie klagt wie Unkengestöhne,
Wie Kinderjubel und Todesqual
Lachen und weinen die Töne.
Und wie er sanft und sanfter bläst,
Da regt sich's in den Büschen,
Da kommt es geschlüpft durchs hohe Gras
Mit leisem Rieseln und Zischen;
Jetzt hebt sich vom Boden ein grünes Haupt
Auf grünem, gleißendem Rücken,
Zwei Augen glühn wie Edelgestein
Und funkeln vor Entzücken.
[125]
Das ist die Schlangenkönigin,
Sie kommt bezaubert vom Schalle,
Und hinter der Alten, wie Heeresgefolg',
Die Schlangen des Waldes alle.
Sie schließen den Kreis gleich wie zum Reihn,
Sie ringeln und züngeln vor Wonne,
Um ihre schillernden Leiber spielt
Durchs Laub der Strahl der Sonne.
Und sieh, nun schlüpft um des Spielmanns Hals
Die Königin zärtlich und leise,
Er kennt das Liebkosen der Freundin schon
Und bläst die schmelzendste Weise.
Doch als des Schalls ihn dünkt genug,
Da setzt er vom Munde die Pfeife,
Die Schlange, wonnegesättigt, löst
Langsam die glänzenden Reife.
Sie gleitet hinweg durchs wogende Gras
Und sucht ihr Nest in den Tannen,
Die Schwestern schießen ihr rauschend nach;
Der Spielmann wandert von dannen.
Er singt: »Ich bin des Waldes Kind,
Die Tierlein kennen mich alle;
Woher ich komme, das weiß der Wind,
Der Wind, wohin ich walle!«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Gedichte und Gedenkblätter. Vermischte Gedichte. Erstes Buch. Der Spielmann von Lys. Der Spielmann von Lys. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BBB5-B