3.

Über die zackigen Giebel der Stadt hängt brütender Nebel
Düster herab, es erschließt kaum noch die Wimpern der Tag.
[391]
Drunten, gedämpft vom Schnee, wogt sacht das Getriebe der Gasse;
Nur undeutlich herauf dringt der verschleierte Laut.
Selbst die metallene Stimme des Turms ruft heiser die Stunden,
Stockend, als schickte die Zeit stille zu stehen sich an.
Trauriges Zwielicht rings! Auf, Knab', und entzünde die Lampe!
Kommt, ihr Bücher, die Welt dunkelt, so flücht' ich zu euch.
Dich heut wähl' ich vor allen, Horaz; mit lächelnder Weisheit
Hast du des Trübsinns Bann oft mir gelöst wie ein Freund.
Größere kenn' ich als dich; doch gerecht für jegliche Stimmung,
Wie du den Knaben erfreut, bliebst du dem Alten getreu.
Wie dem parnassischen Fels zwei Häupter entragen, so gipfeln
Über dem Epos Homers Lyrik und Drama sich auf.
Ob dich viele geschmäht, Euripides, neben den Besten
Sei mir im bakchischen Kranz, mächtig Erregter, gegrüßt.
Preis' ich gewaltiger Äschylus auch und Sophokles schöner:
Dein Zeitalter des Kampfs spiegelte keiner wie du.
Nimmer gelingt's dir, Freund, uns Pindars Lied zu beleben,
Wie's in Olympias Hain einst die Hellenen ergriff.
Zwar wir erbaun uns noch heut an dem Tiefsinn seiner Gedanken,
Spüren des Fittichs Schwung, der den Begeisterten trug,
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Ahnen die Rhythmengewalt der sich kühn auftürmenden Worte,
Aber der reine Genuß bleibt uns auf ewig versagt.
Was ein lebendiger Schatz ihm war und ein Born der Empfindung,
Ward zum dunklen Geweb' frostiger Namen für uns;
Pflückt' er doch seinen Gesang vom blühenden Baume des Mythus,
Und kein forschender Fleiß weckt den erstorbenen auf.
Milton deucht mir der Briten Poet; der gewaltige Shakspeare
Ist der germanischen Welt eigen, so weit sie sich dehnt.
Wollt ihr den Sänger Armins mir trostlos schelten und bitter?
Scheltet die bittere Zeit, welche das Lied ihn gelehrt.
Gern als erquickender Tau auf Lilien wär' es gefallen,
Aber ins dürre Gezweig' schlug es als Hagelgewölk.
Gern auch kost' ich einmal von Byrons heißem Gewürztrank,
Aber den täglichen Krug reiche mir Vater Homer.
Nennt Epigonen uns immer! Ein Tor nur schämt sich des Namens,
Der an die Pflicht ihn mahnt, würdig der Väter zu sein.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Spätherbstblätter. Distichen aus dem Wintertagebuche. 3. [Über die zackigen Giebel der Stadt hängt brütender Nebel]. 3. [Über die zackigen Giebel der Stadt hängt brütender Nebel]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B95F-1