[80] Mönchguter Skizzenbuch

Aus den Jahren 1894 und 1897


[81][83]

Am Fenster

Oben, unterm Dach, bei den Schwalben, klein und niedrig ... ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett ...

aber den ganzen Tag voll Sonnenschein und blauem Himmel und Schwalbenzwitschern ...

und draußen das Meer mit dem leisen Rauschen seiner Wellen den wunderbaren Bogen des Lobber Strands entlang ... weiß ... grün ... blau und immer blauer sich zum Horizont aufwölbend ...

und das Land mit seinen Höften und Buchten bis in die heimlichste Falte seines Herzens hinein sonnenoffen ...


Und ich träume hinaus in den goldenen Tag und auf weißen Mövenflügeln wiegt sich meine Seele durch die schimmernde Luft ... über Wasser Berg und Wald und Wiese

[83] und keine Uhr mahnt an die verrinnende Stunde ... keine Sorge ... kein Wunsch ... kein Verlangen ...


Alles ist Sonnenschein, blauer Himmel, Schwalbenlied und Wellenrauschen.

[84] Im Kahn

Schaukelt weiter mich, ihr Wellen ... schaukelt weiter mich, ihr Winde ... durch die wunderbare Ruhe dieser lichten Einsamkeit ... leise, leise wiegt mich weiter

in die Ferne
zu den stillen, weißen Wolken, die den Horizont umklimmen ...
Tragt mich fort, wohin ihr wollt!

Immer mehr versinkt die Küste mit dem Strand und mit den Bergen ... alles wird zu blauem Glanz ...


Selig lieg ich auf dem Rücken, horche auf die Ammenlieder, die mir Wind und Wellen singen ... [85] falte langsam meine Hände ... schließe lächelnd meine Augen und verträume in den Himmel,

wie ein Kind in stiller Wiege ...


Meine Mutter ist die Sonne ...
. . . . . . . . . . . . . . . . .
meine Mutter ist die Sonne,
und ich weiß, sie hat mich lieb!

[86] Die Mühle

Steigende Abendwolken ... blei-grau-blau-schwer ... wie ferne Alpen sich auftürmend ...
die sinkende Sonne dahinter, die Ränder mit blendendem Gold umkantend ...
Auf der Hügelhöhe mitten im glühenden Feuer des Abendrots eine Mühle,
langsam die Flügel drehend,
als schaufle sie der Sonne rinnend Gold in ihre Tenne.

[87] Sonne, Wind und Welle

Im warmen Sande lieg ich
nackt ... und brenne in der Sonne ...
und wie mit sammetweichen Tüchern flaggt der Wind mir über die gelösten Glieder.

Ich höre auf das Lied der Wellen nebenan und langsam fallen mir die Augen zu und gold- und purpurfarbene Wolken sinken auf mich nieder ...

Ich bin nicht Mensch mehr ... will nicht Mensch mehr sein ...

ich bin nur Sonne, Wind und Welle ...

ein flüchtiger Zusammenklang von Tönen ...

und wenn der Tag verrinnt am weißen Strande, verklinge ich zu neuem Lied, wie Sonne, Wind und Welle,

leidlos, wunschlos in die blaue Nacht.

[88] Briefblatt

Es lohnt sich nicht, die Welt erlösen zu wollen! ... weiß Gott! es lohnt sich nicht ... und dann ... dann ... mag ich auch die Narrenkappe nicht, die dazu nötig und auch das Schellenklappern paßt mir nicht ...

Still im grünen Wald will ich gehen, still am weißen Strande will ich sitzen und auf Sonne, Wind und Welle lauschen und den Wolken zusehn, die am Himmel spielen ...

und die Märchen, die sie mir erzählen, will ich nur den Kindern bringen, die da drüben in den Dünen und im weißen Sand sich tummeln

und vielleicht noch ein paar Großen, die gleich ihnen und gleich mir

still am Strande spielen können und auf Wind und Welle lauschen

kinderselig, sonnenfroh!

[89] Eines Abends ...

In weiter wellenloser Stille liegt das Meer ... Der Leuchtturm der Oie nur flimmert mit rotem Licht durch die blaue Dämmerung ...

Wie Kinderspielzeug stehen die Fischerhütten mit ihren Moosdächern in der Hügelmulde ...

Ein Windstoß rauscht durch die Nordperd-Eichen, tief wie das Aufatmen des einschlafenden Tages ...

Holzschuhe klappen die Dorfstraße hinab. Ich seh es nicht, ich hör es nur ...

Am Südstrand unten flackern ein paar Laternen auf ...

Nun weint irgendwo ein kleines Kind, wie kleine Kinder weinen, weh, wimmernd, ins Herz schneidend ...

und plötzlich schlägt ein Klavier an, ganz in der Nähe, und eine weiche Mädchenstimme fällt [90] ein ... »sturmgeprüfter, müder Wandersmann ... behüt dich Gott, es wär so schön gewesen!«

Ein halbwüchsiger Junge am Zaun pfeift mit ... grell und falsch ...


Und doch:

ich bleibe einen Augenblick stehen und blicke zurück:

Wie ein Wetterleuchten zuckt es in der Ferne und ich sehe die Straße, die ich herkam, bis sie sich in Wälder und Berge verliert ...

Dort war es, ja, dort hinten, wo es aufleuchtet. Aber es ist zu weit, als daß man noch etwas erkennen könnte. Man müßte sonst ein Schloß aufragen sehen und eine Wallfahrtkirche auf dem Berge und die Mühlenweiher vorm Schwedentor und das kleine Haus überm Graben und einen Garten mit hochblühendem Flieder und Rosen ...

und einen Jungen und ein Mädel ... einen Jungen, der Verse machte, und ein Mädel, das schwarzbraune Augen hatte ...

[91] und in der Haustüre das kleine Schwesterchen ... »die Mutter kommt! die Mutter kommt! rasch!«


Im Hof drüben bellt ein Hund ...

und über den Berg herauf wie damals kommt der Mond, langsam, feierlich und ... guckt und ... lächelt.

[92] Die Malerin

So seh ich dich sitzen: im hellen Kleid, die grüne Jacke lose offen, die weiße Mütze auf dem braunen Haar ...

nicht mehr zu jung ...

hochrot im sonnverbrannten Gesichtchen ... mitten zwischen Strandkörben und lärmenden Kindern am Brückensteg.


Ich stehe hinter dir mit fremden Andern und sehe zu, wie du mit flinker Hand die feinen Pinsel führst und leicht und launig ein ganz allerliebstes Bildchen auf die Leinewand bringst ...

Du merkst es nicht ...

vielleicht, daß du es fühlst, da deine Hand mitunter leise zuckt, als wolltest Pinsel und Palette du bei Seite werfen ...

[93] dann aber geh ich, denn am Ende könntest du dich plötzlich umdrehn: was ich wolle?! ...


und ... ich verstehe wirklich nichts von ... Malerei!

[94] Heddy

»Das ist die Sehnsucht

der großen Einsamkeit des Meeres!«


Und doch ...

man müßte hier zu zweit sein, nicht allein! ... man müßte jemand haben, dem man sagen könnte: wie wunderbar das alles ... das waldige Höft, das buchtige Land, das blaue Meer rundum und diese großen einfachen Linien, diese ruhigen freien Formen und dieser wunschlos tiefe heitere Frieden überall ...

und wie prächtig es ist, wenn die Wellen so angerauscht kommen, mit langen weißen Kämmen und sich über den Sand werfen und zerschäumen, mit immer neuer Lust, sich zu zersprudeln ...

jemand, mit dem man den Strand hinginge, Muscheln suchen, und die stillen Wege durch den Wald ...

jemand, dem man die Hand drücken könnte: [95] Ist das nicht ... schön? ist das nicht den Menschen selber groß machend, befreiend und erlösend ... ist das nicht etwas, das ihm alle eigene Weisheit niemals geben wird! ...

jemand, mit dem man dann auch schweigen könnte, schweigend sitzen und hinausträumen ... auf dem schaukelnden Nachen aufwallender Sehnsucht! ...


Und wenn es Abend wird und all die Boote draußen heimwärts in den Hafen suchen und wenn der rote Schein erlischt und aus dem Wald drüben die Schatten kommen und alles sich fester hüllt in seine Mäntel ...

dann sollte man jemand haben, den man lieb hätte und sollte nicht so allein heimgehen müssen!

[96] Phantasie

Nimm dich in acht: du kannst nicht schlafen, wenn du nachts am Strande warst ...

es lockt und lauert um dich her mit seltsam irren Rufen und lacht und schluchzt und schleicht und stürzt dir in die Brust und reißt die Dämme nieder, hinter die der Tag die heiße Sehnsucht deiner Seele bannt.


Und schwarze Wellen tosen dann durch deinen Traum, mit dumpfem Rütteln an den Brückenstegen ... erloschene Sterne hängen am Himmel, wie Totenlarven, bleich, gespenstisch, und glühende Wolken flammen durch die Luft ...

und durch die schwarzen Wogen treibt ein Boot, hochauf und nieder ... weiß wie Schnee, mit weißen Segeln ... und an dem Steuer in weißem wallendem Gewande lehnt eine Frau

[97] und singt ein Kinderliedchen in die Nacht, als könne sie dem Sturm damit gebieten.


Und immer hohler geht die See und immer höher tost die Brandung ...

du aber stehst, in sinnlos wirrer Angst, und rufst und flehst und schreist, doch deine Stimme hat keinen Ton ...

du ringst dich los und rennst und stößt ein Boot ins Wasser ... und plötzlich ...

reckt es sich empor ... wie hundert Hände

und wildauflachend schlagen die Wogen über dir zusammen.

[98] Die Fischerhütten

Fest wie aus Eisen stehn die Fischerhütten in der dunkeln Nacht, die Hügelhöhen entlang ...

und machtlos prallt der Sturm an ihnen ab ...

Gleich großen, mächtigen Fittichen breiten sie die strohgedeckten übermoosten Dächer schützend über den stillen Herd ...

traulich, treu und trotzig ...

und froh und freundlich leuchten ihre Giebelfenster in die Straßen: Seid unbesorgt, wir halten gute Wacht!

Nur auf den Städter, der des Weges kommt, sehn sie voll Mißtraun und voll Argwohn ... feindselig drohend fast, als schliche sich was Fremdes mit ihm ein, das ... den Frieden des stillen Herdes stören könne, den sie schirmen ...

und sich zu einem Sturm aufheben, dem auch sie nicht mehr gewachsen.

[99] Der Scheinwerfer

Sei auf der Hut, bei Nacht ... wenn du im Dunkeln tappst, am Brückensteg, und arglos deinen Arm legst um die Liebste und sie mit heißem Kusse an dich ziehst ...

sei auf der Hut: die dunkeln Nächte am dunkeln Strandsteg haben tausend Augen und gönnen euer Glück nicht ihr noch dir!

Und wähnt ihr noch so sicher euch ... ganz in der Ferne, draußen auf den Wassern lauert was ... von Menschen her ... mit kaltem weißem Licht ... taghell aufleuchtend plötzlich

und trifft es euch mit seinem jähen Schein, wenn ihr in kinderseliger Wonne aneinanderhängt,

dann ists vorbei:

mit tausend Fingern zeigt es aus dem Dunkel

und kichert hämisch eure Liebe tot.

[100] Auf der Wiese

Neben den Weiden, mitten auf der weiten grünen Wiese liegen wir ... in leise wehendem Gras ... Hand in Hand ...

du und ich
und träumen in die mittagstille flimmerige Luft.

Schwalben zwitschern über uns hin ... ganz tief und zutraulich ... wir könnten sie greifen ... wit, wit ... wit! und wir freuen uns, wie flink und beweglich sie durcheinander schießen und hoch oben wieder sekundenlang ganz still liegen mit breit ausgespannten Flügelchen und sich vom Winde tragen lassen ...

wie sie das nur so können!


Und wir möchten Schwalben sein ... so klein und leicht und zierlich!

[101] Angstvolles Schreien plötzlich und alle sind spurlos verschwunden:
ein Wiesenweih stößt durch die Luft.

Wir sehen ihm nach und träumen ... weiter ... zu den weißen Wolken hinauf und gucken zu, wie sie sich ineinander verspinnen und verrinnen und lösen und verfließen ... und wie andere, noch höher, über sie dahintreiben ... ganz rund und ballig ...

und wundern uns, daß auch nicht einmal eine davon herunterfällt ...

[102] »Auf morgen!«

Nun dämmert langsam sich der Tag zu Nacht und aus der Tiefe flimmern die ersten Sterne und über die stillen Wasser klingt ein Traum ...


Wir haben zusammen Rosen gepflückt, wir haben gelacht und haben gesungen, und als es regnete, saßen wir ganz eng in einer Waldhüterhütte ...

wir haben uns unser Leben erzählt, Frohes und Trübes, und haben im Sand dann zusammen gespielt, eine Burg uns gebaut mit Wall und Graben

und alles, alles zusammen gehabt, den ganzen Tag ... den ganzen Tag!


Und nun, da's dämmert und die Nacht heraufkommt ...

[103] nun gehen wir noch bis zum Garten oben und geben leise uns die Hand:

»Auf morgen!«

und

du biegst nach rechts, ich biege nach links ... du träumst von mir ... ich träume von dir ... und nach ein paar Schritten bleiben wir stehn, als müßten wir uns noch etwas sagen ...

etwas,

schöner,

als alle Rosen und als der ganze schöne Tag ...

und wissen doch nichts anderes dann, als noch einmal ... ganz laut: ›Auf morgen!‹

[104] Tandaradei

und ein kleinez vogellin,

tandaradei!

daz mac wol getriuwe sin!

Walter


Komm, komm!

wir wollen den Kuckuck fragen im Wald, der weiß es ...

und mit den goldenen Ringeln spielen im Farnkraut. Aus den großen machen wir uns Kronen und die kleinen, die steck ich dir alle an die kleinen süßen Finger ...

und dann wollen wir dem Sonnenscheinchen nachgehen, das dort mit den Rosen kichert ... es soll uns den Weg zeigen ...

und hinter den Föhren im roten Heidekraut huscheln wir uns zusammen, ganz eng und still ...

[105] und lachen die alte Waldfrau aus, die uns suchen will ...

und die blauen Glockenblumen läuten uns zur Hochzeit ...

Niemand weiß es ... nur der Kuckuck und die blauen Glockenblumen
und die sagens niemand!

[106] Nachtklänge

Tieftiefste Ruhe rings ...

nur das gleichtönige, einsamstille Zirren und Zirpen der Grillen, die ganze Nacht in süßes, sehnsüchtiges Zittern und Singen auflösend ...

und plötzlich, vom Dorf herüber, die gellen Klänge eines Sonntagstanzes, hell und heiser, nur den Takt gebend, und zwischenhindurch das Schlurren und Schleifen der Tanzenden ...


Ich hatte ein Lied im Sinn von waldnachtstillen, träumerischen Mädchenaugen, von erster Liebe scheu-sehnsüchtigem Zagen ...

und plötzlich schmiegen weiche weiße Arme sich mir um den Hals und brennende Lippen drängen mir entgegen und alles wogt mit laut aufrauschenden Fanfaren über mir zusammen

und in blaugoldenen Blitzen verzuckt die Nacht sich zu den stillen Sternen.

[107] Die Spinne

Halb gedankenlos überstreue ich eine Spinne mit Sand und sehe zu, wie sie sich herausarbeitet
und wie sie immer wieder zurück fällt, weil der leichte Sand unter ihr abrollt ...
Armes Tierchen! ...
›Schicksal?!‹

[108] Das alte Fräulein

Einen braunwollenen Umhang über dem zerknitterten, großmustrigen Kattunkleid kauert sie am Fenster und blickt auf die Waldwipfel und ... auf das Meer in der Ferne ... fast unbeweglich ...

Ein scharfes, mageres, versorgtes Gesicht mit harten, stechenden Augen, wie Menschen haben, die sie nicht schließen dürfen, wenn sie müde sind ... und doch wieder so voll Glück, so kindlich dankbar froh und freudestrahlend, als ob es die Erfüllung langer Jahre, die endliche Verwirklichung eines Lebenswunsches, daß sie hier sitze: die grünen Wipfel vor dem Fenster und das blaue Meer ...

den altmodischen Strohhut mit Bindebändern über das windzerzauste, angegraute Haar herabgekrämpt und in der verarbeiteten trockenen Hand ein lächerliches Zwitterding von Arbeitsbeutel und Reisetasche, wie aus Großmutters Zeiten ...

[109] Nach einer Weile zieht sie langsam die Uhr ... eine kleine silberne Uhr an geflochtenem Seidenschnürchen ...

und plötzlich werden ihre Augen tieftraurig ... als ob mit einem Male alles, was hinter das Meer versunken lag, mit der kleinen Uhr vor sie träte ... alles, was sie so gemacht, wie sie ist, hart und grau.

Kopfschüttelnd kapselt sie das Gehäuse auf, sieht in das Werk, zieht die Hutnadel und tippt in den Räderchen herum ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Immer wieder steht die Viertelstunde vor mir:

Die große Freude ... diese kleine Uhr ... die Hutnadel mit dem schwarzen Glasknopf ... und dieses tiefe, stille Leid plötzlich ... mitten in der Erfüllung eines Lebens.

[110] Postkarte

Vormittag.

Ein paar weiße Wolken leuchten am Himmel, langsam weiterziehend ...

Von den Sandburgen am Strand flattern die bunten Fahnen und zwischen Sitzkörben und ans Land gezogenen Booten spielen Kinder ...

Auf dem Badesteg stehen ein paar Männer, die weißen Laken um ...

Vom Dorf oben überm Wald kräht ein Hahn ...

und dann und wann sirrt ein Windstoß durch das Dünengras ...


Ich sitze am Hang und sehe einem Marienkäferchen zu, das an mir heraufklettert ... Marienkäferchen sollen Glück bringen ...

und freue mich ... über das schöne Wetter und über die schöne Welt ringsum ... und freue mich, [111] daß ich mich an all dem noch so freuen kann ...

und auf einmal fällt mir ein, daß im Literaturkalender gegen zehntausend lebende deutsche Dichter stehen oder solche, die es werden wollen,

und ich rechne, wie viel es ungefähr gäbe, wenn jeder täglich ein Gedicht machte ...


Gott segne unsere braven Verleger!

[112] Das Meer

So hab ich das Meer gern:

weit offen, wie ein Spiegel, und zum Horizont in hängende Wolken sich verrinnend ...

die Sonne hinter feinen leisen Schleiern und Luft und See in blaßblau-lichtem Schein und Schiller ...

schwermütig ernst und lachend heiter,

zutraulich lieb und unnahbar,

in unbekümmert freier Größe und nie entweihter Ewigkeit ... lautlos ... in unlotbaren Tiefen die Wunder hütend seiner Gotteskraft ...

und Strand entlang mit frohen Wellen spielend

schwermütig ernst und lachend heiter,

den Menschenkindern, die da stehen, das kleine Herz voll großer Sehnsucht, bunte Köstlichkeiten vor die Füße tragend ...

So ... sei! ... So ... schaffe!

[113] Im Sand

Und wieder lieg ich

nackt

im Sande ...

die Sonne glüht mir durch die Adern und ich freue mich der stillen Kraft, die mir die Glieder dehnt ...

und sehe den Quallen zu, die von den Wellen an den Strand getrieben werden ... hilflose Dingerchen! und jede doch ein Kunstwerk, wie es noch kein Künstler nachgeschaffen! ... so klein und fein und so geheimnislos durchsichtig und in jeder Faser doch ein ungelöstes Wunder! ...

und ... träume

und gucke in den Himmel

und recke mich

und riesle mir Sand über die Brust

[114] und lache laut, wie schön, wie köstlich es ist: zuleben!


Und dann

sitz ich auf einem Felssturz nebenan, die Kniee hochgezogen, und sehe mir zu, mir selber, wie ich da liege und mich sonne ... neugierig, wie man irgend etwas Fremdem ... Unbekanntem zusieht,

einer Pflanze,

einem Tier, das man so fände.


Wie wunderbar doch eigentlich: dieses glatte, weiche, weiße Fleisch ... eine Handvoll Sand und Erde!

und wie wunderbar, wie sich das bildet und zu Leben wird und formt und wächst und reift ... immer aus der großen Erde heraus ... und immer dem Licht entgegen ... wie das kleinste Hälmchen, wie der riesigste Baum!

und wie es sich bewegen kann und schreien und lachen, mit tausenderlei Sehnsucht, mit tausenderlei Willen, und daliegen wieder, lautlos still wie etwas Totes ...

[115] und wie stolz es dann, wenn es die Augen aufmacht, sich auf seine Füße stellt und die Arme reckt ...

und wie klug es sich hat, dieses bißchen Leben, wie geschickt und sinnreich es sich überall anzupassen und alles sich zu Nutz zu machen weiß ...

über die Meere kann es schwimmen, über die Länder kann es laufen, zu den Sternen kann es reichen ...

wie ein kleiner Gott ... allmächtig, allwissend, allsehend ...


und wie es dann doch wieder dasteht: furchtsam, hilflos, blind, in zwergenhafter Winzigkeit und Ohnmacht ... nichts, als eine Handvoll Sand, die ein leichter Wind im nächsten Augenblick schon spurlos in den Sand verweht.

[116] Sünde

Wir hatten uns lieb und wir wußten es beide und der Strand lag still und abendeinsam ... ein alter Fischer nur war um den Weg und flickte Netze ...

und wir sahen den Schwalben zu, wie sie hoch am Hang ihre Nester umflogen ...
und saßen am Feldrand und sahen in die Dämmrung und keines fand mehr, was zu sagen ...

Und immer wundersamer wurden deine Augen und immer ungeduldiger zerrte der Wind dein blondes Haar auf und immer sehnsüchtiger ward unser Schweigen ...

und wir hatten uns lieb und wußten alles und wußten, daß es der letzte Tag für Monate [117] war und vielleicht für immer und ... daß wir niemand etwas nähmen

und ... wir haben uns ... nicht geküßt!

War das nicht Sünde?
war das nicht ... dumm?

[118] Altes Lied

Das war der Wald und das der Weg und hier der Bach und da der Steg und dort die Bank, und in den Eichenkronen träumt golden immer noch die Sonne und über die Dünen wie vor Jahren rauscht das Meer ... rauscht das Meer das alte stille Menschenleid von Lieb und Lassen ...

Und ich gehe und ich stehe und mir ist: ich sähe draußen, drüben, wo die Straße führt, einen Burschenziehn des Weges, hügelab durch Stoppelfelder, hügelauf durch stille Wälder ... immer ferner, immer weiter in die abendrote Welt, und mir ist: ich hör es klingen, und mir ist, ich hör ihn singen ... und ich singe leise mit:


Ein Röslein blüht im Garten,
liebkost vom wandernden Wind ...
ich bin nur ein armer Geselle
und du bist ein Königskind!

[119] Mittagstille

Alles blau und mittagstill und einsam.

Ich liege in der Düne unter einer Fichte und sehe so ins Weite ...

Keine Seele rings! ... nur am Brückenkopf in einem Kahn drei Mädchen ... alle drei in hellen Kleidern und mit weißen Mützchen.

Sie klettern herum und lachen, wie Mädchen lachen ... dann stoßen sie ab und rudern hinaus ... die in der Mitte immer stehend.


Ich schließe die Augen und höre auf das Klappen der Ruder ... man hört ja so weit an der See ...


Nun singen sie ... und ...

eine seltsame Sehnsucht überrinnt mich ... eine Sehnsucht wie nach Heimat, Kindertagen und Kinderlachen ... ein Gewirr von bunten flatternden Fahnen ist um mich her ...

Mädchen, Knaben, Maien tragend ...

[120] und plötzlich sehe ich meine Mutter ... auf dem kleinen Balkon nach der Straße ... hinter ihren Blumentöpfen ... so wie sie immer stand ... nach mir aussehend und mir zuwinkend, wenn ich wieder einmal in die Heimat kam ... mit dem weißen Haar, mit den großen guten Augen und mit den vielen, vielen Furchen im Gesicht ...

Ja, ja! das weiße Haar und die vielen, vielen Furchen! ... und ich gäbe sonst was darum, die alte Frau einmal hier haben zu können und ihr das Meer zu zeigen, das sie nie gesehen und immer doch so lieb hatte ... so, so blau aber und so still und frei und heiter ...

Das Meer, denk ich mir, müßte den Menschen gut machen, sagte sie immer ...

o! ... ich gäbe sonst was darum ...


Und plötzlich ... bricht das Singen auf dem Wasser drüben ab ...

[121] Der Klügere

Da bist auch du ja wieder, alter Mond ... und lachst

wie damals,

da du uns im Boot ertapptest, draußen auf den stillen Wassern, und da wir uns ins Abendrot verirrt hätten ... wenn du nicht plötzlich hinter uns gewesen ...

alter mißgünstiger Gesell du!

ewig allein und einsam!


Freilich ...

so allein und einsam bin ich ja nun auch!

und wenn ichs recht bedenke,

möchte ich eigentlich nur: es könnte mir alles auch so ... wurst sein, was auf dieser Welt vorgeht, wie dir ...

alter lieber, kluger Mond!

[122] Segelfahrt

Hei! wie sich die Segel blähn ... und wie schön es in die Sonne hineingeht!
und wie der Wind sich in die Wellen wühlt!
und wie es aufschäumt und wogt und wirft und packt und zerrt und ringt und stöhnt!
das ist doch noch Kraft ... und Freude!
Und man möchte mittun, hei! ... und Wind sein oder Welle ...
und immer so mitten in die Sonne hinein!

[123] Spätsommer-stimmung

In regungslosem Brüten schleiern Meer und Himmel, eintönig grau, wie blindgewordene Spiegel, und regungslos dazwischen steht das Land.

Eine Menge Licht ist in der Luft; ein Licht jedoch, das keine Schatten hat, gleichmäßig und zerteilt, so daß man kaum erkennt, obs Mittag oder Abend und wo die Sonne steht.

Die Oie hängt wie ein rötlich Wolkenbild im Dunst und ein paar Boote mit kupfergelben Segeln kriechen an ihm hin, gleich großen Motten, die an einer Fensterscheibe aufwärts wollen.

Nun taucht ein Dampfer aus der Tiefe und langhin ballt sein Rauch in runden dunkeln Wolken sich aufs Wasser.

Kein Laut, kein Ton! Mit dumpfem Schlafe liegt der Sommer im Gelände und alles halbbeklommen[124] hält den Atem an, als müsse jeden Augenblick ein ... Klang, ein ... Ruf, ein ... Schrei dies Schweigen brechen.


Und plötzlich fallen große schwere Tropfen.

[125] So regnet es sich langsam ein ...

So regnet es sich langsam ein
und immer kürzer wird der Tag und immer seltener der Sonnenschein ...
Ich sah am Waldrand gestern ein paar Rosen stehn ...
gib mir die Hand und komm ... wir wollen sie uns pflücken gehn ...
Es werden wohl die letzten sein!

[126] Abendschatten

Hell und freudig blitzt die Sonne in den schönen Abend ... ganz langsam aber und unmerklich immer tiefer in die Dünen sinkend ...

und wie sie sinkt, sinkt aus dem Eichwald auch der Schatten ... immer tiefer den Hang herab und drängt sich Spur um Spur über den weißen Strand ihr nach.


Den Hut im Schoße sitzt ein Mädchen zwischen dem Gestein, um das die Wellen sich wie flüssiger Smaragd zerrieseln, und träumt aufs Meer ...

vielleicht

dem weißen Dampfer nach, der draußen den Horizont hinuntersinkt, langsam und unmerklich, wie hinter ihr vom Eichwald her der Schatten immer näher rückt und näher.


[127] Noch liegt die Sonne hell und leuchtend über ihr ...

schon aber grenzt sich eine graue Linie den Stein hinauf und greift ihr Kleid und faßt ihren Gürtel und kriecht sich in die Falten ihrer weißen Bluse ... leise, heimlich, immer höher, immer grauer ...

Sie doch sitzt und träumt ...

Sekundenlang noch zittert ein Sonnenflimmer um ihr braunes Haar, daß es wie Gold aufglänzt ...
ein leis wehmütiges Erlöschen dann
und sie ist ganz im Schatten, wie der ganze Strand ...
nur auf den Wellen draußen glastet noch ein roter Schein.

[128] Nordoststurm

Nordoststurm tobt ums Haus. Es kracht in allen Fugen und das Meer drüben brandet, daß wir es bis in unser kleines Stübchen hereinhören.

Wir sitzen im Sofawinkel vor einem Strauß Heidekraut, den wir in Wind und Regen gestern dem sterbenwollenden Sommer draußen stahlen, und zitternd und frierend birgst du dich an meine Brust, wie ein furchtsam sturmverflogenes Vögelchen, das nicht mehr mitfand über das weite Meer ...

»O! und es ist noch nicht einmal recht Herbst! mein Gott! ... und bis es wieder Frühling wird ...«
muß ich nun eben deine Heimat sein! ...

[129] »Wenn ... du willst? ... o ja! o ... ja!!

aber ... weißt du:

du mußt dann viel, viel Sonne haben und Gärten und Wiesen mit Rosen und mit Schmetterlingen und einen großen grünen Wald, wo niemand sonst drin spielen darf, nur ich und du und die braunen Rehe und die Glockenblumenelfen ...

und immer, immer muß die Sonne scheinen, weißt du ... denn ich bin ja so ein ganz klein Ding und so kleine Dinger wie ich, brauchen viel, viel Sonne ... sonst sterben sie ... und ... ich möchte noch nicht sterben! ... es ist ja so schön auf der Welt! ...«


Und der Sturm heult ums Haus und die Wellen branden, daß wir es bis in das kleine Stübchen hereinhören und wir sitzen im Sofawinkel und lachen, wie gut wir uns vor dem Herbst draußen versteckt haben.

[130] Regen

Nun fängt es wieder an zu regnen und wie zwei Kinder hatten wir uns auf diesen letzten Tag gefreut: noch einmal all die lieben Wege zu gehen: im Wald, am Strand, zum Nordperd und den roten Klee entlang nach Middelhagen ... unsere schönen, lieben, grünen Wiesen hin ...

das Herz noch einmal satt zu trinken an all der seligfrohen Ruhe, an all dem süßen sonnigen Sonnenschein ...

und nun liegt alles grau in grau und immer neue Wolken schleifen über die Wiek und immer tiefer senken die Sonnenblumen ihre Kronen.

[131] Abschiedsmorgen

Die ganze Nacht über Südweststurm, der alle Wellen auf die hohe See hinaustrieb, und nun so still, wie es nur am Meer still sein kann und nur nach Sturm ...


Mit breiten Silberbändern liegt die Morgensonne auf dem Wasser ...

Aus der Prorer Wiek vor Saßnitz tauchen ein paar Boote mit kupferbraunen Segeln und hinter ihnen in der Ferne raucht der Dampfer auf ...


Langsam arbeitet sich der Gepäckwagen durch die Dünen ... und mit schweren Wasserstiefeln kommen die Fischer den Bretterweg herabgeklappert.

Koffer, Kisten, Körbe werden über den Steg geschleift und in die Kähne getürmt.

Allmählich sammeln sich auch die Abfahrenden ... drollig bepackt und beladen mit Mänteln, [132] Schirmen, Schachteln ... und Kistchen und Kästchen ... mit Sand und Steinen ... Jedes will etwas mitnehmen ...

Es wird eingebootet ...
Küsse, Grüße, Tücherwinken ...
Auf dem Dampfer ... Musik:

Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus
und du mei Schatz bleibst hier! ...

Wie wehmütig und wie lustig zugleich es über die weiten stillen Wasser klingt! ...

Wann i komm, wann i komm,
wann i wiederum komm,
kehr i ei, mei Schatz, bei dir!

Das letzte Boot hackt ab und fährt zurück.
Glockenzeichen ...
Kommandoruf ...
Maschinenstampfen ...
ein leiser Ruck ... und ... es ist vorbei!

[133] Die Stadt

Und nun liegt alles wieder im Schatten ... Wetterwolken stehen am Himmel ... grau in grau ...

und hinter Werften, Kohlenspeichern und Eisenbahnschuppen taucht die Stadt auf, im Dunst des Qualms von hundert Schlöten ... schwarz, rußig, schmutzig ...

die Stadt ... die stolze Zwingfeste des Menschen

und der Mensch der Stadt ... mit seinem müden, verfurchten Gesicht ... müd geworden in der gehässigen Angst um Heute und Morgen und verfurcht von seinem Kampf um ein bißchen Ruhe und Freude und Luft und Licht ...


und die stille, sonnüberlachte Insel mit ihren weiten freien Höhn, mit ihrem frohen weißen Strande liegt versunken wieder in die Ferne

[134] unauffindbar

wie die frühverlorene Jugend dieses Menschen.


Und doch:

er läutert Gold in seinen Essen und holt mit stolzen Schiffen Demant und Perlen über die Meere und schmiedet eine Krone in seinen Werkstätten ...

und diese Krone auf dem Haupte wird er

lächelnd das Schwert abgürten einmal

und als König

umjauchzt von Jubelliedern

wiederfinden die verlorne Spur.

Zierstück: Vignette

Ludwig von Hofmann, Vignette
[135]

Notes
Entstanden 1894 und 1897.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Flaischlen, Cäsar. Mönchguter Skizzenbuch. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B3FC-4