Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift

Erster Theil

Erstes Buch
1. Eine gelehrte Entdeckung
1.
Eine gelehrte Entdeckung.

Es ist später Abend in unserm Stadtwald, leise wispert das Laub in der lauen Sommerluft und aus der Ferne tönt das Geschwirr der Feldgrillen bis unter die Bäume.

Durch die Gipfel fällt bleiches Licht auf den Waldweg und das undeutliche Geäst des Unterholzes. Der Mond besprengt den Pfad mit schimmernden Flecken, er zündet im Gewirr der Blätter und Zweige verlorene Lichter auf, hier läuft es vom Baumstamme bläulich herab wie brennender Spiritus, dort im Grunde leuchten aus tiefer Dunkelheit die Wedel eines Farnkrautes in grünlichem Golde, und über dem Wege ragt der dürre Ast als ungeheures weißes Geweih. Dazwischen aber und darunter schwarze, greifbare Finsterniß. Runder Mond am Himmel, deine Versuche den Wald zu erleuchten sind unordentlich, bleichsüchtig und launenhaft. Bitte, beschränke deine Lichter auf den Damm, der zur Stadt führt, wirf deinen falben Schein nicht allzuschräge über den Weg hinaus, denn linker Hand geht es abschüssig in Sumpf und Wasser.

Pfui, du Lügner! da ist der Sumpf, und der Schuh blieb darin stecken. Aber dir ist das gerade recht, Täuschen und Betrügen ist deine liebste Arbeit, du Phantast unter den Sternen. Man wundert sich allgemein, daß die Menschen der Vorzeit dich als Gott verehrten. Einst hat das griechische Mädchen dich Selene gerufen und sie hat dir die Schale mit purpurnem[3] Mohn bekränzt, um durch deinen Zauber den treulosen Geliebten zu ihrer Thürschwelle zu locken. Damit ist es für immer vorbei. Wir haben die Wissenschaft und Photogen, und du bist herabgekommen zu einem armen alten Gaukler, der fern von Menschen im Walde umherflackert. Zu einem Gaukler! Man erweist dir noch allzuviel Ehre, wenn man dich überhaupt als lebendes Wesen behandelt. Was bist du denn eigentlich? eine Kugel ausgebrannter blasiger Schlacke, luftlos, farbenlos, wasserlos. Bah! eine Kugel? Unsere Gelehrten wissen, daß du nicht einmal rund bist, auch darin lügst du. Wir von der Erde haben dich nach unserer Seite in die Länge gezogen. Du bist gewissermaßen zugespitzt, und deine Gestalt ist erbärmlich und unregelmäßig. Du bist nichts als eine Art großer Erdrübe, welche sich in ewiger Sklaverei um uns herumwälzt.

Der Wald lichtet sich, zwischen der Stadt und dem Wanderer liegt noch eine weite Rasenfläche mit ihrem Weiher. Sei gegrüßt, du grüner Thalgrund; wohlgepflegte Kieswege ziehen sich über die Waldwiese, hier und da erhebt sich lustiges Gebüsch und eine Gartenbank. Auf der Bank rastet bei Tage der wohlhäbige Bürger; die Hände auf das spanische Rohr gestützt, sieht er stolz nach den Thürmen seiner guten Stadt hinüber. Ist heut auch die Flur verwandelt? Vor dem Wanderer breitet sich's wie eine wogende Wasserfläche, und es wallt, brodelt und ballt sich um die Füße, in endlosen Nebelmassen soweit das Auge reicht. Welches Geisterheer wäscht hier seine grauen Gewänder? Sie flattern von den Bäumen, sie ziehen durch die Luft, mattscheinend, zerfließend, sich wieder verwebend. Und höher erheben sich die dämmrigen Gebilde. Sie schweben dem Wanderer über das Haupt, die düstern Massen der Bäume verschwinden, auch den Himmel verbirgt die Dämmerung, jeder Umriß löst sich auf in ein Chaos von bleichem Licht und wogender Unform. Noch dauert die feste Erde unter den Füßen des Schreitenden, und doch wandelt er geschieden von allen wirklichen Gestalten der Erde unter leuchtenden körperlosen [4] Schatten. Hier sammelt sich's und dort wieder zu schwebendem Scheine. Langsam schweifen die Luftgebilde an dem Flor, der den Wanderer umhüllt. Hier dringt eine gebeugte Gestalt heran, einem knieenden Weibe vergleichbar, das vor Schmerz zusammenbricht, dort ein Zug in langen wallenden Gewändern wie römische Senatoren, an ihrer Spitze ein Kaiser mit der Strahlenkrone, aber die Krone und das Haupt zerfließen, kopflos und gespenstig gleitet der große Schatten vorüber. – Dunst der feuchten Wiese, wer hat dich so verwandelt? Wetter! das that wieder der Alte dort oben, der gaukelnde Mond.

Weicht hinterwärts, täuschende Bilder der Dämmerung. Das Thal ist durchschritten, vor dem Wanderer schimmern erleuchtete Fenster, hier ragen die nächsten Häuser der Stadt, zwei stattliche Häuser und zwei Hausbesitzer! Hier wohnen Menschen, Steuerzahler, rührig Schaffende; sie hüllen sich zur Nacht in warme Decken und nicht in deine wässrigen Gespinste, o Mond, welche als rollende Tropfen von Haar und Bart träufeln; sie haben ihre Launen und ihre Biederkeit und schätzen deinen Werth, Mond, genau nach den Summen, die du der Stadtkasse an Gaslicht ersparst.

In dem Hause zur linken Hand glänzt aus der obern Fensterreihe eine Lampe nahe den Scheiben. Vergeblich mühst du dich, bleiches Wolkenlicht, deine trügenden Strahlen auch dort hineinzuwerfen. Denn ihn, der dort wohnt, sollst du mit deinen Possen nicht kränken, er ist ein Kind der Sonne und ein Held dieser Geschichte. Es ist der Professor Felix Werner, ein gelehrter Philolog, noch ein junger Herr, aber von wohlverdientem Ruf. Da sitzt er an seinem Arbeitstisch und blickt auf verblichene alte Schrift; ein ansehnlicher Mann; wenn er aufsteht, von guter Mittelgröße, dunkles gelocktes Haar umgibt ihm ein großes Antlitz von kräftiger Bildung, nichts Kleines darin, helle treue Augen unter dunklen Brauen, die Nase leicht gebogen, die Muskeln des Mundes stark entwickelt, wie bei einem beliebten Lehrer der studirenden Jugend natürlich ist. [5] Jetzt gerade fährt ein feines Lächeln darüber und die Wangen sind ihm von der Arbeit oder geheimer Aufregung geröthet. Verschwinde hinter einer Wolke, Mond, die Gesellschaft meines Professors ist mir lieber.

Der Professor sprang von seinem Arbeitstisch auf und durchschritt einige Male eifrig das Zimmer, dann trat er an ein Fenster, welches auf das Nachbarhaus hinsah, stellte zwei große Bücher auf das Fensterbrett, legte ein kleineres darüber und brachte dadurch eine Figur hervor, welche einem griechischen P ähnlich sah und durch den Lichtschein dahinter für die Augen im Nachbarhause sichtbar wurde. Nachdem er dies telegraphische Zeichen gezimmert hatte, eilte er wieder an den Tisch und beugte sich von neuem über sein Buch.

Der Diener trat leise ein, das Abendessen wegzuräumen, welches auf einem Seitentisch zurechtgestellt war. Da er die Speisen unberührt fand, blickte er mißbilligend auf den Professor und blieb lange hinter dem leeren Stuhl stehen. Endlich rückte er sich in militärische Haltung: »Der Herr Professor haben das Abendbrot vergessen.«

»Räumen Sie ab, Gabriel,« befahl der Professor.

Gabriel bewies keinen guten Willen. »Der Herr Professor sollten wenigstens ein Stück kalten Braten zu sich nehmen. Aus Nichts wird Nichts,« fügte er wohlwollend hinzu.

»Es ist nicht in der Ordnung, daß Sie hereinkommen, mich zu stören.«

Gabriel nahm den Teller und trug ihn zum Professor. »Nehmen der Herr Professor wenigstens ein paar Bissen.«

»So geben Sie,« sagte der Professor und aß.

Gabriel benutzte die Pause, in welcher sein Herr widerstandslos bei verständlicher Thätigkeit verweilte, zu einer respectvollen Anmahnung: »Mein seliger Hauptmann hielt sehr auf ein gutes Abendessen.«

»Jetzt aber sind Sie ins Civile übersetzt,« versetzte der Professor lächelnd.

[6] »Es ist aber auch nicht in der Ordnung,« fuhr Gabriel hartnäckig fort, »wenn ich allein den Braten esse, den ich für Sie hole.«

»Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden,« versetzte der Professor und schob ihm den Teller zurück.

Gabriel zuckte die Achseln. »Es ist zum wenigsten guter Wille. Der Herr Doctor war nicht zu Hause.«

»Ich sehe. Sorgen Sie dafür, daß die Hausthür geöffnet bleibt.«

Gabriel machte Kehrt und entfernte sich mit den Tellern.

Wieder war der Gelehrte allein, das goldene Licht der Lampe fiel auf sein Antlitz und die Bücher, welche um ihn lagen, schneller rauschten die weißen Blätter unter der Hand des Nachschlagenden und in starker Spannung arbeiteten seine Züge.

Da pochte es an die Thür, der erwartete Besuch trat ein.

»Guten Abend, Fritz,« rief der Professor dem Eintretenden entgegen, »setze dich auf meinen Platz und sieh hierher.«

Der Gast, eine zarte Gestalt, mit feinen Zügen und einer Brille vor den Augen, rückte sich gehorsam zurecht und ergriff ein kleines Buch, welches Mittelpunkt eines Kreises von aufgeschlagenen Werken in jedem Alter und Format war. Mit Kennerblicken musterte er zuerst den Deckel: geschwärztes Pergament mit alten Noten und darunter geschriebenem Kirchentext, er warf einen spähenden Blick auf das Innere des Einbands und suchte nach den Pergamentstreifen, durch welche der übelerhaltene Rücken des Buches mit dem Deckel verbunden war. Dann erst sah er auf das erste Blatt des Inhalts, auf die vergilbten Buchstaben des geschriebenen Textes. »Das Leben der heiligen Hildegard – die Hand des Schreibers aus dem fünfzehnten Jahrhundert,« – sprach er, und sah den Freund fragend an.

»Nicht deshalb zeige ich dir das alte Buch.« Sieh weiter. Der Lebensgeschichte folgen Gebete, eine Anzahl Recepte und Wirthschaftsregeln von verschiedenen Händen bis über die Zeit Luthers hinaus. Ich hatte diese Blätter für dich gekauft, du konntest darin vielleicht etwas für deine Sagen oder Volksaberglauben [7] finden. Bei der Durchsicht aber traf ich auf einer der letzten Seiten diese Stelle, und ich muß dir jetzt das Buch noch vorenthalten. Es scheint, daß mehre Generationen eines Mönchsklosters das Buch benutzt haben, um Bemerkungen einzuzeichnen, denn auf diesem Blatt ist ein Verzeichniß von Kirchenschätzen des Klosters Rossau. Es war ein dürftiges Kloster, das Verzeichniß ist nicht groß oder nicht vollständig. Es wurde von einem unwissenden Mönch, soweit man aus seiner Schrift schließen kann, etwa um 1500 gemacht. Sieh, hier Kirchengeräth und wenige geistliche Gewänder, und hier einige theologische Handschriften des Klosters, für uns gleichgültig, darunter aber zuletzt folgender Titel: »Das alt ungehür puoch von ußfart des swigers.«

Der Doctor prüfte neugierig die Worte. »Das klingt wie Ueberschrift eines Rittergedichts. Und was bedeuten die Worte selbst: Ist der Ausfahrende ein Schwieger oder ein Schweigender?«

»Versuchen wir das Räthsel zu lösen,« fuhr der Professor mit glänzenden Augen fort, und wies mit dem Finger auf dasselbe Blatt. »Eine spätere Hand hat in lateinischer Sprache dazugeschrieben: ›Dies Buch ist latein, fast unlesbar, fängt an mit den Worten: lacrimas et signa und endet mit den Worten: Hier schließt der Geschichten – actorum – dreißigstes Buch.‹ Jetzt rathe.«

Der Doctor sah in das erregte Gesicht des Freundes: »Laß mich nicht warten. Die Anfangsworte klingen vielversprechend, aber ein Titel sind sie nicht, es mögen im Anfange Blätter gefehlt haben.«

»So ist es,« versetzte der Professor vergnügt. »Nehmen wir an: ein, zwei Blätter haben gefehlt. Im fünften Kapitel der Annalen des Tacitus stehen die Worte lacrimas et signa hintereinander.«

Der Doctor sprang auf, auch ihm flog ein freudiges Roth über das Antlitz.

[8] »Setze dich,« fuhr der Professor fort, den Freund niederdrückend. »Der alte Titel vor den Annalen des Tacitus lautete wörtlich übersetzt: ›Tacitus vom Ausgange des göttlichen Augustus‹, besser Deutsch: ›Vom Hinscheiden des Augustus ab.‹ Wohlan, ein unwissender Mönch entzifferte auf irgendeinem Blatte die ersten lateinischen Worte der Ueberschrift: ›Taciti ab excessu‹ und versuchte sie ins Deutsche zu übersetzen. Er war froh zu wissen, daß tacitus schweigsam bedeutet, hatte aber nie etwas von dem römischen Geschichtschreiber gehört, und übertrug also wörtlich: Vom Ausgange des Schweigenden.«

»Vortrefflich,« rief der Doctor. »Und der Mönch schrieb seine gelungene Uebersetzung des Titels auf die Handschrift. Triumph! Die Handschrift war ein Tacitus.«

»Höre noch weiter,« ermahnte der Professor. »Im dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bestanden die beiden großen Werke des Tacitus, die Annalen und Historien, in einer Sammlung vereint unter dem Titel: Dreißig Bücher Geschichten. Wir haben dafür mehre alte Zeugnisse, sieh her.«

Der Professor schlug bekannte Stellen auf und legte sie vor den Freund. »Und wieder am Ende der verzeichneten Handschrift stand: ›Hier schließt das dreißigste Buch der Geschichten.‹ Dadurch schwindet, wie mir scheint, jeder Zweifel, daß diese Handschrift ein Tacitus war. Und um das Ganze zusammenzufassen, war das Sachverhältniß folgendes: Zur Zeit der Reformation befand sich eine Handschrift des Tacitus im Kloster Rossau, der Anfang fehlte. Es war eine alte Handschrift, sie war durch die Zeit und ihre Schicksale für Mönchsaugen fast unlesbar geworden.«

»Es muß aber an dem Buch noch etwas Besonderes gehangen haben,« unterbrach der Doctor, »denn der Mönch bezeichnet es mit dem Ausdruck: ungeheuer, welches etwa unserm Wort unheimlich entspricht.«

»So ist es,« bestätigte der Professor. »Man darf muthmaßen, daß entweder eine Klostersage, die sich daran geheftet [9] hatte, oder ein altes Verbot, das Buch zu lesen, oder wahrscheinlicher eine ungewöhnliche Beschaffenheit des Deckels oder Formats diese Bezeichnung verursacht hat. Die Handschrift enthielt beide Geschichtswerke des Tacitus, welche durch fortlaufende Bücherzahl verbunden waren. Und wir,« fuhr er fort und warf in der Aufregung das Buch, welches er in der Hand hielt, auf den Tisch, »wir besitzen diese Handschrift nicht mehr. Keines von den beiden Geschichtswerken des großen Römers ist uns vollständig erhalten; uns fehlt, wenn wir die Lücken zusammenrechnen, wohl mehr als die Hälfte.«

Der Freund durchschritt hastig das Zimmer. »Das ist eine von den Entdeckungen, die das Blut schneller in die Adern treibt. Dahin und verloren! Aber es überläuft Einen heiß, wenn man deutlich empfindet, daß so wenig fehlte, einen kostbaren Schatz des Alterthums für uns zu retten. Er hat Völkermord, Brand und Zerstörung von anderthalb Jahrtausenden überdauert, er liegt noch zu der Zeit, wo das Morgenroth der neuen Bildung bei uns hereinbricht, glücklich verborgen und unbeachtet in einem deutschen Kloster, wenige Wegstunden von der großen Völkerstraße, auf welcher die Humanisten hin und her wandern, die Bilder römischer Herrlichkeit im Haupte, begierig nach jeder Ueberlieferung aus der Römerzeit suchend. Und kaum eine Tagreise entfernt erblühen Universitäten, auf denen die Jugend sich begeistert in lateinischen Versen und Prosa übt. Es lag so nahe, daß irgendein Mönch aus Rossau einem Ordensbruder davon erzählte, der die Kunde nach Mainz oder Köln trug. Es scheint unbegreiflich, daß nicht einer von den lateinischen Schullehrern, die sich damals über das ganze Land verbreiteten, Nachricht von dem Buche erhielt und den Brüdern etwas von dem Werth eines solchen Denkmals sagte. Und wie natürlich war, daß der geistliche Herr, welcher die Oberaufsicht über das Kloster übte, von dem geheimnißvollen Bande erfuhr und neugierig die verblichenen Blätter umschlug. Selbst dann wäre doch eine Kunde in die Welt gedrungen [10] und die Handschrift uns wahrscheinlich irgendwo erhalten. Aber nichts von alledem. Und im besten Fall hat ein Zeitgenosse von Erasmus und Melanchthon, ein armer hungernder Mönch, die Handschrift an den Buchbinder verkauft, und abgeschnittene Streifen kleben noch irgendwo an alten Einbänden. Sogar dafür ist diese Nachricht wichtig. Das war eine schmerzliche Freude, die dir das kleine Buch bereitet hat.«

Der Professor faßte die Hand des Freundes, die bei den Männer sahen einer dem andern in das treue Gesicht. »Nehmen wir an, der alte Erbfeind erhaltener Schätze, das Feuer, habe auch diese Handschrift verzehrt,« schloß der Doctor traurig. »Wir sind Kinder, daß wir den Verlust empfinden, als hätten wir ihn heut erlitten.«

»Wer sagt uns, daß die Handschrift unwiederbringlich verloren ist?« entgegnete der Professor in unterdrückter Bewegung. »Noch einmal setze dich vor das Buch, es weiß uns auch von den Schicksalen der Handschrift zu erzählen.«

Der Doctor sprang an den Tisch und ergriff das Büchlein von der heiligen Hildegard.

»Hier hinter dem Verzeichniß,« sprach der Professor und wies auf die letzte Seite des Buches, »steht noch mehr.«

Der Doctor starrte auf das Blatt, lateinische Buchstaben ohne Sinn und Wortabsatz waren in sieben Zeilen zusammengeschrieben, darunter stand ein Name: F. Tobias Bachhuber.

»Vergleiche diese Buchstaben mit jener lateinischen Bemerkung neben dem Titel der unheimlichen Handschrift. Es ist unzweifelhaft dieselbe Hand, feste Züge des siebzehnten Jahrhunderts, hier das s, r, dasf

»Es ist dieselbe Hand,« rief der Doctor vergnügt.

»Die Buchstaben ohne Sinn sind kindliche Geheimschrift, wie man sie im siebzehnten Jahrhundert übte. Diese hier ist leicht zu lösen, jeder Buchstabe ist mit seinem folgenden vertauscht. Auf einen Zettel habe ich die lateinischen Worte des Textes zusammengestellt. Die Worte lauten auf Deutsch: [11] Beim Herannahen des wüthenden Schweden habe ich, um den verzeichneten Schatz unseres Klosters den Nachstellungen des brüllenden Teufels zu entziehen, dies alles an einer trocknen und hohlen Stelle des Hauses Bielstein niedergelegt. Am Tage Quasimodogeniti 37. Also am 19. April 1637. – Was sagst du nun, Fritz? Es scheint doch, die Handschrift war bis in den dreißigjährigen Krieg nicht verbrannt, denn Frater Tobias Bachhuber – sein Andenken sei gesegnet – hat sie in dieser Zeit noch einer Betrachtung gewürdigt, und da er ihr in dem Verzeichniß eine besondere Anmerkung gönnt, wird er sie zuverlässig bei der Flucht nicht zurückgelassen haben. Die geheimnißvolle Handschrift war also bis zum Jahre 1637 im Kloster Rossau, und der Frater hat sie im April dieses Jahres mit anderer Habe in der hohlen und trocknen Stelle des Schlosses Bielstein vor Baners Schweden verborgen.«

»Jetzt wird die Sache Ernst,« rief der Doctor.

»Ja, es ist Ernst, mein Freund; nicht unmöglich, daß die Handschrift noch irgendwo verborgen dauert.«

»Und Schloß Bielstein?«

»Es liegt nahe bei dem Städtchen Rossau. Das Kloster hat unter dem Schutze des geistlichen Schirmherrn bis zum dreißigjährigen Kriege in dürftigen Verhältnissen fortbestanden; im Jahre 1637 wurde Stadt und Kloster durch die Schweden verwüstet. Die letzten Mönche verloren sich, das Kloster wurde nicht wieder eingerichtet. Das ist alles, was ich zur Zeit erfahren konnte. Für das Weitere erbitte ich deine Hilfe.«

»Die nächste Frage ist, ob das Schloß den Krieg überdauert hat,« versetzte der Doctor, »und was bis jetzt daraus geworden. Schwerer wird zu ermitteln sein, wo Bruder Tobias Bachhuber geendet hat, und am schwersten, durch welche Hände sein kleines Buch auf uns gekommen ist.«

»Das Buch fand ich heut bei einem hiesigen Antiquar, es war neuer Erwerb und noch nicht in sein Verzeichniß aufgenommen. Die weitere Auskunft, welche der Verkäufer etwa [12] geben kann, werde ich morgen holen. Es lohnt doch, nachzufragen,« fuhr er kühler fort, bemüht, einen Strom verständiger Erwägung über die aufbrennende Glut seiner Hoffnungen zu leiten. »Seit jener geheimen Notiz des Fraters sind mehr als zweihundert Jahre verflossen, die zerstörenden Kräfte waren in dieser Zeit nicht weniger thätig als früher, vor andern Krieg und Raub der Jahre, in denen das Kloster zu Grunde ging. So sind wir zuletzt nicht weiter, als wenn die Handschrift einige hundert Jahre früher verloren wäre.«

»Und doch steigt mit jedem Jahrhundert die Wahrscheinlichkeit, daß die Handschrift bis zur Gegenwart erhalten ist,« warf der Doctor ein, »selbst wenn man für jedes Jahrhundert eine gleiche Zahl von Angriffen auf das Bestehende annimmt. Aber die Zahl der Menschen, welche das Merkwürdige eines solchen Fundes ahnen, ist seit jenem Kriege so groß geworden, daß wenigstens eine Zerstörung durch rohe Unwissenheit fast undenkbar wird.«

»Wir dürfen darin auch dem Wissen der Gegenwart nicht zu viel vertrauen,« warf der Professor ein. »Wenn es aber wäre,« fuhr er auf, und seine Augen strahlten, »wenn uns die Kaisergeschichte des ersten Jahrhunderts, wie sie Tacitus geschrieben, durch ein günstiges Geschick zurückgegeben würde, es wäre ein Geschenk, so groß, daß der Gedanke an die Möglichkeit einen ehrlichen Mann wohl berauschen darf, wie römischer Wein.«

»Unschätzbar,« bestätigte der Doctor, »für unsre Kenntniß der Sprache, für hundert Einzelheiten römischer Geschichte.«

»Für die älteste Geschichte deiner Germanen,« rief der Professor.

Beide maßen wieder mit schnellen Schritten die Stube, schüttelten einander die Hände und sahen einer den andern fröhlich an.

»Und wenn ein günstiger Zufall auf dieser Spur zu der Handschrift leitete,« begann Fritz, »wenn sie durch dich dem Tageslicht zurückgegeben würde, du, mein Freund, du bist auch [13] der beste Mann, sie herauszugeben. Der Gedanke, daß deinem Leben eine solche Freude und so ruhmvolle Arbeit werden könnte, macht mich glücklicher als ich sagen kann.«

»Finden wir die Handschrift,« versetzte der Professor, »so kann sie nur von uns beiden zusammen herausgegeben werden.«

»Von uns?« frug Fritz verwundert.

»Von dir mit mir,« entschied der Professor, »das soll deine Tüchtigkeit in weiteren Kreisen bekanntmachen.«

Fritz trat zurück. »Wie kannst du glauben, daß ich so etwas annehmen würde?«

»Widersprich mir nicht,« rief der Professor, »du bist vollkommen dafür geeignet.«

»Das bin ich nicht,« versetzte Fritz fest, »und ich bin zu stolz, etwas zu unternehmen, wobei ich deiner Güte mehr verdankte als meiner Kraft.«

»Das ist ungeschickte Bescheidenheit,« rief der Professor wieder.

»Ich werde es nie thun,« entgegnete Fritz. »Du verleugnest dein Zartgefühl, wenn du nur einen Augenblick daran denkst, daß ich mich vor dem Publicum mit fremden Federn schmücken könnte.«

»Ich weiß besser als du,« rief unwillig der Professor, »was du vermagst und was dir frommt.«

»Jedenfalls frommt mir nicht, dir, der du bei der Arbeit selbst den Löwenanteil haben würdest, den Lohn dafür heimlich abzunagen. Nicht meine Bescheidenheit, sondern meine Selbstschätzung verbietet das. Und dies Gefühl sollst du ehren,« schloß Fritz mit großer Energie.

»Nun,« lenkte der Professor ein, die auflodernde Empfindung bändigend, »vorläufig geberden wir uns wie der Mann, welcher Haus und Acker vom Erlös eines Kalbes kaufte, das ihm noch nicht geboren war. Sei ruhig, Fritz, nicht du, nicht ich werden die Handschrift herausgeben.«

»Und niemals werden wir erfahren, was römische Kaiser an Thusnelda und Thumelicus gefrevelt haben,« sagte Fritz und trat wieder teilnehmend zu dem Freunde.

[14] »Aber es sind doch nicht Einzelheiten, welche uns den größten Gewinn brächten,« begann der Professor ruhiger, »und nicht, daß wir diese missen, macht uns den Verlust der Handschrift empfindlich. Denn für die Hauptsachen versagen andere Quellen nicht. Das Wichtigste wäre immer, daß Tacitus der erste und in mancher Hinsicht der einzige Geschichtschreiber ist, der höchst auffallende, unheimliche Seiten der menschlichen Natur dargestellt hat. Seine Werke sind uns zwei geschichtliche Tragödien, Scenen des Julischen und des Flavischen Kaiserhauses, markerschütternde Bilder der ungeheuren Umwandlung, welche durch ein Jahrhundert der größte Staat des Alterthums, die Seelen der Gehorchenden, die Charaktere der Herrscher erfahren; die Geschichte einer Tyrannenherrschaft, welche die edlen Geschlechter vertilgt, eine hohe und reiche Bildung heraustreibt und verdirbt, vor allem die Herrschenden selbst mit wenigen Ausnahmen entmenschlicht. Wir haben bis zur Gegenwart kaum ein anderes Werk, dessen Verfasser so spähend in die Seelen einer ganzen Reihe von Fürsten blickt, so scharf und genau die Verwüstungen schildert, welche die dämonische Krankheit der Könige in den verschiedensten Naturen hervorgebracht hat.«

»Mich hat immer geärgert,« sagte der Doctor, »wenn man ihm vorwarf, daß er zumeist Kaiser- und Hofgeschichte geschrieben. Wer darf Trauben von einer Cypresse verlangen und behagliche Freude an dem großartigen Staatsleben von einem Manne, der durch einen großen Theil seines Mannesalters täglich Messer und Giftbecher eines wahnsinnigen Despoten vor seinen Augen sah.«

»Ja,« fuhr der Professor beistimmend fort, »er gehörte zu den Aristokraten, deren Häupter hoch über die Menge herausragen, eine Körperschaft, unfähig zum Regieren, unwillig im Gehorsam. In dem Gefühl einer bevorzugten Stellung waren sie die unentbehrlichen Diener, die stillen Feinde und Rivalen der Fürsten, in ihnen bildeten sich die Tugenden und [15] Laster einer gewaltigen Zeit zu ungeheuren Erscheinungen. Wer sollte die Geschichte römischer Fürsten schreiben als ein Mann aus diesem Kreise? Durch Palastintriguen und stillen Einfluß dunkler Nebengestalten entwickeln sich die Thatsachen, die schwärzeste Missethat verbirgt sich hinter den steinernen Wänden des Palastes, das Gerücht, das leise Gemurmel des Vorzimmers, der lauernde Blick versteckten Hasses sind oft die einzigen Quellen des Geschichtschreibers. Uns bleibt vor solcher Zeit nichts übrig, als bescheiden das Urtheil des Mannes zu schätzen, der uns von diesen fremdartigen Zuständen Kunde überliefert hat. Wer die erhaltenen Bruchstücke des Tacitus ehrlich und gescheidt betrachtet, der wird seinen sichern Blick in die tiefsten Falten eines römischen Gemüthes bewundernd ehren. Es ist ein erfahrener Staatsmann, ein kräftiger und wahrhafter Geist, der uns die geheime Geschichte seiner Zeit so erzählt, daß wir die Menschen und all ihr Thun verstehen, als ob wir selbst Gelegenheit hätten, ihnen in das Herz zu sehen. Wer das vermag für spätere Jahrtausende, der ist nicht nur ein großer Geschichtschreiber, er ist auch ein bedeutender Mensch. Und vor solcher Gestalt habe ich immer eine tiefherzliche Ehrfurcht empfunden, und ich halte für eine Pflicht ernster Kritik, das Mäkeln der Kleinen von solchem Bilde fern zu halten.«

»Schwerlich hat einer seiner Zeitgenossen,« bestätigte der Doctor, »so tief die Schwächen der eigenen Zeitbildung gefühlt als er. Immer hat mich gerührt, wie er das Schwerflüssige seiner Sprache, das Vieldeutige des Ausdrucks mit der Scheu und Vorsicht entschuldigt, welche unter der Herrschaft des Scheusals Domitian auch in die Seelen der Besten geschlagen wurden.«

»Ja,« schloß der Professor, »er ist ein Mann, soweit das in seiner Zeit noch möglich war, und das ist zuletzt die Hauptsache. Denn was uns am meisten fördert, ist doch nicht die Summe des Wissens, die wir einem großen Manne verdanken, sondern seine eigene Persönlichkeit, die durch das, was er für [16] uns geschaffen, ein Theil unseres eigenen Wesens wird. Der Geist des Aristoteles ist für uns noch etwas Anderes als die Summe seiner Lehren, welche wir aus den erhaltenen Büchern zusammensuchen. Und Sophokles bedeutet uns etwas ganz Anderes als sieben erhaltene Tragödien. Die Art, wie er dachte, fühlte, das Schöne empfand, das Gute wollte, die soll ein Stück von unserm Leben werden. Dadurch vor allem wirkt das Wissen aus vergangener Zeit befruchtend auf unser Sein und Wollen. In diesem Sinne ist auch die schwermüthige, trauervolle Seele des Tacitus für mich weit mehr als selbst seine Schilderungen des Kaiserwahnsinns. – Sieh, Fritz, und deshalb sind mir dein Sanskrit und deine Inder nicht recht, ihnen fehlen die Männer.«

»Sie sind wenigstens für uns schwer erkennbar,« erwiederte der Freund. »Aber wer, wie du, die homerischen Gesänge den Studenten erklärt, der darf nicht verkennen, welcher Reiz darin liegt, in die geheimnißvollsten Tiefen des menschlichen Schaffens hinabzusteigen, in die Periode der Menschheit, wo noch die junge Volkskraft den Einzelnen, welcher in ihr arbeitet, unserm Blicke verdeckt, und das Volk selbst in Poesie, Sage, Recht, wie ein Einzelwesen Lebendiges gestaltend, vor uns tritt.«

»Wer sich nur damit beschäftigt,« versetzte der Professor eifrig, »der wird leicht phantastisch und weich. Das Studium solcher Urzeiten wirkt wie orientalischer Mohnsaft. Die Arbeit unter diesen schillernden, undeutlichen Gebilden, welche im Dunkel aufleuchten und wieder verschwinden, verführt zu ungeregeltem Combiniern; wer sein Lebtag darüber verweilt, wird auch in den Gesichtspunkten, durch die er sein eigenes Leben bestimmt, schwerlich Willkür fernhalten.«

Fritz stand auf. »Das ist unser alter Streit. Ich weiß, du willst mir nichts Hartes sagen, aber ich empfinde, daß du dabei an mich denkst.«

»Und habe ich Unrecht?« fuhr der Professor fort, »wahrlich [17] ich habe Respect vor jeder geistigen Arbeit, aber meinem Freund möchte ich die gönnen, welche für ihn am segensreichsten ist. Dein Suchen im indischen Götterglauben und deutscher Mythologie lockt dich von einem Räthsel zu dem andern; in dem endlosen Gebiet von unklaren Anschauungen und Bildern unter wesenlosen Schatten soll eine junge Kraft nicht immer weilen. Zwinge dich zu einem Abschluß. Auch aus äußern Gründen. Es taugt dir nicht, Privatgelehrter zu sein, das Leben ist zu bequem, der äußere Zwang, ein bestimmtes Gebiet von Pflichten fehlen dir. Du hast mehre von den besten Eigenschaften eines Lehrers. Sitze nicht im Hause der Eltern, du mußt Universitätslehrer werden.«

Dem Freunde stieg eine dunkle Röthe langsam über die Wangen. »Es ist genug,« rief er gekränkt, »wenn ich zu wenig an meine Zukunft gedacht habe, du sollst mir darüber keine Vorwürfe machen. Es war mir vielleicht zu große Freude, an deiner Seite zu leben und der stille Vertraute deiner kräftigen Arbeit zu sein. Etwas von dem Segen, den das Leben eines Mannes allen mittheilt, die an seinem geistigen Schaffen theilnehmen, habe ich in deiner Nähe doch auch empfunden. Gute Nacht.«

Der Professor ging auf ihn zu und faßte seine beiden Hände. »Bleibe,« rief er, »bist du mir böse?«

»Nein,« erwiederte Fritz, »aber ich gehe.« Er schloß leise die Thür.

Der Professor ging mit starken Schritten auf und ab, machte sich Vorwürfe über seine Heftigkeit und sorgte um die Stimmung des Freundes. Endlich warf er die Bücher, welche Telegraphendienste verrichtet hatten, heftig auf die Bretter zurück und trat wieder an den Arbeitstisch.

Gabriel leuchtete dem Doctor die Treppe hinab, öffnete die Hausthür und schüttelte den Kopf, als sein Nachtgruß bei dem Herrn nur kurze Erwiederung fand. Er löschte das Licht und horchte nach dem Zimmer seines Herrn. Als er die [18] Schritte des Professors hörte, entschloß er sich, noch einige Züge lauer Abendluft zu schöpfen und stieg in den kleinen Hausgarten. Dort stieß er auf den Hausbesitzer Herrn Hummel, welcher wahrscheinlich in derselben Absicht unter den Fenstern des Professors spazierte. Herr Hummel war ein breitschultriger Mann mit einem großen Kopfe und eigensinnigem Gesicht, wohlhäbig und gut erhalten, von ehrbarem und altfränkischem Anstrich. Er rauchte aus seiner langen Pfeife mit einer sehr dicken Spitze, an welcher eine Reihe kleiner Kirchthurmsknöpfe hinter einander stand.

»Ein schöner Abend, Gabriel,« begann Herr Hummel, »ein gutes Jahr, das wird eine Ernte!« Er stieß den Diener vertraulich an: »Da oben hat's heut etwas gegeben, das Fenster stand offen. Nicht daß ich horchen wollte, aber ich mußte so manches vernehmen, Gabriel!« schloß er bedeutsam und bewegte mißbilligend seinen Hausbesitzerkopf.

»Er hat wieder das Fenster aufgemacht,« versetzte Gabriel ausweichend. »Die Fledermaus und die Motte werden bei der freien Aussicht zudringlich, und wenn er mit dem Doctor discurrirt, sind beide manchmal so laut, daß die Leute auf der Straße stehen bleiben und zuhören.«

»Verschluß ist immer gut,« bestätigte Herr Hummel. »Was hat's denn eigentlich gegeben? Der Doctor ist der Sohn von da drüben, und Sie kennen meine Meinung, Gabriel, ich traue nicht. Ich will Niemandem zu nahe treten, aber was von jenem Hause kommt, darüber habe ich so meine Ansichten.«

»Worüber es ging?« antwortete Gabriel, »ich hab's nicht gehört, aber das kann ich Ihnen genau sagen, es ging über die alten Römer. Sehen Sie, Herr Hummel, wenn wir die alten Römer hätten, so wäre Vieles bei uns anders. Das waren Eisenbeißer, die verstanden zu fuuragiren. Sie führten Krieg, sie eroberten hier und dort.«

»Sie sprechen ja wie ein Mordbrenner,« sagte Herr Hummel mißbilligend.

[19] »Ja, sie thaten es nicht anders,« erwiederte Gabriel selbstzufrieden, »sie waren ein eigennütziges Volk und hatten Haare auf den Zähnen wie die Igel. Und was am wunderbarsten ist, wieviel Bücher diese Römer bei alledem geschrieben haben. Kleine und große, viele auch in Folio. Wenn ich die Bibliothek abstäube, nimmt es mit den Römern kein Ende, jede Art von Kaliber, und manche sind dicker als die Bibel. Nur sind alle schwer zu lesen, wer aber die Sprache versteht, erfährt Vieles.«

»Die Römer sind ein abgestorbenes Volk,« versetzte Herr Hummel, »als es mit ihnen zu Ende ging, kamen die Deutschen. Der Römer würde es bei uns niemalen thun. Das Einzige, was uns helfen kann, ist die Hansa. Das ist die Einrichtung. Mächtig zur See, Gabriel,« rief er und schüttelte den Rock desselben an einem Knopfe, »die Städte müssen es unternehmen, Bündnisse, Capitalaufnahme, denn Handel ist da, Credit ist da, an Menschen fehlt's nicht. Schiffe bauen, Flaggen aufhissen.«

»Und wollen Sie mit Ihrem Kahne auf das große Meer?« frug Gabriel und wies mit der Hand auf einen kleinen Kahn, der an der hintern Seite des Gartens umgestülpt auf zwei Hölzern lag. »Soll ich mit meinem Professor auf die See gehen?«

»Davon ist nicht die Rede,« versetzte Herr Hummel, »aber die jungen Leute, welche zuvörderst unnütz sind. Mancher könnte etwas Besseres thun, als bei seinen Eltern zu Hause sitzen. Warum soll Ihr Doctor von drüben nicht als Matrose für's Vaterland mitgehen?«

»Ich bitte Sie, Herr Hummel,« rief Gabriel erschrocken, »der junge Herr? Er hat ja ein kurzes Gesicht.«

»Thut nichts,« brummte Hummel, »dafür gibt's auf der See Fernröhre, und er kann's ja meinetwegen bis zum Kapitän bringen. Ich bin nicht der Mann, der seinem Nächsten etwas Böses wünscht.«

[20] »Er ist ein Gelehrter,« entgegnete Gabriel, »und dieser Stand ist auch nöthig. Ich versichere Sie, Herr Hummel, ich habe über das gelehrte Wesen nachgedacht, ich kenne meinen Professor genau und zuweilen den Doctor, und ich muß sagen, es ist etwas an der Sache, es ist viel daran. Manchmal bin ich zweifelhaft. Wenn der Schneider den neuen Rock bringt, merkt so Einer nicht, was Jedermann weiß, ob ihm der Rock sitzt oder ob auf dem Rücken Falten sind. Wenn er auf den Einfall kommt, von einem Bauer eine Fuhre Holz zu kaufen, die vielleicht doch nur gestohlen ist, so bezahlt er hinter meinem Rücken das Holz viel theurer als jeder Mensch. Und wenn er unversehens ärgerlich wird und sich streitet über Dinge, die wir beide ruhig miteinander besprechen, so wird mir die Sache zweifelhaft. Wenn ich aber dann sehe, wie er sonst ist, barmherzig und freundlich sogar gegen die Fliegen, die um seine Nase tanzen – denn er holt sie mit dem Löffel aus dem Kaffe und setzt sie draußen auf's Fensterbrett – und wie er aller Welt das Beste gönnen möchte, und wie er sich selber gar nichts gönnt und noch tief in der Nacht liest und schreibt, so wird mir seine ganze Geschichte gewaltig. Und ich sage Ihnen, ich lasse nichts auf die Gelehrten kommen. Sie sind anders als wir, sie verstehen nicht, was unsereiner versteht. Aber wir verstehen nicht, was sie verstehen.«

»Nun, man hat auch seine Bildung,« versetzte Herr Hummel. »Was Sie sagen, Gabriel, haben Sie als ein achtbarer Mensch gesprochen, aber das Eine will ich Ihnen anvertrauen, man kann eine große Wissenschaft haben und ein recht hartherziges Subject vorstellen, das sein Geld auf Wucherzinsen gibt und seinen guten Freunden die Ehre abschneidet. Und deswegen meine ich: die Hauptsache ist Ordnung und Grenze und seinen Nachkommen etwas hinterlassen. Ordnung hier,« er wies auf seine Brust, »und Grenze dort,« er wies auf seinen Zaun, »daß man sicher weiß, was einem selbst gebührt und was dem Andern gehört. Und für die Kinder ein festes [21] Eigenthum, auf dem sie sitzen; dann mögen diese wieder für ihre Kinder sorgen. Das ist, was ich unter Menschenleben verstehe.«

Der Hausherr verschloß die Thür des Zaunes und die Thür des Hauses, auch Gabriel suchte sein Lager, aber noch lange brannte die Lampe in der Arbeitsstube des Professors, und ihre Strahlen kreuzten sich an der Fensterbrüstung mit dem bleichen Schein des Mondes. Endlich verlosch die Leuchte des Gelehrten, das Zimmer stand leer; draußen am Himmel fuhren kleine Wolken an der Mondscheibe vorüber, und dämmrige Lichter tanzten jetzt als Beherrscher der Stube über den Schreibtisch, über die Werke der alten Römer und über das Büchlein des seligen Frater Tobias.

2. Die feindlichen Nachbarn
2.
Die feindlichen Nachbarn.

In künftigen Zeiten wird, wie man hört, auf dem Erdball eitel Freude und Liebe sein. Die Menschheit wird in wassergrünem und himmelblauem Gewande einhergehen, Sandalen an den Füßen und Palmzweige in der Hand, um dem letzten Haß und der letzten Bosheit Salz auf den Schwanz zu streuen und diese Nachtvögel für das große Museum der Zukunft auszustopfen. Bei solcher Jagd wird man finden, daß das letzte Nest der Unholde zwischen den Wänden zweier Nachbarhäuser hängt. Denn zwischen Nachbar und Nachbar nisten sie, seit der Regen vom Dach des einen Hauses in den Hof des andern rieselt, seit der Sonnenstrahl durch eine Hausmauer der andern vorenthalten wird, seit Kinder die Hände durch den Zaun stecken, um Beeren zu naschen, seit der Hausherr nicht abgeneigt ist, sich selbst für besser zu halten als seine Mitmenschen. Und es gab zu unsern Tagen wenig Gebäude im Lande, zwischen [22] denen Widerwille und feindliche Kritik so arg wirtschafteten als zwischen den beiden Häusern am großen Stadtpark.

Viele erinnern sich der Zeit, wo die Häuser der Stadt noch gar nicht bis an den waldigen Thalgrund reichten. Damals hatte die Thalgasse nur wenige kleine Menschenwohnungen, dahinter lag ein wüster Raum, Frau Knips, die Wäscherin, trocknete dort Bürgerhemden und ihre beiden unartigen Jungen warfen einander mit den Holzklammern. Da hatte Herr Hummel einen Trockenplatz am letzten Ende der Straße gekauft und hatte darauf sein schönes Haus gebaut in zwei Stockwerken mit steinernen Stufen und eisernem Gitter, und dahinter ein einfaches Arbeitshaus für sein Geschäft, denn er war Hutfabrikant und trieb die Sache sehr ins Große. Und wenn er aus seinem Hause trat und die Vorsprünge des Daches und die Gipsarabesken unter den Fenstern musternd überschaute, so sah er von allen Seiten Licht und Luft und freie Natur und empfand sich als den vordersten Pfeiler der Civilisation gegen den Urwald.

Da begegnete ihm, was manchem Pionier der Wildniß die Ruhe stört: sein Beispiel fand Nachahmung. An einem finstern Morgen des März kam ein Wagen mit alten Brettern an den Wäschplatz gefahren, der ihm gegenüber lag, schnell wurde ein Plankenzaun zusammengeschlagen, Tagelöhner mit Haue und Handkarren begannen Grund zu graben. Das war ein harter Schlag für Herrn Hummel. Aber sein Leid wurde größer. Als er zornig über die Straße schritt und den Maurermeister nach dem Namen des Mannes frug, der gegen Licht und Ruhm seines Hauses feindlich arbeiten ließ, da erfuhr er, daß sein künftiger Nachbar der Fabrikant Hahn sein sollte. Von allen Menschen auf der Welt war dieser der größte Tort, den ihm das Schicksal anthun konnte. Nicht eigentlich als Bürger betrachtet, er war nicht unreputirlich, es ließ sich gegen die Familie nichts Schweres einwenden, aber er war Hummels natürlicher Gegner, denn das Geschäft des neuen Ansiedlers [23] bewegte sich auch um Hüte, und zwar um Strohhüte. Diesen leichten Plunder zu verfertigen ist nie für eine ernste Männerarbeit gehalten worden, es war nie ein zünftiges Handwerk, es hat nie das Recht gehabt, Lehrlinge frei zu sprechen, es ist sonst nur von italienischen Bauern betrieben worden, es hat sich als eine Neuerung mit andern schlechten Sitten erst spät in der Welt verbreitet, es ist im Grunde gar kein Geschäft, man kauft Strohbänder und läßt sie durch zusammengelaufene Mädchen im Wochenlohn aneinandernähen. Und es besteht eine alte Feindschaft zwischen Filzhut und Strohhut. Der Filzhut ist eine historische Macht, durch Jahrtausende geheiligt, nur die Mütze duldete er neben sich, als gemeine Einrichtung für Werkeltage. Da erhob der Strohhut seine Anmaßungen gegen verbrieftes Recht und beanspruchte frech die Hälfte des Jahres. Seit der Zeit schwanken die Wagschalen des irdischen Beifalls zwischen diesen beiden Attributen des Menschengeschlechts. Wenn der unstäte Sinn der Sterblichen nach dem Stroh zuschwankt, bleibt der schönste Filz, Felbel, Seide und Pappe unbeachtet stehn, von der Luft ausgezogen, von Motten zerbissen. Hinwiederum wenn die Neigungen der Menschen nach dem Filz hinfluthen, trägt alles Geborne, Frauen, Kinder und Kindermädchen, kleine Männerhüte, dann liegt das Stroh kläglich, kein Herz schlägt dafür und die Hausmaus nistet in dem schönsten Geflecht.

Das war für Herrn Hummel ein starker Grund zum Zorn. Aber es wurde noch ärger. Er sah täglich, wie das feindliche Haus aus dem Boden wuchs, er beobachtete die Gerüste, die aufsteigenden Mauern, die Zieraten der Gesimse, die Fensterreihen, – es war zwei Fenster länger als sein Haus. Das Erdgeschoß hob sich in die Höhe, ein zweiter Stock, zuletzt gar ein dritter – alle Fabrikräume des Strohmanns wurden dem Wohnhaus einverleibt. Das Haus des Herrn Hummel war zu einem unbedeutenden Dinge herabgedrückt. Da schritt er zu seinem Advocaten und forderte Rache [24] wegen entzogenem Licht und verschlechterter Aussicht. Natürlich zuckte dieser die Achseln. Das Recht Häuser zu bauen gehörte zu den Grundrechten der Menschheit, es war auch gemeines deutsches Herkommen in Häusern zu leben, und es war voraussichtlich hoffnungslos zu beantragen, daß Hahn auf seinem Grundstück nur ein. Leinwandzelt errichten dürfe. So war durchaus nichts zu thun als sich mit Geduld zu fügen, und Herr Hummel hätte sich das selbst sagen sollen.

Seitdem waren Jahre vergangen. Zu derselben Stunde vergoldete das Sonnenlicht die Parkseite der beiden Häuser, stattlich und bewohnt standen sie da, beide gefüllt mit Menschen, welche täglich aneinander vorbeigingen. Zu derselben Stunde trat der Briefträger über beide Thürschwellen, die Tauben flogen von dem einen Dach auf das andere, die Sperlinge an den beiden Hausrinnen traten in die gemüthlichsten Beziehungen; um das eine Haus roch es zuweilen ein wenig nach Schwefel, um das andere nach versengten Haaren, aber derselbe Sommerwind trieb vom Walde den Harzgeruch und den Duft der Lindenblüthen durch beide Hausthüren. Und doch, die tiefe Abneigung der beiden Häuser hatte sich nicht verringert. Das Haus Hahn empfand einen Widerwillen gegen versengte Haare, und die Familie Hummel hustete in ihrem Garten zornig, sooft eine Spur von Schwefel in dem Sauerstoff der Luft geargwöhnt wurde.

Zwar wurde das anständige Verhalten zu der Nachbarschaft nicht ganz mit Füßen getreten, wenn auch der Filz eine Neigung zu bärbeißigem Verhalten hatte, das Stroh war biegsamer und bewies in mehren Fällen seine Nachgiebigkeit. Beide Hausherren hatten eine bekannte Familie, in welcher sie zuweilen zusammentrafen, ja beide hatten einmal vor demselben Täufling gestanden und darauf geachtet, daß einer nicht weniger Pathengeld gab als der andere. Deshalb entstand ein unvermeidliches Grüßen, so oft man ihm nicht aus dem Wege gehen konnte. Aber dabei blieb es. Zwischen dem [25] Markthelfer, welcher die Strohhüte schwefelte, und den Arbeitern, welche über den Hasenhaaren walteten, bestand glühender Haß. Und die kleinen Leute, welche in den nächsten Häusern der Straße wohnten, wußten das und thaten redlich das Ihre, um das bestehende Verhältniß aufrecht zu erhalten. Auch konnte in der That das Wesen der beiden Hausherren schwerlich zusammenstimmen. Der Dialekt war verschieden, die Bildung hatte einen anderen Strich, was der eine an Leibgerichten und andern Einrichtungen des Lebens lobte, mißfiel dem andern; Hummel war aus einem Baumstamm des nördlichen Deutschland an das Licht geflogen, Hahn aus einer kleinen Stadt in der Nähe herzugeflattert.

Wenn Herr Hummel von seinem Nachbar Hahn sprach, so nannte er ihn das Strohfeuer und den Phantasten. Herr Hahn war ein sinniger Mann, still und fleißig über seinem Geschäft, in den Freistunden aber ergab er sich ausfallenden Liebhabereien. Unleugbar waren diese darauf berechnet, dem wandelnden Publicum, welches zwischen den beiden Häusern nach der Waldwiese und den grünen Bäumen hinauszog, einen guten Eindruck zu machen. In dem kleinen Garten hatte er nacheinander die meisten Erfindungen gehäuft, durch welche moderne Gartenkunst die Erde verschönert. Zwischen den drei Fliederbüschen erhob sich ein Felsen aus Tuffstein gemauert mit schmalem und steilem Pfade zur Höhe, daß nur feste Bergsteiger ohne Alpenstock die Expedition nach dem Gipfel wagen konnten, auch sie in Gefahr, mit der Nase in den zackigen Tuffstein zu fallen. Im nächsten Jahre wurden, nahe am Gitterzaun, in kurzen Entfernungen Stangen errichtet, an denen Schlinggewächse hinaufliefen; zwischen je zwei Stangen hing eine bunte Glaslampe. Wenn die Lampenreihe an festlichen Abenden angezündet war, warf sie einen magischen Glanz auf die Strohhüte, welche unter dem Fliederbusch zusammensaßen und die Urtheile der Vorübergehenden einsammelten. Den Glaskugeln folgte das Jahr der Papierlaternen. Wieder [26] im nächsten Jahre erhielt der Garten ein antikes Aussehen, denn eine weiße Muse glänzte, von Epheu und blühendem Lack umgeben, bis weit in den Wald hinein.

Gegenüber solcher Neuerungssucht hielt Herr Hummel fest an seiner Vorliebe für's Wasser. An der Hinterseite seines Hauses zog sich eine schmale Wasserader nach der Stadt. Alljährlich wurde sein Kahn mit derselben grünen Oelfarbe angestrichen, er setzte sich in seinen Freistunden am liebsten allein in den Kahn und ruderte sich ein wenig auf den Häusern in den Park, nahm seine Angel zur Hand und ergab sich dem Vergnügen, Weißfische und anderes kleines Wasservolk zu fangen.

Ohne Zweifel war das Haus Hummel legitimer, das heißt eigensinniger, wunderlicher, schwerer zu behandeln. Von allen Hausfrauen der Straße erhob Frau Hummel die größten Ansprüche, durch seidene Kleider, durch eine goldene Uhr an goldener Kette. Sie war eine kleine Dame mit blonden Locken, immer noch recht hübsch, sie war im Theater abonnirt, gebildet und zartfühlend und konnte sehr böse werden. Sie sah aus, als wenn sie sich aus nichts etwas mache, aber sie wußte Alles, was auf der Straße vorging. Nur den eigenen Gatten vermochte ihre Regierungskunst nicht immer zu bewältigen. Doch bewies Herr Hummel, tyrannisch gegen alle Welt, seiner Frau große Rücksicht. Wenn sie ihm im Hause zu stark wurde, ging er stillschweigend in den Garten, und wenn sie ihm auch dahin folgte, verschanzte er sich in der Fabrik hinter einem Bollwerk von Haaren.

Aber auch Frau Hummel war einer höheren Gewalt unterworfen, und diese Macht übte ihr Töchterchen Laura. Von mehren Kindern war ihr nur dies eine geblieben, alle Zärtlichkeit und weiche Empfindung der Mutter war ihm zu Theil geworden. Und es war ein prächtiger kleiner Balg, die ganze Stadtgegend kannte sie, seit sie die ersten rothen Schuhe trug, schon auf dem Arm der Wärterin war sie oft angehalten [27] und beschenkt worden. Lustig wuchs es auf, ein dralles Mädchen mit zwei großen blauen Augen und rothen Bäckchen, mit dunklem Kraushaar und einem schlauen Gesicht. Wenn die kleine Hummel die Straße entlang spazierte, ihre Händchen in den Taschen der Schürze, war sie die Freude der ganzen Nachbarschaft. Keck und kurzab wußte sie sich in alle zu schicken und blieb mit dem kleinen Mäulchen Niemandem etwas schuldig. Sie gab dem Holzhacker vor der Thür ihre Buttersemmel und trank mit ihm aus seiner Schale den dünnen Kaffe, sie begleitete den Postboten die ganze Straße entlang, und ihr größtes Vergnügen war, mit ihm die Treppen hinaufzulaufen, zu klingeln und seine Briefe zu übergeben; ja sie hatte sich einst am späten Abend aus der Stube geschlichen, saß neben dem Nachtwächter auf einem Ecksteine und hielt sein großes Horn in ungeduldiger Erwartung des Stundenschlages, zu welchem das Horn ertönen würde. Frau Hummel schwebte in einer unaufhörlichen Angst, daß ihre Tochter einmal gestohlen werden müsse, denn mehr als einmal war sie auf viele Stunden verschwunden, dann war sie mit fremden Kindern in ihre Wohnung gegangen und hatte mit ihnen gespielt; sie war die Vertraute vieler kleiner Straßenjungen, wußte sich bei ihnen in Respect zu setzen, gab ihnen Pfennige und empfing als Zeichen der Achtung Brummteufel und kleine Schornsteinfeger, die aus gebackenen Pflaumen und Holzstäbchen zusammengesetzt waren. Sie war ein gutherziges Kind, das lieber lachte als weinte, und ihr lustiges Gesicht machte das Haus des Herrn Hummel wohnlicher als die Efeulaube der Hausfrau und das mächtige Brustbild des Herrn Hummel selbst, welches recht eigensinnig auf Laura's Puppenstube heruntersah.

»Das Kind wird unerträglich,« rief Frau Hummel zornig und trat, die betrübte Laura an der Hand, in das Wohnzimmer. »Sie quirlt den ganzen Tag auf der Straße umher. Jetzt, als ich vom Markte kam, saß sie neben der Brücke [28] auf dem Stuhl der Obstfrau und verkaufte ihr die Zwiebeln. Jedermann blieb stehen und ich mußte mein Kind aus dem Gedränge herausholen.«

»Das Wurm wird gut,« versetzte Herr Hummel lachend, »warum willst du ihr die Jugend nicht gönnen?«

»Sie muß aus dem ordinären Verkehr heraus. Es fehlt ihr aller Sinn für das Feinere, sie kennt noch kaum die Buchstaben und sie hat einen Abscheu vor dem Lesen. Auch ist Zeit, daß mit den französischen Vocabeln ein Anfang gemacht wird. Die Betty der Regierungsräthin ist nicht älter und sie weiß ihre Mutter schon so zierlich chère mère zu nennen.«

»Die Mutter Schere und Möhre und den Vater Kohlrabi,« versetzte Herr Hummel. »Die Franzosen sind ein artiges Volk. Wenn du so besorgt bist, deine Tochter für den Markt abzurichten, dann ist das Türkische immer noch besser als das Französische. Der Türke bezahlt dir Geld, wenn du ihm das Kind verhandelst, die Andern wollen alle noch etwas dazu haben.«

»Sprich nicht so ruchlos, Heinrich!« rief die Gattin.

»Und du bleib mir mit deinen verdammten Vocabeln vom Leibe, sonst verspreche ich dir, ich lehre das Kind alle französischen Redensarten, die ich kenne, es sind ihrer nicht viele, aber sie sind kräftig. Baisez moi, Madame Uemmel.« Damit ging er trotzig aus dem Zimmer.

Das Ergebniß dieser Berathung war aber doch, daß Laura in die Schule ging. Es wurde ihr sehr schwer, zu schweigen und zu hören, und längere Zeit waren die Fortschritte wenig befriedigend. Endlich kam auch in die kleine Seele der Ehrgeiz, sie klomm die untern Staffeln der Bildung bei Fräulein Johanne heran, dann wurde sie in das berühmte Institut von Fräulein Jeannette befördert, wo die Töchter anspruchsvoller Familien das höhere Wissen erhielten. Dort lernte sie die Nebenflüsse des Amazonenstromes, viel eghyptische Geschichte, [29] tippte auf den Deckel eines Elektrophors, sprach Französisch über das Wetter, las Englisch in einer kunstvollen Weise, welche sogar dem gebornen Briten die Anerkennung abnöthigte, daß in dem Institut eine neue Sprache erfunden werde, und wurde endlich in allen Feinheiten eines deutschen Aufsatzes gebildet. Sie schrieb kleine Abhandlungen über den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen, über die Gefühle der berühmten Cornelia, Mutter der Gracchen, über die Schrecken eines Schiffsbruchs und die wüste Insel, auf welche sie sich gerettet hatte. Zuletzt erwarb sie Kenntnisse in der Abfassung von Strophen und Sonetten. Bald stellte sich heraus, daß Laura's Hauptstärke nicht in der französischen, sondern in der deutschen Sprache lag, ihr Stil wurde die Freude der Anstalt, ja sie begann ihre Lehrerinnen und die liebsten Mädchen in Gedichten anzusingen, welche den schwierigen Versbau des großen Schiller vom Kranze aus goldenen Aehren bis zur Form aus Lehm gebrannt sehr glücklich nachahmten. Jetzt war sie mit achtzehn Jahren ein hübsches rosiges Fräulein, immer noch rund und lustig, immer noch die Gebieterin des Hauses, und bei allen Leuten auf der Straße beliebt.

Die Mutter, stolz auf die Bildung der Tochter, hatte ihr nach der Confirmation ein Oberstübchen geräumt, das auf die Bäume des Parkes hinaussah, und Laura richtete sich ihr kleines Heimwesen zu einem Feenschloß ein, mit Efeu, mit einem kleinen Blumentisch, mit einem allerliebsten Schreibzeug aus Porzellan, auf welchem Schäfer und Schäferin nebeneinander saßen. Dort oben verlebte sie ihre schönsten Stunden bei Feder und Löschblatt, denn sie schrieb vor jedermann verborgen ihre Memoiren.

Aber auch sie theilte die Abneigung ihrer Familie gegen das Nachbarhaus. Schon als kleines Ding war sie bei dieser Hausthür schmollend vorübergegangen, noch nie hatte ihr Fuß den Hausflur betreten, und wenn die gute Frau Hahn einmal einen Handschlag von ihr forderte, so dauerte es lange, [30] bevor sie die kleine Hand aus der Schürze zog. Von den Bewohnern des Nachbarhauses war ihr aber der junge Fritz Hahn am peinlichsten. Sie traf selten mit ihm zusammen, und dann wollte das Unglück, daß sie immer in einer Verlegenheit war und Fritz Hahn ihren Gönner spielen konnte. Als sie noch gar nicht in die Schule ging, hatte der älteste Sohn der Frau Knips, schon ein erwachsener Schlingel, welcher hübsche Bilder und Geburtstagswünsche malte und an die Leute in der Nachbarschaft verkaufte, sie einmal zwingen wollen, das Geld, das sie in der Hand hielt, für einen Teufelskopf auszugeben, den er gemalt hatte und den Niemand auf der Straße haben wollte. Recht widerwärtig und boshaft behandelte er sie und sie geriet gegen ihre Gewohnheit in Angst, gab ihre Groschen hin und hielt weinend das greuliche Bild zwischen den Fingern. Da kam Fritz Hahn seines Weges, fragte nach dem Handel, und als sie ihm die Gewaltthat des Knips klagte, entbrannte er von einem so heftigen Zorn, daß sie wieder über den Fritz erschrak. Er fuhr auf den Burschen los, der sein Mitschüler war und schon eine Klasse höher saß, und begann auf der Stelle eine Prügelei, welcher der jüngere Knips, die Hände in der Tasche, lachend zusah. Und Fritz drängte den garstigen Buben an die Wand und zwang ihn, das kleine Geldstück herauszugeben und seinen Teufel wieder zu nehmen. Aber diese Begegnung half gar nicht dazu, ihr den Fritz lieb zu machen. Sie konnte nicht leiden, daß er schon als Primaner eine Brille trug und daß er immer so ernst vor sich hinsah. Wenn sie aus der Schule kam und er mit seiner Mappe in die Vorlesung ging, suchte sie ihm jedesmal aus dem Wege zu gehen.

Noch später einmal stieß sie mit ihm zusammen – sie saß unter den ersten Mädchen im Institut, der älteste Knips war bereits Magister und der jüngere Lehrling im Geschäft ihres Vaters und Fritz Hahn sollte gerade Doctor werden –, da hatte sie sich auf dem Kahn zwischen die Bäume des Parkes [31] gerudert, bis der Kahn an eine Wurzel stieß und ihr Ruder in das Wasser fiel. Und als sie sich darnach bückte, gingen Hut und Sonnenschirm denselben Weg, und Laura sah verlegen um Hilfe nach dem Ufer. Da kam wieder Fritz Hahn in tiefen Gedanken daher, er hörte den leisen Schrei, welchen Laura bei dem Unfall ausstieß, sprang sofort in das schlammige Wasser, fischte Hut und Sonnenschirm und zog den Kahn an das Ufer. Hier bot er Laura die Hand und half ihr auf festen Grund. Laura war ihm wohl Dank schuldig, auch hatte er sie mit Achtung behandelt und Fräulein genannt. Aber er sah doch sehr lächerlich aus, die hagere Gestalt verbeugte sich ungeschickt und die Gläser waren starr auf sie gerichtet. Und als sie darauf erfuhr, daß er von dem Sprung in den Sumpf einen schrecklichen Katarrh davongetragen hatte, da wurde sie heißzornig auf sich selbst und auf ihn, weil sie geschrieen hatte, wo gar keine Gefahr war, und weil er zu so unnöthigem Ritterdienst gestürmt war; sie würde sich schon allein geholfen haben, und jetzt dächten die Hahns, sie sei ihnen wer weiß welchen Dank schuldig.

Darüber hätte sie ruhig sein können, denn Fritz hatte sich still umgezogen und die Kleider in seiner Stube getrocknet.

Freilich, daß die beiden feindlichen Kinder einander mieden, war natürlich, denn Fritz war eine ganz andere Natur. Auch er war das einzige Kind und auch er war von einem gutherzigen Vater und einer übersorglichen Mutter weich erzogen. Von klein auf ein stiller, in sich gekehrter Knabe, anspruchslos, fleißig in den Büchern, hatte er sich neben dem Haushalt der Eltern seine eigene Welt in der Wissenschaft ausgebaut, welche von der großen Heerstraße seitab lag. Während um ihn das Leben lustig summte, saß er über die Grundstriche und Haken des Sanskrit gebeugt und untersuchte die Familienverwandtschaft zwischen dem wilden Geisterheer, das über der Teutoburger Schlacht dahinfuhr, und zwischen den Göttern der Veda, welche über Palmenwälder und Bambusrohr in das heiße Gangesthal [32] hinabschwebten. Auch er war Freude und Stolz seines Hauses, die Mutter ließ sich nicht nehmen, jeden Morgen selbst den Kaffe hinaufzutragen, dann setzte sie sich mit ihrem Schlüsselbund ihm gegenüber und sah schweigend zu, während er sein Frühstück verzehrte, schalt leise über sein Nachtarbeiten am letzten Abend und sagte ihm, daß sie nicht ruhig einschlafe, bis sie über sich den Stuhl rücken höre und die Stiefeln klappern, die er zum Reinigen vor die Thür stellte. Nach dem Frühstück bot Fritz dem Vater Gutenmorgen, und er wußte, daß dem Vater Freude war, wenn er einige Minuten mit ihm durch den Garten schritt, das Wachsthum der Lieblingsblumen betrachtete und vor allem, wenn er dem Vater zu einer Verschönerung seine Zustimmung geben konnte. Das war der einzige Punkt, wo Herr Hahn mit seinem Sohne zuweilen in Gegensatz gerieth. Und da er den Gründen des Sohnes nicht zu widerstehen vermochte und den eigenen starken Verschönerungstrieb auch nicht bändigen konnte, so schlug er gern den Weg ein, der selbst von größeren Politikern für nützlich erachtet wird, er bereitete seine Pläne heimlich vor und überraschte durch Thatsachen.

Bei solchem Stillleben war dem jungen Gelehrten der Verkehr mit dem Professor das beste Vergnügen des Tages, seine Erhebung, sein Stolz. Er hatte noch als Student die ersten Vorlesungen gehört, welche Felix Werner an der Universität hielt. Allmählich war eine Freundschaft entstanden, wie sie vielleicht nur unter hochgebildeten und wackern Gelehrten möglich ist. Er wurde der hingebende Vertraute für die umfangreiche Thätigkeit seines Freundes. Jede Untersuchung des Professors und ihre Erfolge wurden bis auf Einzelheiten besprochen, jede Freude, die ein neuer Fund machte, theilten die Nachbarn. Täglich sahen sie einander, viele Abende vergingen ihnen in der schönen Art der Unterhaltung, welche den Deutschen eigentümlich ist, in einem Gespräch, das zwischen Erörterung und Geplauder schwebt, wo zwei Geister, welche beide die Wahrheit suchen, sich im Austausch ihrer Ansichten [33] gegenseitig fördern. Dann rührte in Jedem, angeregt durch das feine Verständniß und die Einwürfe des Andern, eine schöpferische Kraft kräftig die Schwingen, und blitzschnell und ungeahnt öffneten sich dem Sprechenden und dem Hörer neue Gesichtspunkte, ein tieferes Verständniß. Mit dem besten Theil ihres Lebens wuchsen Beide zusammen. Freilich war Fritz als der jüngere auch der, welcher sich am meisten der feurigen Natur des Freundes bequemte, er war mehr Empfänger als Gebender. Aber gerade deshalb wurde das Verhältniß so fest und innig. Nicht ohne kleine Störungen, wie das bei Gelehrten natürlich ist, denn beide waren von schnellem Urtheil, beide hochgespannt in den Forderungen, die sie an sich selbst und an die Menschen machten, beide von seiner, leicht erregter Empfindung. Aber solche Gegensätze wurden bald überwunden, sie trugen nur dazu bei, die liebevolle Rücksicht, mit welcher die Freunde einander behandelten, zu vergrößern.

Durch diese Freundschaft wurde das schwierige Verhältniß der beiden Häuser ein wenig gemildert. Auch Herr Hummel konnte nicht umhin, dem Doctor eine kleine Rücksicht zu gönnen, da sein hochverehrter Miether den Sohn der Feinde auffallend auszeichnete. Denn auf seinen Miether ließ Herr Hummel nichts kommen. Durch dunkles Gerücht war ihm verkündet, daß der Professor in seiner Art ein berühmter Mann sei, und er war geneigt, irdischen Ruhm besonders hochzuachten, wenn dieser bei ihm zur Miethe wohnte. Auch war der Professor ein vortrefflicher Miether, er protestirte nie gegen eine Maßregel, welche Herr Hummel als oberste Polizeibehörde des Hauses verfügte; er hatte Herrn Hummel einst wegen Anlage eines Capitals um Rath gefragt, er hielt nicht Hund nicht Katze, gab keine Tanzgesellschaften, sang nicht zum Fenster hinaus und spielte auf keinem Flügel Bravourstücke. Und was die Hauptsache war, er bewies gegen Frau Hummel und Laura, wenn er ihnen einmal begegnete, eine ritterliche Artigkeit, welche dem gelehrten Herrn sehr wohl stand. Frau Hummel[34] war von ihrem Miether begeistert, und Hummel hatte gut befunden, die letzte nothwendige Erhöhung der Miethe nicht vorher im Familienkreise zu besprechen, weil er einen Widerspruch seiner gesammten weiblichen Bevölkerung voraussah.

Jetzt hatte der Kobold, welcher zwischen beiden Häusern hin und her lief, Steine in den Weg werfend und den Menschen Eselsohren bohrend, auch die beiden freien Seelen seines Reviers gegeneinander aufgeregt. Aber sein Versuch blieb kümmerlich: die wackern Männer waren nicht fügsam, nach seiner mißtönenden Pfeife zu tanzen.

Früh am nächsten Morgen trug Gabriel einen Brief seines Herrn zum Doctor hinüber. Als er in den feindlichen Hausflur trat, kam ihm eilig Dorchen, das Dienstmädchen der Familie Hahn, entgegen, einen Brief ihres jungen Herrn an den Professor in der Hand. Die Boten tauschten die Briefe und zu gleicher Zeit lasen die Freunde ihre Zuschriften.

Der Professor schrieb: »Mein lieber Freund, zürne mir nicht, daß ich wieder einmal heftig wurde, die Veranlassung war so abgeschmackt als möglich. Was mich verstimmte, war, ehrlich gesagt, daß du so unbedingt verweigertest, einen Lateiner mit mir herauszugeben. Denn die Möglichkeit, Verlorenes zu finden, welche wir im gefälligen Traume durch einige Augenblicke annahmen, war mir doch auch darum so lockend, weil sie uns beiden eine gemeinsame Thätigkeit in Aussicht stellte. Wenn ich versuche, dich in den engern Kreis meiner Wissenschaft zu ziehen, so wirst du voraussetzen, daß ich dabei nicht nur durch persönliche Empfindungen, sondern weit mehr durch den naheliegenden Wunsch bestimmt werde, für die Wissenschaft, auf welche ich mich beschränken muß, deine Kraft zu gewinnen.«

Fritz dagegen schrieb: »Lieber theurer Freund, ich trage das peinliche Gefühl mit mir herum, daß meine Empfindlichkeit von gestern uns beiden einen schönen Abend verdorben hat. Meine nur nicht, daß ich dir das Recht bestreiten will, mir [35] die Weitschweifigkeit und Systemlosigkeit meiner Arbeiten vorzuhalten. Gerade weil deine Aeußerungen eine Saite berührten, deren stillen Mißklang ich selbst zuweilen empfinde, verlor ich für einen Augenblick die Unbefangenheit. Du hast sicher in Vielem Recht, nur das Eine bitte ich dich zu glauben, daß meine Weigerung, mit dir eine große Arbeit zu übernehmen, weder selbstsüchtig noch unfreundschaftlich war. Ich bin mir bewußt, daß ich ein, wenn auch für meine Kraft zu umfangreiches, Gebiet nicht verlassen, am wenigsten aber mit einem neuen Kreis von Interessen vertauschen darf, in welchem mein mangelhaftes Können dir nur zur Last sein würde.«

Beide waren nach Empfang dieser Briefe doch etwas beruhigt. Da aber einzelne Aeußerungen derselben jedem von ihnen eine weitere Auseinandersetzung nothwendig machten, so setzten sich beide hin und schrieben einander wieder kurz und gedrungen, wie gedankenvollen Männern ziemt. Der Professor antwortete: »Für deinen Brief, mein theurer Fritz, danke ich dir von Herzen. Nur das Eine muß ich wiederholen, du hast von je deinen eigenen Werth zu niedrig angeschlagen, und wenn ich dir einen Vorwurf machen darf, so ist es nur dieser.«

Fritz endlich antwortete: »Wie tief und gerührt empfinde ich in diesem Augenblick deine Freundschaft für mich. Nur das will ich dir noch sagen, unter Vielem, was ich von dir zu lernen habe, ist mir nichts nöthiger als deine bescheidene ›Beschränkung‹. Und wenn du mit diesem Worte deine umfassende und resultatvolle Thätigkeit bezeichnest, so zürne nicht, daß auch ich für meine Arbeit darnach ringe.«

Der Professor ging nach Absendung seines Briefes unruhig in die Vorlesung und hatte das Bewußtsein, daß er zerstreut vortrage, Fritz eilte auf die Bibliothek und suchte emsig alle Notizen zusammen, welche über Schloß Bielstein aufzutreiben waren. Am Mittag nach der Heimkehr las jeder den zweiten Brief des Freundes, dann sah der Professor oft nach der Uhr, und als es drei schlug, setzte er schnell seinen [36] Hut auf und ging mit großen Schritten über die Straße in das feindliche Haus. Während er den Thürgriff an der Stube des Doctors faßte, fühlte er von innen einen Gegendruck, kräftig riß er die Thür auf, Fritz stand vor ihm, ebenfalls den Hut auf dem Kopf, im Begriff, zu ihm hinüberzugehen. Ohne ein Wort zu sagen, umarmten einander die beiden Freunde.

»Ich bringe gute Nachricht vom Antiquar,« begann der Professor.

»Und ich vom alten Schlosse,« rief Fritz.

»Höre zu,« sagte der Professor, »der Antiquar hat das Buch des Fraters von einem Kleinhändler gekauft, der im Lande umherzieht, Geräth und alte Bücher zu sammeln. Der Mann wurde in meiner Gegenwart herbeigeholt, er hat das Büchlein in der Stadt Rossau selbst aus dem Nachlaß eines Tuchmachers erstanden, mit einem alten Schrank und einigen geschnitzten Schemeln. Es ist also wenigstens möglich, daß die handschriftlichen Bemerkungen am Ende, die sich ohnedies ungeübtem Blick entziehen, seit dem Tode des Fraters niemals Aufmerksamkeit erregt und niemals Nachforschungen veranlaßt haben. – Vielleicht gewährt noch ein Kirchenbuch in Rossau Nachricht über Leben und Tod des Mönches Tobias Bachhuber.«

»Wohl,« bestätigte Fritz vergnügt, »es besteht dort eine Gemeinde seiner Confession. Schloß Bielstein aber liegt eine halbe Stunde von der Stadt Rossau auf einer waldigen Anhöhe – sieh hier die Karte. Es war früher Eigenthum des Landesherrn, im vorigen Jahrhundert ist es in Privatbesitz übergegangen. Das Gebäude aber dauert noch, es wird in dieser Landeskunde als altes Schloß aufgeführt, welches gegenwärtig Wohnhaus eines Herrn Bauer ist. – Auch mein Vater weiß von dem Hause, er hat es auf einer Geschäftsreise von der Landstraße gesehen und schildert es als ein langgestrecktes Gebäude mit Erkern und hohem Dach.«

[37] »Die Fäden verflechten sich zu einem guten Gewebe,« sagte der Professor, sich behaglich zurechtsetzend.

»Halt, noch eins,« rief der Doctor geschäftig. »Die Sagen dieser Landschaft sind von einem unserer Freunde gesammelt. Der Wackere ist zuverlässig. Laß sehen, ob er eine Erinnerung aus der Umgebung von Rossau ausgezeichnet hat.« Er schlug eilig nach, sah in das Buch und blickte den Freund sprachlos an.

Der Professor ergriff den Band und las die kurze Notiz: »In der Umgegend von Bielstein erzählt man, daß vor alten Zeiten die Mönche einen großen Schatz im Schlosse vermauert haben.«

Wieder stieg die alte unheimliche Handschrift vor den Freunden aus dem Boden, deutlich sichtbar, mit den Händen zu greifen.

»Unmöglich ist ja nicht, daß die Handschrift dort noch versteckt liegt,« bemerkte endlich der Professor mit künstlicher Ruhe. »An Beispielen für dergleichen Funde fehlt es nicht. Es ist noch nicht lange her, da wurde in dem alten Hause eines Gutsbesitzers meiner Heimat eine Zimmerdecke durchgeschlagen, es war eine Doppeldecke, der leere Raum dazwischen enthielt eine Anzahl Urkunden und Papiere über Eigenthumsrechte, daneben einigen alten Schmuck. Der Schatz war auch zur Zeit des großen Krieges versteckt worden, und durch Jahrhunderte hatte Niemand auf die niedrige Decke der kleinen Stube geachtet.«

»Natürlich,« rief Fritz, sich die Hände reibend, »auch in den Bekleidungen der alten Rauchfänge sind zuweilen leere Räume; ein Bruder meiner Mutter fand beim Umbau seines Hauses an solcher Stelle einen Topf mit Münzen.« Er zog seinen Beutel. »Hier ist eine davon, ein schöner Schwedenthaler. Der Oheim gab mir ihn bei der Einsegnung als Heckgroschen und ich trage ihn seit der Zeit in der Börse. Ich habe manchmal harte Versuchung ihn auszugeben bekämpft.«

[38] Der Professor untersuchte genau den Kopf Gustav Adolphs, als ob dieser ein Nachbar des versteckten Tacitus gewesen wäre und in seiner Umschrift eine Kunde von dem verlorenen Buch brächte. »Es ist richtig,« sagte er nachdenkend, »wenn das Haus auf einer Anhöhe liegt, könnten selbst die Kellerräume trocken sein.«

»Allerdings,« erwiederte der Doctor. »Häufig wurden auch die dicken Wände doppelt gemauert und der Zwischenraum mit Schutt ausgefüllt. Es ist in solchem Fall leicht, durch kleine Oeffnung einen hohlen Raum im Innern der Mauer hervorzubringen.«

»Für uns aber,« begann der Professor sich aufrichtend, »erwächst jetzt die Frage: Was haben wir zu thun? Denn eine solche Kunde, wie groß oder gering ihre Bedeutung auch werden möge, legt dem Finder doch die Pflicht auf, alles Mögliche zu thun, was die Entdeckung fördern kann. Und diese Pflicht haben wir ungesäumt und vollständig zu erfüllen.«

»Wenn du öffentliche Mittheilung von dieser Ueberlieferung machst, so gibst du die Aussicht, die Handschrift selbst zu entdecken, und Alles, was sich daran knüpfen mag, aus den Händen.«

»In dieser Sache muß jede persönliche Rücksicht schwinden,« entschied der Professor.

»Und wenn du jetzt die gefundenen Klosternotizen bekanntmachst,« fuhr der Doctor fort, »wer steht dir dafür, daß nicht die behende Thätigkeit eines Antiquars oder eines Ausländers allen weiteren Nachforschungen zuvorkommt? In solchem Falle mag der Schatz, selbst wenn er gefunden wird, nicht allein für dich, auch für unser Land, ja für die Wissenschaft verloren gehn.«

»Das letzte wenigstens darf nicht geschehn,« rief der Professor. – »Und auch, wenn du dich an die Staatsregierung jener Landschaft wendest, ist sehr zweifelhaft, ob dir Verständniß und guter Wille entgegenkommt,« erörterte der Doctor siegreich.

[39] »Es fällt mir nicht ein, die Angelegenheit fremden Beamten zu überlassen,« erwiederte der Professor. »Wir haben aber ganz in der Nähe Jemand, dessen Glück und Scharfsinn im Aufspüren von Seltenheiten wunderbar sind. Ich habe Lust, dem Magister Knips von der Handschrift zu sagen: er mag seine Correcturen auf einige Tage bei Seite legen, für uns nach Rossau reisen und dort das Terrain untersuchen.«

Der Doctor fuhr in die Höhe: »Das darf niemals geschehen. Knips ist nicht der Mann, dem man ein solches Geheimniß anvertrauen darf.«

»Ich habe ihn doch stets zuverlässig gefunden,« entgegnete der Professor. »Er ist bei vieler Wunderlichkeit geschickt und wohlunterrichtet.«

»Mir wäre eine Entweihung deines schönen Fundes, den trödelhaften Mann dafür zu verwenden,«versetzte Fritz, »und ich werde es nie billigen.«

»Dann also,« rief der Professor, »bin ich entschlossen. Die Ferien sind vor der Thür, ich gehe selbst in das alte Haus. Du aber, mein Freund, auch du wolltest dir einige Reisetage gönnen, du mußt mich begleiten: wir reisen zusammen, schlag ein.«

»Von Herzen,« rief der Doctor, die Hand des Freundes fassend. »Wir dringen in das Schloß und citiren die Geister, welche über dem Schatze schweben.«

»Wir sprechen zuerst ein verständiges Wort mit dem Eigenthümer des Hauses. Was dann zu thun ist, wird sich finden. Unterdeß bewahren wir die Angelegenheit als Geheimniß.«

»So ist es recht,« stimmte Fritz bei; die Freunde stiegen vergnügt in den Garten des Herrn Hahn hinab und beriethen, um die weiße Muse gelagert, die Eröffnung des Feldzuges.

Fest eingedämmt durch methodisches Denken war die Phantasie des Gelehrten, aber in der Tiefe seiner Seele strömte doch reichlich und stark dieser geheimnißvolle Quell aller Schönheit und Thatkraft. Jetzt war in den Damm ein Loch gerissen, [40] lustig ergoß sich die Flut über seine Saaten. Immer wieder flog ihm der Wunsch zu der räthselhaften Handschrift. Er sah die Maueröffnung vor sich und den ersten Schein der Leuchte, der auf die grauen Bücher in der Höhlung fiel; er sah den Schatz in seinen Händen, wie er ihn heraustrug und nicht mehr von sich ließ, bis er die unleserlichen Seiten entziffert hatte. – Seliger Geist des Frater Tobias Bachhuber! wenn du etwa deine Ferienzeit im Himmel dazu verwendest, auf unsere arme Erde zurückzukehren, und wenn du dann bei Nacht durch die Räume des alten Schlosses gleitest, deinen Schatz hütend und unberufene Neugierige schreckend, o so winke freundlich dem Manne zu, der jetzt naht, dein Geheimniß ins Sonnenlicht zu tragen, denn er sucht wahrhaftig nicht für sich Gewinn und Ehren, sondern er beschwört dich als ein Redlicher im Dienst guter Gewalten.

3. Die Reise ins Blaue
3.
Die Reise ins Blaue.

Wer aus höhern Regionen auf die Gegend von Rossau herniederblickte, der konnte an einem sonnigen Erntemorgen des August zwischen den Weiden der Landstraße eine Bewegung wahrnehmen, welche den Thoren der Stadt zustrebte. Für nähere Betrachtung wurden zwei wandelnde Männer erkennbar, ein größerer und ein kleinerer, beide in hellen Sommerkleidern, welchen durch die Gewitterregen des letzten Tages aller Glanz abgespült war, beide mit ledernen Reisetaschen, welche am Riemen von der Schulter hingen; der größere trug einen breitkrempigen Filzhut, der kleinere einen Strohhut.

Die Wanderer waren Fremdlinge, denn sie hielten zuweilen an und beobachteten Thal und Hügel mit Genuß, was den Eingeborenen des Landes selten einfiel. Die Gegend war [41] von Vergnügungsreisenden noch nicht entdeckt, in den Wäldern waren nirgend glatte Pfade für die Zeugstiefeln der Städter gebahnt, selbst der Fahrweg war keine Kunststraße, in den ausgefahrenen Wasserlöchern stand das Regenwasser, die Glöckchen der Schafherde und die Axt des Holzfällers wurden nur von den Bewohnern der Umgegend gehört, welche auf dem Felde arbeiteten oder zwischen zwei Orten ihrem Geschäft nachgingen. Und doch war die Landschaft nicht ohne Anmuth, die Umrisse der waldigen Hügel schwangen sich in kräftigen Linien, hier und da ragte Gestein zu Tage, ein Steinbruch zwischen Ackerflächen, ein Felshaupt zwischen den Bäumen des Waldes. Von den Bergen am Horizont zog ein kleiner Bach in gewundenem Lauf dem fernen Flusse zu, umsäumt von Wiesenstreifen, hinter denen sich die Ackerbeete bis zu den belaubten Höhen hinaufzogen. Fröhlich lag die einsame Landschaft im Morgenlicht, seitab von der großen Völkerstraße.

In der Niederung vor den Reisenden erhob sich rings von Hügeln umgeben der Ort Rossau, ein Landstädtchen mit zwei plumpen Kirchtürmen und dunklen Ziegeldächern, welche über die Stadtmauer ragten wie Rücken einer Rinderherde, die sich gegen ein Rudel Wölfe zusammengedrängt hat.

Die Fremden schauten von der Höhe mit warmer Theilnahme auf Schornsteine und Thürme hinter der alten Mauer, welche mißfarbig, geborsten und geflickt vor ihnen lag. Dort war einst ein Schatz bewahrt worden, der wiedergefunden die ganze civilisirte Welt beschäftigen und Hunderte zu begeisterter Arbeit aufregen würde. Die Landschaft sah durchweg aus wie andere deutsche Landschaften, der Ort durchweg wie andere arme Städtchen. Und doch war irgendein kleiner Zug in der Gegend, der den Reisenden eine fröhliche Hoffnung nährte. War es der lustige Zwiebelaufsatz, welcher die dicken alten Thürme krönte? oder war es das Thorgewölbe, welches gerade vor den Reisenden den Eingang zur Stadt in lockendes Dunkel hüllte? oder die Stille des leeren Thalgrundes, in welchem der Ort [42] ohne Vorstadt und Außenhäuser lag, wie auf alten Karten die Städte abgebildet werden? oder die Viehherde, welche aus dem Thore ins Freie zog und aus dem Anger leichtfertige Sprünge machte? oder war es vielleicht die kräftige Morgenluft, welche den Wanderern um die Schläfe wehte? Beide empfanden, daß etwas Merkwürdiges und Vielverheißendes in dem Thale schwebte, welches sie als Suchende betraten.

»Denke die Landschaft, wie sie sich einst dem Auge bot,« begann der Professor, »der Laubwald schloß sich in alter Zeit enger um den Ort, er formte die Hügel höher, das Thal tiefer, wie in einem Kessel lag damals das Kloster mit den Hütten seiner abhängigen Landleute. Hier im Süden, wo das Gelände sich steil hinabsenkt, haben die Mönche sicher einst ihren Klosterwein gebaut. Um das Kloster schlossen sich allmählich die Häuser der Stadt. Nimm den Thürmen die Mütze, welche ihnen vor hundert Jahren aufgesetzt wurde, und gib ihnen die alten Spitzen zurück, an die Mauern setze hier und da einen Thurm, und du hast einen hübschen Steinkasten, der ein geheimnißvolles Stück Mittelalter einschloß.«

»Und auf demselben Weg, der uns hierher geführt, zog einst ein gelehrter Mönch mit seinen Handschriften in das stille Thal, um hier die Brüder zu lehren oder sich vor mächtigen Feinden zu verbergen,« sagte hoffnungsvoll der Doctor.

Die Reisenden schritten am Anger vorüber, der Hirt sah gleichgültig nach den Fremden, aber die Kühe stellten sich an dem Grabenrand auf und starrten auf die Wanderer und das halbwüchsige Volk der Herde brummte ihnen fragend zu. Sie traten durch die dunkle Thorwölbung und sahen neugierig die Gassen entlang, welche hier zusammenliefen. Es war eine kleine ärmliche Stadt, nur die Hauptstraße war mit schlechten Feldsteinen gepflastert. Unweit des Thores ragte hoch der schräge Balken eines Ziehbrunnens, daran hing eine lange Stange mit dem Eimer. Von Menschen war wenig zu sehen, wer nicht in den Häusern arbeitete, war auf dem Feld [43] beschäftigt. Denn die Halme, welche in den Steinritzen der Thorwölbung hingen, verriethen, daß Erntewagen die Feldfrucht zu den Höfen der Bürger fuhren; neben vielen Häusern waren hölzerne Thore geöffnet, dann sah man in die Hofräume, in die Scheuern und über Düngerstätten, aus denen kleines Federvieh pickte. Die letzten Jahrhunderte hatten so wenig als möglich an dem Orte geändert, noch standen die niedrigen Häuser mit dem Giebel gegen die Straße, zuweilen streckte sich eine hölzerne Dachrinne über den Weg, statt der Schilder reichten noch die Zeichen der Handwerker, aus Blech und Holz geschnitten, farbig bemalt, in die Straße hinein, ein großer hölzerner Stiefel, ein Greif, welcher eine ungeheure Schere in der Hand hielt, ein schreitender Löwe, der eine Brezel anbot, und als schönstes Stück ein regelmäßiges Sechseck, aus bunten Glasrauten zusammengesetzt.

»Hier hat sich Vieles erhalten,« sagte der Professor.

Die Freunde kamen auf den Marktplatz, einen unregelmäßigen Raum, dessen kleine Häuser sich durch bunten Anstrich herausgeputzt hatten. Dort starrte von einem unansehnlichen Gebäude ein rothbemalter Drache mit geringeltem Schwanz, aus einem Bret geschnitten, von einer Eisenstange gehalten, in die Luft. Darauf stand mit übelgeschwungenen Buchstaben: Gasthof zum Lindwurm.

»Sieh,« sagte Fritz, auf den Lindwurm weisend, »die Phantasie des Künstlers hat ihm einen Hechtkopf mit dicken Zähnen ausgeschnitten. Der Wurm ist der älteste Schätzehüter unserer Sage. Es ist merkwürdig, wie fest die Erinnerung an dies Sagenthier überall im Volke haftet, wahrscheinlich stammt auch dieses Schild aus einer Ueberlieferung des Ortes.«

So stiegen sie auf ausgetretener Steintreppe in das Haus, ohne zu ahnen, daß sie schon längst von scharfen Augen beobachtet wurden. »Wer mögen die sein?« frug den dicken Wirth ein Bürger, der seinen Morgentrunk einnahm, »wie [44] Geschäftsreisende sehen sie nicht aus, vielleicht ist einer der neue Pastor vom Kirchdorfe.«

»So sieht kein Pastor aus,« entschied der Wirth, welcher Menschen besser kannte. »Es sind Fremde, zu Fuß, kein Wagen und keine Sachen.«

Die Fremden traten ein, setzten sich an einen rothgestrichenen Tisch und bestellten das Frühstück. »Eine hübsche Gegend, Herr Wirth,« begann der Professor, »kräftige Bäume im Walde.«

»Bäume genug,« versetzte der Wirth.

»Die Umgegend scheint wohlhabend,« fuhr der Professor fort.

»Die Leute klagen, daß sie nicht genug verdienen,« antwortete der Wirth.

»Wieviele Geistliche haben Sie am Orte?«

»Zwei,« sagte der Wirth höflicher. »Der alte Pastor ist aber gestorben. Es ist unterdeß ein Candidat hier.«

»Ob der andere Pfarrer zu Haus ist?«

»Ist mir unbekannt,« sagte der Wirth.

»Sie haben doch ein Gericht hier?«

»Einen Ortsrichter, er ist jetzt auf dem Amt, es ist heut Gerichtstag.«

»Hat nicht vor Zeiten ein Kloster in der Stadt gestanden?« nahm der Doctor das Verhör auf.

Der Bürger und der Wirth sahen einander an. »Das ist lange her,« versetzte der Herr der Schenke.

»Hier in der Nähe liegt das Schloß Bielstein?« frug Fritz weiter. Wieder sahen der Bürger und der Wirth einander bedeutungsvoll an.

»Es liegt so etwas hier in der Nähe,« erwiederte der Wirth zurückhaltend.

»Wie lange geht man bis zum Schloß?« frug der Professor, geärgert durch die kurzen Antworten des Mannes.

»Wollen Sie dorthin?« entgegnete der Wirth, »kennen Sie den Gutsbesitzer?«

[45] »Nein,« antwortete der Professor.

»Haben Sie denn etwas bei ihm zu thun?«

»Das ist unsere Sache, Herr Wirth,« versetzte der Professor kurz.

»Der Weg geht eine halbe Stunde durch den Wald, er ist nicht zu fehlen,« schloß der Wirth die ungemüthliche Unterhaltung und verließ die Stube. Der Bürger folgte ihm.

»Viel haben wir nicht erfahren,« sagte der Doctor lächelnd, »ich hoffe, der Pfarrer und Richter sind redseliger.«

»Wir gehen geradezu nach dem Gute,« entschied der Professor.

Draußen steckten der Wirth und der Bürger die Köpfe zusammen. »Wer die Fremden sein mögen?« wiederholte der Bürger, »geistlich sind sie nicht, und an dem Richter war ihnen auch nicht viel gelegen. Hast du gemerkt, wie sie nach dem Kloster und dem Schlosse frugen?« Der Wirth nickte. »Ich will dir meinen Verdacht sagen,« fuhr der Bürger eifrig fort: »sie kommen nicht umsonst her, sie suchen etwas.«

»Was sollen sie suchen?« frug der Wirth nachdenkend.

»Es sind verkleidete Jesuiten, sie sehen mir sehr apropos aus.«

»Nun, wenn sie mit den Leuten auf dem Gute anbinden wollen, die sind Manns genug, mit ihnen fertig zu werden.«

»Ich habe mit dem Inspector zu thun, ich will ihm doch einen Wink geben.«

»Menge dich nur nicht in Geschichten, die dich nichts angehen,« warnte der Wirth. Der Bürger aber drückte die Stiefeln fester, die er unter dem Arm trug, und fuhr um die Ecke.

Schweigend schritten die Freunde aus der gemeinen Nüchternheit des Lindwurms auf die Straße. Sie erfrugen von einem Mütterchen am entgegengesetzten Stadtthor den Weg nach dem Schlosse. Hinter der Stadt erhob sich der Pfad vom Kiesbett des Baches zu einer waldigen Höhe. Sie traten an [46] einen Schlag Buschholz, aus dem einzelne hohe Eichen emporragten. Der Regen des letzten Abends lag noch in Tropfen auf den Blättern, das dunkle Grün des Sommers glänzte im Sonnenstrahl einzelne Vögelstimmen, das Hämmern des Spechts unterbrachen die Stille.

»Das gibt eine andere Stimmung,« rief der Doctor erfreut.

»Es gehört wenig dazu, ein gut besaitetes Menschenherz in neuer Melodie klingen zu machen, wenn nicht gerade das Schicksal mit rauher Hand darauf spielt. Etwas Baumrinde mit grauem Flechtenbart, eine Handvoll Blüthen im Grunde und wenige Noten aus der Kehle eines Vogels,« versetzte der Professor weise. »Horch, das ist kein Gruß, den die Natur dem Wanderer gönnt,« unterbrach er sich lauschend. Von fern klangen menschliche Stimmen, ein leiser Choral tönte wie aus den Baumgipfeln in ihr Ohr.

»Höher hinauf,« rief der Doctor, »zu der geheimnißvollen Stätte, wo alte Kirchenlieder aus den Eichen rauschen.«

Sie stiegen noch einige hundert Schritt in die Höhe und standen auf einer Terrasse des Waldhügels, die an der Seite von Bäumen umschlossen, in der Mitte gelichtet war. In der Lichtung stand eine kleine hölzerne Kirche, von einem Friedhof umgeben, dahinter erhob sich auf einem massigen Felsblock ein langes altes Gebäude, das Dach durch viele spitze Giebel gebrochen.

»Das fügt sich gut zusammen,« rief der Professor und sah neugierig über die Waldkirche nach dem Schlosse hinauf.

Aus der Kirche scholl ein Trauergesang stärker in das Ohr. »Laß uns hineingehen,« sagte der Doctor, auf die geöffnete Pforte des Friedhofs weisend.

»Mir ist gottseliger hier draußen zu Muthe,« erwiederte der Professor, »und mir widersteht's, unberufen in Freude und Leid Fremder einzudringen. Das Lied ist zu Ende, jetzt kommt des Pfarrers Sprüchlein.«

[47] Fritz aber war auf die Steine der niedrigen Mauer geklettert und betrachtete die Kirche. »Sieh die massiven Strebepfeiler. Es ist der Rest eines alten Baues, sie haben ihn durch Tannenholz ergänzt, Thurm und Holzdach blau vor Alter, es lohnt das Innere zu sehen.«

Der Professor hielt die lange Ranke eines Brombeerstrauches, welche über die Mauer herabhing, in der Hand und sah bewundernd auf weiße Blüthen, grüne und gebräunte Beeren, welche in dicken Büscheln beieinander standen. Undeutlich drangen die Laute einer Männerstimme an sein Ohr, und unwillkürlich neigte er das Haupt, den Sinn aufzufassen.

»Laß uns doch hören,« sagte er endlich und betrat mit dem Freunde den Friedhof. Sie zogen die Hüte und öffneten leise die Kirchthür. Es war ein sehr kleiner Raum, der Ziegelbau des alten Chores von innen weiß getüncht, das übrige von gebräuntem Holz, die Kanzel, eine Galerie, wenige Bänke. Vor dem Altar stand ein offener Kindersarg, die Gestalt darin ganz mit Blumen bedeckt, wenige Landleute in schmuckloser Tracht daneben, auf den Stufen des Altars ein alter Geistlicher mit weißem Haar und treuherzigem Gesicht, am Haupt des Sarges aber die schluchzende Frau eines Arbeiters, die Mutter des Kleinen. Und neben ihr eine kräftige Frauengestalt in städtischer Tracht, sie hatte den Hut abgenommen, hielt die Hände gefaltet und sah auf das Kind unter den Blumen hernieder. So stand sie regungslos, die Sonne fiel schräge auf das gelockte Haar und die regelmäßigen Züge des jungen Gesichts. Fesselnder aber als der hohe Wuchs und das schöne Haupt war der Ausdruck tiefer Andacht, welche über sie ausgegossen war. Unwillkürlich faßte der Professor den Arm des Freundes, ihn zurückzuhalten. Der Geistliche sprach sein Schlußgebet, die stattliche Frau neigte das Haupt tiefer, dann beugte sie sich noch einmal zu dem Kleinen herab und legte einen Arm um die Mutter, welche sich weinend an die Trösterin lehnte. So stand die Fremde und sprach leise [48] über dem Haupte der Mutter, während ihr selbst die Thränen aus den Augen herabrollten. Wie Geisterlaut klang das Murmeln der tiefen Frauenstimme in das Ohr der Freunde. Dann hoben die Männer den Sarg vom Boden und folgten dem Geistlichen, der auf den Friedhof führte. Hinter dem Sarge ging die Mutter, das Haupt an der Schulter ihrer Führerin. Die Frau schritt bei den Fremden vorüber, verklärt vor sich hinschauend, sie flüsterte ihrer Gefährtin Bibelworte zu. »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. – Lasset die Kindlein zu mir kommen,« vernahmen die Freunde. Die Mutter hing gebrochen am Arme der Fremden und, wie durch den leisen Ton fortgeführt, wankte sie zu dem Grabe. Ehrfürchtig schlossen sich die Freunde dem Zuge an. Der Sarg wurde in das Grab gelassen, der Geistliche sprach den Segen, jeder der Anwesenden warf drei Hände voll Erde auf das geschwundene Leben. Dann traten die Landleute auseinander und machten der Mutter und ihrer Begleiterin den Weg frei. Die Fremde reichte dem Geistlichen die Hand und geleitete die Mutter langsam über den Friedhof auf den Weg, der zum Schlosse führte.

In einiger Entfernung folgten die Freunde, ohne einander anzusehen. Der Professor fuhr sich über die Augen: »Dergleichen macht immer weich,« sagte er traurig.

»Wie sie am Altare stand,« rief der Doctor, »eine Seherin der Vorzeit, als trüge sie einen Eichenkranz auf dem Haupt. Sie zog das arme Weib sich nach durch ihr Murmeln. Es waren zwar unsere ehrlichen Bibelsprüche; aber jetzt verstehe ich, was das Wort raunen in alter Zeit bedeutete, wo man auch den Worten eine zauberische Kraft zuschrieb. Sie beherrschte der Trauernden Seele und Leib, und ihre Stimme regte auch mir das Herz auf. Wer war dieses Weib, war es Mädchen oder Frau?«

»Es ist ein Mädchen,« erwiederte der Professor nachdrücklich. »Sie wohnt im Schloß und wir werden sie [49] dort treffen. Laß sie voraus und uns am Fuß des Felsens warten.«

Sie saßen lange auf einem vorspringenden Stein, der Professor wurde nicht müde, ein Büschel Moos zu betrachten, er bürstete es mit der Hand und legte es bald nach der einen, bald nach der andern Seite. Endlich stand er schnell auf. »Was auch kommen möge, jetzt gehen wir.«

Sie stiegen einige hundert Schritt bis zur Höhe. Die Landschaft vor ihnen war plötzlich verwandelt. Zur Seite lag das Schloß mit einem gemauerten Hofthor und großen Wirtschaftsgebäuden, vor ihnen neigte sich eine weite Fläche Ackerlandes von der Höhe hinab in ein flaches Thal. Das einsame Waldbild war verschwunden, um die Wanderer rührte sich kräftig das Leben des Tages, der Wind trieb Wellen durch das Aehrenmeer, Erntewagen fuhren auf den Feldwegen heran, Menschenstimmen riefen, die Peitsche knallte und die Garben flogen von starker Hand geschwungen über die hohen Leiterbäume.

»Holla, was suchen Sie hier?« frug hinter den Fremden eine tiefe Baßstimme in befehlendem Ton. Die Freunde wandten sich schnell um. Vor dem Hofthor stand ein mächtiger breitschultriger Mann mit kurzgeschorenem Haar und sehr energischem Ausdruck im sonnenbraunen Gesicht. Hinter ihm steckten Wirthschaftsbeamte und Knechte neugierig die Köpfe durch das Thor und ein großer Hund fuhr bellend gegen die Fremden. »Zurück, Nero,« rief der Landwirth und pfiff den Hund zu sich, dabei sah er mit kaltem Polizeiblick auf die Fremden.

»Herr Gutsbesitzer Bauer?« frug der Professor grüßend.

»Der bin ich, und wer sind Sie?« gab der Gutsherr die Frage zurück.

Der Professor nannte die Namen und den Ort, von dem sie kamen. Der Wirth trat einen Schritt näher und prüfte das Aussehen der Beiden von oben herab.

[50] »Dort wohnen ja wohl keine Jesuiten,« sagte er; »wenn Sie aber hierher kommen, Verborgenes zu finden, so war die Reise unnütz, hier finden Sie nichts.«

Die Freunde sahen einander an, sie standen nahe am Hause, aber fern vom Ziel.

»Sie machen uns fühlbar,« erwiederte der Professor, »daß wir ohne Vermittlung eines Dritten an Ihre Wohnung treten. Obgleich Sie aber über den Zweck unseres Herkommens bereits eine Vermuthung ausgesprochen haben, ersuche ich Sie doch, uns deshalb eine Erklärung vor weniger Zeugen zu gestatten!«

Die feste Haltung des Professors verfehlte nicht ganz die Wirkung. »Wenn Sie in der That ein Geschäft zu mir führt, so werden wir das allerdings besser im Haus abmachen. Folgen Sie mir, meine Herren.« Er lüftete ein wenig seine Mütze, wies mit der Hand nach dem Thor und schritt voraus. »Nero, Teufelshund, kannst du nicht Ruhe halten!«

Der Professor und der Doctor folgten, an sie schlossen sich Wirthschaftsbeamte und Knechte und der knurrende Hund. So wurden die Fremden in einem ungemütlichen Zuge nach dem Wohnhaus geführt. Trotz ihrer mißlichen Lage sahen sie doch mit Neugierde auf den großen Hof, auf die Arbeit des Einscheuerns, auf einen Trupp Gänse, welcher, durch den Zug gestört, breitbeinig und schnatternd über den Weg schritt. Dann überflog ihr Auge das Wohnhaus, die breiten steinernen Stufen mit Bänken an beiden Seiten, die gewölbte Thür, das übertünchte Wappen am Schlußstein. Sie traten in einen geräumigen Hausflur, der Gutsherr hing seine Mütze auf einen Kleiderrechen, drückte mit schwerer Hand die Klinke der Wohnstube und machte wieder eine Handbewegung, welche höflich sein sollte und die Fremden zum Vortritt einlud. »Jetzt sind wir allein,« begann er, »womit kann ich Ihnen dienen? Sie sind mir bereits als zwei Schätzesucher angekündigt. Wenn Sie das sind, so muß ich Ihnen rundheraus erklären, daß [51] ich von solchen Thorheiten nichts wissen will. Im übrigen bin ich bereit, mich Ihrer Bekanntschaft zu freuen.«

»Nun, Schatzgräber sind wir nicht,« entgegnete der Professor, »und da wir den Zweck unserer Reise überall als Geheimniß bewahrt haben, so begreifen wir nicht, wie Sie etwas Entstelltes über die Veranlassung unseres Kommens hören konnten.«

»Der Schuster meines Hofverwalters hat ihm die Nachricht mit zwei versohlten Stiefeln zugetragen, er hat Sie im Gasthofe der Stadt gesehen und aus Ihren Fragen Verdacht geschöpft.«

»Er hat mehr Scharfsinn angewandt,« erwiederte der Professor, »als bei unsern harmlosen Fragen nöthig war. Und doch hat er nicht ganz Unrecht gehabt.«

»Also ist etwas daran,« unterbrach der Landwirth finster, »in diesem Fall muß ich die Herren bitten, sich selbst und mich nicht weiter zu bemühen. Ich habe keine Zeit für dergleichen Narrheiten.«

»Vor Allem haben Sie die Güte, uns anzuhören, ehe Sie uns in so kurzer Weise das Gastrecht aufkündigen,« versetzte der Professor ruhig. »Unser Kommen hat keinen andern Zweck, als Ihnen eine Mittheilung zu machen, über deren Werth Sie dann selbst entscheiden mögen. Und nicht nur wir, auch Andere könnten Ihnen einen Vorwurf daraus machen, wenn Sie unser Gesuch ohne Prüfung abweisen. Die Sache geht Sie mehr an als uns.«

»Natürlich,« sagte der Wirth, »diese Redensarten kennt man.«

»Doch nicht ganz,« entgegnete der Professor, »es ist ein Unterschied, wer sie braucht und welchem Zweck sie dienen.«

»Nun denn, in des Teufels Namen, sprechen Sie, aber verständlich,« rief der Landwirth ungeduldig.

»Nicht eher,« fuhr der Professor fort, »als bis Sie sich bereit zeigen, eine ernste Angelegenheit so anzuhören, wie sie verdient. Es ist eine kurze Auseinandersetzung nöthig, und Sie haben uns noch nicht einmal zum Sitzen eingeladen.«

[52] »So nehmen Sie Platz,« versetzte der Landwirth und rückte einen Stuhl.

Der Professor begann: »Durch Zufall habe ich vor kurzem in einem geschriebenen Buche unter andern handschriftlichen Aufzeichnungen der Mönche von Rossau einige Bemerkungen gefunden, welche für die Wissenschaft, der ich diene, möglicherweise wichtig sind.«

»Und welches ist Ihre Wissenschaft,« unterbrach ihn der Landwirth ungerührt.

»Ich bin Philologe.«

»Das bedeutet alte Sprachen?« frug der Landwirth.

»So ist es,« fuhr der Professor fort. »Die Notiz eines Mönches in dem erwähnten Bande meldet, daß um das Jahr 1500 eine werthvolle Handschrift, welche die Geschichtserzählung des Römers Tacitus enthielt, in dem Kloster vorhanden war. Das Werk des berühmten Geschichtschreibers ist uns in einigen andern wohlbekannten Handschriften nur sehr trümmerhaft erhalten, es scheint, daß die damals in dem Kloster vorhandene Handschrift sein Werk vollständiger enthielt. Eine zweite Notiz desselben Buches meldet aus dem April des Jahres 1637, daß damals die letzten Mönche des Klosters in schwerer Kriegszeit Kirchengeräth und die Handschriften des Klosters an einer hohlen und trocknen Stelle des Hauses Bielstein vor den Schweden verborgen haben. – Das sind die Worte, die ich gefunden, weitere Thatsachen habe ich Ihnen nicht mitzutheilen. Die Echtheit der beiden Bemerkungen ist für uns zweifellos, ich habe Ihnen eine Abschrift der betreffenden Stelle mitgebracht, das Original bin ich bereit, Ihrer eigenen Einsicht zu unterwerfen oder der eines sachverständigen Beurtheilers, den Sie wählen wollen. Ich füge nur noch hinzu, daß wir beide, mein Freund und ich, sehr gut wissen, wie ungenügend die Mittheilungen sind, welche wir Ihnen machen, und wie unsicher die Aussicht, daß sich jetzt nach zwei Jahrhunderten noch etwas von dem damals vergrabenen [53] Eigenthum des Klosters vorfinde. Und doch haben wir eine Ferienreise dazu benutzt, Ihnen Nachricht von dieser Entdeckung zu geben, selbst auf die naheliegende Gefahr einer vergeblichen Untersuchung. Wir haben uns aber zu dieser Reise verpflichtet gefühlt. Nicht vorzugsweise um Ihretwillen, obgleich die Handschrift, wenn sie sich fände, von sehr hohem Werth sein würde, sondern zunächst im Interesse der Wissenschaft, denn nach dieser Richtung wäre ein solcher Fund in der That unschätzbar.«

Der Landwirth hatte aufmerksam zugehört, das Papier, welches der Professor vor ihn auf den Tisch legte, ließ er unberührt. Jetzt begann er: »Daß Sie mich nicht täuschen wollen und daß Sie die Wahrheit nach allen Seiten mit guter Meinung sprechen, sehe ich ein. Ihre Auseinandersetzung ist mir verständlich. Ihr Latein vermag ich nicht zu lesen; und das ist auch nicht nöthig, denn was die Thatsachen betrifft, so glaube ich Ihnen. Aber,« fuhr er lächelnd fort, »die Herren Gelehrten haben in der Ferne eines nicht gewußt, daß dieses Haus das Unglück hat, in der ganzen Gegend für den Ort zu gelten, an welchem alte Mönche ihre Schätze vermauert haben.«

»Das war uns allerdings nicht unbekannt,« fiel der Doctor ein, »und es konnte uns die Bedeutung der schriftlichen Notizen nicht verringern.«

»Da waren Sie in großem Irrthum. Es liegt doch auf der Hand, daß ein solches Gerücht, welches durch mehre Menschenalter in einer Gegend geglaubt wird, fortwährend abergläubische und gewinnsüchtige Personen in Bewegung gesetzt hat, diese vermeinten Schätze aufzuspüren. Wie können Sie annehmen, daß Sie die ersten sind, welche auf den Gedanken kommen, nachzusuchen? Dies ist ein altes festes Haus, aber es würde fester sein, wenn es nicht vom Keller bis unter das Dach Spuren zeigte, daß man in früherer Zeit Löcher hineingeschlagen und die Schäden nachlässig ausgebessert hat. Erst vor wenigen Jahren habe ich Kosten und Mühe gehabt, [54] einen neuen Dachbalken einzuziehen, weil Dach und Decke sich senkte, und die Untersuchung ergab, daß gewissenlose Menschen ein Stück des Balkens ausgesägt hatten, jedenfalls um in einen Winkel des Daches hineinzugreifen. Und ich sage Ihnen geradeheraus, wenn mir etwas das alte Haus verleidet, in dem ich seit zwanzig Jahren Glück und Unglück erfahren habe, so ist es dies widerwärtige Gerücht. Gerade jetzt wird in der Stadt die Untersuchung gegen einen Schatzgräber geführt, der Narren durch das Vorgeben betrogen hat, er könne aus diesem Berge einen Schatz beschwören. Noch wird seinen Mitschuldigen nachgespürt. Ihren Fragen in der Stadt haben Sie zuzuschreiben, daß die Leute dort, welche viel von dem Betruge reden, Sie für Helfer des eingezogenen Gauners gehalten haben. Daher auch mein rauher Gruß. Ich mache Ihnen deshalb meine Entschuldigung.«

»Und Sie wollen sich nicht dazu verstehen,« frug der Professor unzufrieden, »unsere Mittheilung zu weiterer Nachforschung zu benützen?«

»Nein,« versetzte der Landwirth, »ich will mich nicht selbst zum Narren machen. Wenn Ihr Buch nichts weiter meldet, als was Sie mir gesagt haben, so dient diese Nachricht zu gar nichts. Haben die Mönche hierherum irgend etwas versteckt, so ist Hundert gegen Eins zu wetten, sie haben es in ruhiger Zeit selbst wieder herausgeholt. Wäre aber gegen alle Wahrscheinlichkeit das Versteckte damals an seiner Stelle geblieben – es sind seitdem einige hundert Jahre vergangen –, so hätten es längst andere hungrige Leute herausgegraben. Das sind, verzeihen Sie mir, Ammengeschichten, nur gut für Spinnstuben. Ich habe einen Widerwillen gegen solches Gelüst, das an den Mauern wühlt. Der Landwirth soll im Acker schaufeln und nicht in seinem Hause. Unter Gottes Sonne liegen seine Schätze.«

Dem Professor wallte das Blut über die kalte Art des Mannes, er bezwang mit Mühe den ausbrechenden Zorn, indem er an das Fenster trat und einem Haufen Sperlinge [55] zusah, die heftig gegeneinander schrien. Endlich begann er, sich umwendend: »Ihre Weigerung ist ein Recht des Hauseigenthümers. Wenn Sie darauf bestehen, so werden wir Sie allerdings mit dem Bedauern verlassen, daß Sie die mögliche Bedeutung unserer Mittheilung nicht zu würdigen wissen. Ich habe diese Begegnung nicht vermieden, obgleich mir wohlbekannt war, wie zufällig die Eindrücke sind, welche bei einer ersten Unterredung mit Fremden den Entschluß bestimmen. Sie würden vielleicht mehr Rücksicht auf unsre Nachricht genommen haben, wenn sie Ihnen durch Vermittlung Ihrer Regierung zugleich mit der Forderung, genaue Nachsuchung anzustellen, zugegangen wäre.«

»Reut Sie, daß Sie diesen Weg nicht eingeschlagen haben?« frug lächelnd der Landwirth.

»Offen gesagt, nein. Ich habe in solcher Angelegenheit kein Vertrauen zu einem Beamtenprotokoll.«

»Ich auch nicht,« versetzte der Landwirth trocken. »Wir stehen unter einem kleinen Landesherrn, aber er ist fern, wir sind von fremdem Gebiet umschlossen. Bei Hofe habe ich nichts zu thun, es vergehen Jahre, ehe ich nach unsrer Residenz komme; die Regierung plagt uns nicht übermäßig und in meinem Bezirk leite ich die Polizei. Wenn meine Regierung Ihren Wünschen Wichtigkeit beilegte, so würde sie wahrscheinlich von mir einen Bericht einfordern, und das würde mir einen Bogen Papier und eine Stunde Schreiberei kosten. Vielleicht, wenn Sie laut zu trommeln verstehen, sendet sie mir auch eine Commission in das Haus. Die meldet sich bei mir zum Mittagsessen und ich führe sie nach Tisch in die Keller, sie pocht der Form wegen ein wenig an die Wände und ich lasse unterdeß einige Flaschen aufkorken. Zuletzt wird schnell ein Papier beschrieben und die Sache ist wieder abgemacht. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie diesen Weg nicht eingeschlagen haben; im übrigen vertrete ich mein Hausrecht auch gegen den Landesherrn.«

[56] »Es ist, so scheint mir, vergeblich, zu Ihnen von dem Werth zu sprechen, den die Handschrift haben würde,« warf der Professor ihm finster entgegen.

»Es wäre verlorene Mühe,« sagte der Landwirth. »Ob eine solche Seltenheit, auch wenn sie in meinem Eigenthume zu Tage käme, für mich selbst einen wesentlichen Werth hätte, ist fraglich. Und den Werth für Ihre Wissenschaft kenne ich nur aus Ihrer Versicherung. Aber für mich und für Sie rühre ich keinen Finger, weil ich nicht glaube, daß ein solcher Schatz auf meinem Eigenthum verborgen ist, und weil ich nicht den Willen habe, um etwas Unwahrscheinliches ein Opfer zu bringen. Dies, Herr Professor, ist meine Antwort.«

Der Professor trat wieder schweigend an das Fenster. Fritz, der sich in stiller Empörung zurückgehalten hatte, empfand, daß es Zeit war, dieser Unterredung ein Ende zu machen, er erhob sich zum Aufbruch: »Und Sie haben uns wirklich Ihre letzte Meinung gesagt?«

»Ich bedaure, Ihnen keinen andern Bescheid geben zu können,« versetzte der Landwirth und sah mit einer Art Mitleid auf die beiden Fremden. »Es thut mir in der That leid, daß Sie den Umweg zu mir gemacht haben. Verlangen Sie meine Wirthschaft zu sehen, jede Thür soll Ihnen geöffnet sein. Die Mauern meines Hauses öffne ich Niemandem. Ich bin übrigens bereit, Ihre Mittheilung als Geheimniß zu bewahren, um so lieber, da dies auch in meinem Interesse liegt.«

»Ihre Weigerung, irgendwelche Nachforschungen auf Ihrem Eigenthume anzustellen, macht ein ferneres Geheimhalten dieser Nachricht unnöthig,« entgegnete der Doctor, »meinem Freunde bleibt jetzt nichts übrig, als seine Entdeckung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu berichten, er hat dann seine Pflicht gethan, vielleicht daß Andere Ihnen gegenüber glücklicher sind als wir.«

Der Landwirth fuhr auf. »Donnerwetter, Herr, sind Sie des Teufels? Sie wollen die Geschichte in der Zeitung [57] Ihren Collegen erzählen? Wahrscheinlich werden diese ebenso denken wie Sie.«

»Zuverlässig werden Hunderte die Sache genau so ansehen wie wir, und Ihre Weigerung ebenso verurtheilen wie wir,« rief der Doctor.

»Herr, wie Sie mich beurtheilen, ist mir ganz gleichgültig, ich muß Sie bitten, mich so schwarz zu schildern, als Ihre Wahrheitsliebe irgend zuläßt,« rief der Landwirth unwillig. »Aber ich sehe voraus, daß das alles nichts helfen wird. Verwünscht seien die Mönche und ihr Schatz! Jetzt habe ich jeden Sonntag und jede Stunde Ihrer Ferien einen Besuch wie den Ihren zu erwarten, fremde Gesichter mit Brillen und Regenschirmen, welche den Anspruch erheben, unter das Holzgestell meines Milchkellers zu kriechen und in der Schlafstube meiner Kinder an der Decke herumzuklettern. Zum Teufel mit diesem Tacitus!«

Der Professor ergriff seinen Hut: »Wir empfehlen uns Ihnen,« und ging nach der Thür.

»Halt, meine Herren,« rief der Wirth unruhig, »nicht so schnell. Lieber will ich noch mit Ihnen beiden zu thun haben, als mit einer unablässigen Wallfahrt Ihrer Collegen. Weilen Sie noch einen Augenblick, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie selbst sollen durch mein Haus gehen, Sie mögen den alten Bau vom Boden bis zum Keller untersuchen. Es ist eine harte Zumuthung für mich und meine Hausgenossen, ich will das Opfer bringen. Finden Sie eine Stelle, die Ihnen Verdacht einflößt, so reden wir darüber. Dagegen versprechen Sie mir, daß Sie gegen meine Hausleute von dem Zweck Ihres Hierseins schweigen. Meine Arbeiter sind ohnedies aufgeregt; wenn Sie dem unseligen Gerücht neue Nahrung geben, so kann ich nicht dafür stehen, daß nicht meine eigenen Leute auf den Einfall kommen, mir an einer Ecke des Hauses die Grundmauer durchzustoßen. Mein Haus ist Ihnen den ganzen Tag geöffnet, so lange sind Sie meine Gäste. Dann aber, wenn [58] Sie mündlich oder schriftlich über die Sache reden, fordere ich den Zusatz, es sei von Ihnen das Mögliche geschehen, mein Haus durchsucht, aber nichts gefunden worden. Wollen Sie diesen Vertrag mit mir eingehen?«

Der Doctor sah zweifelnd auf den Professor, ob der Stolz des Freundes sich solcher Bedingung beugen werde. Wider Erwarten flog ein Strahl von Freude über das Antlitz des Gelehrten, und er erwiederte artig: »Sie haben uns in einem Punkt mißverstanden. Nicht wir beanspruchen die verborgene Handschrift aus Ihrem Eigenthum herauszuholen, sondern wir sind nur gekommen, um Sie selbst für den Versuch zu gewinnen. Daß wir in einem fremden Hause, unbekannt mit den Räumen und ungeübt in dieser Art Nachforschung, nichts finden werden, ist uns sehr deutlich. Wenn wir dennoch die lächerliche Lage, in welche Sie uns versetzen, nicht vermeiden und Ihr Anerbieten annehmen, so thun wir dies nur in der Hoffnung, daß uns in den Stunden unseres Hierseins gelingen wird, Ihnen selbst ein größeres Interesse an dem möglichen Funde beizubringen.«

Der Landwirth bewegte abweisend das Haupt auf den hohen Schultern. »Ich habe nur das Interesse, die Sache so schnell als möglich in Vergessenheit zu bringen. Sie mögen thun, was Sie für Pflicht halten. – Meine Geschäfte verhindern mich, Sie zu begleiten, ich übergebe Sie meiner Tochter.«

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers und rief: »Ilse!«

»Hier, Vater,« antwortete eine klangvolle Altstimme. Der Landwirth ging in das Nebenzimmer. »Komm hervor, Ilse, ich habe heut einen besondern Auftrag für dich. Da drin sind zwei fremde Herren von einer Universität. Sie suchen ein Buch, das vor alten Zeiten in unserm Hause versteckt sein soll. Führe sie durch das Haus, schließ ihnen alle Räume auf.«

»Aber Vater –« unterbrach ihn die Tochter.

»Thut nichts,« fuhr der Landwirth fort, »es muß sein.« Er trat näher an sie und sprach leiser: »Es sind zwei Gelehrte, [59] sie haben einen Sparren –« er wies nach dem Kopfe. »Was sie sich einbilden, ist verrückt, und ich gebe ihnen nur nach, um in Zukunft Ruhe zu haben. Sei vorsichtig, Ilse, ich kenne die Leute nicht. Ich muß auf's Vorwerk, dem Hofverwalter will ich sagen, daß er sich in der Nähe des Hauses hält. Sie scheinen mir zwei ehrliche Narren, aber der Teufel mag trauen.«

»Ich fürchte mich nicht, Vater,« erwiederte die Tochter, »das Haus ist voll Menschen, wir werden schon mit ihnen fertig werden.«

»Sorge dafür, daß die Mägde nicht herumstehen, während die Fremden an den Wänden klopfen und messen. Sie sehen mir übrigens nicht aus, als ob sie viel finden würden, wenn auch alle Wände aus Büchern gemauert wären. Aber daß sie irgendwo einschlagen oder die Wand beschädigen, das leidest du nicht.«

»Recht, Vater,« sagte die Tochter. »Bleiben sie über Mittag?«

»Jawohl, dein Dienst geht bis zum Abend. In der Molkerei wird dich die Mamsell vertreten.«

Durch die Thür hörten die Freunde Bruchstücke der Unterredung, sie gingen nach den ersten Worten der Anweisung schnell an das Fenster und sprachen laut miteinander über eine große Strohanhäufung am First der Scheuer, die nach der Behauptung des Doctors ein Storchnest war, während der Professor die Ansicht vertrat, daß Störche nicht auf solchen Höhen nisteten. Dazwischen sagte der Professor leise: »Es ist unbequem, in dieser demüthigen Lage auszudauern. Aber wir vermögen nur durch unser Beharren den Hauswirth zu überzeugen.«

»Vielleicht entdecken wir doch etwas,« antwortete der Doctor. »Ich habe einige Erfahrung in Maurerarbeit, als Knabe fand ich beim Bau unseres Hauses Gelegenheit, schöne Kenntnisse in Statik und Balkenklettern zu erwerben. Gut, daß der [60] Tyrann uns allein läßt. Unterhalte du die Tochter, ich will derweile an den Wänden klopfen.«

Wer jemals einer undeutlichen Spur nachgegangen ist, der weiß, wie schwierig in der Nähe erscheint, was in der Ferne so leicht dünkt. Während zuerst die trügende Göttin Hoffnung alle guten Möglichkeiten mit hellen Farben malt, regt die Arbeit des Suchens selbst jeden Zweifel auf. Die lockenden Bilder verbleichen, Kleinmuth und Ermüdung werfen ihre Schatten. Zuletzt wird pflichtmäßige Ausdauer, was im Anfange ein frisches Wagen war.

4. Das alte Haus
4.
Das alte Haus.

Der Landwirth trat ein, die Reitgerte in der Hand, hinter ihm die hohe Gestalt vom Friedhof. »Hier meine Tochter Elise, sie wird meine Stelle vertreten.«

Die Freunde verneigten sich. Es war dasselbe schöne Antlitz, aber statt der hohen Rührung lag jetzt eine geschäftliche Würde in ihren Zügen, sie grüßte ruhig und lud die Herren zum Frühstück in das Nebenzimmer. Was sie sprach, waren einfache Worte, aber wieder lauschten die Freunde verwundert auf die tiefen Töne ihrer melodischen Stimme.

»Bevor Sie sich hier umsehen, müssen Sie an meinem Tisch niedersitzen, das ist bei uns Brauch,« sagte der Landwirth in besserer Laune als er bis dahin gezeigt, auch auf ihn übte die Gegenwart der Tochter besänftigenden Einfluß. »Wiedersehen zu Mittag.« Damit ging er zur Thür hinaus.

Die Freunde folgten in den Nebenraum, ein großes Speisezimmer; Stühle standen längs der Wand, in der Mitte eine lange Tafel, an deren oberem Ende drei Plätze gedeckt waren. Das Mädchen setzte sich zwischen die Herren und bot [61] die kalten Speisen. »Als ich Sie auf dem Friedhof sah, dachte ich, daß Sie den Vater besuchen würden, der Tisch wartet schon eine Weile auf Sie.« Die Freunde aßen ein wenig und dankten für mehr.

»Ich bedaure, daß unser Kommen auch Ihre Zeit in Anspruch nehmen soll,« sagte der Professor ernst.

»Meine Aufgabe ist leicht,« antwortete das Mädchen, »ich fürchte, die Ihre wird Ihnen mehr Mühe machen. Das Haus hat viele Stuben, und dann die Kammern und die Verschläge auf dem Boden.«

»Ich habe bereits Ihrem Herrn Vater gesagt,« erwiederte der Professor lächelnd, »daß wir keinen Werth darauf legen, wie Maurer das Gebäude zu untersuchen. Betrachten Sie uns als Neugierige, welche das merkwürdige Haus nur soweit sehen wollen, als es sich sonst einem Gaste öffnet.«

»Das Haus mag wohl für Fremde merkwürdig sein,« sagte Ilse, »uns ist es lieb, denn es ist warm und geräumig. Als der Vater das Gut einige Jahr besaß und zu Kräften gekommen war, hat er meiner seligen Mutter zu Liebe Alles bequem eingerichtet; denn wir brauchen großen Raum, es sind sechs jüngere Geschwister, und es ist ein großes Gut; die Herren von der Wirthschaft essen bei uns, dann der Hauslehrer und die Mamsell und in der Gesindestube auch zwanzig Leute.«

Der Doctor sah seine Nachbarin enttäuscht an. Wo war die Seherin geblieben? Sie sprach verständig und sehr bürgerlich, mit ihr konnte man wohl auskommen. »Da wir nun einmal auf hohle Räume ausgehen,« begann er schlau, »so würden wir uns am liebsten Ihrer Leitung anvertrauen, wenn Sie uns sagen wollten, ob man in der Wand oder auf dem Boden oder irgendwo hier im Hause von Stellen weiß, welche beim Klopfen eine Höhlung verrathen.«

»O, daran fehlt es nicht,« erwiederte Ilse. »Wenn man in meiner Stube an die Hinterwand des kleinen Wandschrankes pocht, so merkt man, daß dahinter ein leerer Raum ist, und [62] dann ist die Steinplatte unter der Treppe und mehre Platten in der Küche und noch viele andere Stellen im Hause. Und bei allen haben die Leute ihre Vermuthung.«

Der Doctor hatte seine Brieftafel herausgezogen und schrieb die verdächtigen Orte nieder.

Die Betrachtung des Hauses begann. Es war ein prachtvolles altes Haus, die Mauer des Unterstocks so dick, daß der Doctor mit gespannten Armen nicht die ganze Tiefe der Fensternischen einfassen konnte. Eifrig übernahm er das Klopfen und Messen der Wände. Die Keller waren zum Theil in den Felsen gesprengt, an einzelnen Stellen ragte das ungeglättete Gestein noch in die Räume und man erkannte, wo die Mauer auf dem Stein gelagert war. Es waren mächtige Gewölbe, die kleinen Fenster in der Höhe durch starke Eisenstäbe geschützt, in alter Zeit bei feindlichem Anlauf eine feste Zuflucht wider Geschosse und Feuer. Und Alles war schön trocken und hohl. Denn das Haus war ganz nach den Ansichten gebaut, welche der Doctor schon früher über alte Gebäude so verständig ausgesprochen hatte: Mauer von außen und von innen, dazwischen Schutt und Steinbrocken. Natürlich klangen die Wände deshalb an vielen Orten hohl wie ein Kürbis. Der Doctor pochte und notirte fleißig, die Knöchel seiner Hand wurden weiß und aufgetrieben, aber die Fülle guter Möglichkeiten machte ihn kleinlaut.

Aus dem Keller traten sie in den Unterstock. In der Küche brodelten große Kessel und Töpfe, und neugierig sahen die arbeitenden Frauen auf das Benehmen der Fremden, denn der Doctor klopfte wieder mit den Absätzen auf den steinernen Fußboden und faßte die geschwärzte Seitenwand des Herdes mit den Händen an. Dahinter kamen Wirthschaftsräume und die Gaststuben. In einer derselben fanden sie eine Frau in Trauerkleidung beschäftigt, die Betten in ein neues Gewand zu hüllen. Es war die Mutter vom Friedhofe. Sie trat an die fremden Herren und bedankte sich, weil sie geholfen hätten, [63] ihrem Kinde die letzte Ehre zu erweisen. Die Freunde sprachen ihr freundlich zu, sie wischte mit der Schürze die Augen und ging wieder an ihre Arbeit.

»Ich bat sie, heut zu Haus zu bleiben,« sagte Ilse, »aber sie wollte nicht. Ihr wäre gut, wenn sie etwas zu schaffen hätte, und wir würden ihre Arbeit brauchen, weil Sie doch zu uns kämen.« Es that den Gelehrten wohl, daß sie wenigstens von den weiblichen Mitgliedern des Hauses als berechtigte Gäste aufgefaßt wurden.

Sie betraten die andere Seite des Unterstocks und betrachteten noch einmal die einfachen Zimmer, die sich zuerst den Ankommenden geöffnet hatten. Dahinter lag das Arbeitszimmer des Gutsherrn, ein kleiner schmuckloser Raum, darin ein Schrank mit Jagdgeräth und Reitzeug, ein Bretergestell für Acten und einige Bücher, über dem Bett Säbel und Pistolen, auf dem Schreibtisch das kleine Modell einer Maschine und Proben von Getreide und Sämerei in kleinen Säckchen; an der Wand aber standen in militärischer Ordnung der riesige Wasserstiefel, der Juchtenstiefel, der Reitstiefel mit Stulpen, an der äußersten Ecke auch Zwerge von Kalbleder, wie sie gewöhnliche Menschen tragen. In dem Nebenzimmer hörten sie eine Männerstimme und kindliche Antworten in regelmäßigem Wechsel. »Das ist die Schulstube,« sagte Ilse lächelnd. Als die Thür geöffnet ward, schwiegen Solo und Chorstimmen, dem Gruß der Eintretenden antwortete aufstehend der Lehrer, ein Seminarist von verständigem Gesicht. Verwundert starrten die Kinder in die unerwartete Störung. An zwei Tischen saßen drei Knaben und drei Mädchen, ein kräftiges blondhaariges Geschlecht. »Das ist Clara, Luise, Riekchen, Hans, Ernst und Franz.« Die vierzehnjährige Clara, fast erwachsen und ein verjüngtes Abbild der Schwester, erhob sich mit einem Knix, Hans, ein derber Bursch von zwölf Jahren, machte den unbedeutenden Versuch eines Bücklings, die andern blieben stramm stehen, sahen unverwandt auf die Fremden und tauchten, [64] nachdem sie einer lästigen Pflicht genügt hatten, wieder auf ihre Plätze nieder. Nur der kleine Franz, ein rothbäckiger Krauskopf von sieben Jahren, blieb in der Pein seiner Aufgabe grimmig sitzen und benutzte die Unterbrechung, um für die nächsten Antworten noch schnell etwas aus seinem Buche einzusammeln. Ilse strich ihm über das Haar und frug den Lehrer: »Wie geht's heut mit ihm?« – »Er hat gelernt.« – »Es ist zu schwer,« rief Franz erbittert. Der Professor bat den Lehrer, sich nicht stören zu lassen, und die Reise ging weiter: Schlafzimmer der Knaben, Zimmer des Lehrers und wieder Wirthschaftsräume, Plättstube, Kleiderkammer – der Doctor hatte seine Brieftafel bereits eingesteckt.

Sie kehrten in den Hausflur zurück, an der Treppe wies Ilse auf die Steinplatte, der Doctor kniete nieder, versuchte und sagte kleinlaut: »Wieder hohl.« Ilse betrat die Treppe.

»Hier oben wohne ich und die Mädchen.«

»Unsere Neugierde hat vorläufig hier ein Ende,« er wiederte rücksichtsvoll der Professor. »Sie sehen, auch mein Freund verzichtet.«

»Man hat aber von oben eine Aussicht,« sagte die Führerin, »diese wenigstens müssen Sie betrachten.« Sie öffnete eine Thür.

»Dies ist mein Zimmer.« Die Freunde blieben vor der Schwelle stehen. »Kommen Sie herein,« sagte Ilse unbefangen. »Von diesem Fenster sieht man die Straße, auf der Sie zu uns kamen.« Zögernd traten die Zartfühlenden näher. Es war wieder ein bescheidener Raum, nicht einmal ein Sopha darin, die Wände mit blauer Farbe gestrichen, am Fenster ein Nähtisch und einige Blumenstöcke, in einer Ecke das Bett mit weißer Gardine verhüllt.

Die Freunde traten an das Fenster und schauten von der Höhe auf den kleinen Friedhof und die Gipfel der Eichen, auf das Städtchen im Thale und auf die Baumreihe dahinter, welche in gekrümmter Linie bis zu der Höhe lief, wo sich die Aussicht in die Ferne schloß. Der Blick des Professors haftete [65] an der alten Holzkirche. Wie hatten sich in wenig Stunden die Stimmungen geändert! Auf die frohe Erwartung war gefolgt, was beinahe wie Entsagung aussah, und doch wieder auf die Ungeduld eine wohlthuende Ruhe.

»Das ist unser Weg in die Fremde,« wies Ilse, »wir sehen oft nach der Richtung aus, wenn der Vater verreist ist und wir ihn erwarten, oder wenn wir von dem Postboten etwas Gutes hoffen. Und so oft Bruder Franz erzählt, daß er einst in die Welt gehen werde, fort von dem Vater und von uns Geschwistern, dann denkt er sich die Straßen in der Welt immer wie diese aussieht, als einen Fußsteig mit dicken Weidenköpfen.«

»Franz ist der Liebling?« frug der Professor.

»Er ist mein Nesthäkchen, wir verloren die gute Mutter, als er noch die Kindermütze trug. Das arme Kind kennt die Mutter gar nicht, und als er einmal von ihr geträumt hatte, da brachten die andern Kinder heraus, daß er sie im Schlafe mit mir verwechselte, denn sie trug mein Kleid und meinen Strohhut. – Dies ist der Wandschrank,« sagte sie traurig, auf eine Holzthür in der Wand deutend. Die Freunde folgten schweigend, ohne bei dem Schranke anzuhalten. Vor der gegenüberliegenden Stube blieb sie stehen, die Thür öffnend: »Dies war das Zimmer der Mutter, es ist unverändert, wie sie es verließ, nur der Vater bleibt des Sonntags einige Zeit darin.«

»Wir geben nicht zu, daß Sie uns weiter führen,« sagte der Professor. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich ich unsere Lage Ihnen gegenüber empfinde. Verzeihen Sie uns das unzarte Eintreten in Ihre Häuslichkeit.«

»Wenn Sie das Haus nicht weiter sehen wollen,« erwiederte Ilse mit dankendem Blick, »so geleite ich Sie gern in unsern Garten und durch den Hof. Der Vater wird nicht loben, wenn ich Ihnen etwas vorenthalte.«

Eine Hinterthür des Flurs führte in den Garten; die Beete durch Buchsbaum eingefaßt, waren mit Sommerblumen [66] besetzt, mit den altheimischen Bewohnern unsrer Gärten. Am Hause liefen Weinreben bis unter die Fenster des Oberstocks und die grünen Trauben blickten überall aus dem hellen Laub. Eine lebendige Hecke schied die Blumenbeete vom Gemüsegarten, wo auch der Hopfen an großen Stangen hinaufkletterte. Weiter ab senkte sich ein großer Obstgarten mit frischem Rasengrund einem Seitenthal zu. Es war auch hier nichts Merkwürdiges zu sehen, geradlinig waren die Blumenbeete, in Reihen standen die Obstbäume, der ehrwürdige Buchsbaum und die Hecke waren nach der Schnur geschnitten und ohne Lücken. Die Freunde schauten von Beet und Blumen immer wieder auf das Haus zurück und freuten sich über die braunen Mauern hinter dem saftigen Weinlaub und über die Arbeit des Steinmetzen an den Fenstern und am Giebel.

»Es war zur Zeit unserer Vorfahren ein Haus der Fürsten,« erklärte Ilse, »und sie kamen damals alle Jahre zur Jagd hierher. Jetzt aber ist nur der dunkle Wald dort hinten noch herrschaftlich, dort steht auch noch ein Jagdhaus, und der Oberförster wohnt darin. Und selten kommt unser Fürst in die Gegend. Es ist lange Zeit her, daß wir unsern lieben Landesherrn nicht gesehen haben, und wir leben wie arme Waisen.«

»Gilt er hier im Lande für einen gütigen Herrn?« frug der Professor.

»Wir wissen nicht viel von ihm, aber wir denken uns, daß er gut ist. Vor vielen Jahren, als ich noch Kind war, hat er einmal in unserm Haus gefrühstückt, weil es in Rossau keine Gelegenheit gab. Damals war ich erstaunt, daß er keinen rothen Mantel trug, und er strich mir über den Kopf und gab mir den guten Rath, zu wachsen. Das habe ich seitdem redlich abgemacht. Und es heißt schon, er wird in diesem Jahre wieder zur Jagd kommen. Kehrt er wieder bei uns ein, dann muß das alte Haus seinen besten Staat anthun, und in der Küche gibt's heiße Wangen.«

[67] Während sie friedlich unter den Obstbäumen dahinschritten, tönte vom Hofe her eine helle Glocke. »Das ist der Ruf zum Essen,« sagte Ilse, »ich führe die Herren zu ihrem Zimmer, das Hausmädchen wird sie abholen.«

Die Freunde fanden in der Gaststube ihre Ledertaschen und wurden kurz darauf durch ein leises Klopfen an der Thür geladen und in das Speisezimmer geführt. Dort wartete ihrer der Gutsherr, ein halbes Dutzend sonnengebräunte Beamte der Wirthschaft, die Mamsell, der Hauslehrer und die Kinder. Als sie eintraten, sprach der Landwirth mit der Tochter in einer Fensternische; wahrscheinlich hatte die Tochter günstig über die Fremden berichtet, denn er kam ihnen mit unumwölkter Miene entgegen und sagte in seiner kurzen Weise: »Nehmen Sie an unserm Tische vorlieb.« Dann stellte er die Fremden den Anwesenden vor, indem er ihre Namen nannte und hinzufügte: »Zwei gelehrte Herren von der Universität.« Jedermann stand hinter seinem Stuhl nach Würde und Alter gereiht, obenan der Wirth, neben ihm Ilse, auf der andern Seite der Professor und der Doctor, dann zu beiden Seiten die Herren von der Wirthschaft, dahinter die Mamsell und die Mädchen, der Lehrer und die Knaben. Der kleine Franz am untern Ende des Tisches trat an seinen Teller, faltete über dem Brot die Hände und sprach eintönig ein kurzes Tischgebet. Darauf rückten zu gleicher Zeit alle Stühle, zwei Mädchen in der Tracht der Landschaft trugen die Speisen. Es war ein einfaches Mittagsmahl, nur zwischen den Fremden stand eine Flasche Wein, die Eingebornen gossen goldbraunes Bier in die Gläser.

Schweigend und eifrig verrichtete Jeder sein Werk, am oberen Ende des Tisches wurde Unterhaltung geführt. Die Freunde sprachen dem Landwirth ihre Freude über Haus und Umgebung aus, und der Hausherr lachte spöttisch, als der Doctor die dicken Wände des Hauses rühmend hervorhob. Dann schweifte das Gespräch auf die Umgegend hinaus, auf den Dialekt und die Art des Landvolks.

[68] »Wieder ist mir in diesen Tagen aufgefallen,« sagte der Professor, »wie fremd und mißtrauisch die Landleute hier uns Städter beobachten. Unsere Sprache, Sitte, Gewohnheit betrachten sie wie die eines anderen Volkes. Und wenn ich zusehe, was der Feldarbeiter mit den sogenannten Gebildeten gemein hat, so empfinde ich schmerzlich, daß es viel zu wenig ist.«

»Wer ist daran schuld,« entgegnete der Landwirth, »als die Gebildeten selbst. Nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich Ihnen als einfacher Mann sage, daß mir diese Bildung ebensowenig gefällt als die Unwissenheit und Störrigkeit, welche Sie an unsern Landleuten in Erstaunen setzt. Sie selbst z.B. machen eine weite Reise, um alte vergessene Schriften zu finden, die einst ein gebildeter Mann in einem untergegangenen Volke geschrieben hat. Ich aber frage, was haben Millionen Menschen, die mit Ihnen eine Sprache sprechen, Ihres Stammes sind und neben Ihnen leben, von all der Gelehrsamkeit, die Sie für sich und eine kleine Zahl wohlhabender und müßiger Leute erwerben? Wenn Sie zu meinen Arbeitern reden, die Leute verstehen Sie nicht. Wenn Sie von Ihrer Wissenschaft etwas erzählen wollten, meine Knechte würden vor Ihnen stehen wie Neger. Ist das ein gesunder Zustand? Und ich sage Ihnen, solange dieser Zustand dauert, sind wir noch kein rechtes Volk.«

»Wenn Ihre Worte einen Vorwurf gegen meinen Beruf enthalten,« erwiederte der Professor, »so sind sie ungerecht. Gerade jetzt ist man eifrig bemüht, was in der Arbeitstube der Gelehrten gefunden wird, auch dem Volke zugänglich zu machen. Daß dafür nach mancher Richtung noch mehr geschehen sollte, leugne ich nicht. Aber zu allen Zeiten hat ernste wissenschaftliche Forschung, selbst wenn sie zunächst nur einem sehr kleinen Kreise verständlich ist, ganz unsichtbar und in der Stille Seele und Leben des gesammten Volkes beherrscht. Sie bildet die Sprache, sie richtet die Gedanken, sie formt allmählich Sitte, Rechtsgefühl und Gesetz nach den Bedürfnissen [69] jeder Zeit. Nicht nur die praktischen Erfindungen und der steigende Wohlstand werden durch sie möglich, auch, was Ihnen nicht weniger wichtig erscheinen wird, die Gedanken des Menschen über sein eigenes Leben, die Art, wie er seine Pflichten gegen Andere übt, der Sinn, in welchem er Wahrheit und Lüge auffaßt, das alles verdankt jeder von uns der Gelehrsamkeit seines Volkes, wie wenig er sich auch um die einzelnen Forschungen kümmern möge. Und lassen Sie mich einen alten Vergleich gebrauchen. Die Wissenschaft ist wie ein großes Feuer, das in einem Volke unablässig unterhalten werden muß, weil ihm Stahl und Stein unbekannt sind. Ich gehöre zu denen, welche die Pflicht haben, immer neue Scheite in das große Feuer zu werfen. Andere haben die Aufgabe, die heilige Flamme durch das Land, in Dörfer und Hütten zu tragen. Jeder, der an der Verbreitung des Lichtes arbeitet, hat sein Recht, und keiner soll von dem Andern gering denken.«

»Darin liegt Wahrheit,« sagte der Landwirth aufmerksam.

»Wenn das große Feuer nicht brennt,« fuhr der Professor fort, »werden die einzelnen Flammen sich auch nicht verbreiten können. Und glauben Sie mir, was einen ehrlichen Gelehrten bei den schwierigsten Untersuchungen, unter denen ihm das Leben dahinschwindet, immer erhebt und stärkt, das ist gerade die unerschütterliche Ueberzeugung, welche durch lange Erfahrung tausendfach bestätigt ist, daß seine Arbeit zuletzt doch der ganzen Menschheit zu Gute kommt; sie hilft nicht immer neue Maschinen erfinden und neue Culturpflanzen entdecken, sie ist deshalb nicht weniger wirksam für Alle, auch wo sie lehrt, was wahr und unwahr, was schön und häßlich, was gut und schlecht ist. In diesem Sinne macht sie Millionen freier und dadurch besser.«

»Ich sehe wenigstens aus Ihren Worten,« sprach der Landwirth, »daß Sie Ihren Beruf hoch halten. Und das freut mich überall, denn das ist die Art eines tüchtigen Mannes.«

Bei dieser Unterredung wurde beiden Männern behaglicher [70] zu Muthe. Der Inspector erhob sich, und im Nu rückten sämmtliche Stühle der Würdenträger und der Kinder, die Mehrzahl der Tischgäste verließ das Zimmer. Nur der Wirth, Ilse und die Gäste saßen noch einige Minuten beieinander, jetzt in ruhiger fortrollender Unterhaltung. Dann ging man in das Nebenzimmer zu dem angerichteten Kaffetisch, Ilse schenkte ein und der Landwirth betrachtete von seinem Sitze die unerwarteten Gäste.

Der Professor setzte die leere Tasse hin und begann: »Unsere Aufgabe hier ist beendigt, wir haben Ihnen für die gastliche Aufnahme zu danken. Ich möchte aber nicht scheiden, ohne Sie noch einmal an das zu erinnern –«

»Warum wollen Sie jetzt fort?« unterbrach ihn der Landwirth. »Sie haben heut schon einen längern Weg gemacht, Sie finden weder in der Stadt noch in den Dörfern dahinter ein erträgliches Unterkommen und in dem Drang der Ernte vielleicht nicht einmal eine Fuhre. Lassen Sie sich's zur Nacht hier gefallen, wir haben ohnedies noch unser Gespräch von heut Morgen aufzunehmen,« fügte er mit Laune hinzu, »und mir liegt daran, daß wir in gutem Einvernehmen scheiden. Sie begleiten mich ein Stück in das Feld, wo ich allerdings nöthig bin. Wenn ich auf das Vorwerk reite, mag Ilse wieder meine Stelle vertreten. Am Abend sprechen wir dann ein verständiges Wort miteinander.«

Die Freunde waren bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen. In gutem Einvernehmen schritten die Männer durch das Erntefeld. Der Professor freute sich über die großen Aehren einer neuen Art Gerste, welche noch ungemäht, dicht wie Rohr vor ihnen stand, und der Landwirth sprach bedächtige Worte über diese anspruchsvolle Halmfrucht des deutschen Landmanns. Sie blieben stehen, wo gerade die Arbeiter beschäftigt waren. Dann trat zuerst der Beamte, der die Aufsicht führte, dem Gutsherrn entgegen und berichtete, darauf schritten sie über die Stoppeln zu den Garben; der schnelle Blick des Landwirths [71] übersah die zusammengelegten Mandeln, die emsigen Leute und die harrenden Rosse am Erntewagen; die Freunde aber betrachteten mit Antheil, wie der Herr des Gutes mit seinen Beamten und Arbeitern verkehrte, kurze Befehle und beflissene Antworten, Eifer der schaffenden Leute und frohe Mienen, wenn sie die Zahl der Garben meldeten, überall ein wohlgefügtes Wesen, sichere Kraft, ein wackeres Zusammengreifen. Sie kehrten zurück mit Achtung vor dem Manne, der in seinem kleinen Reiche so fest herrschte. Auf dem Rückwege blieben sie bei den Füllen stehen, welche sich hinter der Scheuer auf eingezäuntem Raum tummelten, und als der Doctor vor andern zwei galoppirende Braune rühmte, fand sich's, daß er richtig die besten Pferde gelobt hatte, und der Landwirth lächelte ihm wohlwollend zu. Am Eingang des Hofes führte ein Knecht das Reitpferd, einen mächtigen Rappen von starken Gliedern und breiter Brust, der Doctor klopfte den Hals des Thieres, der Landwirth sah nach dem Riemzeug. »Ich bin ein schwerer Reiter,« sagte er, »und habe Noth, ein dauerhaftes Thier zu finden.« Er schwang sich wuchtig in den Sattel und griff an seine Mütze: »Auf Wiedersehn heut Abend.« Und sehr stattlich sahen Roß und Reiter aus, als sie den Feldweg entlang trabten.

»Das Fräulein erwartet Sie,« sagte der Reitknecht, »ich soll Sie zu ihr führen.«

»Haben wir Fortschritte gemacht oder nicht?« frug der Doctor lachend, den Arm des Freundes fassend.

»Ein Kampf hat begonnen,« erwiederte der Freund ernsthaft, »wer mag sagen, wie der Ausgang sein wird.«

Ilse saß von den Kindern umgeben in einer Gaisblattlaube des Gartens. Es war ein herzerfreuender Anblick, das junge blondhaarige Geschlecht beieinander zu sehen. Die Mädchen saßen neben der Schwester, die Knaben trieben spielend um die Laube, große Vesperbrote in der Hand. Sieben frische, wohlgeformte Gesichter, einander ähnlich wie Blüthen desselben Baumes und doch jedes Leben in einem andern Zeitraum [72] seiner Entfaltung, von Franz, dessen runder Kinderkopf einer lustigen Knospe glich, bis zu der schönen Fülle in Antlitz und Gliedern, welche in der Mitte saß, am hellsten durch das gebrochene Licht der Sonne beleuchtet. Wieder erregte den Freunden das Aussehen des Mädchens, der Klang ihrer Worte das Herz, als sie den kleinen Franz zärtlich schalt, weil er dem Bruder das Butterbrot aus der Hand geschlagen hatte. Wieder starrten die Kinder mißtrauisch auf die Fremden, aber der Doctor beseitigte das Ceremoniel der ersten Bekanntschaft, indem er Franz bei den Beinen nahm, auf seine Schultern setzte und sich mit seinem Reiter in der Laube niederließ. Der kleine Bursch saß einige Augenblicke betroffen auf seiner Höhe und die Kinder lachten laut, daß er so erschrocken aus runden Augen auf den fremden Kopf zwischen seinen Beinchen herabsah. Aber das Gelächter der Andern machte ihm Muth, er begann lustig mit den Beinen zu baumeln und schwenkte sein Vesperbrot triumphirend um die Locken des Fremden. So war die Bekanntschaft gemacht, wenige Minuten darauf fuhr der Doctor mit den Kindern durch den Garten, ließ sich jagen und suchte die Jauchzenden zwischen den Beeten zu fangen.

»Ist's Ihnen recht, so möchte ich Sie an eine Stelle führen, wo wir am liebsten auf unser Haus hinsehen,« sagte Ilse zum Professor. Von den Kindern umschwärmt, schritten die Großen den Weg hinab, der zur Kirche führte, und bogen um den Friedhof herum. Der Fels, auf welchem die Gebäude des Gutes lagen, senkte sich hier steil in ein schmales Thal, das von der andern Seite durch einen höheren Bergrücken eingeengt wurde. Ein gewundener Fußpfad lief in den Grund hinab, dort umsäumte ein Wiesenstreif das strudelnde Wasser des Baches. Aus dieser Tiefe zog sich der Pfad auf der andern Seite wieder in den Laubwald hinein, unter Goldweiden und Erlen stiegen sie einige hundert Schritt hinan. Vor ihnen erhob sich aus dem Geröll und Gebüsch ein Felsblock: [73] sie traten um die Ecke und standen an einer Steingrotte. Der Felsen bildete Portal und Wände einer Höhle, welche etwa zehn Schritt in den Berg hineinreichte. Der Boden war eben, mit weißem Sand bedeckt, Brombeeren und wilde Rosen hingen von oben über den Eingang herab, gerade in der Mitte hatte sich ein großer Busch Weidenröschen angesiedelt, er stand mit seinen dichten Blüthenrispen wie ein rother Federschmuck über dem Felsbogen der Grotte. Die Spur einer alten Mauer an der Seite verrieth, daß die Höhle wohl einmal in arger Zeit die Zuflucht Bedrängter oder Gesetzloser gewesen war; am Eingange lag ein Stein, dessen Oberfläche zu einem Sitze geebnet war, in der Dämmerung des Hintergrundes stand eine steinerne Bank.

»Dort ist unser Haus,« sagte Ilse und zeigte über das Thal nach der Höhe, wo hinter den Obstbäumen des Gartens das Giebelhaus emporstieg. »Hier sind wir im Gebirge. Sie sehen, der Hof ist so nahe, daß man einen lauten Ruf von drüben bei stiller Luft hören kann.«

Aus dem Dämmerlicht der Höhle sahen die Freunde in das helle Licht des Tages, auf das Steinhaus und auf die Bäume, welche seinen Fuß umgrenzten. »Jetzt ist es still im Walde,« fuhr Ilse fort, »die Vögel sind fast alle verstummt, die kleinen fliegen am Rande des Holzes und suchen reifen Samen, denn ihr Hauswesen ist zu Ende, sie leben jetzt in der großen Gesellschaft. Auch die im Garten zahm waren, werden ausgelassen und kümmern sich wenig um den Menschen und sein Futter.«

»Dort rauscht es leise, wie gurgelndes Wasser,«sagte der Professor.

»Ein Quell fließt nebenbei über Steine herab,« erklärte Ilse. »Jetzt ist er schwach, aber im Frühjahr strömt vieles Wasser von dem Berge zusammen. Dann ist das Rauschen laut und der Bach im Thale fährt wild über die Steine; dann überdeckt er auch die Wiesen dort unten, er füllt den [74] ganzen Grund und steigt bis an das Gebüsch. – Hier aber ist für uns alle in warmen Tagen ein lieber Aufenthalt. Als der Vater das Gut kaufte, war die Höhle verwachsen, der Eingang mit Steinen und Erde verschüttet und die Eulen wohnten darin. Und der Vater hat den Platz gesäubert.«

Der Professor trat neugierig in den Raum und schlug mit dem Stock an den röthlichen Felsen. Ilse sah ihn von der Seite an. Jetzt bekommt auch er das Suchen, dachte sie bekümmert. »Es ist alles altes Gestein,« sagte sie beruhigend.

Der Doctor war mit den Kindern um die Höhle herumgeklettert, er machte sich von Hans los, der ihm gerade anvertraute, daß er weiter unten in dichtem Erlengestrüpp das leere Nest einer Beutelmeise wisse.

»Das ist ein wundervoller Ort für die Sagen der Gegend,« rief er bewundernd, »es gibt keine schönere Heimat für die Geister des Thales.«

»Die Leute reden dummes Zeug davon,« entgegnete Ilse abweisend. »Hier sollen kleine Zwerge wohnen, und sie sagen, man kann ihre Fußtapfen im Sande erkennen, und Vater hat den Sand doch erst hineinfahren lassen. Aber die Leute fürchten sich doch, und wenn der Abend kommt, gehen die Frauen und Kinder der Arbeiter nicht gern vorüber. Uns aber verbergen sie's, denn der Vater leidet den Aberglauben nicht.«

»Ich sehe, die Zwerge stehen hier nicht in Gunst,« erwiederte der Doctor.

»Da es keine gibt, soll man nicht daran glauben,« versetzte Ilse eifrig. »Unsre Leute möchten es wohl noch gern thun. Der Mensch soll an das glauben, was die Bibel lehrt, nicht an wildes Zeug, das, wie sie im Dorfe sagen, durch den Wald und die Nacht dahinfährt. Neulich war eine alte Frau im nächsten Dorfe krank, kein Mensch trug ihr Essen, recht häßlich haben sie sich über ihre Niederlage gefreut, weil sie meinten, das arme Weib könne sich in eine schwarze Katze verwandeln und dem Vieh schaden. Als wir es erfuhren, [75] drohte der Frau die Gefahr, in Einsamkeit umzukommen. Und deshalb ist es häßliches Geschwätz.«

Der Doctor hatte sich unterdeß die Zwerge in der Brieftasche angemerkt, sah aber jetzt ohne Freude auf Ilse, die aus dem Hintergrund der Höhle sprach, in dem gebrochenen Scheine zwischen Fels und Licht selbst einem Sagenbilde ähnlich. »Der alte Scheich Abraham und der Gauner Jacob, der seinen blinden Vater mit dem Bocksfell an den Aermeln betrügt, sind ihr ganz recht, aber unser Schneewittchen gilt ihr für häßliches Zeug.« Er steckte die Brieftafel ein und ging mit Hans zur Behausung der Beutelmeise.

Der Professor hatte mit Ergötzen den stillen Aerger des Freundes beobachtet, aber Ilse wandte sich auch zu ihm: »Mich wundert, daß Ihr Freund solche Geschichten aufschreibt, das ist nicht gut, dergleichen muß in Vergessenheit kommen.«

»Sie wissen, daß er selbst nicht daran glaubt,« erwiederte der Professor entschuldigend, »was er aber darin findet, das sind nur alte Ueberlieferungen des Volkes. Denn diese Sagen sind in einer Zeit entstanden, wo noch unser ganzes Volk an diese Geister ebenso glaubte, wie jetzt an die Lehren der Bibel. Er sammelt solche Erinnerungen, um zu erkennen, wie Glaube und Poesie unserer Vorfahren war.«

Das Mädchen schwieg. »Das gehört also auch zu dem, was Sie heut Mittag von Ihrer Arbeit sagten,« begann sie nach einer Weile.

»Es gehört auch dazu.«

»Es hörte sich gut an,« fuhr Ilse fort, »denn Sie sprechen anders als wir. Sonst, wenn man von Einem sagte, er spricht wie gedruckt, meinte ich immer, es sei ein Vorwurf, aber es ist das richtige Wort,« setzte sie leiser hinzu, »und es macht Freude zu hören.« Dabei sah sie aus der Tiefe der Grotte mit ihren großen Augen auf den Gelehrten, der am Eingange stand, an den Stein gelehnt, hell von den Strahlen der Sonne beschienen.

[76] »Es gibt aber auch sehr viele Bücher, welche schlecht schwatzen,« antwortete der Professor lachend, »und nichts ermüdet so sehr, als lange Buchweisheit aus lebendigem Munde.«

»Ja, ja,« bestätigte Ilse, »wir haben auch eine Bekannte, welche eine gelehrte Frau ist. Wenn die Frau Oberamtmann Rollmaus uns des Sonntags besucht, so setzt sie sich auf dem Sopha zurecht und greift mit einem Gespräch den Vater an. Der Vater mag sich winden, wie er will, um ihr zu entgehen, sie weiß ihn fest zu halten, über Engländer und Tscherkessen, über Kometen und die Dichter. Aber die Kinder sind dahinter gekommen, daß sie ein Lexikon für Conversation hat, daraus nimmt sie Alles. Und wenn sich in einem Lande etwas ereignet oder die Zeitung von etwas Lärm macht, so liest sie im Lexikon darüber nach. Wir haben dasselbe Buch angeschafft, und wenn ihr Besuch bevorsteht, so wird überlegt, welcher Name gerade an der Zeit ist. Dann schlagen die Kinder vorher am Sonnabend Abend diese Sache auf und lesen vor, was nicht gar zu lang ist. Und auch der Vater hört zu und sieht auch wohl noch selbst in das Buch. Und am andern Tage haben die Kinder ihre Freude daran, wenn der Vater die Frau Oberamtmann mit ihrem eigenen Buche überwindet. Denn unser Buch ist neuer, ihres ist schon alt und die neuen Begebenheiten stehen nicht darin, von diesen weiß sie wenig.«

»Also der Sonntag ist die Zeit, wo man hier Ehre einlegen könnte,« sagte der Professor.

»Im Winter sieht man sich auch manchmal in der Woche,« fuhr Ilse fort. »Aber es ist nicht viel Verkehr in der Umgegend. Und wenn einmal ein Besuch kommt, der uns gute Gedanken zurückläßt, so sind wir dankbar und wir bewahren sie in treuem Herzen.«

»Die besten Gedanken sind doch, welche dem Menschen aus seiner eigenen Thätigkeit aufsteigen,« sagte der Professor rücksichtsvoll. »Das Wenige, was ich von dem Gute hier gesehen, [77] mahnt, wie schön das Leben gedeihen kann, auch wenn es weit von dem lauten Geräusch des Tages abliegt.«

»Das war ein freundliches Wort,« rief Ilse. »Und einsam ist es hier auch nicht, und wir kümmern uns auch um die Landsleute draußen und um die große Welt. Wenn die Herren Landwirthe zum Besuch kommen, wird nicht immer von der Wirthschaft gesprochen, und es fällt wohl etwas für uns jüngere ab. Und dann ist unser lieber Herr Pastor, der uns auch zuweilen aus der Fremde erzählt und mit uns zusammen die Zeitungen liest, welche der Vater hält. Und wenn darin zu Beiträgen für einen guten Zweck aufgefordert wird, dann sind die Kinder am schnellsten bei der Hand und jedes gibt sein Scherflein vom Ersparten, der Vater aber reichlich. Und Hans als der älteste sammelt und hat das Recht solches Geld einzupacken, und in den Brief setzt er die Anfangsbuchstaben eines Jeden, der dazu gegeben hat. Kommt dann später im Gedruckten eine Quittung, so sucht jedes zuerst seinen Buchstaben. Mehrmals war einer falsch gedruckt, dann sind die Kinder ärgerlich.«

Aus der Ferne hörte man Ruf und Lachen der Kinder, welche mit dem Doctor von ihrem Ausflug zurückkehrten. Das Mädchen erhob sich, der Professor trat zu ihr und sagte mit warmer Empfindung: »Sooft mir einst die Bilder dieses Tages lebendig werden, wird mein Herz voll Dank dieser Stunde gedenken, wo Sie zu einem Fremden so ehrlich über Ihr glückliches Leben gesprochen haben.«

Ilse sah ihn mit unschuldigem Vertrauen an. »Sie sind mir nicht fremd, ich sah Sie ja am Grabe des Kindes.«

Der fröhliche Schwarm schloß beide in die Mitte und zog weiter das Thal hinauf.

Es war Abend, als sie zum Hause zurückkehrten, wo der Landwirth sie bereits erwartete. Nach dem Abendbrot saßen die Erwachsenen noch eine Stunde zusammen. Die Fremden erzählten von ihrer Stadt und Neuigkeiten aus der Welt, [78] dann wurde, wie Männern ziemt, auch über Politik gesprochen, und Ilse freute sich, daß ihr Vater und die Fremden sich darin vortrefflich verstanden. Als der Kuckuck über der Hausuhr die zehnte Stunde ausrief, trennte man sich mit freundlichem Nachtgruß.

Das Hausmädchen hatte den Fremden zur Ruhe geleuchtet, Ilse saß auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, und sah schweigend vor sich hin. Der Gutsherr kam aus seinem Zimmer und nahm den Nachtleuchter vom Tisch. »Bist noch wach, Ilse? Nun, wie gefallen dir die Fremden?«

»Gut, Vater,« sagte das Mädchen leise.

»Sie sind nicht so dumm als sie aussehen,« sagte der Wirth auf und abgehend. »Das von dem großen Feuer war recht,« wiederholte er, »und das über unsere kleinen Regierungen war auch recht. Der Jüngere wäre ein guter Schullehrer geworden, und der Große, es ist beim Himmel schade, daß er nicht ein vier Jahr Wasserstiefeln getragen hat, er wäre ein gescheidter Inspektor. Gute Nacht, Ilse.«

»Gute Nacht, Vater.«

Die Tochter erhob sich und folgte dem Vater an die Thür. »Bleiben die Fremden morgen hier, Vater?«

»Hm,« sagte der Wirth nachdenkend. »Ueber Mittag bleiben sie jedenfalls, ich will ihnen doch das Vorwerk zeigen. Sorge für etwas Ordentliches zum Essen.«

»Vater, der Professor hat noch nie in seinem Leben ein Spanferkel gegessen,« sagte die Tochter.

»Ilse, wo denkst du hin, meine Ferkel wegen des Tacitus!« rief der Landwirth. »Nein, damit komm mir nicht, bleibe bei deinem Federvieh! Halt! noch eins, reiche mir den Band T aus dem Schranke, ich will doch einmal über den Burschen nachlesen.«

»Hier, Vater, ich weiß, wo es steht.«

»Sieh doch!« sagte der Vater, »Frau Oberamtmann Rollmaus! gute Nacht.«

[79] Der Doctor sah durch das Fenster in den dunklen Hof. Schlaf und Frieden lag über dem weiten Raum, aus der Ferne klang der Schritt des Wächters, der die Hofstätte umkreiste, dann bellte halblaut der Hofhund. »Da stehen wir,« sagte er endlich, »zwei echte Abenteurer in der feindlichen Burg. Ob wir etwas daraus forttragen, ist sehr zweifelhaft,« fügte er hinzu, seinen Freund bedenklich anlächelnd.

»Es ist zweifelhaft,« sagte der Professor, mit großen Schritten die Stube durchmessend.

»Was hast du, Felix?« frug Fritz besorgt nach einer Pause, »du bist zerstreut, das ist sonst nicht deine Art.«

Der Professor blieb stehen. »Ich habe dir nichts zu sagen. Es sind starke, aber unklare Empfindungen, welche ich zu bewältigen suche. Ich fürchte, dieser Tag hat eine Bedeutung gewonnen, gegen welche ein vernünftiger Mann sich zu wehren hat. Frage mich nicht weiter, Fritz,« fuhr er fort und drückte diesem kräftig die Hand, »ich fühle mich nicht unglücklich.«

Fritz versank in Bekümmerniß, setzte sich zu seinem Bett und spähte nach einem Stiefelknecht. »Wie gefällt dir unser Wirth?« fragte er kleinlaut und ließ, um sorglos zu erscheinen, den Stiefel im Holze knarren.

»Ein tüchtiger Mann,« erwiederte der Professor, wieder stehenbleibend, »seine Art ist anders, als wir's gewöhnt sind.«

»Es ist altsächsischer Stamm,« setzte der Doctor das Gespräch fort, »breite Schultern, Hünenwuchs, offene Züge, Wucht in jeder Bewegung. Auch die Kinder sind von derselben Art,« fuhr er fort, »die Tochter hat etwas von einer Thusnelda.«

»Der Vergleich paßt nicht,« entgegnete der Professor rauh und setzte seinen Marsch fort.

Fritz spannte den zweiten Stiefel in das Joch und knarrte in den leisen Mißklang hinein. »Wie gefällt dir der älteste Knabe? Er hat ganz das helle Haar seiner Schwester.«

»Das ist gar nicht zu vergleichen,« sagte der Professor wieder kurz.

[80] Fritz setzte die beiden Stiefeln vor das Bett, sich selbst auf den Bettrand und begann entschlossen: »Ich bin bereit, deine Stimmung zu achten, auch wenn sie mir nicht ganz verständlich ist, aber ich bitte dich doch daran zu denken, daß wir diese Gastfreundschaft uns eigentlich erzwungen haben, und daß wir sie nicht über die Frühstunden des nächsten Tages in Anspruch nehmen dürfen.«

»Fritz,« rief der Professor mit tiefer Empfindung, »du bist mein zartfühlender lieber Freund, habe heut Geduld mit mir,« und dabei wandte er sich wieder um und trat, das Gespräch abbrechend, an das Fenster.

Fritz gerieth vor Sorgen ganz außer sich; dieser großartige Mann, sicher in allem, was er schrieb, voll von Rath und festem Entschluß vor den dunkelsten Textstellen – und jetzt arbeitete in ihm, was sein ganzes Wesen erschütterte. Wie durfte dieser Mann so gestört werden! Er sah mit majestätischer Klarheit in eine Vergangenheit von mehren tausend Jahren zurück, und jetzt stand er am Fenster einem Kuhstall gegenüber, und ein Ton klang durch das Zimmer wie Seufzen. Was sollte daraus werden? Diesen Gedanken wälzte der Doctor unablässig hin und her.

Lange ging der Professor mit großen Schritten auf und ab, Fritz stellte sich schlafend, sah aber unter der Bettdecke hervor immer wieder auf den kämpfenden Freund. Endlich löschte der Professor das Licht und warf sich auf das Lager. Bald verriethen seine tiefen Athemzüge, daß die wohlthätige Natur auch dies pochende Herz für einige Stunden zu leisem Schlage gebändigt hatte. Aber der Kummer des Doctors hielt hartnäckiger Stand. Von Zeit zu Zeit erhob er den Oberleib aus den Kissen, suchte tastend seine Brille vom nächsten Stuhle, ohne die er den Professor nicht ersehen konnte, und spähte durch die runden Gläser nach dem andern Bette hinüber, nahm die Brille wieder in leisem Seufzen ab und legte sich in die Kissen zurück. Diesen Act der Freundschaft wiederholte er[81] mehre Male, bis auch er in festen Schlaf verfiel, kurz bevor die Sperlinge im Rebenlaub ihren Morgengesang anstimmten.

5. Zwischen Herden und Garben
5.
Zwischen Herden und Garben.

Die Hofuhr schlug, Wagen rollten vor dem Fenster, die Glöckchen der Herde läuteten, als die Freunde erwachten. Einen Augenblick sahen sie erstaunt auf die Wände des fremden Zimmers und durch das Fenster in den sonnigen Garten. Während der Doctor Notizen einschrieb und das Bündel schnürte, trat der Professor hinaus in das Freie. Draußen hatte längst das Tagewerk begonnen, Beamte und Gespanne waren auf das Feld gezogen, geschäftig eilte der Hofverwalter um die offenen Scheuern, die Schafe drängten sich blökend vor dem Stall zusammen, von den Hunden umkreist.

Die Landschaft glänzte im Licht eines wolkenlosen Himmels. Ueber dem Boden schwebte noch der Dämmer, welcher das Licht der deutschen Sonne auch an hellen Morgen bändigt und mit seinem Grau versetzt. Noch warfen Häuser und Bäume lange Schatten, die Kühle der thauigen Nacht haftete an den schattigen Stellen und die kleinen Luftwellen trieben bald die Wärme des jungen Tageslichts, bald den erfrischenden Hauch der Nacht dem Gelehrten an die Wange.

Er schritt um die Gebäude und den Hofraum, um sich die Stätte zu begrenzen, die er von jetzt als eine fremdartige Erinnerung in der Seele tragen sollte. Die Menschen, welche hier wohnten, hatten ihm zögernd ihr Wesen aufgeschlossen, Manches in diesem einfachen Leben zwischen Haus und Flur erschien ihm lieb und begehrenswerth. Was hier Thätigkeit gab, Eindrücke und Willen, das konnte er zum größten Theil[82] mit seinen Augen übersehen, denn die Aufgaben für jedes Leben, die Pflichten des Tages wuchsen aus dem Hofe und den Beeten der Landschaft, nach der Ackerscholle formten sich die Ansichten über das Fremde, beschränkte sich das Urtheil. Und lebhaft empfand er, wie tüchtig und glücklich die Menschen leben konnten, denen das eigene Sein so fest verwachsen war mit der Natur und den uralten Bedürfnissen der Menschen. Er selbst aber, welch andere Gewalten regierten sein Leben! Er wurde geführt durch tausend Einwirkungen alter und neuer Zeit, nicht selten durch Gestalten und Zustände der fernsten Vergangenheit. Denn was der Mensch treibt, ist ihm mehr als vergängliche Arbeit des Tages, und Alles, was er gethan, wirkt als ein Lebendiges in ihm fort; der Naturforscher, welchen die Sehnsucht nach einer seltenen Pflanze auf die steile Höhe führt, von der er den Rückweg nicht findet, der Soldat, den die Erinnerung an alte Kampfaufregung in neue Schlachten wirft, sie werden geleitet durch die Gewalt der Gedanken, welche ihre Vergangenheit in ihnen lebendig gemacht hat. – Natürlich! der Mensch ist kein Sklave dessen, was er gelebt hat, wenn er sich nicht dazu erniedrigt; sein Wille ist frei, er wählt, was er mag, und zerwirft, was er nicht bewahren will. Aber die Gestalten und Bilder, welche einmal in seine Seele gefallen sind, arbeiten doch unablässig ihn zu leiten, oft hat er sich gegen ihre Herrschsucht zu wehren, in tausend Fällen folgt er fröhlich ihrem leisen Zuge. Alles was war und Alles was ist, das lebt über seine Erdentage hinaus fort in jedem neuen Dasein, worein es zu dringen vermag, es wirkt vielleicht in Millionen, durch lange Zeiten, die Einzelnen und die Völker bildend, erhebend, verderbend. So werden die Geister der Vergangenheit, die Gewalten der Natur, auch was man selbst geschaffen und erdacht hat, ein unveräußerlicher, Leben wirkender Bestandtheil der eigenen Seele. Und lächelnd sah der Gelehrte, wie fremde, tausend Jahr alte Erinnerungen ihn selbst hierher unter Landsleute geführt hatten, und wie dem Manne, [83] der hier herrschte, so sehr verschiedene Thätigkeit den Sinn und das Urtheil weit anders gestaltete.

Zwischen seine Gedanken tönte behaglich aus dem Stall das Brummen der Rinder. Aufblickend sah er eine Reihe geschürzter Mägde, welche die vollen Milcheimer nach dem Gewölbe trugen. Hinter ihnen ging Ilse im einfachen Morgenkleid, das blonde Haar glänzte gegen die Sonne wie gesponnenes Gold, frisch und kräftig schritt sie dahin wie der junge Tag. Der Gelehrte empfand Scheu, an sie zu treten, er sah ihr sinnend nach; auch sie war eine der Gestalten, welche fortan in seinem Innern fortleben sollten, ein Bild seiner Träume, vielleicht seines Wunsches. Wie lange? wie mächtig? – Er ahnte nicht, daß seine römischen Kaiser schon in der nächsten Stunde thätig sein sollten, diese Frage zu beantworten.

Quer über den Hof kam der Landwirth, er rief ihm den Morgengruß zu und frug, ob der Professor ihn auf einem kurzen Gange ins Feld begleiten wolle. Als die Beiden nebeneinander der Sonne entgegen schritten, beide tüchtige Männer und doch so verschieden an Haupt und Gliedern, in Haltung und Inhalt, da hätte wohl Mancher den Gegensatz mit warmem Antheil betrachtet, und nicht zuletzt Ilse; aber wer nicht die Augen eines Schatzgräbers oder Geisterbanners hatte, der konnte doch nicht bemerken, wie verschiedenartig das unsichtbare Gefolge kleiner Geister war, welches beiden um Schläfe und Schultern flatterte, Schwärmen unzählbarer Vögel oder Bienen vergleichbar. Die Geister des Landwirths waren in heimischer Wirthschaftstracht, blaue Kittel oder flatternde Kopftücher, darunter wenige Gestalten in den unbestimmten Gewändern von Glaube, Liebe, Hoffnung. Hingegen um den Professor schwärmte ein unabsehbares Gewühl fremder Gebilde mit Toga und antiken Helmen, in Purpurgewand und griechischer Chlamys, auch nacktes Volk in Athletentracht, und solche mit Ruthenbündeln und mit zwei [84] Flederwischen an den Hüten. Das kleine Gefolge des Landwirths flog unablässig auf die Ackerbeete und wieder zurück, der Schwarm des Gelehrten achtete nicht sehr darauf und hielt sich gesammelt. Endlich blieb der Landwirth vor einem Flurstück stehen, sah liebevoll darauf und erzählte, daß er dies Stück durch Unterpflügen grüner Lupinen – einer damals neu eingeführten Cultur – gedüngt habe. Der Professor hielt überrascht an. In seinem Gefolge entstand ein Durcheinanderschwärmen, ein kleiner antiker Geist flog an die nächste Erdscholle und zog vom Haupt des Professors ein zartes Gespinnst, das er dort anhing. Unterdeß erzählte der Professor dem Landwirth, wie das Unterackern der grünen Hülsenfrucht einst bei den Römern bräuchlich gewesen, und wie er erfreut sei, daß jetzt nach anderthalb Jahrtausenden dieser alte Fund in unsern Wirtschaften wiederum entdeckt sei. Dabei kam man auf die Veränderungen im Landbau, und der Professor erwähnte, wie auffallend ihm gewesen sei, daß dreihundert Jahre nach Beginn unserer Zeitrechnung die Getreidebörse in den Häfen des schwarzen Meeres und Kleinasiens so große Aehnlichkeit mit der modernen von Hamburg und London gehabt habe, während jetzt dort im Osten auch viele andere Culturpflanzen gebaut würden. Und endlich berichtete er ihm gar von einem Waarentarif, den ein römischer Kaiser aufgestellt hatte, und daß gerade die Preise des Weizens und der Gerste, der beiden Früchte, von denen damals die übrigen Preise und Löhne abgehangen hätten, auf dem erhaltenen Steine zerstört wären. Und er setzte hübsch auseinander, weshalb dieser Verlust so sehr zu bedauern sei. Da ging wieder dem Landwirth das Herz auf, und er versicherte dem Professor, das sei gar nicht übermäßig zu beklagen, denn man könne diese verlorenen Werthe aus den Preisen der übrigen Früchte mit Halm und Hülse sicher bestimmen, weil alle Früchte untereinander im Großen betrachtet ein festes und altes Werthverhältniß haben. Er gab diese Verhältnisse ihres Nahrungswerthes in Zahlen [85] an, und der Professor erkannte mit freudigem Erstaunen, daß sie wohl auf den Tarif seines alten Kaisers Diocletian passen könnten.

Während die Männer diese anscheinend gleichgültige Unterhaltung führten, flog ein bösartig aussehender Genius, wahrscheinlich Kaiser Diocletianus selber, vom Professor hinüber unter die bäuerliche Genossenschaft des Landwirths, stellte sich in seinem Purpurgewand mitten auf den Kopf des Herrn, stampfte mit den Beinchen an die Hirnschale und veranlaßte dem Landwirth die Empfindung, daß der Professor ein verständiger und gediegener Mann sei, und daß diesem Mann nützlich sein werde, weitere Belehrungen über Werth und Preise der Früchte zu erhalten. Denn es that dem Landwirth doch sehr wohl, daß er dem Gelehrten auf dessen eigenem Gebiet Bescheid sagen konnte.

Als nach einer Stunde die beiden Wanderer zum Hause zurückkehrten, blieb der Landwirth an der Thür stehen und sagte mit einiger Feierlichkeit zum Professor: »Als ich Sie gestern hier einführte, wußte ich wenig, wen ich vor mir hatte. Es ist mir peinlich, daß ich einen Mann, wie Sie, so unwirsch begrüßt habe. Ihre Bekanntschaft ist mir eine Freude geworden, man findet hier selten Jemanden, mit dem man sich über allerlei so aussprechen kann wie mit Ihnen. Lassen Sie sich's, da Sie doch eine Erholungsreise machen wollen, auf einige Zeit bei uns einfachen Leuten gefallen. Je länger, desto besser. Es sind freilich jetzt nicht die Wochen, wo der Landwirth seinen Gästen das Haus bequem machen kann, Sie würden vorlieb nehmen müssen. Wollen Sie arbeiten und brauchen Sie Bücher, wir lassen sie hierher kommen. Und sehen Sie nach, ob das bei den Römern nicht etwa Wintergerste war, die ist leichter als unsere. – Schlagen Sie ein und machen Sie mir die Freude.« Er hielt dem Gelehrten treuherzig die Hand hin.

Ueber das Antlitz des Professors fuhr es wie ein helles Licht. Er ergriff lebhaft die Hand des Gastfreundes: »Wenn [86] Sie meinen Freund und mich noch einige Tage behalten wollen, ich nehme Ihre Einladung von ganzem Herzen an. Ich darf Ihnen sagen, daß mir der Einblick in einen neuen Kreis menschlicher Interessen werthvoll ist, noch weit mehr aber das Wohlwollen, welches uns hier entgegenkommt.«

»Abgemacht,« rief der Landwirth heiter, »jetzt rufen wir Ihren Freund.«

Der Doctor öffnete seine Thür. Als der Landwirth mit warmen Worten die Einladung gegen ihn wiederholte, sah er einen Augenblick ernsthaft nach dem Freund hinüber. Da dieser ihm freundlich zunickte, nahm auch er für die Tage an, welche ihm vor dem beschlossenen Besuch bei Verwandten noch frei waren. – So geschah es, daß Kaiser Diocletianus, fünfzehnhundert Jahre nachdem er die Erde unfreiwillig verlassen hatte, seine tyrannische Macht an dem Professor und dem Landwirthe ausübte. Ob noch andere geheime Arbeit antiker Gewalten dabei thätig war, ist nicht erforscht.

Ilse hörte schweigend den Bericht des Vaters, daß die Herren noch einige Zeit ihre Gäste sein wollten, aber ihr Blick fiel so klar und warm auf die Fremden, daß diese freudig fühlten, sie seien auch hier willkommen.

Sie waren von dieser Stunde wie alte Bekannte eingeführt in das Leben des Hauses, und beiden, die nie auf dem Lande gelebt, war, als müßte das sein, und als wären sie selbst zurückgekehrt in eine Heimat, in der sie sich schon einmal vor Jahren getummelt hatten. Es war ein geschäftiges Treiben, und doch lag auch jetzt, wo die Arbeit heiß drängte, so heitere Ruhe darüber. Ohne viele Worte, sicher verbunden wirkten die Menschen in Haus und Hof nebeneinander. Das Tageslicht war der oberste Schirmvoigt, der aufgehend zur Arbeit trieb, erlöschend die Spannung der Glieder löste. Wie die Arbeiter nach dem Himmel sahen, um ihre Werkstunden zu ermessen, so richteten Sonne und Wolke auch die Stimmungen des Tages nach ihrem Zuge, bald Behagen, bald Sorge darnieder [87] sendend. Und langsam und leise, wie die Natur die Blüthen aus dem Boden treibt und die Früchte zeitigt, wuchsen auch die Empfindungen der Menschen dort zu Blüthe und Frucht. Im friedlichen Zusammenleben, aus kleinen Eindrücken setzt sich das Verhältniß der Thätigen zueinander zurecht. Wenige warme Worte, ein freundlicher Blick, der kurze Anschlag einer Saite, welche im Innern lange nachtönt, genügen, zwischen Garben und Herden, zwischen Auszug und Heimfahrt vom Felde ein festes Band um verschiedenartige Naturen zu schlingen; ein Band, gewebt aus unscheinbaren Fäden! aber es erhält dennoch leicht eine Stärke, die durch das ganze Erdenleben dauert.

Auch die Freunde umgab der Frieden, die alltägliche Tüchtigkeit, die kleinen Bilder des Landes. Nur, wenn sie das alte Haus betrachteten und der Hoffnung gedachten, welche sie hierher geführt, kam ihnen etwas von der Unruhe, welche Kinder vor einer Weihnachtsbescherung empfinden. Die still arbeitende Phantasie warf ihren bunten Schein über Alles, was dem Hause angehörte, bis herab auf den Beller Nero, der schon am zweiten Tage durch heftiges Schwenken des Schwanzes den Wunsch ausdrückte, auch von ihnen in die Tischgenossenschaft aufgenommen zu werden.

Es war dem Doctor sehr der Beachtung werth, wie stark sein Freund durch dies ruhige Leben angezogen wurde, und wie fügsam er sich in die Bewohner des Hauses schickte. Der Gutsherr brachte ihm, bevor er auf das Vorwerk ritt, einige landwirthschaftliche Bücher und sprach zu ihm über Getreidesorten, der Professor antwortete so bescheiden wie ein junger Herr in Stulpstiefeln und vertiefte sich sogleich ernsthaft in diese fremden Interessen. Auch zwischen Ilse und dem Professor offenbarte sich ein Einvernehmen, über dessen Ursache der Doctor unruhig nachsann. Wenn der Professor zu ihr sprach, geschah es mit inniger Verehrung in Stimme und Blick, und auch Ilse wandte sich am liebsten zu ihm und war in der Stille [88] unablässig um sein Behagen bemüht. Als er ihr bei Tische ein Tuch aufhob, überreichte er es mit ehrfurchtsvoller Verbeugung, wie einer Fürstin; als sie ihm seine Tasse in die Hand gab, sah er so glücklich aus, als hätte er den geheimen Sinn einer schwierigen Schriftstelle gefunden. Dann am Abend, als er mit dem Vater im Garten saß und Ilse hinter seinem Rücken aus dem Hause trat, verklärte sich sein Angesicht, und er hatte sie doch gar nicht gesehen. Und da sie den Kindern das Abendbrot austheilte und den kleinen Franz wieder schelten mußte, weil er unartig war, sah der Professor plötzlich so finster drein, als ob er selbst ein Knabe wäre, den der Unwille der Schwester bessern sollte. Diese Beobachtungen gaben dem Doctor zu denken.

Weiter, als kurz darauf der wackere Hans dem Doctor den Vorschlag machte, bei einem freundschaftlichen Blindekuhspiel mitzuwirken, da nahm Fritz als selbstverständlich an, daß der Professor unterdeß den Vater in der Laube unterhalten werde. Er selbst hätte sich's kaum getraut, seinen gelehrten Freund zu dieser Ausschweifung aufzufordern. Wie erstaunte er aber, als Ilse das Tuch zusammenlegte, zu dem Professor trat und ihn aufforderte, sich zuerst als Blindekuh umbinden zu lassen. Und der Professor sah auf dieses Ansinnen ganz glücklich aus, bot Haupt und Hals sanft wie ein Opferlamm der Verhüllung und ließ sich von Ilse in den Kreis der kleinen Wilden führen. Lärmend umringte der Schwarm den Professor, die dreisten Kinder zupften ihn am Rockschoß, sogar Ilse wußte einen Knopf seines Rockes zu fassen und zog leise daran, er aber gerieth über dieses Zucken in Aufregung, fuhr mit den Händen umher und achtete keinen Angriff der schwärmenden Jugend, nur um die Frevlerin zu ergreifen. Als ihm dies nicht gelang, schlug er mit dem Stocke auf und ging wie der blinde Sänger Demodokus tastend umher, um einen Phäaken mit der Stockspitze zu fassen. Jetzt traf er richtig auf Ilse, sie aber hielt das Stockende ihrer Schwester hin, und Clara pfiff daran, der Professor[89] aber rief: »Fräulein Ilse!« Und Ilse freute sich herzlich, daß er falsch gerathen, und der Professor sah darüber sehr betreten aus.

Aber dabei blieb es nicht. Dies Landgeschlecht muthete dem Professor ferner zu, den Dritten abzuschlagen, als schwarzer Mann zu kommen und ähnliche anstrengende Uebungen, bei denen ein Umherhuschen, Umwenden, Laufen und ein Hüpfen über die Grenze unvermeidlich war. Alles dies machte der Professor recht lüderlich mit. Ja, er bewies darin eine Kunstfertigkeit, welche die Kinder bezauberte. Er sprang wie ein Knabe über die Buchsbaumbeete, unternahm das Kunststück, mit jeder Hand eines zu fangen, schlug mit dem zusammengedrehten Taschentuch kräftigst auf die Rückseite der Knaben und traf Ilsens Hände mit einem so achtungsvollen Schlag, daß Bruder Franz erzürnt ausrief: »Das gilt nicht, das war zu wenig.« Ilse aber bekannte sich getroffen, nahm das Tuch und schenkte es jetzt dem Professor gar nicht, sondern schlug ihn damit herzhaft auf die Schultern, und als er sich erstaunt umdrehte, lächelte sie ihm ein wenig zu und übergab ihm das Tuch wieder.

Es war unleugbar, die laute Fröhlichkeit der wohlgebildeten Kinder war ansteckend, auch der Doctor wurde bald von einer derben ländlichen Lustigkeit erfaßt. Auch er sprang und klatschte in die Hände und boxte während des gemeinsamen Spiels noch zum Privatvergnügen mit Hans dem ältesten, so oft sie nebeneinander zu stehen kamen. Während er selbst lachte und auf einem Beine herumsprang, freute er sich als beobachtender Weiser über die großen und kleinen Mädchen, wie gut ihnen die kräftigen Bewegungen des wilden Spiels standen. Denn es war unverkünstelte Natur und volle Hingabe an das Spiel. Wenn Clara, die zweite, dem Bruder entlief oder im Kreise umherfuhr, so war sie bis auf ihr bescheidenes Röckchen einer spartanischen Wettläuferin wohl zu vergleichen. Als Ilse darauf am Baum stand und mit der Hand einen Ast über sich [90] faßte, um sich zu stützen, so sah ihr geröthetes Antlitz, von den Blättern des Nußbaums bekränzt, so schön und glücklich in die Welt, daß auch der Doctor ganz davon hingerissen wurde.

Bei solcher Bacchantenstimmung war es nicht zu verwundern, daß der Professor zuletzt Hansen zum Wettlauf herausforderte: zweimal im Viereck, längs dem Zaune. Unter dem Jubel der Kinder verlor Hans seine Wette, wie er selbst behauptete, weil er die innere Seite des Vierecks gehabt hatte, aber die allgemeine Stimme verwarf durchaus diese Entschuldigung. Als die Wettläufer wieder bei der Laube ankamen, reichte Ilse dem Professor seinen Ueberziehrock, den sie unterdeß vom Kleiderrechen des Hausflurs geholt hatte: »Es wird spät, Sie dürfen sich bei uns nicht erkälten.« Und es war gar nicht kalt, er aber zog den Rock auf der Stelle an, knöpfte ihn von oben bis unten zu und schüttelte seinen Mitstreiter Hans vergnügt an den Schultern. Darauf setzten sich alle in der Laube nieder, um abzukühlen. Hier mußte auf die stürmische Forderung der Kleinen unter allgemeinem Chorgesange ein Thaler wandern, und von dem strengen Theil der Familie wurde laut gerügt, daß der Thaler zweimal zwischen Ilse und dem Professor auf die Erde fiel, weil sie einander den geheimen Läufer nicht fest genug in die Hand gegeben hatten. Durch dies Spiel war die Gesangeslust der Jugend erweckt worden, Klein und Groß sang zusammen aus voller Kehle solche Lieder, welche sich als gemeinsames Gut erwiesen: »An der Saale kühlem Strande,« das Mantellied und »die Glocke von Capernaum,« dieses als Canon. Darauf sangen Ilse und Clara, von dem Doctor ersucht, zweistimmig ein Volkslied, sehr einfach und schmucklos, und vielleicht traf eben deshalb die melancholische Weise das Herz, so daß es nach dem Lied still wurde und die fremden Herren gewissermaßen gerührt vor sich hinsahen, bis der Landwirth die Gäste aufforderte, auch etwas zum Besten zu geben. Sogleich stimmte der Professor, aus seiner Bewegung auftauchend, mit wohltönendem [91] Basse an: »Im kühlen Keller sitz' ich hier,« daß die Knaben begeistert die Reste aller Milch austranken und mit den Gläsern auf den Tisch stampften. Wieder äußerte sich die Gesellschaft als Chor, sie unternahmen das liebe alte Fragezeichenlied: »des Deutschen Vaterland,« soweit die Kenntniß der Verse reichte, und zum Schluß versuchte sich Alles zusammen an Lützows verwegener Jagd. Der Doctor hielt als fester Chorsänger die Melodie bei den schwierigen Noten schön zusammen und der Refrain klang wundervoll in der stillen Abendluft, die Töne zogen das Weinlaub der Mauer entlang und über die Gipfel der Obstbäume bis an das Gehölz des nächsten Hügels und kamen von dort als Echo zurück.

Nach diesem Hauptstück trieb Ilse die Kinder zum Aufbruch und geleitete die Unzufriedenen in das Haus, die Männer aber saßen noch lange im Gespräch zusammen, sie hatten miteinander gelacht und gesungen und ihre Herzen waren geöffnet. Der Landwirth erzählte aus seinen früheren Tagen, wie er sich da und dort versucht hatte und endlich hier festgesetzt. Der Kampf um das Leben war auch ihm schwer und langwierig gewesen, er erinnerte sich in dieser Stunde gern daran und sprach darüber in der guten Weise eines thätigen Mannes.

So verlief der zweite Tag auf dem Gute zwischen Sonne und Sternen, zwischen Garben und Herden.


Am nächsten Morgen weckte den Professor ein lauter Gesang der geflügelten Hofgenossen. Der Hahn flog auf einen Stein unter dem Fenster der Gaststube und ließ gebieterisch seinen Morgenruf erschallen, die Hennen und junges Hühnervolk standen im Kreise um ihn her und versuchten dieselbe Gesangskunst zu üben. Dazwischen schrieen die Sperlinge, welche im Weinlaub geschlafen hatten, aus vollem Halse, aber sie drangen nicht durch; dann flogen die Tauben heran und gurrten die Triller. Zuletzt kam noch eine Herde Enten zu dem Sängerbund und begann schnatternd den zweiten Chor. [92] Der Professor sah sich genöthigt, das Lager zu räumen, und der Doctor rief unwillig im Bett: »Das kommt von dem gestrigen Singsang. Jetzt lärmt der Brotneid aller zünftigen Hofmusikanten.« Darin aber war er im Irrthum, das kleine Volk des Hofes sang nur aus Amtseifer, es meldete zuerst dem Gute, daß ein unruhiger Tag bevorstehe.

Als der Professor in das Freie trat, glühte noch die Morgenröthe mit feurigem Schein am Himmels, und der erste Lichtstrahl fuhr über die Felder, gebrochen und zitternd wie in Wellen. Der Grund war trocken, an Blatt und Rasen hing kein Thautropfen. Auch die Luft war schwül, und matt nickten die Blumenköpfe an den Stielen. Hatte in der Nacht eine zweite Sonne geschienen? Vom Gipfel eines alten Kirschbaumes aber klang unaufhörlich das helle Pfeifen der Golddrossel. Der alte Gartenarbeiter Jacob sah kopfschüttelnd nach dem Baume: »Ich dachte, der Spitzbub wäre fortgezogen, er hat unter den Kirschen arg gewirthschaftet, jetzt gibt er vor seiner Reise noch eine Nachricht, heut kommt etwas.«

Schnell rollten die Wagen auf das Erntefeld, die Pferde waren unruhig, schüttelten die Köpfe und schlugen mit dem Schweife die Flanken, und die Knechte klatschten ohne Aufhören mit der Peitsche. »Heut stechen die Fliegen,« sagte im Vorbeifahren grüßend der Großknecht, »es kommt ein Wetter.« Der Landwirth trat aus dem Hause, statt des Morgengrußes rief er dem Professor zu: »Das Wetterglas ist gefallen, es ist etwas im Anzuge.« Ilse kam von der Molkerei: »Die Kühe sind unruhig, sie brüllen und arbeiten gegen einander.«

Roth hob sich die Sonne aus trockenem Qualm, die Arbeiter im Felde fühlten die Mattigkeit in den Gliedern und hielten immer wiederbei der Arbeit an, das Antlitz zu trocknen. Der Schäfer war heut mit der Herde unzufrieden, seine Hammel waren auf Kraftübungen versessen; statt zu fressen stießen sie mit den Köpfen zusammen und das Jungvieh hüpfte und tänzelte wie an Drähten in die Höhe gezogen. Unordnung [93] und Widersetzlichkeit waren nicht zu bändigen, der Hund umkreiste die Aufgeregten unaufhörlich mit hängendem Schwanze, und wenn er heut ein Schaf in das Bein zwickte, so merkte es lange den Schaden.

Höher stieg der Sonnenball am wolkenlosen Himmel, heißer wurde der Tag, ein leichter Dunst hob sich vom Boden und machte die Ferne undeutlich, die Sperlinge flogen unruhig um die Baumgipfel, die Schwalben fuhren längs dem Boden und zogen ihre Kreise um die Menschen. Die Freunde suchten ihr Zimmer auf, auch hier empfand man die ermattende Schwüle, der Doctor, welcher einen Plan des Hauses entwarf, legte den Bleistift hin, der Professor las von Ackerbau und Viehzucht, aber er sah oft über sein Buch nach dem Himmel, öffnete das Fenster und schloß es wieder. Das Mittagsmahl war stiller als sonst, der Landwirth sah ernst drein, seine Beamten nahmen sich kaum Zeit, ihre Teller zu leeren. »Es kommt heut ungelegen,« sagte der Hausherr beim Aufstehen zu der Tochter, »ich reite an die Grenze; bin ich nicht vor dem Wetter zurück, so sieh nach Haus und Hof.« Und wieder zogen die Menschen und Rosse auf das Feld, aber heut war ihnen der Weg zur Arbeit sauer.

Die Hitze wurde unerträglich, die Nachmittagssonne brannte auf die Haut, Fels und Mauer fühlten sich heiß an, den Himmel überzog ein weißes Gewölk, das sich zusehends verdichtete und zusammenfuhr. Eifrig trieb der Knecht die Pferde zur Scheuer, die Arbeiter hasteten die Garben abzuladen, im schnellen Trabe fuhren die Wagen, noch eine Ladung unter das schützende Dach zu retten.

Die Freunde standen vor der Hofthür und blickten auf die schweren Wolken, welche vom Himmelsrande heraufzogen. Das gelbe Sonnenlicht kämpfte kurze Zeit gegen die dunkeln Schatten der Höhe, endlich verschwand auch der letzte grelle Schein, glanzlos und trauernd lag die Erde. Ilse trat zu ihnen: »Seine Zeit ist gekommen, gegen vier Uhr steigt es [94] herauf, selten zieht es aus dem Morgen über das ebene Land, dann aber wird es jedesmal schwer für uns, denn die Leute sagen, es kann nicht über die Berghöhe, auf die Sie vom Garten aus sehen. Dann hängt es lange über unserm Felde. Und der Donner, sagt man, rollt bei uns stärker als anderswo.«

Die ersten Stöße des Windes fuhren heulend an das Haus. »Ich muß durch den Hof, zum Rechten sehen,« rief Ilse, band schnell ein Tuch um das Haupt und drang, von den Männern begleitet, gegen den Sturm vorwärts zu dem Hofgebäude, in welchem die Spritze stand, sie sah zu, ob die Thür geöffnet und Wasser in den Tonnen war. Dann eilte sie vorwärts nach den Ställen, während die Strohhalme im Wirbel um sie herumfuhren, mahnte die Mägde noch einmal durch muntern Zuruf, sprach schnell einige Worte mit den Beamten und kehrte nach dem Hause zurück. Sie warf einen Blick in die Küche und nach dem Herde und öffnete die Thür des Kinderzimmers, ob alle Geschwister beim Lehrer versammelt waren. Zuletzt ließ sie noch den Hund herein, der an der geschlossenen Hofthür ängstlich bellte, und trat dann wieder zu den Freunden, welche vom Fenster der Wohnstube in den Aufruhr der Elemente blickten. »Das Haus ist verwahrt, so gut die Hand des Menschen vermag, wir aber vertrauen auf stärkeren Schutz.«

Langsam wälzte sich das Wetter näher, eine schwarze Masse nach der andern schob sich heran, unter ihnen stieg ein fahler Dunstschleier wie ein ungeheurer Vorhang höher und höher, der Donner rollte, kürzer die Pausen, wilder sein Dröhnen, der Sturm heulte um das Haus, jagte zornig dicke Staubwolken um die Mauern, Blätter und Halme flogen in wildem Tanze dahin.

»Der Löwe brüllt,« sagte Ilse, die Hände faltend. Sie neigte auf einige Augenblicke das Haupt. Dann sah sie schweigend zum Fenster hinaus. »Der Vater ist auf dem Vorwerk unter Dach,« begann sie wieder, einer Frage des Professors zuvorkommend.

[95] Ein tüchtiges Wetter tobte um das alte Haus. Die es zum erstenmal an dieser Stelle hörten, auf freier Höhe, an der Seite des Bergrückens, von dem das wirbelnde Getöse des Donners zurückschallte, meinten solche Gewalt der Natur noch nicht erlebt zu haben. Während der Donner tobte, ward es plötzlich finster in der Stube wie bei einbrechender Nacht, und immer wieder wurde die unheimliche Dämmerung durch den Schein der feurigen Schlangen zerrissen, welche über den Hof dahinfuhren.

In der Kinderstube war es laut geworden, man hörte das Weinen der Kleinen. Ilse ging an die Thür und öffnete. »Kommt zu mir,« rief sie. Aengstlich liefen die Kinder herein und drängten sich um die Schwester, sie faßten ihre Hände, die jüngsten klammerten sich an ihr Gewand. Ilse nahm die kleine Schwester und legte sie in die Hände des Professors, der neben ihr stand. »Seid still und sagt leise euren Spruch,« mahnte sie, »jetzt ist keine Zeit, zu weinen und zu klagen.«

Plötzlich ein Licht so blendend, daß es zwang, die Augen zu schließen, ein kurzer markerschütternder Krach, der in mißtönendem Knattern endete. Als der Professor die Augen öffnete, sah er in dem Schein eines neuen Blitzes Ilse neben sich stehen, das Haupt ihm zugewendet, mit strahlendem Blick. »Das hat eingeschlagen,« rief er besorgt.

»Nicht in den Hof,« versetzte das Mädchen unbeweglich.

Wieder ein Schlag und wieder ein Feuerschein und ein Schlag, wilder, kürzer, schärfer. »Es schwebt über uns,« sagte Ilse ruhig und drückte das Haupt des kleinen Bruders an sich, als wollte sie ihn schützen.

Der Professor konnte den Blick nicht abwenden von der Gruppe in der Zimmermitte. Die edle Gestalt des Weibes vor ihm, hoch aufgerichtet, unbeweglich, umringt von den angstvollen Geschwistern, gehoben das Antlitz und um den Mund ein stolzes Lächeln. Sie hatte in unwillkürlicher Empfindung eines der theuren Leben seiner Obhut anvertraut, er stand in [96] der Noth der Entscheidung neben ihr als einer der Ihrigen. Auch er hielt das Kind fest, das ihn ängstlich umschlang. Es waren kurze Augenblicke, aber zwischen Blitz und Schlag loderte die Glut in ihm zu hellen Flammen auf. Die neben ihm stand im Wetterschein, von blendendem Licht umgossen, sie war es, die er sich forderte für sein Leben.

Länger dröhnte der Donner, der Regen schlug an das Fenster, ein Wasserguß rasselte und klatschte um das Haus, die Fenster zitterten in einem wüthenden Anprall des Sturmes.

»Es ist vorüber,« sagte die Jungfrau leise. Die Kinder fuhren auseinander und liefen an das Fenster. »Nach oben, Hans,« rief die Schwester und eilte mit dem Bruder aus dem Zimmer, um zu sehen, ob das Wasser doch irgendwo Eingang gefunden. Der Professor sah sinnend nach der Thür, aus der sie geschwunden war, der Doctor aber, der unterdeß, das Knie in den Händen, ruhig auf dem Stuhl gesessen, begann kopfschüttelnd: »Diese Naturerscheinung ist für uns ungemüthlich. Seit die Blitzableiter in Mißcredit gekommen sind, hat man nicht einmal den Trost, daß solche Stange dem Codex Sicherheit gegen die Zudringlichkeit von oben gewährt. Das ist ein schlechter Aufenthalt, mein Freund, für unser armes altes Manuscript, und es ist wahrlich Christenpflicht, das Buch so schnell als möglich aus diesem Donnerwinkel zu retten. Wie kann man ferner noch mit Gemüthsruhe eine Wolke am Himmel sehen? Wir werden immer daran denken müssen, was hier alles möglich ist.«

»Das Haus hat doch bis jetzt vorgehalten,« erwiederte der Professor lächelnd, »überlassen wir die Handschrift unterdeß den guten Gewalten, denen die Menschen selbst hier so fest vertrauen. – Sieh, schon bricht der Sonnenstrahl durch den Dunst.«

Eine halbe Stunde später war Alles vorüber, über den Bergen lag noch die dunkle Wolke und aus der Ferne tönte gefahrlos der Donner. In dem leeren Hofe regte sich wieder das Leben. Zuerst zog in fröhlichem Eifer der Entenchor aus [97] seinem Versteck, putzte die Federn, untersuchte die Wasserlachen und schnatterte längs den Wagengleisen. Dann kam der Hahn mit seinen Hühnern, vorsichtig schreitend und die quellenden Körner pickend, die Tauben flogen an Vorsprünge der Fenster, wünschten einander mit Verbeugungen Glück und breiteten die Federn im neuen Sonnenlicht, Nero fuhr in kühnem Sprunge aus dem Hause, trottete durch den Hof und bellte herausfordernd in die Luft, um die feindliche Wolke vollends zu verscheuchen. Dann schritten die Mägde und Arbeiter wieder rührig über den Platz und athmeten erfrischt den Balsam der feuchten Luft. Der Hofverwalter kam und berichtete, daß es zweimal in den Berg nebenan geschlagen. Auch der Landwirth ritt in starkem Trabe herein, tüchtig durchnäßt, um zu sehen, ob Haus und Hof ihm unversehrt geblieben. Er sprang fröhlich vom Pferde und rief: »Es hat draußen eingeweicht, aber Gottlob, daß es so vorübergegangen. Solch Wetter ist hier seit Jahren nicht erlebt.« Die Leute hörten noch eine Weile, wie der Großknecht erzählte, daß er eine Wassersäule gesehen, die als ein großer Sack vom Himmel bis zur Erde hing, und daß es jenseit der Grenze stark gehagelt. Dann traten sie gleichmüthig in die Ställe und genossen die Ruhestunde, die ihnen das Unwetter vor der Zeit verschaffte. Und während der Landwirth zu seinen Beamten sprach, rüstete sich der Doctor, mit den Knaben und dem Lehrer in das Thal hinabzusteigen und dort die Ueberschwemmung des Baches zu betrachten.

Der Professor aber und Ilse blieben im Obstgarten, und der Professor erstaunte über die Menge der braunen Hausträgerinnen, der Schnecken, welche jetzt überall hervorkamen und langsam über den Weg zogen; er nahm eine nach der andern und setzte sie vorsichtig aus dem Wege, aber die Unverständigen kehrten immer wieder auf den festen Kies zurück und erhoben den Anspruch, daß die Fußgänger ihnen auswichen. Dann sahen die beiden nach, wie die Fruchtbäume das Unwetter ertragen hatten. Sie waren arg zerzaust, beugten ihre Zweige [98] tief herab, und viel unreifes Obst lag abgeschlagen im Grase. Der Professor schüttelte vorsichtig an den regenschweren Aesten, um sie von der fremden Bürde zu befreien, er holte einige Stangen und unterstützte einen alten Apfelbaum, der unter seiner Last zu erliegen drohte, und beide lachten herzlich, als ihm bei der Arbeit das Wasser aus den Blättern, wie aus kleinen Rinnen, auf Haar und Rock hinablief.

Ilse schlug bedauernd die Hände zusammen über die vielen gefallenen Früchte, es hing aber doch noch viel an den Bäumen, und es war immer noch eine reiche Ernte zu hoffen. Der Professor gab ihr teilnehmend den Rath, das gefallene Obst zu backen, und Ilse lachte wieder darüber, weil das meiste noch zu unreif sei. Da gestand ihr der Professor, daß auch er als Knabe geholfen habe, wenn seine liebe Mutter das Obst auf dem Trockenbret ordnete. Denn seine Eltern hatten auch einen großen Garten an der Stadt gehabt, in welcher sein Vater Beamter gewesen. Und Ilse hörte mit leidenschaftlichem Antheil zu, als er weiter erzählte, daß er als Knabe den Vater verloren und wie lieb und gescheidt seine Mutter um ihn gesorgt, und wie innig sein Verhältniß zu ihr gewesen, und daß ihr Verlust der größte Schmerz seines Lebens sei. Dabei schritten sie den langen Kiesweg auf und ab, und in beiden klang durch die heitere Stimmung der Gegenwart ein Ton des Leides aus vergangenen Tagen, gerade wie in der Natur die Bewegung des heftigen Unwetters leise nachzitterte und das reine Licht des Tages von unzähligen blitzenden Edelsteinen auf Laub und Halm erglänzte.

Ilse öffnete eine Pforte, welche aus dem untern Theil des Obstgartens ins Freie führte, sie stand still und begann mit zögernder Bitte: »Ich habe einen Gang vor in das Dorf, um zu sehen, wie der Herr Pfarrer das Wetter überstanden hat. Wird Ihnen recht sein, unsern guten Freund kennen zu lernen?«

»Wenn er Ihnen lieb ist, so bin ich dankbar, daß Sie mich zu ihm führen,« antwortete der Professor.

[99] Auf feuchtem Fußpfade schritten sie in die gewundene Verlängerung des Thals, welche sich an der Seite des Friedhofs hinzog. Dort lag mit zusammengedrängten Häusern ein kleines Dorf, meist von Arbeitern des Gutes bewohnt. Das erste Gebäude unter der Kirche war das Pfarrhaus, mit Holzdach und kleinen Fenstern, wenig von den Wohnungen der Landleute verschieden. Ilse öffnete die Thür, eine alte Magd eilte mit vertraulichem Gruß entgegen. »Ach, Fräulein,« rief sie, »das war heut schlimm, ich dachte, der jüngste Tag wäre vor der Thür. Der Herr hat immer an dem Kammerfenster gestanden und nach dem Schloß hinaufgesehen und für Sie die Hände in die Höhe gehoben. – Jetzt ist er im Garten.« – Durch die Hinterthür traten die Gäste in einen kleinen Raum zwischen Giebeln und Scheuern der Nachbarhöfe, wenige niedrige Fruchtbäume ragten über die Blumenbeete. Der alte Herr in dunklem Hausrock stand vor einem Spalier und arbeitete emsig. »Mein liebes Kind,« rief er aufsehend, und sein gutherziges Angesicht lachte vor Freude unter dem weißen Haar, »ich wußte, daß Sie heut kommen würden.« Er verneigte sich vor dem fremden Gast und wandte sich nach den Begrüßungsworten wieder zu Ilse. »Denken Sie das Unglück, der Sturm hat unsern Pfirsichbaum geknickt, das Geländer ist abgerissen, die Zweige zerschlagen, der Schaden ist unersetzlich.« Er beugte sich zu seinem kranken Baume herab, dem er gerade mit Baumwachs und Bast einen Verband aufgelegt hatte. »Es ist der einzige Pfirsich hier,« klagte er dem Professor, »auf dem ganzen Gute haben sie keinen, und in der Stadt vollends nicht. Aber ich darf Sie nicht mit meinen kleinen Leiden belästigen,« fuhr er muthiger fort, »bitte, kommen Sie mit mir in die Stube.« Ilse trat in eine Seitenthür neben dem Hause. »Was macht Flavia?« frug sie die Magd, welche den Besuch erwartend an der Pforte stand.

»Munter,« antwortete Susanne, »und der Kleine auch.«

»Es ist die gelbe Kuh und ein junges Ochsenkalb,« erklärte [100] der Pastor dem Professor, während Ilse mit der Magd in den engen Hofraum trat. »Ich sehe nicht gern, wenn die Leute dem Vieh christliche Namen geben, da muß unser Latein aushelfen.«

Ilse kehrte zurück. »Es ist Zeit, daß das Kalb fortkommt, es ist ein unnützer Brotesser.«

»Das hab' ich auch gesagt,« schaltete Susanne ein, »aber der Herr Pfarrer will sich nicht dazu entschließen.«

»Sie haben Recht, mein liebes Kind,« erwiederte der Pfarrer, »nach menschlicher Weisheit wäre es rathsam, das Oechslein dem Schlächter zu überliefern. Aber das Oechslein sieht die Sache ganz anders an, und es ist eine muntere Creatur.«

»Wenn man's aber darum fragt, erhält man keine Antwort,« sagte Ilse, »und deswegen muß sich's gefallen lassen, was wir wollen. Erlauben Sie, Herr Pfarrer, daß ich das mit Susanne hinter Ihrem Rücken abmache. Unterdeß holst du die Milch von oben.«

Der Pfarrer führte in seine Stube. Es war ein kleiner Raum, weiß getüncht, spärlich möblirt, darin ein alter Schreibtisch, ein schwarzbestrichenes Bücherbret mit einer kleinen Anzahl ältlicher Bücher, Sopha und Stühle mit buntem Kattun überzogen. »Hier ist seit vierzig Jahren mein Tusculum,« sagte der Pastor vergnügt zum Professor, der verwundert auf den dürftigen Hausrath blickte. »Es würde größer sein, wenn der Anbau zu Stande gekommen wäre, es waren auch schon Pläne gemacht, und mein Herr Nachbar hat sich sehr darum bemüht, aber seit meine selige Frau dort hinaufgezogen ist« – er sah nach der Höhe des Friedhofs – »will ich nichts mehr davon hören.«

Der Professor sah zum Fenster hinaus. Vierzig Jahre in dem engen Bau, dem schmalen Thal, zwischen dem Friedhof, den Hütten, dem Wald! Ihm wurde gedrückt zu Muth. »Es scheint, die Gemeinde ist arm,« sagte er, »zwischen den Bergen liegt nur wenig Feld. Und wie ist's im Winter?«

[101] »Ei, die Füße tragen noch,« erwiederte der geistliche Herr, »man besucht dann auch gute Freunde; nur der Schnee wird zuweilen lästig, einmal waren wir ganz eingeschneit und Herr Bauer hat uns herausschaufeln müssen.« Er lächelte behaglich bei der Erinnerung. »Es ist nicht einsam, wenn man lange Jahre an einem Orte gelebt hat, man hat die Großväter gekannt, die Väter aufgezogen, man lehrt die Kinder und hier und da schon die Enkel, man sieht, wie die Menschen sich von der Erde erheben und wieder hinabsinken, gleich den Blättern der Bäume. Und man merkt, daß Alles eitel ist und eine kurze Vorbereitung. Liebes Kind,« sagte er zu Ilse, welche jetzt eintrat, »setzen Sie sich zu uns, ich habe Ihr liebes Gesicht seit drei Tagen nicht gesehen, und wollte nicht hinaufkommen, weil ich hörte, daß Besuch bei Ihnen ist. Ich habe auch etwas für Sie,« setzte er hinzu und holte einen beschriebenen Bogen vom Pult, »es ist Poesie dabei.«

»Denn auch der Musengesang fehlt uns nicht,« fuhr er gegen den Professor fort. »Freilich ist er demüthig und von der bukolischen Art. Aber glauben Sie mir, für Einen, der sein Dorf kennt, gibt es wenig Neues unter der Sonne. Es ist im Kleinen hier Alles, wie in der übrigen Welt im Großen, der Schmied ist ein heftiger Politikus und der Schultheiß möchte gern ein Dionysius von Syrakus sein. Auch den reichen Mann der Schrift haben wir, freilich auch mehre Lazarusse, zu welchen dieser Dichter gehört; und unser Tüncher ist im Winter ein Musikus, er spielt gar nicht schlecht auf der Zither. Das alles arbeitet durcheinander und möchte gern oben hinaus, und es macht zuweilen Mühe, die gute Nachbarschaft unter ihnen zu erhalten.«

»Er will seine grüne Wand wieder haben, soviel ich verstehe,« sagte Ilse, von dem Blatt aufsehend.

»Seit sieben Jahren liegt er in seiner Kammer, zur Hälfte gelähmt, mit heftigen Schmerzen und unheilbar,« erklärte der Pfarrer dem Gast, »er sieht durch ein kleines Fensterloch in [102] die Welt, auf die Lehmwand gegenüber und die Menschen, welche davor sichtbar werden. Und die Wand gehört dem Nachbar, sie war durch mein liebes Kind mit wildem Wein bezogen. In diesem Jahr aber hatder Nachbar – unser reicher Mann – daran gebaut und das Grüne abgerissen. Das ärgert den Kranken. Ihm ist schwer zu helfen, denn jetzt ist nicht die Zeit, Neues zu pflanzen.«

»Es muß doch Rath werden,« warf Ilse ein. »Ich will mit ihm darüber reden. Verzeihen Sie, es soll nicht lange dauern.«

Sie verließ das Zimmer. »Ist's Ihnen recht,« sagte der Pfarrer geheimnißvoll zu seinem Gast, »so zeige ich Ihnen diese Wand, denn ich habe mir die Sache viel überlegt, aber ich finde keine Abhilfe.« Schweigend stimmte der Professor bei. Die Männer schritten die Dorfgasse entlang, an der Ecke faßte der Pfarrer den Arm seines Begleiters. »Hier liegt der Kranke,« begann er halblaut, »er hört schwer in seiner Schwäche, aber wir müssen doch leise auftreten, daß er uns nicht merkt; denn das stört ihn.«

Der Professor sah dichtbei am dürftigen Hause ein kleines Schiebfenster geöffnet und Ilse davorstehen, von ihnen abgewandt. Während der Pfarrer ihm die Lehmwand zeigte und die Höhe, welche für die Laubumkleidung nöthig sei, hörte er auf das Gespräch am Fenster. Ilse sprach laut hinein und von dem Lager antwortete eine schrille Stimme. Erstaunt vernahm er, daß nicht vom Weinlaub die Rede war. – »Und hat der Herr ein gutes Gemüth?« frug die Stimme. »Er ist ein gelehrter Mann und ein guter Mann,« antwortete Ilse. »Wie lange bleibt er bei Ihnen?« frug der Kranke. »Ich weiß nicht,« war Ilsens zögernde Antwort. »Er soll ganz bei Ihnen bleiben, denn er ist Ihnen lieb,« sagte der Kranke. »Ach, das dürfen wir gar nicht hoffen, lieber Benz. Aber dies Gespräch hilft nicht zu guter Aussicht auf gegenüber,« fuhr Ilse fort. »Mit dem Nachbar rede ich, aber zwischen heut und morgen [103] wächst doch nichts. Da habe ich mir ausgedacht, der Gärtner schlägt hier draußen unter dem Fenster ein kleines Bret fest und wir setzen unterdeß die Blumenstöcke aus meiner Stube darauf.« – »Das benimmt mir die Aussicht,« entgegnete die Stimme unzufrieden, »ich kann dann die Schwalben nicht mehr sehen, wenn sie vorbeifliegen, und ich sehe wenig von den Köpfen der Leute, die vorbeigehen.« »Das ist richtig,« versetzte Ilse, »aber wir machen das Bret so niedrig, daß nur die Blumen durch's Fenster gucken.« »Was sind's für Blumen?« frug Benz. »Ein Myrtenstock,« sagte Ilse. »Der blüht nicht,« versetzte Benz mürrisch. – »Aber zwei Rosen blühen und ein Vanillestrauch.« – »Den kenne ich nicht,« warf der Kranke ein. »Er riecht wundergut,« sagte Ilse empfehlend. »Dann kann er kommen,« bewilligte Benz, »aber Basilikum muß auch dabei sein.« – »Wir wollen sehen, ob's zu haben ist,« erwiederte Ilse, »und um das Fensterholz zieht euch der Gärtner eine Epheuranke.« »Der ist mir zu schwarz,« widersprach der ungenügsame Benz. »Ei was,« entschied Ilse, »wir probiren's. Ist's euch nicht recht, so wird's geändert.« Damit war der Kranke einverstanden. »Aber der Gärtner soll mich nicht warten lassen,« rief er, »ich möchte es morgen haben.« »Gut,« sagte Ilse, »am frühen Morgen.« – »Und meinen Vers zeigen Sie Niemand,« bat Benz, »auch dem fremden Herrn nicht, er ist nur für Sie.« »Das bleibt unter uns,« sagte Ilse. »Ruft eure Tochter Anna, lieber Benz.«

Sie rüstete sich zum Aufbruch, der Pfarrer zog seinen Gast leise zurück. »Wenn der Kranke solches Gespräch gehabt hat,« erklärte er, »ist er für den nächsten Tag zufrieden. Und morgen macht er ihr wieder einen Vers. Er schreibt, unter uns gesagt, manchmal Nonsens, aber es ist gut gemeint, und ihm ist es die beste Unterhaltung. Nämlich die Leute im Dorfe scheuen sich, an sein Fenster zu treten, und sie gehen auch nicht gern vorüber. – Für mein Amt aber ist dies die härteste Arbeit. Denn die Leute sind in dem Aberglauben verstockt, [104] daß Krankheit und Erdenleid von bösen Mächten stammen und daß sie durch Haß angethan werden oder zur Strafe für begangenes Unrecht. Wenn ich ihnen predige ohne Aufhören, daß Alles nur eine Prüfung ist für das Jenseits, die Lehre ist ihnen zu groß und hoch, nur die Schwachen glauben sie, wer aber gesund und trotzig dasteht, der sträubt sich gegen die Wahrheit und das Heil.«

Der Gelehrte sah nach dem kleinen Fenster, aus dem der Kranke auf eine Lehmwand blickte; und er sah wieder nach dem geistlichen Herrn, der in dem Thal seit vierzig Jahren für die heilbringende Wahrheit kämpfte. Ihm wurde das Herz schwer, und sein Auge flog aus der dämmernden Tiefe zu den Berggipfeln, welche noch im frohen Licht der Abendsonne glänzten. Da trat sie wieder zu ihm, sie, welche herabgestiegen war, die Hilflosen und Armen zu bewachen, und als er neben ihr der Höhe zuschritt, da war ihm, als ob sie beide aus dumpfer Erdennoth emportauchten in leichtere Luft. Aber auch die jugendliche Gestalt, das schöne ruhige Antlitz neben ihm glänzte vom Abendlicht umsäumt so fremdartig, seinem irdischen Wesen ungleich, ähnlich einem der Boten, welche einst Jehova in die Zelte seiner Getreuen sandte. Und er freute sich, als sie über die lustigen Sprünge des Hundes lachte, der ihnen bellend entgegenfuhr.

So schwand wieder ein Tag dahin zwischen Sonnenlicht und Wolkenschatten, in kleinen Erlebnissen, in stillem Sein. Wenn die Feder davon erzählt, ist es gering, wenn aber ein Mensch darin lebt, treibt es ihm den Strom des Blutes kräftig durch die Adern.

6. Eine gelehrte Frau vom Lande
[105] 6.
Eine gelehrte Frau vom Lande.

Es war Sonntag, und auch das Gut trug sein Festgewand. Auf dem Hof standen die Scheuern geschlossen, Knechte und Mägde schritten in ihrem besten Staat daher, nicht wie geschäftige Arbeiter, sondern in der behaglichen Muße, welche dem deutschen Landmann die Poesie des mühevollen Lebens ist. Von dem Kirchthurm rief das Glöckchen zum Gottesdienst, Ilse ging mit den Schwestern, das Gesangbuch in der Hand, langsam den Fels hinunter, in kleinen Gruppen folgten die Mägde und Männer. Heut blieb der Gutsherr in seiner Arbeitsstube, um die aufgelaufene Schreiberei zu erledigen. Vorher aber klopfte er an das Zimmer der Freunde und machte ihnen einen kurzen Morgenbesuch. »Heut kommen Gäste, Oberamtmann Rollmaus mit seiner Frau er ist ein tüchtiger Wirth, die Frau ist sehr auf Bildung versessen. Nehmen Sie sich in Acht, sie wird Ihnen zusetzen.«

Schlag zwölf Uhr fuhren zwei wohlgenährte Braune einen halbgedeckten Wagen vor das Haus. Die Kinder eilten an das Fenster. »Die Frau Oberamtmann kommt!« riefen aufgeregt die jüngsten. Ein stämmiger Mann in dunkelgrünem Rock stieg aus dem Wagen, eine kleine Dame in schwarzer Seide folgte mit Sonnenschirm und einer großen Schachtel. Der Hausherr und Ilse traten ihnen in der Hausthür entgegen, der Wirth rief lachend seinen Willkomm zu und führte den Oberamtmann in das Familienzimmer. Der Herr Oberamtmann trug unter seinem schwarzen Haar ein rundes Angesicht, das durch Luft und Sonne mit gleichmäßigem Rothbraun dauerhaft übermalt war, dazu kleine scharfe Augen, Nase und Lippen reichlich und röthlich hervorstehend. Als er Stand und Namen der beiden Fremden erfuhr, verbeugte er sich zwar ein wenig, sah aber mißfällig, daß diese beiden Städter in den [106] anspruchsvollen schwarzen Frack gekleidet waren, und da er eine unbestimmte, aber kräftige Abneigung gegen alle unnützen Schreiber und Hungerleider hatte, welche so hier und da die Güter besuchen, etwa um Bücher zu schreiben, oder auch weil sie sonst keinen rechten Aufenthalt haben, so nahm er gegen beide eine mürrische und beobachtende Haltung an. Erst nach einer Weile erschien die Frau Oberamtmann, sie hatte unterdeß mit Ilse's Hülfe ihre gute Haube, ein Kunstwerk mit zwei dunkelrothen Rosen, aus der Schachtel geholt, und sie drang jetzt mit ihrem spitzen Näschen in die Gesellschaft, vom Kopf bis zum Fuß geglättet, rauschend, knixend, lächelnd. Schnell fuhr sie von einem zum andern, küßte die Mädchen auf den Mund, erklärte den Knaben, daß sie in den letzten Wochen sehr gewachsen seien, und hielt endlich erwartungsvoll vor den beiden Fremden. Der Landwirth stellte vor und verfehlte nicht, wieder beizufügen: »Zwei Herren von der Universität.« Die kleine Dame spitzte gleichsam die Ohren und ihre grauen Augen erglänzten. »Von der Universität!« rief sie, »ei, welche Ueberraschung! Diese Herren sind seltene Gäste in unserer Gegend. Es ist freilich auch bei uns für gelehrte Herren wenig zu holen, denn der Materialismus herrscht bei uns, und die Lesebibliothek in Rossau ist wirklich nicht in den besten Händen, neue Sachen sind niemals zu haben. Darf ich mir noch die Frage erlauben, welches Studium die Herren haben, Wissenschaft im Allgemeinen oder etwas Besonderes?«

»Mein Freund mehr das Allgemeine, ich das Besondere,« erwiederte der Professor, »außerdem etwas alte Sprachen, dieser Herr Indisch.«

»Wollen Sie nicht die Güte haben, auf dem Sopha Platz zu nehmen?« begann Ilse, dazwischentretend. Die Frau Oberamtmann folgte mit Widerstreben.

»Also Indisch,« rief sie niedersitzend und ihr Gewand zurechtstreichend. »Das ist eine seltene Sprache. Sie tragen ja wohl Federbüschel und ihre Kleidung ist mangelhaft, und [107] die Beinkleider, wenn man das erwähnen darf, hängen herunter, wie bei manchen Tauben, welche auch lange Federn an den Beinen haben. Man sieht sie zuweilen abgebildet; in dem Bilderbuch meines Karl vom letzten Weihnachten sind diese wilden Männer deutlich zu sehen. Sie haben barbarische Sitten, liebe Ilse.«

»Warum ist aber Karl nicht mitgekommen?« frug Ilse, um die Herren von der Unterhaltung zu lösen.

»Es war nur wegen der Rückfahrt im Finstern. Denn der Wagen ist zweisitzig, und neben Rollmaus kann kein Drittes eingeschachtelt werden. Da muß Karl beim Kutscher sitzen, und das arme Kind wird Abends immer so schläfrig, daß ich Sorge habe, es fällt herunter.«

Als die Oberamtmann die Aussicht eröffnete, bei finsterer Nacht heimzufahren, sah der Doctor den Freund mitleidig an, aber der Professor hörte so aufmerksam nach der Unterhaltung, daß er das Bedauern gar nicht bemerkte. Ilse frug weiter und die Frau Oberamtmann stand ihr allerdings Rede, sah aber zuweilen begehrlich nach dem Doctor, dessen Verhältniß zu den Indianern in Karls Bilderbuch ihr lehrreich erschien. Unterdeß waren die Landwirthe sogleich in ein Gespräch über die Eigenschaften eines Rosses gesunken, das irgendwo in der Nähe zu gemeinnütziger Thätigkeit aufgestellt war, so daß der Doctor sich zuletzt an die Kinder wandte und mit Clara und Luise plauderte.

Nachdem eine halbe Stunde ruhiger Vorbereitung vergangen war, erschien das Dienstmädchen an der Thür des Speisezimmers. Der Landwirth lud ein, zu Tische zu gehen, und bot ritterlich der Frau Oberamtmann seinen Arm über die Sophalehne. Die Dame knixte und fuhr neben ihm durch die Thür, der Professor führte Ilse, der Doctor aber Schwester Clara, welche erröthete und sich sträubte, bis er Luise und Riekchen an seinen andern Arm hing, worauf auch noch Franz seinen Rockzipfel faßte und ihm auf dem Wege hinter seinem [108] Rücken zuraunte: »Heut gibt's einen Truthahn.« Der Oberamtmann aber, welcher das Führen der Damen als eine lästige Erfindung betrachtete, machte einsam den Schluß und begrüßte im Saale die aufgestellten Herren von der Wirthschaft mit den Worten: »Ist das Korn herein?« – »Versteht sich,« grüßte der Inspector dagegen. Wieder nahm Alles nach Rang und Würden Platz, auf dem Ehrensitz die Frau Oberamtmann, zwischen ihr und Ilse der Professor.

Es war für diesen kein ruhiger Mittag, zwar Ilse war stiller als gewöhnlich, aber seine neue Nachbarin stellte ihm wissenschaftliche Aufgaben. Sie zwang ihn, von der Einrichtung seiner Universität zu erzählen, und in welcher Weise die Studenten belehrt würden. Der Professor that das ausführlich und mit guter Laune. Es gelang ihm aber nur kurze Zeit, sich und Andern die peinliche Empfindung fern zu halten, welche die Reden der Frau Oberamtmann wohl verursachten. »Also philosophisch sind Sie?« sagte die Rollmaus. »Das ist ja sehr interessant. Ich habe es auch mit der Philosophie versucht, aber der Stil ist zu unverständlich. Was enthält denn eigentlich die Philosophie?«

»Sie gibt sich Mühe, die Menschen über das Leben ihres eigenen Geistes zu belehren und dadurch fester und vielleicht besser zu machen,« beantwortete der Professor geduldig die mißliche Frage.

»Das Leben des Geistes,« rief die Oberamtmann aufgeregt, »aber glauben Sie denn auch, daß die Geister nach dem Tode der Menschen erscheinen können?«

»Haben Sie Beispiele davon?« frug der Professor. »Es würde gewiß Allen willkommen sein, darüber zu hören. Ist dergleichen hier in der Gegend vorgekommen?«

»Weniger mit Geistern,« erwiederte Frau Oberamtmann, mißtrauisch nach dem Hausherrn blickend, »aber mit Ahnungsvermögen und was man Sympathie nennt. Denken Sie einmal, in unserm Hause diente ein Mädchen, sie hätte es nicht [109] nöthig gehabt, aber die Eltern wollten sie auf einige Zeit von sich thun. Denn im Dorfe war ein armer Bursch, der aber ein großer Geiger war, der strich Morgens und Abends mit der Violine um ihr Haus, und wenn das Mädchen hinauskommen konnte, saßen sie miteinander hinter einem Busch, er spielte auf der Geige und sie hörte zu. Deswegen konnte sie nicht von ihm lassen. Sie war ein sauberes Mädchen und schickte sich im Hause zu Allem, nur daß sie immer traurig war. Und der Geiger wurde zu den Husaren genommen, wozu er auch paßte, weil er sehr entschlossen und unterminirt war. Nach einem Jahre kommt die Köchin zu mir und sagt: ›Frau Oberamtmann, ich halte es nicht länger aus, die Jette treibt Nachtwandel. Sie steigt aus dem Bette und singt das Lied von einem Soldaten, den der Hauptmann erschießen läßt, weil es nicht anders sein konnte, und stöhnt dazu, daß es einen Stein erbarmen möchte, und am Morgen weiß sie nichts von ihrem Singen, aber sie weint immer still fort.‹ Das war die Wahrheit. Ich rufe sie und frage sie ernsthaft: ›Was hast du? Ich kann das mysterielle Wesen nicht ausstehen, du bist mir eine Charade.‹ Darauf jammerte sie sehr und meinte, ich solle sie doch nicht für so etwas halten, sie sei ein ehrliches Mädchen, aber sie hätte eine Erscheinung gehabt. Und nun kam Alles heraus. Der Gottlob war in der Nacht an ihrer Kammerthür erschienen, ganz hager und traurig, und hatte gesagt: ›Jette, es ist vorbei mit mir, morgen muß ich dran glauben.‹ Ich suchte ihr das Zeug auszureden, aber ihre Angst steckte mich an, ich schrieb an einen Offizier, den Rollmaus von der Hasenjagd kannte, und fragte, ob das eine Dummheit wäre oder von dem so genannten Ahnungsvermögen herkäme. Da schrieb er mir ganz erstaunt zurück, es wäre richtig Ahnungsvermögen, an demselben Tage war der Geiger vom Pferde gestürzt, hatte ein Bein gebrochen und lag in dem Lazareth zum Tode. Jetzt bitte ich Sie, ob das nicht eine Naturerscheinung war.«

[110] »Was wurde aus den armen Leuten?« frug der Professor.

»Ach die!« erwiederte die Frau Oberamtmann, »es ließ sich helfen. Denn ein Kamerad von dem Gebrochenen war aus unserm Dorf, welcher eine kranke Mutter hatte; dem schrieb ich die Forderung, daß er jeden dritten Tag einen Brief an mich schickte, wie es dem Kranken ging, und es konnte mit Speck und Mehl gutgemacht werden. Da schrieb er, und die Sache dauerte viele Wochen. Endlich aber wurde der Geiger geheilt und kam am Stock zurück. Beide waren so blaß wie dieses Tuch, als sie zusammentrafen, und fielen einander vor meinen Augen ohne Rücksicht um den Hals, worauf ich mit den Eltern des Mädchens ein Wort sprach, welches wenig nutzte. Dann aber mit Rollmaus, dem unsere Dorfschenke gehört, und der gerade einen guten Pächter suchte. Das brachte die Geschichte zum Ende, oder wie man zu sagen pflegt, zum commencement du pain. Denn Rollmaus war zwar mit der Geige nicht zufrieden, weil er meinte, diese sei ein Anzeichen von leichtem Geblüt, aber die Leutchen halten sich ordentlich. Dann zuerst war ich Pathe, dann Rollmaus. Es sind aber keine Erscheinungen mehr vorgekommen.«

»Das war von Ihnen brav und liebevoll gehandelt,« rief der Professor kräftig.

»Man ist ja bei alledem auch Mensch,« entschuldigte sich die Frau Oberamtmann.

»Und ich hoffe, ein guter Mensch,« versetzte der Professor. »Glauben Sie mir, verehrte Frau, in der Philosophie und anderer Gelehrsamkeit gibt es verschiedene Ansichten. Man streitet sich über Vieles, und leicht hält Einer den Andern für unwissend. Aber was Redlichkeit heißt und Menschenfreundlichkeit, darüber sind die Ansichten selten verschieden gewesen, und wo man diese Eigenschaften findet, hat Jedermann Freude und Hochachtung, und diese habe ich jetzt vor Ihnen, Frau Oberamtmann.«

Das sagte er herzlich der gelehrten Frau. An seiner[111] andern Seite hörte er ein leises Rauschen des Gewandes, und als er sich zu Ilse wandte, begegnete er einem Blick so voll von demüthiger Dankbarkeit, daß er mit Mühe seine Haltung bewahrte.

Die Frau Oberamtmann aber saß lächelnd und zufrieden mit dem philosophischen System ihres Nachbars. Wieder kehrte sich der Professor zu ihr und sprach mit ihr davon, daß es gar nicht leicht sei, Hilflosen auf die rechte Art wohlzuthun. Die Frau Oberamtmann gab zu, daß die Leute ohne Bildung ihre eigene Art hätten, aber »man kann leicht mit ihnen fertig werden, wenn sie nur erkennen, daß man's gut meint.« Und der Professor veranlaßte allerdings noch ein kleines Mißverständniß, als er der Oberamtmann achtungsvoll in seiner Sprache bemerkte: »Ganz recht, zuletzt ist auch auf diesem Gebiet geduldige Liebe die Voraussetzung einer fruchtbaren Thätigkeit.«

»Ja,« bestätigte die Rollmaus verlegen, »allerdings; diese gewisse Thätigkeit, welche Sie erwähnen, fehlt bei uns gar nicht, und sie heiraten meist gerade noch zur rechten Zeit, aber die geduldige Liebe, welche Sie sehr richtig Voraussetzung nennen, ist bei unsern Landleuten nicht immer vorhanden, denn sie sorgen bei einer Heirat oft mehr um Geld als um Liebe.«

Wenn aber auch einzelne Noten in dem Concert am obern Tisch nicht recht zueinander stimmten, so verging doch der Truthahn und die Sahnmehlspeise – ein Meisterwerk aus Ilse's Küche – ohne widerwärtigen Zusammenstoß des gelehrten Wissens. Und Alle erhoben sich wohl miteinander zufrieden. Nur die Kinder, deren unschuldige Bosheit am dauerhaftesten ist, empfanden ein Mißfallen, daß heut Frau Oberamtmann in keinen Kampf eintrat, in welchem das Conversationslexikon als oberster Kampfrichter waltete. Während nun die Männer im Nebenzimmer Kaffe tranken, saß Frau Rollmaus wieder auf dem guten Sopha, und Ilse hatte einen harten Stand die neugierigen Fragen zu beantworten, mit denen sie jetzt [112] wegen der beiden Fremden angegriffen wurde. Unterdeß belagerten die Kinder das Sopha und lauerten auf eine Gelegenheit, um selbst einen kleinen Feldzug gegen die ahnungslose Frau Oberamtmann zu unternehmen.

»Also sie forschen nach, und in unserer Gegend. Nach Indianern kann es nicht sein, ich wüßte nicht, daß hierherum welche aufgetreten wären. Es müßte denn ein Irrthum sein, und sie müßten Zigeuner meinen, solche kommen vor. Denken Sie, liebe Ilse, erst vor vierzehn Tagen ein Mann und zwei Weiber, jede mit einem Kinde. Die Weiber sagten wahr; was sie dem Hausmädchen prophezeit haben, ist wirklich merkwürdig, und am Abend fehlten zwei Hühner. Sollte es wegen der Zigeuner sein? aber das kann ich nicht glauben, da dies bloß Kesselflicker sind und nichtsnutzige Leute. Nein, deretwegen forschen sie nicht.«

»Wer sind denn aber die Zigeuner?« frug Clara.

»Liebes Kind, sie sind Vagabonden, welche früher ein Volk waren und sich verbreiteten. Sie hatten einen König und Briefe und Jagdhunde, obgleich sie große Spitzbuben waren. Ursprünglich aber sind sie Egypter, eigentlich aber auch Indianer.«

»Wie können sie Indianer sein,« rief Hans ohne alle Ehrerbietung, »die Indianer wohnen ja in Amerika. Wir haben auch ein Conversationslexikon, und wir wollen gleich nachsehen.«

»Ja, ja,« riefen die Kinder und liefen mit dem Bruder zum Bücherschrank. Triumphirend brachte jedes einen Band getragen und stellte die neuen Einbände zwischen den Kaffetassen vor Frau Rollmaus auf. Diese blickte keineswegs erfreut auf die geheime Quelle ihrer Kraft, welche hier vor Aller Augen bloßgelegt wurde.

»Und unseres ist neuer als das Ihre,« rief der kleine Franz, die Hand schwenkend. Vergebens bemühte sich Ilse durch abweisende Winke diesen Ausbruch des Familienstolzes zu unterdrücken. Hans hielt, das Wort Zigeuner suchend, den letzten [113] Band fest in seinen Händen und eine Niederlage der Frau Oberamtmann war nach menschlichem Dafürhalten nicht mehr abzuwehren. Aber plötzlich sprang Hans auf, hielt den Band in die Höhe und rief: »Hier steht der Herr Professor!« – »Unser Herr Professor steht im Conversationslexikon!« schrieen die Kinder. Familienfehde und Zigeuner waren vergessen, Ilse nahm dem Bruder das Buch aus der Hand, die Oberamtmann stand auf, um die merkwürdige Stelle über Ilse's Schultern selbst zu lesen, alle Kinderköpfe drängten sich um das Buch, daß sie wieder aussahen wie ein Bündel Knospen am Fruchtbaum, und alle spähten neugierig nach den Zeilen, die für ihren Gast und sie selbst so ruhmvoll waren. In dem Artikel standen die gewöhnlichen kurzen Notizen, welche über lebende Gelehrte gegeben werden, Ort und Tag seiner Geburt und die – meist lateinischen – Titel seiner Schriften. Alle diese Titel wurden trotz der unleserlichen Sprache mit Jahreszahl und Format laut abgelesen. Ilse sah lange in das Buch, dann reichte sie es der erstaunten Frau Oberamtmann, dann zogen die Kinder den Band einander aus den Händen. Das Ereigniß machte auf Groß und Klein einen Eindruck, der in literarischen Kreisen niemals erreicht werden konnte. Am glücklichsten war die Frau Oberamtmann, sie hatte neben einem Manne gesessen, der nicht nur selbst nachschlug, sondern auch nachgeschlagen werden konnte. Er war jetzt für sie berühmt im Allgemeinen, ohne Einschränkung, und sie empfand zum ersten Male in ihrem Leben, daß sich mit solchem gedruckten Mann recht behaglich verkehren ließe. »Welch ein ausgezeichneter Gelehrter!« rief sie. »Wie waren doch die Titel seiner Schöpfungen, liebe Ilse?« Ilse wußte es nicht, Auge und Gedanken waren ihr an den kurzen Bemerkungen über seine Lebensverhältnisse festgeheftet.

Diese Entdeckung hatte die gute Folge, daß Frau Oberamtmann für heut gänzlich die Waffen streckte und sich beschied, keine Kenntnisse zu verrathen, denn sie sah ein, daß heut eine [114] Concurrenz mit dieser Familie unmöglich war, und sie ließ sich zu einer anspruchslosen Unterhaltung über Hausangelegenheiten herab. Die Kinder aber stellten sich in achtungsvoller Entfernung vor dem Professor auf und betrachteten ihn neugierig noch einmal von oben bis unten, und Hans theilte dem Doctor leise die Neuigkeit mit und war sehr betroffen, daß dieser nichts daraus machte.

Nach dem Kaffe schlug der Landwirth seinen Gästen vor, den nahen Berg zu besteigen und den Schaden zu betrachten, welchen der Blitz angerichtet. Ilse belud eine Magd mit dem Abendbrot und einigen Flaschen Wein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Vom Felsen ging es in das Thal hinab über den Wiesenstreif und den Bach, dann die Berglehne hinauf durch Unterholz in den Schatten hochstämmiger Fichten. Der Regen hatte die steilen Wege ausgespült und unregelmäßige Wasserrinnen furchten den Kies. Auch die Frauen schritten tapfer über die feuchten Stellen. Wer aber nicht aus Tracht und Haltung des Professors erkannte, daß er in sicherem Gefühl seiner Männlichkeit auftrat, der hätte wohl argwöhnen dürfen, daß zwar die Frau Oberamtmann ein verkleideter Herr sei, der Herr Professor aber eine weichbeschuhte Dame. Denn die Rollmaus umschwebte ihn ehrerbietig und war nicht von seiner Seite zu bringen. Sie machte ihn auf Steine aufmerksam, bezeichnete mit der Spitze ihres Schirmes die trockensten Stellen, blieb zuweilen stehen und sprach die Befürchtung aus, daß ihn der Weg zu sehr angreifen werde. Der Professor ließ sich die Huldigung der kleinen Dame erstaunt gefallen und sah nur einige Male fragend auf Ilse, über deren Gesicht dann ein schalkhaftes Lächeln flog. Auf der Höhe wurde der Pfad bequemer, einzelne Laubbäume unterbrachen das dunkle Grün der Fichten. Der Gipfel selbst war gelichtet, zwischen den Steinen breitete das Haidekraut seine dichten Büschel, an denen in üppiger Fülle die röthlichen Blüthen hingen. Ringsumher übersah man die Landschaft mit ihren Höhen und[115] Thälern, in der Tiefe den Bach und seinen grünen Saum, das Gut mit seinen Feldern, das Thal von Rossau. Auf die sinkende Sonne zu aber hob sich in langgeschwungenen Bogen eine Erdwelle hinter der andern, jede nach der Entfernung anders mit dämmerigem Blau gefärbt, bis in das helle Grau der Gebirgskette am Horizont. Das war unter heiterem Himmel, in reiner Bergluft ein erfrischender Anblick, und die Gesellschaft lagerte vergnügt im Haidekraut, wo es die weichsten Polster bot.

Nach kurzer Rast brach die Gesellschaft, von Hans geführt, zu der Stelle auf, an welcher der Wetterstrahl den Baum gefällt hatte. In einem Schlag hoher Nadelbäume war der Ort der Verwüstung. Eine starke gesunde Fichte war durch den Strahl erschlagen und zerworfen, ein wüstes Durcheinander von Zweigen und riesigen Splittern des weißen Holzes lag im Umkreis des gebrochenen Stammes, der ohne Krone, geschwärzt, bis auf den Grund gespalten noch etwa haushoch über die Trümmer hervorragte. Aus dem Gewirr der Aeste am Boden erkannte man, daß auch der Grund aufgewühlt war bis unter die Wurzeln der nächsten Bäume. Ernsthaft sahen die Erwachsenen auf die Stätte, wo ein Augenblick das kräftige Leben in häßliche Unform verwandelt hatte. Die Kinder aber drangen jauchzend in das Dickicht, griffen nach den schuppigen Zapfen des vergangenen Jahres und schnitten Aeste von dem Gipfel, jeder bemüht, das größte Gehänge der gelben Schuppenfrüchte davon zu tragen.

»Es ist nur einer von Hunderten,« sagte der Landwirth finster, »aber es thut doch weh, solche Verwüstung gegen die gewohnte Ordnung zu betrachten und an das Verderben zu denken, das so nahe über unsern Häuptern dahinfuhr.«

»Macht diese Erinnerung nur Mißbehagen?« frug der Professor, »ist sie nicht auch erhebend?«

»Die Hörner des Widders hängen an den Zweigen,« sprach Ilse leise zum Vater, »er wurde das Opfer, damit wir verschont blieben.«

[116] »Ich meine auch der Mensch, der von solchem Strahl getroffen wird, er sollte, wenn dieser Augenblick noch zu einem letzten Gedanken Zeit läßt, sich selbst sagen: es ist ganz in der Ordnung.«

Der Landwirth sah den Professor fragend an: »Sprechen Sie darüber zu uns einige Worte,« begann er feierlich. »Man hat an diesem Orte einen Wunsch nach einem gemeinsamen Gedanken, der von dem Mißbehagen frei macht.«

»Ich bin nicht geübt in der Sprache erbaulicher Betrachtung,« sagte der Gelehrte, »und ich vermag nur weltliche Worte zu reden. Wir vergessen leicht im Behagen des Tages, was wir immer im fröhlichen Herzen tragen sollten, daß wir nur unter Bedingungen leben, wie alles Andere auf Erden und am Himmel. Zahllose Kräfte, fremdartige Gewalten sind um uns in unaufhörlicher Arbeit, jede nach festen ihr eigenen Gesetzen wirkend, auch unser Leben erhaltend, tragend, beschädigend. Die Kälte, welche den Kreislauf des Blutes hemmt, die einbrechende Woge, in welcher der menschliche Leib versinkt, der schädliche Dampf des Bodens, der den Ahtem vergiftet, sie sind keine zufälligen Erscheinungen, die Gesetze, in deren Zwange sie auf uns eindringen, sind ebenso uralt und ebenso heilig als unser Bedürfniß nach Speise und Trank, nach Schlaf und Licht. Und wenn der Mensch seine Stellung unter den Gewalten der Erde erwägt, so heißt leben nichts Anderes als thätig gegen sie kämpfen und denkend sie verstehen. Wer das Brot schafft, das uns nährt, und das Holz zieht, das uns wärmt, jede nützliche Thätigkeit hat keinen anderen Zweck, als uns zu vertheidigen und stärker zu machen durch freundliche Benutzung oder Ueberwindung dieser Mächte. Schon bei dieser Arbeit merken wir, daß zwischen jeder lebendigen Regung in der Natur und in unserem eigenen Geiste eine geheime Verbindung ist, und daß alles Lebendige, wie feindlich es im Einzelnen sich befehde, doch zusammen eine große, unermeßliche Einheit bildet. Und Ahnung und Gedanke dieser Einheit sind zu allen Zeiten das Herrlichste gewesen, was der Mensch in sich [117] hervorzurufen vermochte. Deshalb ist dem Menschen die zweite Aufgabe geworden, eine unwiderstehliche Sehnsucht und ein unwiderstehlicher Trieb, den innern Zusammenhang dieser Lebensgewalten zu erfassen. Und das ist es, was uns fromm macht. – Nicht bei jedem Menschen ist die Arbeit die gleiche, aber das Ziel ist dasselbe. Die warme Empfindung des einen ahnt ewige Vernunft in Allem, was ihm unbegreiflich erscheint, und er nennt diese in kindlichem Vertrauen mit dem ehrwürdigsten und herzlichsten Namen. Und wieder andere suchen emsig die einzelnen Gesetze und Kräfte des Lebens zu beobachten und ihren großen Zusammenhang ehrfurchtsvoll zu verstehen, und diese sind es, welche der Wissenschaft dienen. Wer glaubt und wer forscht, beide thun im Grunde dasselbe, sie üben die höchste Bescheidenheit, denn sie empfinden, daß alles einzelne Leben, eigenes und fremdes, unendlich klein ist gegen das große Ganze. Und wer, vom Blitzstrahl getroffen, noch zu glauben vermöchte, ich gehe zum Vater, und wer in solchem Augenblick mit Interesse zu beobachten vermöchte, wie sein Nervenleben aufhört, sie haben beide ein gottseliges Ende.«

So sprach der Professor vor der geborstenen Fichte, die letzte Aeußerung Ilse's im Herzen. Die Kinder hörten dem kräftigen Tonfall seiner Worte ein Weilchen zu, dann wurde ihnen die Sache lang, Hans fuhr den Schwestern mit seinem Nadelzweige in die Aermel, sie schlugen mit ihrer Fichtenruthe nach ihm, die Brüder kamen zu Hilfe, und ein Gefecht mit grünen Zweigen zog sich von dem Stamme abwärts in das Dickicht. Der Oberamtmann sah verwundert auf den Redner und faßte den Verdacht, dieser Mann gehöre zu einer neuen Klasse von Volksaposteln, die zur Zeit hier und da auftauchten. Seine Frau stand, die Hände über dem Sonnenschirm gefaltet, andächtig da und nickte zuweilen bestätigend mit dem Kopfe, bis sie endlich den Gutsherrn leise anstieß und flüsterte: »Das gehört zu der Philosophie, von der wir sprachen.« Der Landwirth jedoch erwiederte nichts, sondern hörte mit geneigtem [118] Haupt, um dem Sinn besser zu folgen. Ilse aber wandte die Augen nicht von dem Sprechenden ab, fremdartig klang seine Rede und Einiges regte ihr geheimes Bangen auf, sie wußte nicht weshalb. Aber sie hätte nichts dagegen sagen können, denn der Quell warmen Lebens, der aus dieser Menschenseele hervorbrach, wirkte wie ein Zauber auf sie. Die Wahl der Worte, die neuen Gedanken, der edle Ausdruck seines festen Antlitzes nahmen sie unwiderstehlich gefangen. Es war nach der Ansicht des Doctors eine seltsam zusammengeladene Gesellschaft für den schwerverständlichen Vortrag eines Professors, und der Redner hatte, an eine einzige denkend, als ein sorgloser Säemann gesäet. Aber wer vermag zu sagen, wie das Saatkorn der Worte in den Hörern haftet und aufblüht, vielleicht verdorrte es auf dem Stein, vielleicht auch entwickelte sich's in einer Seele zu neuem Leben.

Die Gesellschaft kehrte zu dem Lager auf dem Gipfel zurück. Hinter den Bergen sank die Sonne und von ihr her strich der Wind über die Höhen, der milde Abendschein vergoldete zuerst die Spitzen des Haidekrauts und die Gestalten der Menschen, dann stieg er hinauf über ihre Häupter bis zu den Gipfeln der Bäume, und bläulicher Schatten deckte den Boden, die Baumstämme, die Fernsicht. Oben aber am Himmel schwebten die kleinen Lichtwolken aus Gold und Purpur, bis auch dort die glühenden Farben in rosiger Dämmerung erblaßten. Der Nebel stieg aus der Tiefe und im einförmigen Grau schwanden die Farben des Himmels und der Erde.

Lange sah die Gesellschaft in die wechselnden Lichter des Abends, endlich rief der Gutsbesitzer nach dem Inhalt des Korbes, die Kinder waren geschäftig auszupacken und die kalten Speisen in der Runde zu bieten. Der Landwirth goß den Wein in die Gläser, stieß kräftig mit seinen Gästen an und freute sich des guten Abends. Hans lief auf einen Wink des Vaters ins Gebüsch und holte einige Kienfackeln hervor. »Es ist heut keine Gefahr,« sagte der Landwirth zum Oberamtmann, [119] während er die Fackeln anzündete. Die Kinder drängten sich zum Fackeltragen, aber nur Hans wurde mit diesem Ehrenamte betraut, die Herren vom Lande trugen die anderen selbst.

Langsam wand sich der Zug den Bergpfad hinab, die Fackeln warfen ihr grelles Licht auf Nadelbüschel und Steine und auf die Gesichter der Menschen, welche in den Biegungen des Weges rot leuchteten wie der aufgehende Mond und wieder in Finsterniß verschwanden. Die Frau Oberamtmann hatte schon einige Mal versucht, auch den zweiten der großen Fremden zum Gespräch heranzuziehen, jetzt gelang es ihr bei einer schlechten Wegstelle. »Was Ihr Freund sprach,« begann sie, »war sehr schön, denn es war lehrreich. Er hatte ganz Recht, man soll gegen die Gewalten kämpfen und man soll den Zusammenhang suchen. Aber ich versichere Sie, einer Frau wird das schwer. Denn Rollmaus, der doch für mich die erste Naturgewalt ist, hat einen Haß gegen Gründe, er ist immer dafür, daß Alles nach seinem Kopfe geht. Und als ein rechtschaffner Mann hat er darin auch Recht, aber für Wissenschaft ist er nicht sehr, und auch wegen eines Claviers für die Kinder habe ich meine Noth mit ihm. Und ich suche wohl die Gründe und Kräfte, und was man sonst Zusammenhang nennt, und man liest, was man kann, denn man will doch auch wissen, was in der Welt vorgeht, und sich aus dem Gewöhnlichen erheben. Aber manchmal versteht man's nicht, und wenn man's auch zweimal liest. Und wenn man's hat, dann ist's vielleicht schon veraltet und es gilt nichts mehr, und man möchte gar alles Forschen aufgeben.«

»Thun Sie das doch nicht,« ermahnte der Doctor, »es ist immer eine geheime Freude, wenn man etwas weiß.«

»Nicht wahr,« fuhr die Frau Oberamtmann fort, »wenn ich in der Stadt lebte, ich würde mich ganz in die Wissenschaft vertiefen, aber auf dem Lande ist man zu allein, und dann die große Wirthschaft, und auch der Mann, und man hat zu thun, daß man's dem recht macht. Denn Sie glauben nicht, [120] was für ein tüchtiger Wirth er ist. – Rollmaus, halt deine Fackel zur Seite, der ganze Rauch schlägt dem Herrn Doctor ins Gesicht.« Rollmaus wandte mit leisem Gebrumm die Fackel ab. Seine Frau drängte sich an ihn, faßte seinen Arm und hob sich zu seinem Ohr: »Ehe wir wegfahren, mußt du die fremden Herren zu uns einladen, damit die Schicklichkeit beobachtet wird.«

»Er ist ein freier Winkelprediger,« antwortete der Oberamtmann mürrisch.

»Um Gotteswillen, Rollmaus, begehe keine Ruchlosigkeit und blasvomire nicht,« fuhr sie fort, ihm den Arm drückend, »er steht ja im Lexikon.«

»In deinem?« frug der Gatte.

»In dem hiesigen,« versetzte die Frau, »was auf eins herauskommt.«

»Es stehen Viele in Büchern, die weniger werth sind als Andere, die nicht darin stehen,« sagte der Mann ungerührt.

»Damit widerlegst du mich nicht,« entschied die Frau, »ich sage dir und ichavertire dich, er ist ein berühmter Mann, und der Anstand verlangt, daß wir darauf Rücksicht nehmen. Und du weißt, was den Anstand betrifft –«

»Sei nur ruhig,« besänftigte Rollmaus; »ich habe ja nichts dagegen, wenn es sein muß. Ich habe deinetwegen schon in ganz andere saure Aepfel gebissen.«

»Meinetwegen?« frug die Oberamtmann gekränkt. »Bin ich unvernünftig, bin ich ein Tyrann, bin ich eine Eva, welche mit ihrem Manne unter dem Baume steht, mit lüderlichem Haar, und nicht einmal mit einem Hemde? Willst du dich und mich mit solchen alten Zuständen vergleichen?«

»Na,« sagte Rollmaus, »gib dich zufrieden, wir wissen ja, wie wir miteinander stehen.«

»Siehst du wohl, daß ich Recht habe?« versetzte besänftigt die Frau Oberamtmann. »Und glaube mir, ich weiß auch, wie Andere miteinander stehen, und ich sage dir, ich habe so eine Ahnung, es spinnt sich etwas an.«

[121] »Wer spinnt?« frug Rollmaus.

»Es ist zwischen Ilse und dem Herrn Professor.«

»Das wäre der Teufel!« rief der Oberamtmann lebhafter, als er den ganzen Tag gewesen war.

»Still, Rollmaus, man hört dich, vernachlässige nicht die Discretion.«

Ilse war zurückgeblieben, sie führte den jüngsten Bruder, dem Ermüdung den Schritt unsicher machte. Ritterlich weilte der Professor neben ihr. Er machte sie aufmerksam, wie gut sich der Zug ausnehme, die Fackeln wie große Glühwürmer an der Spitze, dahinter die scharf beleuchteten Gestalten, der wechselnde Feuerschein an Baumstämmen und grünen Zweigen. Ilse hörte längere Zeit schweigend zu, endlich begann sie: »Und das Liebste am heutigen Tage war, daß Sie so gütig zu unserer Nachbarin sprachen. Als sie neben Ihnen saß, war mir weh zu Muth. Denn mir kam vor, als wäre demüthigend für Sie, die ungeschickten Fragen unserer Freundin zu hören, und auf einmal war mir, als ob Sie auch gegen uns eine immerwährende Nachsicht üben müßten, und das quälte mich. Weil Sie aber so freundlich das Gute anerkannten, das unsere Frau Oberamtmann hat, merkte ich doch, daß es Ihnen keine Ueberwindung kostet, mit uns einfachen Leuten zu verkehren.«

»Liebes Fräulein,« rief der Professor erschrocken, »ich hoffe, Sie sind überzeugt, daß ich der wackern Dame nur sagte, was wahre Herzensmeinung war.«

»Ich weiß es,« fuhr Ilse lebhaft fort, »und die treue Seele vor uns fühlt es auch. Sie war heut den ganzen Tag ruhiger und heiterer als sie sonst ist. Und dafür muß ich Ihnen danken. Ach, von Herzen,« fügte sie leise hinzu.

Da Lob aus geliebtem Munde nicht die kleinste Freude des Menschen ist, sah der Professor glücklich auf seine Nachbarin, welche jetzt im Dunkeln den Bruder zu schnellerem Schritte trieb. Er wagte das Schweigen nicht zu brechen, beiden waren die reinen Herzen geöffnet, und ohne ein Wort zu reden, fühlten[122] sie den Strom warmer Empfindungen, der von einem zum andern zog. »Wer aus seinen Büchern unter andere Menschen tritt,« begann endlich der Professor, »dem macht die pedantische Gewohnheit des Bücherlesens zuweilen leichter, aus einem fremden Leben heraus zu holen, was ihm für das eigene dienlich sein kann. Denn zuletzt ist in jedem Leben etwas Ehrwürdiges, wie oft es auch durch wunderliche Zuthat verdeckt ist.«

»Uns ist geboten, den Nächsten zu lieben,« sagte Ilse, »und wir mühen uns, das zu thun; aber wenn man findet, daß diese Liebe so heiter, so hoch und sicher gegeben wird, ist es doch rührend. Und wo man solche Gesinnung vor sich sieht, wird sie ein Beispiel und erhebt das Herz. – Komm, Franz,« sagte sie zum Bruder gewandt, »es ist nicht mehr weit nach Haus.« Aber Franz stolperte und erklärte schlaftrunken, daß ihn seine Beine schmerzten. »Auf, kleiner Herr,« rief der Professor, »laß dich tragen.«

Aengstlich wehrte Ilse: »Das kann ich nicht zugeben, es ist nur der Schlaf, der ihn träge macht.«

»Bis wir im Thale sind,« sagte der Professor und hob den Knaben an seine Schulter. Franz schlug ihm den Arm um den Hals, drückte sich an ihn und war bald fest entschlafen. Sie kamen an eine steile Biegung des Weges, der Professor bot seiner Gefährtin den freien Arm, sie aber weigerte sich und stützte sich nur ein wenig auf die dargebotene Hand. Und ihre Hand glitt hinab und blieb in der des Mannes liegen. Hand in Hand schritten beide den letzten Theil des Berges abwärts in das Thal, keines sprach ein Wort. Unten löste Ilse leise ihre Hand aus der seinen, er ließ sie los ohne Wort und Druck, aber die wenigen Minuten umfaßten für beide eine Welt von seligen Gefühlen. »Komm herab, Franz,« bat Ilse, und nahm den schlafenden Bruder vom Arm ihres Freundes. Sie beugte sich zu dem Kleinen nieder und sprach ihm Muth ein, und weiter ging es zu der Gesellschaft, welche am Bach die Zurückgebliebenen erwartete.

[123] Der Wagen des Oberamtmanns fuhr vor. Wortreich waren die Abschiedsgrüße der Frau Oberamtmann; auch der Starrsinn des Gatten war durch die Vorstellungen seiner Frau gemildert, und als er die Mütze in der Hand hielt, bequemte er sich mit erträglichem Anstande zum Biß in den erwähnten sauren Apfel. Er trat auf die Schreiberleute aus der Stadt zu und ersuchte sie, auch ihm das Vergnügen ihres Besuches zu schenken, und als er die freundlichen Worte sprach, übte die Einladung selbst auf sein ehrliches Gemüth eine weitere besänftigende Wirkung, er streckte auch noch die Hand aus, und als diese ihm kräftig geschüttelt wurde, näherte er sich der Ansicht, daß die Fremden im Grunde auch nicht so übel wären. Der Gutsherr begleitete die Gäste zu dem Wagen, Hans reichte die Schachtel hinein, und beide Landwirthe beobachteten unter dem letzten Gutnachtruf noch mit Kennerblicken, wie die Braunen anzogen.

7. Neue Feindseligkeit
7.
Neue Feindseligkeit.

Während zwischen dem Professor und dem Doctor eine helle Frauengestalt aufstieg, wollte das Schicksal, daß zwischen denbeiden Nachbarhäusern eine neue Fehde entbrannte. Und das ging so zu.

Herr Hahn hatte die Abwesenheit seines Sohnes zu einer Verschönerung des Grundstücks benutzt. Sein Garten lief nach dem Parke spitz zu, und er hatte viel darüber nachgedacht, wie diese Spitze zu einer guten Wirkung verwerthet werden könnte. Denn die kleine Erhöhung, die er dort aufgeworfen und mit Rosen besetzt hatte, erwies sich als ungenügend. Er beschloß also, ein hübsches wasserdichtes Sommerhaus für solche Besucher des Gartens zu zimmern, welche nicht geneigt waren, [124] bei schlechtem Wetter nach der nahen Wohnstube zurückzugehen. Alles war schon vor der Abreise des Sohnes weislich überlegt, den Tag darauf ließ er einen schlanken Holzbau errichten, mit kleinen Fenstern nach der Straße, oben statt des Daches eine Plattform mit lustigen Bänken, deren Latten über die Holzwände und den Gartenzaun kühn in die Luft der Straße vorsprangen. Die Sache sah gut aus. Als aber Herr Hahn herzlich vergnügt seine Gattin eine kleine Seitentreppe auf die Plattform hinaufführte und die wohlgerundete Frau Hahn, nichts Arges ahnend, auf der Luftbank niedersaß und von dort oben verwundert auf die Welt herunterblickte, da ergab sich, daß die Spaziergänger gerade unter ihr wegschritten, und wer längs dem Zaun ging, sah den Himmel über sich verdunkelt durch das Gefieder des großen Vogels, der auf seinem hohen Sitz der Straßenwelt den Rücken kehrte. Da klangen schon in der ersten Viertelstunde so spitze Reden herauf, daß die arglose Frau Hahn dem Weinen nahe war und ihrem Hausherrn mit ungewohnter Energie erklärte, sie werde sich nie wieder als Henne behandeln lassen und die Plattform nicht wieder besteigen. Die Familienstimmung wurde dadurch nicht besser, daß Herr Hummel während dieser Ausstellung der Frau Hahn am Zaune des Nachbargartens gestanden und über die nichtswürdigen Redensarten des Volkes recht höhnisch gelacht hatte.

Hahn aber, nach kurzem Kampfe zwischen Stolz und Rücksicht, gab der besseren Stimme seines Innern Gehör, entfernte die Bänke und die Plattform und errichtete über dem Sommerhause ein schönes chinesisches Dach. An die Vorsprünge des Daches aber hing er kleine Glocken. Wenn sich der Wind erhob, tönten die Glocken leise. Dieser Einfall wäre eine entschiedene Verbesserung gewesen. Aber die Schlechtigkeit der Menschen gönnte dem Kunstwerk keine Ruhe. Denn die Straßenjungen machten sich ein Vergnügen daraus, einzelne Glocken durch lange Gerten in Bewegung zu erhalten. Und in einer [125] der nächsten Nächte wurde die Nachbarschaft sogar durch ein vielstimmiges Glockenconcert aus dem Schlummer geweckt.

Herrn Hahn däuchte im Schlafe, daß der Winter gekommen sei und eine lustige Gesellschaft Schlitten fahrend sein Haus umkreise; er horchte auf und erkannte mit Entrüstung die aufgeregte Thätigkeit seiner Glocken. Im Nachtkleide eilte er in den Garten und rief zornig in die Luft hinaus: »Wer ist hier?« Augenblicklich verstummte das Geläut, ringsum tiefes Schweigen, friedliche Stille. Er stieg zum Gartenhaus hinauf und sah die unsichern Umrisse seiner Glocken, welche noch unter dem Nachthimmel schwangen, aber rundumher war Niemand zu entdecken. Er ging nach seinem Bett zurück, aber kaum hatte er sich zurechtgelegt, so fing der Lärm wieder an, hastig und rufend, als sollte eine Weihnachtsbescherung eingeläutet werden. Und es wurde auch eine eingeläutet, aber keine fröhliche. Wieder stürmte er ins Freie und wieder schwieg der Lärm, aber als er sich über das Gitter erhob und umherspähte, sah er im Garten gegenüber die breite Gestalt des Herrn Hummel am Zaun stehen und hörte eine dröhnende Stimme rufen: »Was sind das für verrückte Phantastereien?«

»Es ist unerklärlich, Herr Hummel,« rief Herr Hahn begütigend über die Straße hinüber.

»Unerklärlich ist nichts,« rief Herr Hummel, »als der Unfug, Glocken auf offner Straße in die freie Luft zu hängen.«

»Ich verbitte mir Ihre Ausfälle,« rief Herr Hahn tief verletzt, »ich habe das Recht, auf meinem Grundstück aufzuhängen, was ich will.«

Und nun begann ein Kampf der Ansichten über die Straße, schrecklich und kläglich zugleich. Dort Hummels Baß, hier Hahns scharfe Stimme, welche in hohe Tenorlagen hinüberhüpfte; beide Nachtgestalten in langen Schlafröcken, getrennt durch Straße und Verschanzungen, aber wie zwei antike Helden mit starken Worten gegeneinander fechtend. Wenn man auch nicht den wilden Anstrich erkennen konnte, den Herr Hahn [126] durch die rothe Farbe seines Schlafrocks erhielt, so ragte er doch auf der Höhe neben seinem chinesischen Tempel und seine Arme hoben sich imponirend von dem dämmerigen Horizonte ab, Herr Hummel aber stand im Finstern, überschattet von wildem Wein. »Ich werde Sie bei der Polizei belangen, weil Sie die bürgerliche Ruhe stören,« rief Herr Hummel zuletzt und fühlte in seinem Rücken die kleine Hand seiner Frau, die ihn beim Schlafrock faßte und ihn umdrehte und leise beschwor, keine Scene zu geben.

»Und ich werde vor Gericht fragen, wer Ihnen das Recht gibt, Ihre Injurien über die Straße zu werfen,« rief Herr Hahn ebenfalls auf dem Rückzuge, denn unter dem Getöse des Kampfes hatte er häufig die leisen Worte gehört: »Komm zurück, Hahn,« und seine Frau händeringend hinter sich gesehen. Er war aber nicht in der Stimmung, das Schlachtfeld zu verlassen. »Licht her und eine Leiter,« rief er, »ich will diese Schändlichkeit ermitteln.« Eilfertig erschienen Leiter und Laterne, von dem erschrockenen Dienstmädchen zugetragen. Herr Hahn stieg zu seinen Glocken hinauf und suchte lange vergeblich, endlich entdeckte er, daß Jemand ein Geflecht von Pferdehaaren mit den einzelnen Glocken in Verbindung gebracht und dieselben von außen wie an einem Strange geläutet hatte.

Auf diese wilde Nacht folgte ein wüster Morgen. »Gehen Sie zu dem Manne hinüber, Gabriel,« sagte Herr Hummel, »und fragen Sie ihn um des lieben Friedens willen, ob er gutwillig sogleich die Glocken abnehmen will. Ich fordere meinen Schlaf. Und ich leide nicht, daß Nachtgesindel an mein Haus gelockt wird, um den Zaun streift, in meinem Garten die Pflaumen stiehlt und in meine Fabrik einbricht. Dieser Mann läutet die Spitzbuben aus der ganzen Umgegend zusammen.«

Gabriel versetzte: »Um des lieben Friedens willen gehe ich hinüber, aber nur wenn ich mit Höflichkeit sagen darf, was ich für gut halte.«

[127] »Mit Höflichkeit?« wiederholte Hummel und blinzte dem Vertrauten schlau zu. »Sie verstehen Ihren Vortheil nicht. Eine so schöne Gelegenheit, deutlich zu werden, kommt Ihnen so bald nicht wieder. Und es wäre jammerschade, wenn man sich das entgehen ließe. Aber ich habe so meine Ahnungen, Gabriel, höflich oder nicht, mit dem Manne werden wir nicht fertig. Er ist boshaft und störrig und verbissen. Er ist ein Bulldog, Gabriel, da haben Sie seinen Charakter.«

Gabriel trat bei dem armen Herrn Hahn ein, der noch leidend vor dem unberührten Frühstück saß und mißtrauisch auf den Bewohner des feindlichen Hauses blickte. »Ich komme nur zu fragen,« begann Gabriel schlau, »ob Sie vielleicht durch Ihren Herrn Sohn Nachricht von meinem Professor bekommen haben.«

»Keine,« versetzte Herr Hahn traurig, »es gibt Zeiten, wo Alles quer geht, lieber Gabriel.«

»Ja, das war heut Nacht ein schlechter Schabernack,« bedauerte Gabriel.

Herr Hahn sprang auf. »Unsinnig hat er mich genannt, einen Phantasten hat er mich genannt. Darf ich mir das gefallen lassen? Als Geschäftsmann und in meinem eigenen Garten? – Wegen dem Spielwerk mögen Sie Recht haben, man muß nicht zu viel Vertrauen auf die Menschen setzen. Jetzt aber ist meine Ehre gekränkt, und ich sage Ihnen, die Glocken bleiben, und sollte ich alle Nächte einen Wächter dazustellen.«

Vergebens sprach Gabriel verständige Worte. Herr Hahn blieb unerbittlich und rief dem Abgehenden noch nach: »Sagen Sie ihm, vor Gericht sehen wir uns wieder.«

In der That ging er zu seinem Sachwalter und bestand auf einer Klage wegen nächtlicher Injurien.

»Gut,« sagte Hummel, als Gabriel von seiner fruchtlosen Gesandtschaft zurückkehrte. »Diese Leute zwingen mich, Sicherheitsmaßregeln für mich selbst zu treffen, ich will dafür sorgen, [128] daß keine fremden Pferdehaare an mein Haus gebunden werden. Wenn bei denen drüben die Spitzbuben mit den Schellen läuten, so sollen bei mir die Hunde bellen. Wurst wider Wurst, Gabriel.«

Düster ging er in seine Fabrik und schnaubte wild umher. Sein Buchhalter, der das Aussehen eines gedrückten Mannes hatte, weil er neben Herrn Hummel nie recht aufkommen konnte, fühlte sich verpflichtet, zeitgemäß zu reden und bemerkte schüchtern: »Die Einfälle von A.C. Hahn sind abgeschmackt, alle Welt hält sich darüber auf.« Aber die Rede gedieh ihm nicht. »Was kümmern Sie dieses Mannes Einfälle?« rief Hummel, »sind Sie Hausbesitzer und sind Sie Prinzipal dieses Geschäfts oder bin ich es? Wenn ich mich ärgern will, so ist das meine Sache und geht Sie gar nichts an. Sein neuer Commis Knips trägt einen frisirten Lockenkopf und riecht nach kölnischem Wasser. Machen Sie sich doch über den lustig, das ist Ihre Gerechtsame. Und was die übrige Welt betrifft, so ist ihr Schelten auf dieses Mannes Erfindungen gerade so viel werth, als ob ein Sperling vom Dache schreit. Wenn er alle Tage ein Schellengeläut auf seine Schultern hängt und damit in sein Comtoir geht, so bleibt er für dieses Straßenvolk immer ein reputirlicher Bürger. Nur mir gegenüber ist das ein ander Ding. Ich bin sein Nachbar bei Tag und bei Nacht. Und wenn er Suppen einbrockt, so fällt auch mir der Löffel hinein. Im Uebrigen verbitte ich mir alle Verläumdungen auf Mitmenschen. Was gesagt werden muß, besorge ich allein, ohne Associé. Merken Sie sich das.«

An einem der nächsten Abende stand Gabriel vor der Thür, sah auf den Himmel und wartete, ob eine kleine schwarze Wolke, welche dort oben langsam dahinschiffte, das Bild des Mondes verdecken würde. Gerade als dies Ereigniß eintrat und die Straße und die beiden Häuser im Dunkel lagen, fuhr ein Wagen vor das Haus und die Stimme des Hausbesitzers frug hinter dem Leder hervor: »Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung,« erwiederte Gabriel und knöpfte den [129] Schurz auf. Herr Hummel stieg schwerfällig herab, hinter ihm klang ein unwilliges Knurren. »Was steckt da in der Finsterniß?« frug Gabriel neugierig und griff in den Wagen, aber er zog schnell die Hand zurück: »Das Grobzeug will beißen.«

»Ja, das hoffe ich,« versetzte Herr Hummel, »es soll beißen. Ich bringe Wachhunde mit gegen die Glockenspieler.« Er zerrte am Strick zwei undeutliche Gestalten heraus, welche auf dem Boden mit heiserem Gekläff umherfuhren, Gabriels Beine bösartig umkreisten und den Strick wie eine Schlinge um ihn zogen. »Die Menge muß es bringen,« rief Gabriel, »zwei Stück!« Der Mond hatte die Wolke überwunden und beleuchtete hell die beiden Hunde. »Das sind seltsame Thiere, Herr Hummel, es ist eine schwierige Race. Zwei Köter,« fuhr er abschätzend fort, »kaum von Mittelgröße, es ist dickes Format und ihr Haar ist zottig, über die Schnauze hängen die Borsten wie ein Schnurrbart. Die Mutter war eine Pudelin, der Vater ein Affenpintsch, auch ein Mops muß mit in der Verwandtschaft gewesen sein und der Urgroßvater war ein Dachshund. Ein schöner Bau, Herr Hummel, so etwas ist selten. Wie sind Sie zu diesen Mondkälbern gekommen?«

»Das war ein eigener Zufall. Im Dorfe hatte ich für heut keinen Hund erhalten; als ich durch den Wald zurückfuhr, scheuten die Pferde und wollten nicht vorwärts. Während der Kutscher mit ihnen hantirte, sah ich auf einmal neben dem Wagen einen großen schwarzen Mann stehen, wie aus dem Boden heraufgeschossen. Er hielt die zwei Hunde am Stricke und lachte höhnisch über die Schelte des Kutschers. ›Was soll's?‹ rief ich ihn an, ›wohin führt ihr die Hunde?‹ ›Dem, der sie haben will,‹ rief der Schwarze.«

»Hebt sie in den Wagen,« sagte ich.

»Ich reiche nichts,« brummte der Fremde, »ihr müßt sie euch holen.« Ich stieg ab und frug: »Was verlangt ihr dafür?«

[130] »Nichts!« sagte der Mann. Die Sache wurde mir bedenklich, aber ich dachte, man kann's doch probiren, ich trug die Burschen in den Wagen, sie waren lammfromm. »Wie heißen die Hunde?« rief ich aus dem Wagen.

»Bräuhahn und Gose,« sagte der Mann und lachte wie ein Teufel.

»Das sind keine Hundenamen, Herr Hummel,« warf Gabriel kopfschüttelnd ein.

»Das sagte auch ich dem Manne, und er versetzte: ›Getauft sind sie nicht.‹ ›Aber der Strick ist euer,‹ sagte ich, und denken Sie, Gabriel, dieser schwarze Kerl antwortete mir: ›Behaltet ihn, ihr könnt euch dran hängen.‹ Ich wollte ihm die Hunde wieder aus dem Wagen werfen, da war der Mann im Walde verschwunden wie ein Irrwisch.«

»Das ist eine niederträchtige Geschichte,« rief Gabriel bekümmert, »diese Hunde sind in keinem christlichen Hause gewachsen. Und wollen Sie wirklich solche Gespenster behalten?«

»Ich will's probiren,« sagte Herr Hummel. »Zuletzt ist ein Hund ein Hund.«

»Nehmen Sie sich in Acht, Herr Hummel, in den Thieren steckt etwas.«

»Dummes Zeug!«

»Sie sind scheusälig,« fuhr Gabriel fort und zählte an den Fingern: »sie haben keine menschlichen Hundenamen, sie sind angeboten ohne Geld, kein Mensch weiß, was diese Bestien fressen.«

»Auf den Appetit werden Sie nicht lange zu warten haben,« versetzte der Hausherr. Gabriel zog ein Stück Semmel aus der Tasche, die Hunde schnappten darnach. »In dieser Weise sind sie zuverlässig,« sagte er ein wenig beruhigt. »Aber wie soll man sie in Ihrem Hause rufen?«

»Der Bräuhahn mag bleiben, was er ist,« versetzte Herr Hummel, »aber in meiner Familie soll kein Hund Gose heißen. Ich leide dieses Getränk nicht.« Er sah feindselig auf das [131] Nachbarhaus hinüber. »Andere Leute lassen sich das Zeug täglich über die Straße holen, das ist für mich kein Grund, ein solches Wort in meinem Haushalt zu dulden. Der Schwarze heißt von jetzt ab Bräuhahn und der Rothe Speihahn. Damit abgemacht.«

»Aber, Herr Hummel, das sind lauter injuriöse Namen,« rief Gabriel, »damit wird das Uebel ärger.«

»Das ist meine Sorge,« sagte Herr Hummel ent schlossen. »Bei Nacht bleiben sie im Hofe, sie sollen das Haus bewachen.«

»Wenn sie nur leibhaftig aushalten,« wandte Gabriel ein, »die Art kommt und verschwindet wie sie will und nicht wie wir wollen.«

»Sie werden doch nicht des Teufels sein,« lachte Herr Hummel.

»Wer spricht vom Teufel?« versetzte Gabriel schnell. »Einen Teufel gibt es nicht, das leidet der Professor nimmer, aber von Hunden hat man Beispiele.«

Damit zog Gabriel die Thiere in den Hausflur, Herr Hummel rief in die Stube: »Guten Abend, Philippine, hier habe ich dir etwas mitgebracht.«

Frau Hummel trat mit dem Lichte in die Thür und sah erstaunt auf das Geschenk, das zu ihren Füßen winselte. Durch diese Demuth wurde das stolze Herz der Hausfrau zum Wohlwollen gestimmt. »Aber sie sind häßlich,« sagte sie zweifelnd, als der Rothe und der Schwarze zu ihren beiden Seiten niedersaßen, das Gesäß gesenkt, mit dem Schwanze wedelnd und unter den langen Augenhaaren zu ihr aufblickend. »Und warum zwei?«

»Sie sind nicht für die Ausstellung gearbeitet,« entgegnete Herr Hummel begütigend, »es ist Landwaare. Der eine ist nur Ersatzmann.«

Nach dieser Vorstellung wurden sie in einen Verschlag getragen, Gabriel prüfte noch einmal ihre Fähigkeit im Fressen und Saufen, sie erwiesen sich durchaus als regelmäßige, wenn [132] auch nicht durch Leibesschönheit ausgezeichnete Hunde, und Gabriel stieg sorglos zu seiner Kammer hinauf.

Als die Uhr zehn schlug und das Gitterthor, welches den Hof von der Straße schied, geschlossen wurde, ging Herr Hummel selbst zum Hundezwinger hinab, um die neuen Wächter in ihren Beruf einzuweihen. Aber er erstaunte sehr, als er ihnen die Thür öffnete. Denn ohne sein ermunterndes Herrenwort abzuwarten, stürzten die beiden Creaturen zwischen seinen Füßen in den Hof hinaus. Wie von einer unsichtbaren Peitsche getrieben, fuhren sie um das Haus und die Fabrik herum, ohne Aufhören, immer neben einander. Und keineswegs stillschweigend. Sie waren bis dahin gedrückt und kleinlaut gewesen, jetzt wurden sie, entweder wegen guter Leibesnahrung oder weil ihre nächtliche Stunde gekommen war, so geräuschvoll, daß sogar Herr Hummel erstaunt zurücktrat; ihr heiseres, scharfes Gebell übertönte das Horn des Nachtwächters und die Rufe des Hausherrn, welcher ihnen Mäßigung anempfehlen wollte. Ohne Aufhören ging die wilde Jagd im Hofe herum und ein unendliches Gekläff begleitete den Sturmlauf. Die Fensterflügel des Hauses öffneten sich. »Das wird eine lebendige Nacht, Herr Hummel,« rief Gabriel hinunter.

»Aber Heinrich, das ist ja unerträglich,« rief die Gattin aus der Schlafstube.

»Es ist nur die erste Freude,« tröstete Herr Hummel und zog sich in das Haus zurück.

Aber diese Ansicht erwies sich als ein Irrthum. Durch die ganze Nacht klang das Gebell der Hunde aus dem Hofe. Auch in den Häusern der Nachbarschaft wurden Läden aufgerissen und laute Scheltworte nach dem Hof des Herrn Hummel geworfen. Am nächsten Morgen stand Herr Hummel unsicher auf. Selbst ihm war sein kräftiger Bürgerschlaf durch die Vorwürfe der Gattin gestört worden, welche jetzt zornig und mit Kopfschmerzen behaftet beim Frühstück saß. Und als er in den Hof trat und die Beschwerden einsammelte, welche ihm [133] seine Leute von der Außenwelt zutrugen, da war auch er einen Augenblick schwankend, ob er die Hunde für eine Bereicherung seines Hausstandes halten dürfe.

Das Unglück wollte, daß gerade in dieser Stunde der Markthelfer des Herrn Hahn mit herausfordernder Miene in den Hof trat und meldete: Herr Hahn müsse darauf bestehen, daß Herr Hummel das unerhörte Gebell abschaffe, er werde sich sonst genöthigt sehen, sein Recht bei der Polizei zu suchen.

Dieser Angriff des Gegners entschied den innern Kampf des Herrn Hummel. »Wenn ich das Bellen meiner Hunde ertrage, so können's andere Leute auch ertragen. Dort spielen die Glocken, hier singen die Hunde, und wenn Jemand vor der Polizei meine Ansicht hören will, so soll er genug zu hören bekommen.« Er ging in das Haus zurück und trat würdig vor seine leidende Hausfrau. »Du bist meine Frau, Philippine, du bist eine kluge Frau und ich gebe dir nach in jedem Dinge, worin du mir einen verständigen Willen zeigst.«

»Sollen zwei Hunde zwischen dich und mich treten?« frug mit schwacher Stimme die Gattin.

»Niemals,« versetzte Hummel, »Hausfriede muß sein, und dein Kopfschmerz ist mir nicht recht. Und ich wollte dir zu Gefallen die Biester schon wieder abschaffen. Da begegnet mir dies mit diesen Phantasten. Zum zweiten Mal bedrohen sie mich mit Justiz und Polizei. Jetzt steht meine Ehre auf dem Spiel und ich kann nicht mehr nachgeben. Sei mein gutes Weib, Philippine, versuch's einige Nächte mit Baumwolle in den Ohren, bis sich die Hunde an ihre Arbeit gewöhnt haben.«

»Heinrich,« versetzte die Gattin matt, »ich habe nie an deinem Herzen gezweifelt, aber dein Charakter ist rauh. Und die Hunde haben eine zu häßliche Stimme. Willst du, um deinen Willen durchzusetzen, deine Frau durch Schlaflosigkeit leiden sehen und immer kränker werden sehen, so sag's. Willst du, um deinen Charakter zu behaupten, den Frieden mit der Nachbarschaft opfern, so sag's.«

[134] »Ich will nicht, daß du krank wirst, und ich will die Hunde nicht weggeben,« versetzte Herr Hummel, ergriff seinen Filzhut und ging mit starken Schritten nach der Fabrik.

Wenn sich aber Herr Hummel der Hoffnung hingab, den schwersten Hauskampf als Sieger beendet zu haben, so wandelte er in großem Irrthum. Noch war eine andere Macht innerhalb seiner Grenzen übrig, und diese eröffnete den Feldzug auf ihre Weise. Als Hummel in seinem kleinen Comtoir an das Pult trat, sah er neben dem Tintenfaß einen Blumenstrauß. An dem rosa Seidenband hing ein kleiner Brief, gesiegelt mit der Oblate Vergißmeinnicht, überschrieben: »Meinem lieben Papa.« »Das ist mein Blitzmädel,« murmelte er, öffnete das Billet und las folgende Zeilen: »Lieber Papa, guten Morgen, die Hunde machen uns große Sorgen, sie sind gar zu häßlich, und ihr Gebell ist gräßlich. Was den Unfrieden mehrt und die Nachbarn stört, behalte nicht in Hof und Hut. Sei edel, Vater, hilfreich und gut.«

Hummel lachte kräftig, daß die Arbeit in der Fabrik stockte und Jedermann über die gute Laune verwundert war. Dann bezeichnete er den Zettel mit dem Datum des Empfanges, steckte ihn in die Brieftasche und begab sich nach Durchsicht der eingelaufenen Briefe in den Garten. Er sah seine kleine Hummel mit der Gießkanne über die Beete fahren und Vaterstolz schwellte ihm das Herz. Wie behend sie sich drehte und beugte, wie ihr die dunkeln Löckchen um das blühende Antlitz hingen, wie geschäftig sie die Kanne hob und schwenkte! Und als sie ihn erblickte, das Gefäß hinsetzte und ihm mit dem Finger drohte, da wurde er vollends bezaubert. »Wieder Verse,« rief er ihr entgegen, »es ist Numro neun, die ich kriege.«

»Und du wirst mein guter Papa sein,« rief Laura auf ihn zueilend und streichelte sein Kinn. »Schaffe sie ab.«

»Siehst du, Kind,« sagte der Vater behaglich, »ich habe schon mit deiner Mutter darüber gesprochen, und ich habe ihr auseinandergesetzt, weshalb ich sie nicht abschaffen kann. Jetzt [135] darf ich doch nicht dir zu Gefallen thun, was ich deiner Mutter nicht zugeben konnte. Das wäre gegen die Hausordnung. Respectire deine Mutter, kleine Hummel.«

»Du bist hartherzig, Vater,« versetzte die Tochter schmollend. »Und sieh, du hast in dieser Sache Unrecht.«

»Oho,« rief der Vater, »kommst du mir so?«

»Was that uns das Glockenspiel drüben zu Leid? Das Häuschen ist hübsch, und wenn wir Abends im Garten sitzen und der Wind geht und die Glocken leise bimmeln, das hört sich gut an, es ist wie in der Zauberflöte.«

»Hier ist keine Oper,« rief Hummel ärgerlich, »sondern offene Straße. Und wenn meine Hündlein bellen, so kannst du ja auch deine Theaterideen haben und denken, daß du in der Wolfschlucht bist.«

»Nein, mein Vater,« erwiederte die Tochter eifrig. »Du hast Unrecht gegen die Leute. Denn du willst ihnen einen Possen thun. Das kränkt mich in tiefstem Herzen. Und das leide ich nicht an meinem Vater.«

»Du wirst's doch leiden müssen,« entgegnete Hummel verstockt. »Denn dies ist ein Streit zwischen Männern, hier finden Paragraphen der Polizeiordnung statt, da bleibe du mit deinen Versen hübsch davon. Was die Namen angeht, so ist wohl möglich, daß andere Wörter, wie Adolar und Ingomar und Marquis Posa, euch Weibern besser klingen. Dies aber ist für mich kein Grund, meine Namen sind praktisch. In deinen Blumen und Büchern will ich dir Vieles zu Gefallen thun, aber Poesie bei Hunden beachte ich nicht.« Damit kehrte er der Tochter den Rücken, bemüht, dieses Streites ledig zu werden.

Laura aber eilte in die Stube zur Mutter, und die Frauen traten in Berathung. »Der Lärm war arg,« klagte Laura, »aber schrecklicher ist der Name. Mutter, ich kann dieses Wort nicht aussprechen, und du darfst nicht leiden, daß unsere Leute die Hunde so nennen.«

»Liebes Kind,« versetzte die erfahrene Frau, »man erlebt [136] auf Erden viel Unbilliges, aber am meisten schmerzt, was gegen die Würde der Frauen im eigenen Hause geübt wird. Ich spreche mich darüber nicht weiter aus. Was nun den Namen Bräuhahn betrifft, so hat dieser, welcher, wie ich höre, ein benachbartes Getränk ist, Manches, was zu seiner Entschuldigung gesagt werden kann, und etwas müssen wir darin dem Vater nachgeben. Die andere Bezeichnung aber, darin gebe ich dir Recht, wäre eine Beschimpfung der Nachbarn. Doch wenn der Vater merkt, daß wir hinter seinem Rücken den rothen Hund Phöbus oder Azor nennen, so wird das Uebel ärger.«

»Den bösen Namen wenigstens soll Niemand in den Mund nehmen, dem an meiner Freundschaft gelegen ist,« entschied Laura und eilte in den Hof.

Gabriel benutzte seine einsame Muße, die neuen Ankömmlinge zu beobachten. Es zog ihn öfter nach dem Hundestall, dort die irdische Beschaffenheit der Fremdlinge festzustellen.

»Was ist Ihre Meinung?« frug Laura, zu ihm tretend.

»Ich habe so meine Meinung,« antwortete der Diener, in die Tiefe des Stalles spähend. »Nämlich in den da steckt doch etwas. Haben Sie heut Nacht den Gesang dieser Raben beachtet? So bellt kein richtiger Hund. Sie winseln und jammern, dazwischen krächzen sie und sprechen wie kleine Kinder. Ihr Fressen ist gewöhnlich, aber ihre Lebensart ist unmenschlich. Sehen Sie, jetzt ducken sie sich, wie auf's Maul geschlagen, weil die Sonne auf sie scheint. – Und dann, liebes Fräulein, der Name!«

Laura sah neugierig auf die Thiere. »Wir ändern den Namen in der Stille, Gabriel, dieser hier soll nur der Rothe heißen.«

»Das wäre schon besser, es wäre wenigstens nicht injuriös für Herrn Hahn, sondern nur für die Kellerwohnung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da doch drüben der Markthelfer Rothe heißt.«

»Dann also,« entschied Laura, »wird das rothe Unthier [137] von jetzt ab nur das Andere genannt, und so sollen ihn unsere Leute rufen. Sagen Sie das auch den Arbeitern in der Fabrik.«

»Andres?« versetzte Gabriel. »Der Name wird ihm schon recht sein. Dies Gesindel hat's nicht gern, wenn es mit ordentlichem Zeichen gerufen wird. Dieses Andere wird am besten wissen, woher das Eine stammt, dem es zugehört. Na, die Nachbarschaft wird meinen, daß er Andreas heißt, damit geschieht ihm immer noch zu viel Ehre.«

So war billiger Sinn geschäftig, die böse Vorbedeutung des Namens abzuwenden. Vergebens. Denn, wie Laura richtig im Tagebuch bemerkte, wenn der Ball des Unheils unter die Menschen geworfen wird, so trifft er erbarmungslos die Guten wie die Bösen. Der Hund wurde mit dem unscheinbarsten Namen versehen, der gar kein Name war. Aber durch eine unbegreifliche Verbindung der Ereignisse, welche allen menschlichen Scharfsinn höhnte, geschah es, daß Herr Hahn selbst den Vornamen Andreas führte. So wurde der Doppelname des Geschöpfes eine doppelte Kränkung des Nachbarhauses, und Alles schlug zu schrecklichem Unglück um, Tort und gute Meinung kochten zusammen zu einer dicken, schwarzen Suppe des Hasses.

Gleich in der Frühe, als Herr Hummel vor die Thür trat und trotzig wie Ajax die beiden Hunde mit ihren feindlichen Namen rief, vernahm Markthelfer Rothe im Kellerstock den Ruf, eilte in die Stube seines Hausherrn und meldete diese häßliche Kränkung. Frau Hahn versuchte, die Sache nicht zu glauben, und setzte durch, daß wenigstens eine Bestätigung abgewartet wurde. Aber diese Bestätigung blieb nicht aus. Denn am Nachmittag öffnete Gabriel die Thür des Zwingers und zwang die Geschöpfe, sich auf eine Viertelstunde dem Sonnenlicht des Gartens auszusetzen. Laura, welche unter ihren Blumen saß und gerade nach ihrem stillen Ideal, einem berühmten Sänger, blickte, der mit geölten schwarzen [138] Locken und einem Feldherrnblick vorüberschritt, verzichtete als wackeres Mädchen darauf, ihrem Liebling durch das Weinlaub nachzuspähen, und wendete sich zu den Hunden. Und um den Rothen an seinen neuen Namen zu gewöhnen, lockte sie ihn mit einem Stückchen Kuchen und rief ihm einigemal das ungeschickte Wort »Andres« zu. In demselben Augenblick stürzte Dorchen zu Frau Hahn: »Es ist richtig, jetzt ruft ihn gar Fräulein Laura mit dem Vornamen unseres Herrn.« Frau Hahn fuhr erschrocken an das Fenster und vernahm selbst den Namen ihres lieben Mannes. Sie trat ebenso schnell zurück, denn diese Unmenschlichkeit der Nachbarn preßte ihr Thränen aus, und sie suchte nach ihrem Taschentuch, um diese heimlich vor dem Mädchen abzuwischen. Madame Hahn war eine gute Frau, ruhig, gleichmäßig, mit einer hübschen kleinen Anlage zur Beleibtheit und einer unablässigen Neigung, den Staub der Erde mit weißen Läppchen geräuschlos zu beseitigen. Aber diese Herzlosigkeit auch der Tochter entflammte ihren Zorn. Sie holte augenblicklich ihre Mantille aus dem Schranke und ging zum Aeußersten entschlossen über die Straße in den feindlichen Garten.

Erstaunt sah Laura von den garstigen Hunden auf den unerhörten Besuch, welcher mit starken Schritten gegen sie eindrang.

»Ich komme, mich bei Ihnen zu beklagen, Fräulein,« begann Frau Hahn ohne Gruß. »Was in diesem Hause meinem Manne zum Hohn gethan wird, ist unerträglich. Für das Benehmen Ihres Vaters können Sie nicht, aber daß auch Sie sich auf solche Beschimpfungen einlassen, finde ich an einem jungen Mädchen doch zu schrecklich.«

»Was meinen Sie damit, Madame Hahn?« frug Laura mit flammendem Gesicht.

»Die Beleidigung eines Menschen durch Hundenamen meine ich. Sie rufen Ihren Hund mit allen Namen meines Mannes.«

[139] »Das habe ich niemals gethan,« versetzte Laura.

»Leugnen Sie nicht,« rief Frau Hahn.

»Ich spreche keine Unwahrheiten,« sagte das Mädchen stolz.

»Mein Mann heißt Andreas Hahn, und wie Sie dieses Thier nennen, das hört die ganze Nachbarschaft aus Ihrem Munde.«

Laura's Stolz bäumte auf. »Dies ist ein Mißverständniß, und der Hund heißt gar nicht so. Was Sie mir sagen, ist ungerecht vom Anfang bis zum Ende.«

»Wie so ungerecht?« frug Frau Hahn wieder, »am Morgen ruft der Vater, am Nachmittag die Tochter.«

Auf Laura's Herz sank eine Centnerlast, sie fühlte sich hinabgedrückt in einen Abgrund von Unrecht und Greuel. Die That des Vaters lähmte ihre Kraft, auch ihr brachen die Thränen aus den Augen.

»Ich sehe, daß Sie wenigstens nicht ohne Gefühl für das Unrecht sind, das Sie begehen,« fuhr Frau Hahn ruhiger fort, »thun Sie's nicht wieder. Glauben Sie mir, es ist leicht, Andere zu kränken, aber es ist ein trauriges Geschäft. Und mein armer Mann und ich haben's um Sie nicht verdient. Denn wir haben Sie aufwachsen sehen vor unsern Augen, und wenn wir auch sonst nicht mit Ihren Eltern in Verkehr stehen, wir haben uns immer über Sie gefreut und in unserm Hause ist Ihnen niemals etwas Böses gewünscht worden. Sie wissen nicht, was Hahn für ein guter Mann ist, aber so etwas durften Sie doch nicht thun. Wir haben, seit wir hier wohnen, aus diesem Hause viele Kränkung erfahren, aber daß auch Sie die Gesinnung Ihres Vaters theilen, das thut mir am allermeisten weh.«

Laura versuchte umsonst, ihre Thränen zu trocknen. »Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir Unrecht thun, weiter kann ich nichts zu meiner Rechtfertigung sagen, und ich will es auch nicht. Sie haben mich mehr gekränkt, als Sie wissen. Und ich muß darauf vertrauen, daß ich gegen Sie ein gutes Gewissen habe.«

[140] Mit diesen Worten eilte sie in das Haus, Frau Hahn kehrte unsicher über den Erfolg ihres Besuches dem feindlichen Bau den Rücken.

In ihrem Dachstübchen schritt Laura auf und ab und rang die Hände. Unschuldig und doch schuldvoll, trotz gutem Willen bis auf's Blut gekränkt, hineingezogen in einen Familienhaß, dessen Jammer noch gar nicht abzusehen war, so durchflog sie die Ereignisse der letzten Tage in empörter Seele. Endlich setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch, zog ihr Geheimbuch heraus und vertraute ihre Schmerzen diesem verschwiegenen Freunde in violettem Leder. Und sie suchte Trost bei den Seelen Anderer, die aus ähnlichem Weh sich edel erhoben hatten, und fand endlich eine Bestätigung ihrer Erlebnisse in der schönen Stelle des Dichters: »Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage, weh dir, daß du ein Enkel bist.« Denn hatte sie nicht Verständiges und Wohlthuendes gewollt, und war nicht Unsinn und Plage daraus geworden? Und hatte das Unglück nicht auch sie ohne ihr Verschulden getroffen, weil sie Kind vom Hause war? Mit diesem Satze schloß sie einen leidenschaftlichen Erguß. Um aber vor dem eigenen Gewissen nicht lieblos zu erscheinen, schrieb das arme Kind sogleich die Worte darunter: Mein lieber, guter Vater. Dann schob sie ein wenig getröstet das Buch zurück.

Doch als ärgste Demüthigung empfand sie, daß sie von den fremden Leuten drüben ungerecht beurtheilt wurde, und sie schlug die Arme übereinander und sann, ob ihr nicht dennoch eine Rechtfertigung möglich sei. Sie selbst konnte nichts thun. Aber da war ein ehrlicher Mann, der von Allen im Hause als Vertrauter gebraucht wurde, der ihren Kanarienvogel vom Pips geheilt hatte und die kleine Büste Schillers von einem Spinnenfleck auf der Nase. Sie beschloß, nur dem treuen Gabriel von den Reden der Frau Hahn zu erzählen, ohne Noth aber auch nicht der Mutter.

Es fügte sich, daß gegen Abend Gabriel und Dorchen [141] auf der Straße in ein kleines Gespräch kamen. Dorchen begann bittere Klage über die Bosheit der Hummeln, Gabriel aber mahnte herzlich: »Lassen Sie sich durch diesen Krieg nicht fortreißen. Es muß auch solche geben, welche neutral bleiben. Seien Sie ein Engel, Dorchen, welcher den Frieden und die Kränze in das Haus trägt. Nämlich die Tochter ist unschuldig.« Darauf wurde die Namengebung noch einmal durchgesprochen und Laura ehrenvoll gerechtfertigt. Als Gabriel später im Vorbeigehen sagte: »diese Sache ist in Ordnung, und Herr Hahn hat gesagt, ihm wäre gleich unwahrscheinlich gewesen, daß Sie es so übel mit ihm meinten« da fiel ihr zwar die schwerste Last vom Herzen, und wieder klang ihr leiser Gesang durch das Haus, aber ruhig wurde sie deshalb doch nicht. Denn immer noch blieb ihr Haus gegen die Nachbarn im Unrecht, die Menschen von jenseits wurden durch den Zorn des Vaters schwer gekränkt. Ach, dies gewaltige Gemüth konnte sie nicht bändigen, aber sie mußte versuchen, in der Stille sein Unrecht zu sühnen. Darüber grübelte sie noch am späten Abend beim Auskleiden. Und als sie bereits im Bette lag und Vieles gefunden und verworfen hatte, da kam ihr der rechte Einfall, und sie sprang noch einmal auf, zündete das Licht an und lief im Hemde nach dem Schreibtisch. Dort schüttelte sie ihr Beutelchen aus und überzählte die neuen Thaler, die ihr der Vater zu Weihnacht und am Geburtstage geschenkt hatte. Diese Thaler beschloß sie zu einer geheimen Abbitte zu verwenden. Vergnügt nahm sie den Perlenbeutel zu sich ins Bett, legte ihn unter das Kopfkissen und schlief darüber in Frieden ein, obgleich wieder die wilde Jagd der Gespensterhunde um das Haus tobte, greulich und unaufhörlich.

Am nächsten Morgen schrieb Laura mit großen steifen Buchstaben Name und Wohnung des Herrn Hahn auf einen Briefumschlag, siegelte diesen mit einem Veilchen, welches die Umschrift trug: »ich verberge mich,« und steckte die Adresse [142] in ihre Tasche. Als sie wegen eines Einkaufs nach der Stadt ging, machte sie auf eigene Gefahr einen Seitenweg zu einem Handelsgärtner, mit dem sie persönlich nicht bekannt war. Dort kaufte sie den dicken Busch einer Zwergorange voll von Blüthen und goldenen Früchten, ein Prachtstück des Glashauses, sie fuhr den Strauch mit pochendem Herzen in geschlossener Droschke, bis sie einen Lohnträger fand, und empfahl mit einer außerordentlichen Vergütigung dem Träger, Strauch und Brief ohne Gruß und Wort im Hause des Herrn Hahn niederzusetzen.

Redlich führte der Mann den Auftrag aus. Dorchen entdeckte den Stock im Hausflur und in der Familie Hahn begann eine kleine, sehr behagliche Aufregung, fruchtloses Sinnen, wiederholte Besichtigung, eitles Vermuthen. Als Laura am Mittag durch das Weinlaub in den Garten hinüberspähte, hatte sie die Freude, den Orangenstrauch auf einem ausgezeichneten Platz vor der weißen Muse zu erblicken. Allerliebst leuchtete der Busch in Weiß und Gold über die Straße. Und Laura stand lange hinter den Ranken und faltete unwillkürlich die Hände. Das Unrecht war von ihrer Seele genommen. Dann wandte sie sich in gehobener Stimmung ab von dem feindlichen Hause.

Unterdeß hing eine Polizeibeschwerde und eine gerichtliche Klage zwischen den beiden Häusern. Die letztere wurde durch Einfügung des Namens Speihahn noch an demselben Tage gefährlich verschärft.

Und der Frieden im Hause und in der Nachbarschaft blieb gestört. Zuerst hatte das Glockenspiel die allgemeine Meinung gegen Herrn Hahn aufgeregt, aber durch die Hunde wurde die Stimmung gründlich geändert, die ganze Straße zog sich nach dem Stroh hinüber, der Filz hatte alle Welt gegen sich. Herrn Hummel kümmerte das wenig. Des Abends saß er im Garten auf dem umgestürzten Kahn und sah stolz auf das Nachbarhaus, während Bräuhahn und das Andere zu [143] seinen Füßen lagen und nach dem Mond blinzten, der in seiner gewohnten Weise boshaft herniederblickte auf Hummel, auf Hahn, auf die übrige Welt.

Es geschah aber, daß in einer der nächsten Nächte unter Hundegebell und Mondschein am chinesischen Bau des Herrn Hahn alle Glocken abgerissen und gestohlen wurden.

8. Noch einmal Tacitus
8.
Noch einmal Tacitus.

Unser Volk weiß, daß alle verlorenen Dinge unter den Krallen des Bösen liegen. Wer etwas sucht, der hat zu rufen: »Teufel, nimm die Pratze weg.« Dann liegt's plötzlich da vor den Augen der Menschen, es war so leicht zu finden, man ist hundertmal herumgegangen, man hat darüber und darunter gesehen, das Unwahrscheinlichste hat man durchsucht und an das Nächste nicht gedacht. Zuverlässig war es mit der Handschrift nicht anders, sie lag unter der Tatze des Bösen oder eines Kobolds ganz in der Nähe der Freunde; wenn man die Hand ausstreckte, war sie zu fassen; der Erwerb wurde nur noch durch ein Bedenken aufgehalten, durch die Frage: wo? Ob diese Verzögerung für beide Gelehrte die große oder kleine Frage peinlicher Tortur werden sollte, das allein war noch zweifelhaft. Indeß auch über diese Unsicherheit konnte man hinwegkommen; die Hauptsache war, daß die Handschrift selbst wirklich und vorhanden dalag. Und kurz, die Sache stand im Ganzen so gut als irgend möglich, es fehlte nur noch eben die Handschrift.

»Ich sehe,« sagte der Doctor dem Freunde, »du bist angestrengt beflissen, die Erwachsenen zu bilden, ich senke den Codex in die Seelen der nächsten Generation. Hans der älteste ist weit entfernt, die Auffassung des Vaters und der Schwester [144] zu theilen, er zeigt Gemüth für den alten Schatz. Und wenn uns selbst nicht gelingt, die Entdeckung zu machen, er wird einmal die Hausmauer nicht schonen.«

Im Einvernehmen mit Hans nahm der Doctor ganz in der Stille seine Nachforschungen wieder auf. In ruhigen Stunden, wo der Landwirth arglos bei seiner Ernte umherritt und der Professor im Zimmer arbeitete oder in der Gaisblattlaube saß, strich der Doctor spionirend im Innern des Hauses. In dem Kittel eines Arbeiters, den Hans auf sein Zimmer gebracht hatte, durchforschte er die staubigen Höhen und Tiefen des Raumes. Und mehr als einmal erschreckte er die dienenden Frauen der Wirthschaft, wenn er plötzlich hinter einer alten Tonne des Kellers auftauchte, oder wenn er rittlings auf einem Balken des Dachstuhls dahinfuhr. Bei dem Milchkeller war für Anbau einer Eisgrube ein Loch gegraben, die Arbeiter hatten sich in der Mittagstunde entfernt und die Mamsell ging arglos in der Nähe der bloßgelegten Mauer vorüber. Da erblickte sie plötzlich einen Kopf ohne Leib, mit feurigen Augen und gesträubtem Haar, welcher langsam auf dem Erdboden dahinwandelte und hohnlachend das Gesicht auf sie zukehrte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte in die Küche, wo sie auf einem Schemel in Ohnmacht sank und erst durch vieles Zureden und Begießen mit Wasser zum Leben erweckt wurde. Beim Mittagessen war sie so verstört, daß sie jedermann auffiel, und da ergab sich endlich, daß der teuflische Kopf auf den Schultern ihres Tischnachbars saß, der heimlich in das Loch gestiegen war, um das Mauerwerk zu untersuchen.

Bei dieser Gelegenheit entdeckte der Doctor mit einiger Schadenfreude, daß das gastliche Dach, welches ihn und den Codex vor Regen schützte, über einem anerkannten Gespensterhause stand. Es spukte heftig in dem alten Bau, Geister wurden häufig gesehen und die Berichte gingen nur darin auseinander, ob es ein Mann in grauer Kutte, ein Kind in weißem Hemdchen oder ein Kater von der Größe eines Esels sei. Jedermann [145] wußte, daß ab und zu ein unerklärliches Klopfen, Rasseln, Donnern und unsichtbares Steinwerfen stattfand, zuweilen war das ganze Ansehen des Landwirths und seiner Tochter nöthig, um den Ausbruch eines panischen Schreckens unter den Dienstboten zu verhindern. Auch die Freunde hörten in stiller Nacht unberechtigte Töne, Geächz, Gepolter und herausforderndes Geklopf an den Wänden. Diese Unarten des Hauses erklärte der Doctor zur Zufriedenheit des Landwirths aus seiner Theorie der alten Mauern. Er erläuterte, daß viele Geschlechter von Wieseln, Ratten und Mäusen den dicken Steinbau canalisirt und ein System von bedeckten Gängen und Burgen angelegt hatten. Deshalb wurde jedes gesellige Vergnügen und jede Zänkerei, welcher sich die Insassen der Mauer ergaben, durch dumpfes Getöse bemerkbar. Aber in der Stille horchte der Doctor doch ärgerlich auf das geheime Rumoren seiner Wandnachbarn. Denn wenn diese so aufgeregt um den Codex herumtobten, drohten sie die spätere Arbeit der Wissenschaft sehr zu erschweren. Sooft er heftig knabbern hörte, mußte er denken, sie fressen wieder eine Zeile weg, jedenfalls wird eine Menge Conjecturen nöthig werden. Und es war nicht das Nagen allein, wodurch dies Mausevolk den Codex, der unter ihnen lag, verunzierte.

Aber für die große Geduld, welche in dieser Angelegenheit nöthig war, wurde der Doctor durch andere Entdeckungen entschädigt. Er beschränkte sich nicht auf Haus und Hof, sondern durchsuchte auch die Umgegend nach alten Volkserinnerungen, welche noch hie und da am Rocken der Spinnstuben hingen und sich um den Kochtopf alter Mütterchen kräuselten. Gleich am zweiten Tage machte er durch geheime Vermittelung der Taglöhnerfrau die Bekanntschaft einer Märchenerzählerin im nächsten Dorfe. Nachdem die liebe alte Frau den ersten Schreck vor dem Titel des Doctors und die Furcht überwunden hatte, er wolle ihr wegen unbefugter ärztlicher Praxis zu Leibe gehen, sang sie ihm mit zitternder Stimme die Liebeslieder ihrer Jugend [146] und erzählte mehr, als der Hörer nachzuschreiben vermochte. Jeden Abend brachte der Doctor beschriebene Blätter nach Hause, sehr bald fand er in seiner Sammlung alle bekannten Charaktere unserer Volkssagen, einen wilden Jäger, einige Frau Hollen, drei weiße Fräulein, mehre Mönche, einen undeutlichen Nix, der in der Geschichte zwar als Handwerksbursche auftrat, aber ganz unleugbar ursprünglich ein Wassermann gewesen war, und zuletzt viele kleine Zwerge. Zuweilen begleitete ihn auf diesen Ausflügen Hans, der älteste, der den Doctor bei den Landleuten einführte und sich hütete, dem Vater und der Schwester über diese Jagdzüge eine Mittheilung zu gönnen. Nun ist allerdings möglich, daß hier und da ein Erdloch oder ein Brunnen im Felde ohne Berechtigung mit einem Geiste versehen wurde. Denn als die weisen Frauen des Dorfes merkten, wie sehr der Doctor sich über solche Mitteilungen freute, wurde in ihnen die uralte Erfindungskraft des Volkes aus langem Schlummer geweckt, und es kam ihnen so vor, als ob noch hie und da etwas von dem Geistervolk stecken müsse. Im Ganzen aber bewiesen beide Theile einander deutsche Treue und Gewissenhaftigkeit, und zuletzt war der Doctor auch kein Mann, den man leicht hintergehen konnte.

Als er einst von solchem Besuche nach dem Schloß zurückkehrte, begegnete er auf einsamem Fußpfad der Taglöhnerfrau. Sie sah sich vorsichtig um und gestand ihm endlich, wenn er sie nicht dem Gutsherrn verrathen wolle, so könne sie ihm wohl etwas mittheilen. Der Doctor gelobte unverbrüchliche Verschwiegenheit. Darauf erzählte die Frau, im Keller des Schlosses, auf der Seite gegen Morgen in der rechten Ecke sei ein Stein mit drei Kreuzen bezeichnet. Dahinter liege der Schatz. Das habe sie von ihrem Großvater gehört, und der habe es von seinem Vater, und dieser sei im Schloß in Diensten gewesen, und zu dessen Zeit hätte der damalige Oberamtmann den Schatz heben wollen; als sie aber deshalb in den Keller gingen, habe es einen fürchterlichen Knall und ein solches [147] Getöse gegeben, daß sie entsetzt zurückgelaufen seien. Das aber mit dem Schatz sei sicher, denn sie habe den Stein selbst angefühlt, die Zeichen seien deutlich eingegraben. Jetzt sei der Weinkeller dort, der Stein durch ein Holzgestell verdeckt.

Der Doctor nahm diese Mittheilung mit Ruhe auf, beschloß aber, ganz für sich Nachforschungen anzustellen. Er sagte weder dem Professor noch seinem Hans ein Wort, lauerte aber auf eine Gelegenheit. Seine Vertraute trug den Wein, welcher unabänderlich vor dem Platz der Gäste stand, zuweilen selbst aus dem Keller und wieder zurück. Am nächsten Morgen folgte er ihr kühnlich, die Frau sprach kein Wort als er hinter ihr in den Verschlag trat, sondern wies scheu in eine Ecke der Wand. Der Doctor ergriff die Lampe, hob ein Dutzend Flaschen von ihrer Stelle und tastete an dem Gestein; es war ein großer behauener Stein mit drei Kreuzen. Er sah die Frau bedeutungsvoll an, – sie hat später im engsten Vertrauen erzählt, die gläsernen Schilde vor seinen Augen hätten in diesem Augenblick so schrecklich gegen die Lampe geleuchtet, daß ihr ganz angst geworden sei, – er aber ging schweigend herauf, entschlossen, die Entdeckung bei erster Gelegenheit gegen den Landwirth zu benutzen.

Doch die größte Ueberraschung stand dem Doctor noch bevor, seine stille Arbeit wurde durch den seligen Frater Tobias selbst unterstützt, ja durch das Lebensende dieses frommen Märtyrers gleichsam geweiht. Die Freunde stiegen nämlich nach Rossau hinab, von dem Landwirth, den ein Geschäft zur Stadt führte, begleitet. Der Landwirth führte die Freunde zum Bürgermeister und ersuchte diesen, den Herren, als zuverlässigen Männern, vorzulegen, was etwa in dem städtischen Bereich von alten Schriften vorhanden sei. Der Bürgermeister, ein ehrlicher Gerber, fuhr in seinen Rock und brachte die Gelehrten zunächst vor das alte Klostergebäude. Es war nicht viel daran zu sehen, ein neues Dach, innerer Umbau, nur die Mauern standen noch, kleine Beamte des Landesherrn wohnten in den Zellen. Ueber [148] das Rathsarchiv stellte der Bürgermeister die Muthmaßung auf, daß wohl nicht viel darin sein werde, er empfahl die Herren in dieser Angelegenheit dem Stadtschreiber und ging selbst nach dem Schießhause, um sich nach schwerem Regierungsact eine Partie Solo anzuthun. Der Stadtschreiber neigte sich respectvoll vor seinen Collegen von der Feder, ergriff ein rostiges Schlüsselbund und öffnete das kleine Gewölbe des Rathhauses, wo alte Acten in dicker Staubhülle die Zeit erwarteten, in welcher ihr Stillleben unter dem Stampfer einer Papiermühle enden würde. Die Stadtschreiberei wußte ein wenig unter den alten Papieren Bescheid, begriff auch vollständig die Wichtigkeit der Mittheilungen, welche von ihr erwartet wurden, versicherte aber der Wahrheit gemäß, daß durch zwei Stadtbrände sowie durch Unordnung in früherer Zeit jede alte Nachricht verloren sei. Man kannte auch keinerlei Aufzeichnung in einem Privathause, nur in der gedruckten Chronik einer Nachbarstadt waren einige Notizen über das Schicksal Rossaus im dreißigjährigen Kriege erhalten. Darnach war der Ort durch einige Jahre ein Trümmerhauf und fast unbewohnt gewesen. Im Uebrigen lebte das Städtchen geschichtslos fort, und der Stadtschreiber betheuerte, man wisse hier nichts von der alten Zeit und kümmere sich gar nicht darum. Vielleicht sei in der Residenz etwas über die Stadt zu erfahren.

Die Freunde schritten unermüdlich von einem klugen Mann zum andern und frugen wie im Märchen nach dem Vogel mit goldenen Federn. Zwei Erdmännchen hatten nichts gewußt, jetzt blieb noch das dritte. Sie ließen sich also zu dem katholischen Pfarrer führen. Ein kleiner alter Herr empfing sie mit tiefen Bücklingen, der Professor setzte ihm auseinander, daß er über die letzten Schicksale des Klosters Auskunft suche, vor Allem, was aus einem der letzten Mönche, dem ehrwürdigen Bruder Tobias Bachhuber, in seinen Jahren geworden sei.

»Aus so entlegener Zeit werden keine Totenscheine verlangt,« versetzte der Geistliche, »ich kann den hochverehrten Herren [149] deshalb kenerlei Bescheid versprechen. Dennoch, wenn es Ihnen nur darum zu thun und Sie nichts der Kirche Nachtheiliges aus alten Schriften eruiren wollen, bin ich gewillt, denselben das älteste der vorhandenen Bücher zu präsentiren.« Er ging in eine Kammer und brachte ein langes schmales Buch hervor, dem der Moder des feuchten Raumes die Ränder beschädigt hatte. »Anhier sind einige Notata meiner im Herrn ruhenden Vorgänger, vielleicht daß den verehrten Herren dieses dienen kann. Weiteres bin ich nicht im Stande, weil Aehnliches nicht mehr vorhanden.«

Auf dem Vorsetzblatt stand ein Verzeichniß geistlicher Würdenträger des Ortes in lateinischer Sprache. Eine der ersten Notizen war: »Im Jahre des Herrn 1637 im Monat Mai ist der verehrungswürdige Bruder Tobias Bachhuber, der letzte Mönch hiesigen Klosters, an der Seuche der Pestilenz gestorben. Der Herr sei ihm gnädig.« Der Professor wies dem Freunde schweigend die Stelle, der Doctor schrieb die lateinischen Worte ab, sie gaben dankend das Buch zurück und empfahlen sich.

»Und die Handschrift liegt doch in dem Hause,« rief der Professor auf der Straße. Der Doctor dachte an die drei Kreuze und lächelte vor sich hin. Er war keineswegs mit den taktischen Maßregeln einverstanden, welche er seinen Freund zur Rettung des Codex ausführen sah. Wenn der Professor behauptete, daß ihre einzige Hoffnung auf dem Antheil beruhe, den sie nach und nach dem Hausherrn beibringen könnten; so hegte der Doctor den Verdacht, daß sein Freund zu dieser langsamen Kriegführung nicht durch reinen Eifer für die Handschrift gebracht werde.

Der Landwirth aber beobachtete über die Handschrift ein hartnäckiges Schweigen; warf der Doctor einmal eine Anspielung hin, so verzog der Wirth spöttisch das Gesicht und lenkte das Gespräch sogleich auf etwas Anderes. Das durfte so nicht bleiben. Der Doctor beschloß, jetzt, wo seine Abreise bevorstand, eine Entscheidung zu erzwingen. Als die Männer [150] am Abend im Garten zusammen saßen und der Landwirth in heiterer Ruhe auf seine Obstbäume sah, begann der Doctor den Angriff. »Ich gehe nicht von hier, mein Gastfreund, ohne Sie an unsern Contract erinnert zu haben.«

»An welchen Contract?« frug der Landwirth wie ein Mann, der sich an nichts erinnert.

»Wegen der Handschrift,« fuhr der Doctor entschlossen fort, »die bei Ihnen verborgen liegt.«

»So? Sie sagten ja selbst, es sei Alles hohl. Da wird uns nichts übrigbleiben, als das Haus vom Dach bis zum Keller nieder zu reißen; ich dächte, damit warteten wir bis zum nächsten Frühjahr, wo Sie wieder zu uns kommen sollen. Denn wir müßten in diesem Falle doch in den Scheunen wohnen, und die sind jetzt voll.«

»Das Haus mag vorläufig stehen bleiben,« sagte der Doctor, »wenn Sie aber immer noch meinen, daß die Mönche ihr Klostergut wieder herausgeholt haben, so steht dieser Ansicht ein Umstand entgegen. Wir haben in Rossau ermittelt, daß der wackere Bruder, der im April die Sachen hier versteckt hatte, schon im Mai an der Pestilenz gestorben ist. Laut Angabe des Kirchenbuches; hier ist die Stelle.«

Der Landwirth sah in die Brieftafel des Doctors, klappte sie wieder zu und sagte: »Dann haben seine Herren Mitbrüder das Eigenthum herausgeholt.«

»Das ist kaum möglich,« versetzte der Doctor, »denn er war der letzte seines Klosters.«

»Dann also haben's andere Stadtleute geholt.«

»Aber die Einwohner der Stadt haben sich damals verlaufen, der Ort lag Jahre lang verwüstet, menschenleer, in Trümmern.«

»Hm,« begann der Landwirth in guter Laune, »die Herren Gelehrten sind strenge Mahner und wissen auf ihrem Recht zu bestehen. Sagen Sie also geradeheraus, was wollen Sie von mir? Sie müßten mir doch vor allem eine einzelne Stelle [151] angeben können, die nicht nur Ihnen verdächtig ist, sondern die auch nach gemeinem Urtheil etwas zu verschließen scheint, und das sind Sie zuverlässig nicht im Stande.«

»Ich weiß eine solche Stelle,« erwiederte der Doctor dreist, »und ich stelle Ihnen gegenüber die Vermuthung auf, daß der Schatz dort liegt.«

Der Professor und der Landwirth sahen erstaunt auf ihn. »Folgen Sie mir in den Keller,« rief der Doctor.

Ein Licht wurde angezündet, der Doctor führte zu dem Verschlage, in welchem der Wein lag. »Wie kommst du zu der siegesfrohen Zuversicht?« frug ihn der Professor leise auf dem Wege.

»Ich argwöhne, daß du deine Geheimnisse hast,« versetzte der Doctor, »laß mir die meinen.« Geschäftig räumte er die Flaschen aus einer Ecke, leuchtete an den Stein und schlug mit einem großen Schlüssel an die Mauer, »die Stelle ist hohl und der Stein bezeichnet.«

»Es ist richtig,« sagte der Landwirth, »dahinter ist ein leerer Raum; und er ist jedenfalls nicht klein. Aber der Stein ist einer von den Grundsteinen des Hauses, und nirgend ist sichtbar, daß er einmal aus seiner Lage gerückt wurde.«

»Nach so langer Zeit würde man das schwerlich erkennen,« warf ihm der Doctor entgegen.

Der Landwirth untersuchte selbst die Mauer. »Eine große Platte liegt darüber, es ist vielleicht möglich, den bezeichneten Stein von der Stelle zu heben.« Er überlegte eine Weile und fuhr endlich fort: »Ich sehe, ich muß Ihnen einen Preis zahlen. Ich will damit die erste Stunde unserer Bekanntschaft ausgleichen, die mir immer noch auf der Seele liegt. Und da wir drei hier wie Verschwörer im Keller stehen, so wollen wir uns auf das frühere Abkommen verpflichten. Ich will einmal thun, was ich für sehr unnöthig halte. Dafür werden Sie, wenn Sie jemals über die Sache sprechen oder schreiben, auch mir das Zeugniß nicht versagen, daß ich allen billigen Wünschen nachgegeben habe.«

[152] »Wir werden sehn, was sich thun läßt,« versetzte der Doctor.

»Wohlan, in einem Steinbruch an meiner Grenze sind fremde Arbeiter beschäftigt, sie sollen versuchen, den Stein auszulösen und wieder in seine Lage zu bringen. Damit wird, wie ich hoffe, diese Sache für immer abgemacht. – Ilse, laß morgen in der Frühe das Holzgestell im Weinkeller ausräumen.«

Am nächsten Tag kamen die Steinarbeiter, mit ihnen stiegen die drei Herren und Ilse in den Keller und sahen neugierig zu, wie Spitzhacke und Brecheisen ihre Gewalt an dem vierkantigen Stein versuchten. Er war auf den Fels gesetzt und tüchtige Anstrengung war nöthig, ihn zu lösen. Aber auch die Leute erklärten, daß dahinter eine große Höhlung sei, und arbeiteten mit einem Eifer, der durch den Ruf des gespenstigen Hauses sehr gesteigert wurde. Endlich wich der Stein, eine dunkle Oeffnung bot sich den Augen, die Zuschauer traten näher, die beiden Gelehrten in lebhafter Spannung, auch der Landwirth und seine Tochter voll Erwartung. Der Steinbrecher faßte schnell das Licht und hielt es vor die Oeffnung, ein feiner Dunst zog heraus, erschreckt fuhr der Mann mit dem Lichte zurück. »Da drin liegt etwas Weißes,« rief er zwischen Angst und Hoffnung. Ilse sah auf den Professor, der mit Mühe die Erregung beherrschte, welche in seinem Antlitze arbeitete. Er griff nach dem Licht, da wehrte sie ihm und rief ängstlich: »Nicht Sie.« Sie eilte zu der Oeffnung und fuhr mit der Hand in den hohlen Raum. Sie faßte Greifbares, man hörte ein Rasseln, sie zog schnell die Hand zurück, aber auch sie warf, was sie festgehalten, erschreckt auf den Boden: es war ein Stück Gebein.

»Das ist eine ernste Antwort auf Ihre Frage,« rief der Landwirth, »wir zahlen einen theuren Preis für den Scherz.« Er nahm das Licht und suchte jetzt selbst in der Oeffnung, ein Haufen zusammengefallener Knochen lag darin. Die Andern standen in unbehaglichem Schweigen herum. Endlich [153] warf der Landwirth einen Schädel in den Keller und rief sich erhebend als ein Mann, der von peinlichem Gefühl befreit wurde: »Es ist das Gebein eines Hundes!«

»Es war ein kleiner Hund,« bestätigte der Steinhauer und schlug mit dem Eisen an einen Knochen, das morsche Gebein brach in Stücke.

»Ein Hund!« rief der Doctor erfreut und vergaß für einen Augenblick seine getäuschte Hoffnung. »Das ist lehrreich. Die Grundmauer dieses Hauses muß sehr alt sein.«

»Es freut mich, daß Sie auch mit diesem Fund zufrieden sind,« versetzte der Landwirth ironisch.

Der Doctor aber ließ sich nicht stören und erzählte, wie im frühen Mittelalter ein abergläubischer Brauch gewesen sei, in die Grundmauer fester Gebäude etwas Lebendes einzuschließen. Die Gewohnheit stamme aus uralter Heidenzeit. Die Fälle seien selten genug, wo man dergleichen in alten Bauten gefunden, und das Gerippe des Thieres sei eine schöne Bestätigung.

»Wenn es Ihre Ansicht bestätigt,« sagte der Landwirth, »meine bestätigt es auch. Eilt, ihr Leute, den Stein wieder fest zu machen.«

Jetzt leuchtete und fühlte auch der Steinhauer in die Oeffnung und erklärte, daß nichts mehr darin sei. Die Arbeiter rückten den Stein an seine Stelle, der Wein wurde eingeräumt und die Sache war abgethan. Der Doctor aber trug die spöttischen Bemerkungen, welche der Landwirth nicht sparte, mit großer Ruhe und sagte ihm: »Was wir erreicht haben, ist allerdings nicht viel, aber wir wissen doch jetzt mit Sicherheit, daß die Handschrift nicht an dieser Stelle Ihres Hauses liegt, sondern an einer andern. Ich nehme ein sorgfältiges Verzeichniß aller hohlen Stellen mit, und wir begeben uns unserer Ansprüche an Ihr Haus wegen dieses Fundes durchaus nicht, sondern wir betrachten Sie von jetzt ab als einen Mann, der den Codex zu seinem Privatgebrauch auf [154] unbestimmte Zeit geliehen hat, und ich versichere Sie, Wunsch und Sorge werden uns unaufhörlich um dieses Haus schweben.«

»Lassen Sie den Menschen, die darin wohnen, auch etwas von den guten Wünschen zu Theil werden,« sagte lachend der Landwirth, »und vergessen Sie nicht, daß Sie bei Ihrem Suchen nach der Handschrift in Wahrheit auf den Hund gekommen sind. Ich hoffe übrigens, daß diese Entdeckung mein armes Haus von dem üblen Rufe befreien wird, Schätze zu enthalten. Und um diesen Gewinn will ich mir die unnöthige Arbeit recht gern gefallen lassen.«

»Das ist der größte Irrthum Ihres Lebens,« erwiederte der Doctor überlegen, »gerade das Entgegengesetzte wird stattfinden. Unsere Entdeckung wird von allen Leuten, welche ein Gemüth für Schätze haben, so verstanden werden, daß Ihnen nur der Glaube fehlte, und daß Sie nicht die nöthige Feierlichkeit anwandten; deshalb ist der Schatz Ihren Augen entrückt und zur Strafe der Hund beigesetzt worden. Ich weiß besser, wie Ihre Nachbarn dergleichen der Nachwelt überliefern. Harre in Frieden deiner Entdeckung, Tacitus, dein beharrlichster Freund scheidet, denn er, den ich dir zurücklasse, fängt an, der Gleichgültigkeit dieses Hauses unbillige Zugeständnisse zu machen.«

Er sah ernsthaft auf den Professor hinüber und rief seinen Begleiter Hans zu einem letzten Besuche im Dorfe, um dort noch von seinen weisen Frauen dankbaren Abschied zu nehmen und ein schönes Volkslied einzuheimsen, dem er auf die Spur gekommen war.

Er blieb lange aus, denn nach dem Liede kam unvermuthet noch eine wundervolle Geschichte zum Vorschein von einem Herrn Dietrich und seinem Pferd, welches Feuer schnaubte.

Als der Professor gegen Abend nach ihm aussah, traf er auf Ilse, welche, ihren Strohhut in der Hand, zu einem Gang ins Freie gerüstet war. »Ist Ihnen recht,« sagte sie, »so gehen wir Ihrem Freunde entgegen.« Sie schritten einen Rain entlang, [155] zwischen abgeräumten Feldern, auf denen hier und da wildes Grün aus den Stoppeln herauftrieb.

»Der Herbst naht,« bemerkte der Professor, »das ist die erste Mahnung.«

»Wir in der Wirtschaft,« erwiederte Ilse, »sind wie Till Eulenspiegel gutes Muths, so oft wir im Winter durchmachen, was Andern lästig scheint. Wir denken dann auf das nächste Frühjahr, und wir freuen uns der Ruhe. Wenn die Windsbraut dahinfährt und den Schnee mannshoch in die Thäler weht, wir sitzen im Warmen.«

»Uns in der Stadt aber vergeht der Winter, fast ohne daß wir ihn merken. Nur die kurzen Tage, die weißen Dächer erinnern daran, unsere Arbeit aber verläuft unabhängig vom Wechsel der Jahreszeiten. Und doch hat mich der Blätterfall seit meiner Kindheit betrübt, und im Frühjahr habe ich immer Lust, die Bücher bei Seite zu werfen und durch das Land zu laufen, wie ein Handwerksgesell.«

Sie standen an einem Garbenhaufen. Ilse bog einige Aehrenbündel zum Sitz zurecht und sah über die Felder nach den fernen Bergen.

»So ist's mit uns gerade umgekehrt und anders, als man denken sollte,« begann sie nach einer Weile, »wir sind hier wie die Vögel, die Jahr aus, Jahr ein lustig mit den Flügeln schlagen, Sie aber denken und sorgen um andere Zeiten und andere Menschen, die lange vor uns waren; Ihnen ist das Fremde so vertraut, wie uns der Aufgang der Sonne und die Sternbilder. Und wie Ihnen wehmüthig ist, daß der Sommer endet, ebenso wird es mir schmerzlich, wenn ich einmal von vergangener Zeit höre und lese, und am traurigsten machen mich die Geschichtsbücher. So viel Unglück auf Erden, und gerade die Guten nehmen so oft ein Ende mit Leid. Ich werde dann vermessen und frage, warum hat der liebe Gott das so gewollt? Und es ist wohl recht thöricht, wenn ich das sage, ich lese deshalb nicht gern in der Geschichte.«

[156] »Diese Stimmung begreife ich,« erwiederte der Professor. »Denn wo die Menschen ihren Willen durchzusetzen streben gegen ihr Volk und gegen ihre Zeit, werden sie am Ende fast immer als die Schwächeren widerlegt; auch was der Stärkste etwa siegreich durchsetzt, hat keinen ewigen Bestand. Und wie die Menschen und ihre Werke, vergehen auch die Völker. Aber wir sollen nicht an die Schicksale eines einzelnen Mannes oder Volkes unser Herz hängen, sondern wir sollen verstehen, wodurch sie groß wurden und untergingen, und welches der bleibende Gewinn war, welcher dem Menschengeschlecht durch ihr Leben erhalten wurde. Dann wird der Bericht über ihre Schicksale nur wie eine Hülle, hinter welcher wir die Thätigkeit anderer lebendiger Kräfte erkennen. Denn wir errathen, daß in den Menschen, welche zerbrechen, und in den Völkern, welche zerrinnen, noch ein höheres geheimes Leben waltet, welches nach ewigen Gesetzen schaffend und zerstörend dauert. Und einige Gesetze dieses höhern Lebens zu erkennen und den Segen zu empfinden, welchen dies Schaffen und Zerstören in unser Dasein gebracht hat, das ist Aufgabe und Stolz des Geschichtsforschers. Von diesem Standpunkt verwandelt sich Auflösung und Verderben in neues Leben. Und wer sich gewöhnt, die Vergangenheit so zu betrachten, dem vermehrt sie die Sicherheit, und sie erhebt ihm das Herz.«

Ilse schüttelte das Haupt und sah vor sich nieder. »Der römische Mann, dessen verlorenes Buch Sie zu uns geführt hat, und von dem heut wieder die Rede war, ist er Ihnen deshalb lieb, weil er die Welt ebenso freudig angesehen hat wie Sie?«

»Nein,« versetzte der Professor, »gerade das Gegentheil macht uns seine Arbeit beweglich. Sein ernster Geist wurde niemals durch fröhliche Zuversicht gehoben. Das Schicksal seines Volkes, die Zukunft der Menschen liegt ihm als ein unheimliches Räthsel schwer auf der Seele, in der Vergangenheit erblickt er eine bessere Zeit, freieres Regieren, stärkere [157] Charaktere, reinere Sitten, er erkennt an seinem Volke und im Staat einen Verfall, der selbst durch gute Regenten nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist ergreifend, wie der besonnene Mann zweifelt, ob dies furchtbare Schicksal von Millionen eine Strafe der Gottheit ist, oder die Folge davon, daß kein Gott sich um das Loos der Sterblichen kümmert. Ahnungsvoll und ironisch betrachtet er die Geschicke der Einzelnen, die beste Weisheit ist ihm, das Unvermeidliche schweigend und duldend ertragen. Daß er in eine trostlose Oede starrt, erkennt man auch dann, wenn ihm einmal ein kurzes Lächeln die Lippen bewegt; man meint zu sehen, daß um sein Auge doch die Furcht hängt und der starre Ausdruck, welcher dem Menschen bleibt, den einmal tötliches Grauen geschüttelt.«

»Das ist traurig,« rief Ilse.

»Ja, es ist fürchterlich. Und wir begreifen schwer, wie man bei solcher Trostlosigkeit das Leben ertrug. Die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben, hatte damals nicht der Heide, nicht der Christ. Denn das ist doch das höchste und unzerstörbare Glück des Menschen, wenn er vertrauend auf das Werdende, mit Hoffnung auf das Zukünftige blicken kann. Und so leben wir. Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen. Und wir wissen wohl, die frohe Empfindung dieses Besitzes kann auch uns einmal getrübt werden, denn jeder Nation kommen zeitweise Störungen ihrer Entwicklung, aber das Gedeihen ist nicht zu ertöten und nicht auf die Dauer zurückzuhalten, [158] solange diese letzten Bürgschaften der Kraft und Gesundheit vorhanden sind. Deshalb ist jetzt auch glücklich, wer den Beruf hat, längst Vergangenes zu durchsuchen, denn er blickt von der gesunden Luft der Höhe hinab in die dunkle Tiefe.«

Ilse sah hingerissen in das Antlitz des Mannes; er aber bog sich über die Garbe, welche zwischen ihm und ihr lehnte, und fuhr begeistert fort: »Jeder von uns holt aus dem Kreise seiner persönlichen Erfahrungen Urtheil und Stimmung, welche er bei Betrachtung großer Weltverhältnisse verwendet. Blicken Sie um sich her auf die lachende Sommerlandschaft, dort in der Ferne auf die thätigen Menschen, und was Ihrem Herzen näher liegt, auf Ihr eigenes Haus und den Kreis, in dem Sie aufgewachsen sind. So mild das Licht, so warm das Herz, verständig, gut und treu der Sinn der Menschen, die Sie umgeben. Und denken Sie, welchen Werth auch für mich hat, das zu sehen und an Ihrer Seite zu genießen. Und wenn ich über meinen Büchern recht innig empfinde, wie wacker und tüchtig das Leben meines Volkes ist, welches mich umgibt, so werde ich fortan auch Ihnen zu danken haben.« Er streckte seine Hand aus über die Garben, Ilse faßte sie, hielt sie mit beiden Händen fest, und eine warme Thräne fiel darauf. So sah sie mit feuchten Augen zu ihm hin, eine ganze Welt von Seligkeit lag in ihrem Antlitz. Allmählich ergoß sich ein helles Roth über ihre Wangen, sie stand auf, noch ein Blick voll hingebender Zärtlichkeit fiel auf ihn, dann schritt sie flüchtig von ihm abwärts, den Rain entlang.

Der Professor blieb stehen, an die Garben gelehnt. Auf der Spitze der Aehre über seinem Haupte zwitscherte fröhlich die Haidelerche, er drückte seine Wange an die Getreidebüschel, welche ihn halb verbargen. So sah er in seliger Vergessenheit dem Mädchen nach, das zu den fernen Arbeitern hinabstieg.

Als er die Augen erhob, stand ihm der Freund zur Seite, er schaute ein Antlitz, in welchem inniges Mitgefühl zuckte, und hörte die leise Frage: »Und was soll werden?«

[159] »Mann und Weib,« sprach der Professor stark, drückte dem Freunde die Hand und schritt über das Feld dem Ruf der Lerche nach, welche auf jeder Garbenspitze anhielt, ihn zu erwarten.

Fritz war allein. Das Wort war gesprochen, ein neues ungeheures Schicksal erhob sich über das Leben des Freundes. Also dies sollte das Ende sein? Thusnelda statt des Tacitus? – Ach, die sociale Erfindung der Ehe war sehr ehrwürdig, das empfand Fritz tief, es war fast allen Menschen unvermeidlich, die aufwühlenden Kämpfe durchzumachen, welche eine Veränderung der gesammten Lebensordnung zur Folge haben. Aber den Freund konnte er sich gar nicht denken unter den Büchern, mit den Collegen, und dazu diese Frau! Schmerzlich fühlte er, daß auch sein Verhältniß zu dem Gelehrten dadurch geändert werden mußte. – Aber er dachte nicht lange an sich selbst, mißtrauisch, ängstlich sorgte er um den Waghalsigen. Und nicht weniger um sie, die so gefährlich in die Seele des Andern eingedrungen war. – Und der Treue sah zornig in die Runde auf Stoppeln und Strohhalme, und er ballte eine Faust gegen den seligen Bachhuber, gegen das Thal von Rossau, ja auch gegen sie, die letzte Ursache der heillosen Verwirrung – gegen die Handschrift des Tacitus.

9. Ilse
9.
Ilse.

Ilse hatte in großer Wirtschaft gleichmäßig dahingelebt, seit dem Tod der Mutter hatte sie, kaum erwachsen, dem Haushalt des Gutes vorgestanden, angestrengt und pflichtgetreu wie ein Beamter ihres Vaters; der Frühling kam und der Herbst, ein Jahr rollte wie das andere über ihr Haupt; der Vater, die Geschwister, das Gut, die Arbeiter und die Armen des[160] Thales, das war ihr Leben. Mehr als einmal hatte sich beim Vater ein Freier gemeldet, ein derber tüchtiger Landwirth aus der Umgegend, sie aber hatte sich zufrieden gefühlt in dem Amt des Hauses, und sie wußte, daß dem Vater lieb war, wenn er sie bei sich behielt. Des Abends, wenn der thätige Mann auf dem Sopha ausruhte und die Kinder zu Bett geschickt waren, saß sie still mit ihrer Stickerei neben ihm oder besprach die kleinen Vorgänge des Tages, die Krankheit eines Arbeiters, den Schaden eines Hagelschauers, den Namen der neuen Milchkuh, die angebunden wurde. Es war eine einsame Gegend, viel Wald, meist kleine Güter, keine reiche Geselligkeit, und der Vater, der sich durch angestrengte Thätigkeit zum wohlhabenden Manne heraufgearbeitet hatte, war kein Freund großer Gesellschaften, die Tochter auch nicht. Am Sonntage kam wohl der Herr Pastor zu Tische, die Beamten des Vaters blieben dann über den Kaffe und erzählten kleine Geschichten aus der Umgegend, die Kinder, welche in der Woche durch den Seminaristen gebändigt wurden, lärmten durch Garten und Flur. Und wenn Ilse eine freie Stunde hatte, setzte sie sich in ihr Stübchen mit einem Buche aus der kleinen Sammlung des Vaters, einem Roman von Walter Scott, einer Erzählung von Hauff, einem Bande von Schiller.

Jetzt aber war mit dem fremden Manne eine Fülle von Bildern, Gedanken, Gefühlen in ihrer Seele aufgegangen. Vieles, was sie bis dahin gleichmüthig aus der Ferne betrachtet hatte, wurde ihr auf einmal nah vor die Augen gerückt. Wie künstliches Feuer, welches unerwartet aufsprühend einzelne Stellen der dunklen Landschaft mit buntem Schein erleuchtet, gab ihr seine Rede bald hier bald dort einen fesselnden Blick auf fremdes Leben. Wenn er sprach und die Worte so reich, gewählt und vornehm aus seinem Innern quollen, dann neigte sie das Haupt anfänglich vorwärts, wie im Traum, bis zuletzt ihr Blick an seinen Lippen und Augen festhing. Denn sie fühlte eine Ehrfurcht, bei welcher Schrecken war, vor einem[161] Menschengeiste, der so hoch und sicher über der Erde schwebte. Von vergangenen Zeiten sprach er wie von der Gegenwart, die geheimen Gedanken der Men schen, welche vor Jahrtausenden lebendig gewesen waren, wußte er zu erklären. Ach, sie empfand die Herrlichkeit und Größe menschlicher Wissenschaft als Verdienst und Größe des Einen, der ihr gegenüber saß, und die geistige Arbeit vieler Jahrhunderte erschien ihr wie ein überirdisches Wesen, das mit menschlichem Munde in ihrem Hause Unerhörtes verkündete.

Aber es war nicht das Wissen allein. Wenn sie wie aus der Tiefe den Blick zu ihm erhob, sah sie ein strahlendes Auge, den freundlichen Zug um die beredten Lippen, und sie fühlte sich unwiderstehlich zu dem warmen Leben des Mannes gezogen. Dann saß sie ihm als stille Hörerin gegenüber. Wenn sie aber in ihr Zimmer trat, kniete sie nieder und verbarg das Antlitz in ihren Händen, sie sah ihn dann vor sich und brachte ihm in der Einsamkeit ihre Huldigung dar.

So erwachte sie zum Leben. Es war eine Zeit der reinen Begeisterung, eines selbstlosen Entzückens, das der Mann nicht kennt und das nur dem Weibe wird, einem reinen, unwissenden Herzen, dem plötzlich bei gereifter Kraft das Größte des Erdenlebens die empfängliche Seele einnimmt.

Und sie sah, daß ihr Vater in seiner Art unter dem Einfluß desselben Zaubers stand. Am Mittagstisch, der sonst so schweigsam war, floß jetzt die Unterhaltung wie aus lebendigem Born, an den Abenden, wo er sonst müde über der Zeitung gesessen hatte, wurde das Gespräch zuweilen bis auf die erste Nachtstunde hinausgezogen, Vieles wurde erörtert, oft wurde gestritten, immer war der Vater, wenn er seinen Nachtleuchter vom Tische nahm, in heiterer Stimmung, mehr als einmal wiederholte er auf und ab gehend noch sich selbst einzelne Reden des Gastfreundes. »Er ist in seiner Art ein ganzer Mann,« sagte er, »Alles sicher und fest gefügt, man weiß immer, wie man mit ihm dran ist.«

[162] Einigemal ängstigte sie, was er aussprach. Zwar vermieden die Freunde, was die innige Gläubigkeit der Hörerin verletzen konnte, aber aus den Reden des Professors klang zuweilen eine fremdartige Auffassung ehrwürdiger Lehre und der menschlichen Pflichten heraus. Und doch war wieder so edel und gut, was er behauptete, daß sie sich dagegen mit ihren Gedanken nicht zu wehren wußte.

Er war oft heftig in seinen Ausdrücken; wo er verurtheilte, that er das mit starken Worten, auch im Gespräch brach er wohl heraus, daß der Doctor und sogar der Vater zurückwichen. Und sie ahnte, daß in seinem Haupte sich die Welt anders darstellte als bei den meisten Menschen, stolzer, edler, entschiedner. Und wenn er von Andern viel verlangte, wie Einem natürlich ist, der mehr mit abgeschlossenen Bildungen als mit dem werdenden Leben verkehrt, da wurde ihr wohl bange, wie man vor seinen Augen bestehen könne. Aber derselbe Mann war wieder so bereit, alles Gute anzuerkennen, und er freute sich wie ein Kind, wenn er erfuhr, daß sich Jemand brav und stark erwiesen hatte.

Er war ein ernster Mann, und doch war er Liebling der Kinder geworden, fast noch mehr als der Doctor. Sie vertrauten ihm ihre kleinen Geheimnisse, er besuchte sie in der Kinderstube und gab ihnen nach Jugenderinnerungen Anweisung, wie sie einen großen Papierdrachen machen sollten, er malte selbst die Augen und den Schnurrbart und schnitt die Quaste des Schwanzes, und ein froher Tag war's, als der Drache das erste Mal auf dem neuen Stoppelfelde aufstieg. Wenn der Abend kam, dann saß er, von den Kindern umgeben, wie ein Rebhuhn unter den Küchlein, Franz kletterte auf die Stuhllehne und zauste an seinem Haar, an jedem Knie lehnte eines der Größern; dann wurden Räthsel aufgegeben und Geschichten erzählt, und wenn Ilse zuhörte, wie er mit den Kindern kleine Reime nachsprach und lehrte, dann schwoll ihr das Herz vor Freude, daß ein solcher Geist so zutraulich mit [163] der Einfalt verkehren konnte, dann spähte sie in sein Antlitz und sah hinter den festen Zügen des Mannes ein Kindergesicht herausleuchten, lachend und glücklich, und sie konnte sich ihn denken, wie er selber ein kleiner Bube gewesen war, der auf dem Schoße seiner Mutter saß. – Glückliche Mutter!

Da kam die Stunde unter den Garben, die gelehrte Unterredung, welche mit Tacitus anfing und mit einem stummen Bekenntniß der Liebe endigte. Die selige Heiterkeit seines Angesichts, der bebende Klang seiner Stimme hatten den dünnen Schleier zerrissen, der ihr das eigene wogende Gefühl barg. Sie wußte jetzt, daß sie ihn liebte, heiß und unendlich, und sie ahnte, daß er empfand, wie sie selbst. Der ihr so groß gegenüberstand, er hatte sich zu ihr herabgeneigt, sie hatte seinen warmen Athem, den schnellen Druck seiner Hand gefühlt. Als sie dahinging durch das Feld, strömte ihr die Glut in die Wangen, und was sie umgab, Erde und Himmel, Flur und sonniger Waldessaum, das floß vor ihr in leuchtende Wolken zusammen. Mit beflügeltem Fuß eilte sie hinab in den Waldgrund, wo das Baumlaub sie umhüllte. Jetzt erst fühlte sie sich allein, und ohne es zu wissen, faßte sie einen schlanken Birkenstamm und schüttelte ihn mit voller Kraft, daß der Baum laut rauschte und seine Blätter auf sie herabstreute. Und sie hob die Hände zu dem goldenen Licht des Himmels und warf sich nieder auf den Moosgrund. In heftigen Athemzügen hob sich ihre Brust und die kräftigen Glieder zuckten von der inneren Erregung. Wie vom Himmel herab war die Leidenschaft in das junge Weib gesunken und faßte ihr Leib und Seele mit unwiderstehlicher Gewalt.

Lange lag sie so, braune Sommerfalter spielten ihr um das Haar, eine kleine Eidechse fuhr ihr über die Hand, weiße Dolden der Waldblumen und die Zweige der Hasel neigten sich über sie, als wollten die kleinen Kinder der Natur das heiße Leben der Schwester verdecken, welche zu ihnen gekommen war in dem seligsten Schreck ihres Lebens.

[164] Endlich hob sie sich auf die Knie, schlug die Hände zusammen, sie dankte dem lieben Gott für ihn und bat für ihn.

Gesammelt trat sie in das offene Thal, nicht mehr das ruhige Mädchen von sonst, ihr eigenes Leben und was sie umgab, glänzte in neuen Farben, und ein neues Fühlen fand sie in der Welt. Sie verstand die Sprache des Schwalbenpaares, welches um sie kreiste und mit zwitscherndem Ton pfeilschnell an ihr vorüberfuhr. Es war die wonnige Freude am Leben, welche den kleinen Leib durch die Luft schnellte, und was die Vögel zu ihr sprachen, war ein schwesterlicher Jubelruf. Sie antwortete auf den Gruß der Arbeiter, welche vom Felde heimgingen, und sie sah auf eine der Frauen, welche die Garben angelegt hatte, und wußte genau, wie ihr zu Muthe war. Auch die Frau hatte als Mädchen einen fremden Burschen geliebt, es war eine lange unglückliche Neigung gewesen mit vielen Schmerzen, jetzt aber ging sie getröstet neben ihm nach Hause, und als sie mit ihrer Herrin sprach, sah sie stolz auf ihren Begleiter. Und Ilse fühlte, wie glücklich die arme ermüdete Frau war. Und als Ilse in den Hof trat und die Stimme der Mägde hörte, welche vergebens auf sie gewartet hatten, und das ungeduldige Brummen der Rinder, das wie ein Vorwurf an die säumige Herrin klang, da schüttelte sie leise das Haupt, als wenn die Mahnung nicht mehr ihr gelte, sondern einer andern.

Als sie wieder aus den Wirthschaftsräumen in das goldene Abendlicht trat, mit beflügeltem Schritt, das Haupt gehoben, sah sie erstaunt den Vater neben seinem Reitpferd stehen, bereit zum Aufsitzen, und vor ihm in ruhigem Gespräch den Doctor und den Mann, welchem entgegenzutreten sie in diesem Augenblicke verlegen scheute. Sie näherte sich zögernd. »Wo säumst du, Ilse,« rief der Landwirth, »ich muß fort,« und, in das bewegte Gesicht der Tochter blickend, setzte er hinzu, »es ist nichts Großes. Ein Brief des kranken Oberförsters ruft mich in das Forsthaus, es ist einer von den Hofleuten angekommen, und ich kann mir denken, was sie von mir wollen. Ich hoffe[165] zur Nacht zurück zu sein.« Und dem Doctor nickte er zu: »Wir sehen uns noch vor Ihrer Abreise.« Er trabte dahin und Ilse dankte im Herzen der neuen Botschaft, die ihr leichter machte, ruhige Worte mit den Freunden zu sprechen. Sie folgte neben ihnen dem Wege, auf dem der Vater dahinritt, und bemühte sich, in gleichgültigem Gespräch die Unruhe zu verbergen. Und sie erzählte von dem Jagdschloß im Walde und von der Einsamkeit, in welcher der greise Oberförster unter den Buchen des Forstes hause. Aber es war doch eine spärliche Rede, jedes der ehrlichen Herzen war mächtig bewegt, der Professor und Ilse vermieden einander in die Augen zu blicken, auch dem Freunde gelang nicht, durch leichte Scherze die Leidenschaftlichen in das kleine Treiben dieser Welt herab zu ziehen.

Da wies Ilse plötzlich mit der Hand auf einen Hohlweg zur Seite, aus welchem mehre schwarze Köpfe auftauchten. »Sehen Sie dort die Indianer der Frau Oberamtmann.« In schnellem Schritt zog eine Reihe wilder Gestalten, eine hinter der andern; voran ein kräftiger Mann in braunem Kittel und verschossenem Hut, einen dicken Stab in der Hand; hinter ihm zwei jüngere Männer, ein bepacktes kleines Pferd führend, auf dem ein Affe in rother Jacke saß; dann Weiber mit Kindern auf dem Rücken; um den Trupp liefen halbnackte Buben und Mädchen, lange schwarze Haare hingen ihnen um die braunen Gesichter und die wilden Augen starrten schon aus der Ferne gierig auf die Spaziergänger.

»Wenn der Herbst kommt, streicht zuweilen das bettelnde Volk durch unser Land, es sind Gaukler, die zu Kirmes und Vogelschießen ziehen, aber seit einigen Jahren haben sie sich nicht in die Nähe des Guts gewagt.«

Der Trupp nahte, aus dem Trott wurde stürmisches Laufen, im Augenblick waren die Freunde von sechs bis acht dunklen Gestalten umringt, welche mit leidenschaftlicher Geberde drängten und laut schreiend die Hände ausstreckten, Männer, Weiber, Kinder im Getümmel durcheinander. Erstaunt sahen [166] die Freunde in die blitzenden Augen, die heftigen Bewegungen und auf die Kinder, welche mit den Füßen stampften und mit ihren Händen den Leib der Fremden betasteten wie Wahnsinnige.

»Zurück, ihr Wilden,« rief Ilse, drang durch die Bande und stellte sich vor die Freunde. »Zurück, wer spricht für den Haufen?« wiederholte sie unwillig und hob gebietend den Arm. Der Lärm verstummte, ein braunes Weib, nicht kleiner als Ilse, das glänzende Haar in Flechten gebunden und mit einem bunten Kopftuch umschlungen, trat aus der Schaar und streckte die Hand gegen Ilse aus: »Meine Kinder bitten,« sagte sie, »sie hungern und dürsten.« Es war ein großes Antlitz mit scharfen Zügen, in denen noch die Spuren früherer Schönheit sichtbar waren. Mit vorgebeugtem Kopf stand sie der Jungfrau gegenüber und ihre funkelnden Augen fuhren spähend von einem Antlitz auf das andere.

»Geld haben wir nur für die Menschen, welche uns arbeiten,« antwortete Ilse kalt. »Für den Fremden, der dürstet, ist unser Quell, und dem Hungernden geben wir von unserm Brot, Sie erhalten nichts weiter aus unserm Hause.«

Wieder hob sich ein halbes Dutzend Arme und wieder drängte der wilde Haufe heran. Die Führerin trieb ihn durch einen Ruf in fremder Sprache zurück. »Wir wollen dir arbeiten, Fräulein,« sagte sie in geläufiger Phrase mit gebildetem Accent, »die Männer bessern altes Geräth, wir scheuchen dir Maus und Ratte aus den Mauern, hast du ein krankes Pferd, wir heilen es schnell.«

Ilse bewegte verneinend das Haupt. »Eurer Hilfe bedürfen wir nicht. Sprechen Sie zu mir ohne Gaukelei, wie man zu ordentlichen Leuten redet, ich weiß wohl, daß Sie das recht gut können, wenn Sie wollen. Wo ist euer Passierschein?«

»Wir haben keinen,« sagte die Frau, »wir kommen weit aus der Fremde.« Sie wies nach der aufgehenden Sonne.

»Und wo wollen Sie zur Nacht rasten?« frug Ilse.

[167] »Wir wissen es nicht. Die Sonne will untergehen, und meine Leute sind müde und barfuß,« versetzte die Fremde.

»Sie dürfen nicht nahe am Hofe und nicht nahe bei den Dorfhäusern lagern. Die Brote erhalten Sie am Hofthor, dorthin schickt Jemanden, der sie abholt. Und wenn ihr ein Feuer anzündet auf unserer Flur, so hütet euch, den Garben nahe zu kommen, wir werden auf euch Acht geben. Und Niemand schleicht auf das Gut und in das Dorf, den Leuten wahrzusagen, das leiden wir nicht.«

»Wir sagen nicht wahr,« antwortete die Frau und berührte mit der Hand ein kleines schwarzes Kreuz, welches sie am Halse trug. »Die Zukunft kennt hier unten Keiner, auch wir wissen nichts davon.«

Ilse neigte ehrerbietig das Haupt. »Gut,« sagte sie, »wie auch der Sinn ist, welchen Sie hinter Ihren Worten bergen, Sie sollen mich nicht umsonst an die Gemeinschaft gemahnt haben, die zwischen uns ist. Kommen Sie selbst an das Thor, Mutter, und erwarten Sie mich dort. Brauchen Sie etwas für die Kleinen, so will ich zu helfen suchen.«

»Wir haben ein krankes Kind, schönes Fräulein, und dem Buben fehlen die Kleider,« bat die Landfahrerin, »ich komme, und meine Leute werden thun, wie Sie wollen.« Sie gab ein Zeichen und der wilde Zug trabte gehorsam einen Seitenweg entlang, der dem kleinen Dorfe zuführte. Die Freunde sahen der Bande neugierig nach.

»Daß solche Scene in diesem Lande möglich wäre, hätte ich nie geglaubt,« rief der Doctor.

»Sie waren früher bei uns eine Landplage,« versetzte Ilse gleichmüthig. »Sie stammen von Zigeunerart. Ein Landesherr in der Nähe hatte ihnen Unterschlupf gegeben, aber sie waren ein unartiges Gesinde. Jetzt sind sie selten, der Vater hält streng auf Ordnung, und sie wissen das recht gut. Doch wir müssen zurück in den Hof, denn Vorsicht kann bei dem diebischen Volk nicht schaden.«

[168] Sie eilten nach dem Hofe, Ilse rief den Inspector, und die Kunde, daß die Landläufer in der Nähe waren, flog wie ein Lauffeuer durch den Hof. Die Ställe wurden verwahrt, das Federvieh und die Familien der fettumwachsenen Schweine der Obhut von zwei handfesten Mägden übergeben, der Schäfer und die Knechte erhielten Befehl, Nachtwache zu halten. Ilse rief die Kinder, sie gab ihnen das Abendbrot und fand schwer die Aufgeregten zu bändigen. Die Jüngsten wurden der Mamsell unter starkem Protest und Thränen übergeben zu sicherer Aufbewahrung in ihren Betten. Dann suchte Ilse alte Röckchen und Linnen zusammen, belud eine Magd mit zwei Broten und schickte sich an, zum Hofthor zu gehen, wo die Frau sie erwarten sollte. Der Doctor hatte sich in seiner Freude über die Fremden aller Sorge um den Freund entschlagen. »Erlauben Sie uns, die Verhandlung mit der Sibylle anzuhören,« bat er.

Sie fanden die Landstreicherin in der Dämmerung vor dem Thor sitzend, neben ihr ein halbwüchsiges Mädchen mit prachtvollen Augen und langen Zöpfen, aber mangelhaftem Gewande. Das Weib erhob sich und nahm mit vornehmer Haltung die Spende in Empfang, welche ihr Ilse reichte.

»Segen über Sie, Fräulein,« rief sie, »alles Glück, das Sie sich jetzt wünschen, soll Ihnen zu Theil werden. Und Sie haben ein Angesicht, welches Glück verheißt. Segen über Ihr goldenes Haar und die blauen Augen. Ihnen danke ich,« schloß sie sich verneigend. »Wollen die Herren nicht auch meinem Mädchen ein Andenken schenken?« Die wilde Schöne hielt ihre Hand hin. »Die Sonne hat ihr das Gesicht verbrannt, seien Sie freundlich gegen die arme Schwarze,« bettelte die Alte, und dabei sah sie lauernd in der Runde umher. Der Professor schüttelte verneinend das Haupt, der Doctor griff nach seiner Börse und legte der Alten ein Geldstück in die Hand. »Das Prophezeien habt ihr aufgegeben?« frug er lachend.

»Es bringt Unglück dem, der wahrsagt, und dem, der [169] fragt,« versetzte die Fremde. »Hüte sich der Herr vor allem, was bellt und kratzt, denn ihm kommt Unglück von Hunden und Katzen.« Ilse und der Professor lachten, die Augen der Landstreicherin suchten unterdeß unruhig in dem Gebüsch.

»Wir können nicht wahrsagen,« fuhr sie geläufig fort, »wir haben keine Macht über die Zukunft und wir irren wie ihr andern auch. Aber Manches sehen wir doch, schönes Fräulein, und ohne daß Sie es verlangen, will ich's Ihnen sagen. Der Herr da neben Ihnen sucht einen Schatz, und er wird ihn finden, aber er soll sich hüten, daß er ihn nicht verliert; und Sie, stolzes Fräulein, werden einem Manne lieb sein, der eine Krone trägt, und Sie werden die Wahl haben, ob Sie eine Königin werden wollen, die Wahl und die Qual,« setzte sie leiser hinzu, und ihre Augen flogen wieder unruhig umher.

»Hinweg mit euch!« rief Ilse unwillig, »solch Geschwätz stimmt schlecht zu euren Worten.«

»Wir wissen nichts,« murmelte die Fremde demüthig, nach dem Zeichen an ihrem Halse fassend. »Wir haben nur unsere Gedanken. Und unsere Gedanken sind eitel oder wahr, je nachdem ein Stärkerer will. Leben Sie wohl, schönes Fräulein,« rief sie mit Nachdruck und schritt mit ihrer Begleiterin in die Tiefe.

»Wie stolz sie dahingeht,« rief der Doctor, »Respect vor dem klugen Weibe, sie wollte nicht wahrsagen, aber sie konnte doch nicht vermeiden, sich durch geheimes Wissen zu empfehlen.«

»Sie hat sich längst bei den Feldarbeitern nach uns Allen erkundigt, und sie kennt den Hof,« versetzte Ilse lachend.

»Wo nur ihr Lager aufgeschlagen ist?« frug der Doctor neugierig.

»Wahrscheinlich hinter dem Dorfe,« versetzte Ilse. »Im Thal sehen wir wohl die Feuer. Die Fremden haben nicht gern, wenn man ihrem Lager nahekommt und zusieht, was sie als Abendkost verzehren.«

[170] Sie stiegen langsam in das Thal hinab und blieben am Ufer des Baches unfern dem Garten stehen. Rings um sie lag das Dunkel des Abends auf Busch und Wiese, das alte Haus auf dem Steine ragte düster unter dem dämmrigen Grau des Himmels. Vor ihren Füßen murmelte das Wasser und die Blätter der Bäume rührten sich im Nachtwind. Schweigend blickten die Drei in die verschwimmenden Formen der Landschaft hinaus, das Seitenthal mit dem Dorf lag unsichtbar in dem tiefen Schatten der Nacht, nicht einmal ein erleuchtetes Fenster war zu sehen. »Sie sind lautlos verschwunden wie die Fledermäuse, welche eben noch durch die Luft flogen,« sagte der Doctor. Aber die Andern antworteten nicht, sie dachten nicht mehr an die Landläufer.

Da klang es durch die Abendluft wie leises Wimmern. Ilse fuhr zusammen und lauschte. Und noch einmal derselbe schwache Ton. »Die Kinder!« schrie Ilse entsetzt und stürzte der Hecke zu, welche den Obstgarten von der Wiese trennte. Sie rüttelte angstvoll an der verschlossenen Pforte, dann brach sie das Geäst der Hecke auseinander und sprang wie eine Löwin hindurch, das Obstgelände hinauf. Die Freunde eilten ihr nach, aber sie erreichten die Schnelle nicht. Vor ihr schimmerte es hell unter den Bäumen und es regte sich, da sie heranflog. Zwei Männer hoben sich vom Boden, eine Gestalt fuhr ihr entgegen, Ilse aber schlug den Arm zurück, der zum Schlag gegen sie ausholte, daß der Mann taumelte, und warf sich über die weinenden Kleinen, welche im Rasen lagen. Hinter Ilse sprang Felix herzu und packte den Mann, der Doctor rang im nächsten Augenblick mit einem andern, der wie ein Aal unter seinen Händen dahinglitt und in der Dunkelheit verschwand. Der erste Räuber aber hob sein Messer gegen den Arm des Professors, entrang sich der Hand, welche ihn festhielt, und war im nächsten Augenblick durch die Hecke gebrochen. Man hörte das Knarren im Geäst, dann war Alles wieder still.

[171] »Sie leben!« rief Ilse am Boden knieend mit fliegendem Athem und umschlang die Kleinen, welche jetzt ein klägliches Geschrei ausstießen. Es war Riekchen im bloßen Hemde und Franz, auch halb ausgeschält. Die Kinder waren den Augen der Mamsell und dem Schutz der Schlafstube entschlüpft und in den Garten geschlichen, um die Feuer der Komödianten zu sehen, von denen die Geschwister erzählten. Da waren sie den Genossen der Bande, welche Greifbares suchten, in die Hände gefallen und der Kleider entledigt worden.

Ilse nahm die schreienden Kinder auf ihre Arme, vergebens wollten die Freunde ihr die Last abnehmen. Lautlos eilte sie mit den Geretteten nach dem Hause, sie stürzte in das Zimmer und beide festhaltend kniete sie vor dem Sopha über ihnen, und die Freunde hörten ihr unterdrücktes Schluchzen. Aber nur auf wenige Augenblicke verlor sie die Haltung. Sie richtete sich auf und sah über die Dienstleute, welche in ängstlichem Gedränge die Stube füllten. »Den Kindern ist kein Leid geschehen,« rief sie, »geht, wo ihr die Wache habt und holt mir einen der Herren.« Der Inspector trat aus dem Haufen. »Das war ein Raub auf unserem Grunde,« sagte Ilse, »und die ihn verübt, soll das Gesetz erreichen. Ich bitte, lassen Sie die Bande in ihrem Lager aufheben.«

»In der Schlucht hinter dem Dorf ist ihr Feuer,« erwiederte der Inspector, »man sieht den rothen Rauch vom Oberstock. Aber, Fräulein – ich sage es ungern – wäre nicht vorsichtiger, man ließe die Schurken entlaufen? Ein großer Theil unserer Ernte liegt in Garben, sie zünden uns in der Nacht aus Rache die Haufen an oder wagen noch Aergeres, um ihre Leute wieder frei zu machen.«

»Nein,« rief Ilse, »bedenken Sie nicht, zögern Sie nicht. Ob die Argen uns zu schaden vermögen oder nicht, darüber entscheidet ein höherer Wille, wir thun, was unsere Pflicht ist. Der Frevel fordert Strafe und der Herr dieses Gutes ist zum Wächter des Gesetzes gestellt.«

[172] »Lassen Sie uns eilen,« mahnte der Professor den Beamten, »wir begleiten Sie.«

»Nun, mir ist's nach dem Herzen,« versetzte der Inspector überlegend, »der Hofverwalter bleibt hier, wir Andern suchen die Bande am Feuer.«

Er eilte hinaus. Der Doctor faßte einen Knotenstock, der in einer Zimmerecke lehnte. »Das wird genügen,« sagte er lächelnd dem Freunde. »Ich halte mich zu einiger Schonung verpflichtet gegen diese lüderlichen Zigeunersöhne, welche ihr Indisch noch nicht ganz vergessen haben.« Im Begriff, das Zimmer zu verlassen, hielt er an: »Du aber bleibst zurück, denn du blutest.«

Aus dem Aermel des Professors fielen einzelne Blutstropfen zur Erde.

Das Antlitz der Jungfrau wurde fahl wie die Thür, bei welcher sie stand, und sie hielt sich zitternd an den Pfosten. »Um unsertwillen,« murmelte sie tonlos. Plötzlich eilte sie auf den Professor zu und neigte sich auf die Hand herab, sie zu küssen, erschrocken hielt Felix die Leidenschaftliche zurück. »Es ist nicht der Rede werth, Fräulein,« rief er, »ich bewege den Arm nach Gefallen.« Der Doctor zwang ihn, den Rock auszuziehen und Ilse flog nach Verbandzeug. Fritz aber untersuchte mit der Ruhe eines alten Studenten die wunde Stelle. »Es ist ein kurzer Stich in die Muskeln des Unterarmes,« tröstete er sachverständig das Fräulein, »etwas Heftpflaster wird genügen.« Der Professor fuhr wieder in den Rock und ergriff den Hut: »Vorwärts,« sagte er.

»O nein, bleiben Sie bei uns!« flehte Ilse ihm nacheilend. Der Professor sah in das angsterfüllte Gesicht, schüttelte ihr herzlich die Hand und verließ mit dem Freunde das Zimmer.

Der eilige Tritt der Männer verklang. Ilse durchschritt allein die Räume des Hauses, Thüren und Fensterläden waren geschlossen, an der Thür nach dem Hofe wachte Hans, den [173] Säbel des Vaters in der Hand, vom Oberstock beobachteten die Hausmädchen Hofraum und Garten. Ilse trat in die Kinderstube, wo die armen Kleinen, von der Mamsell und den Geschwistern umringt, in ihren Betten saßen und zwischen den letzten Thränen und dem Schlafe kämpften. Ilse küßte die Müden und drückte sie in die Kissen, dann eilte sie hinaus in den Hof und lauschte ängstlich bald nach der Richtung, in welcher die Bande lagerte, bald nach der andern Seite, wo Hufschlag die Ankunft des Vaters verkünden sollte. Alles war still. Die Mägde von oben riefen ihr zu, daß auch das Feuer der Fremden verlöscht sei, und wieder eilte sie auf und ab, horchte erwartungsvoll und richtete die Augen zum Sternenhimmel.

Welch ein Tag! Vor wenig Stunden hoch emporgehoben über die Noth der Erde und jetzt durch feindliche Faust zurückgerissen in Schrecken und Angst! Sollte das eine Vorbedeutung sein für die Tage der Zukunft? War die goldene Pforte nur geöffnet, um sich mißtönend wieder zu schließen und eine arme Seele zurückzulassen in verzehrender Sehnsucht? Die Betrügerin hatte prophezeit von Einem, der eine Krone tragen würde. Ja, in dem Reich, wo er als ein König herrschte, da war selige Heiterkeit und beglückender Friede. Ach, wenn es erlaubt ist, Irdisches zu vergleichen mit den Freuden des Himmels, solches Wissen und Denken gab eine Vorahnung der ewigen Herrlichkeit. Denn so schwebten die Geister derer, die hienieden gut und weise gewesen waren, lichtumflossen in reiner Klarheit, und sie sprachen lächelnd und glücklich zueinander von Allem, was auf Erden gewesen war, das Geheimste wurde ihnen offenbar und das Tiefverhüllte durchsichtig, und sie wußten, daß alle Pein und aller Schmerz der Erde ewige Weisheit und Güte war. Und er, der hier auf Erden dahinschritt, den heitern Himmel im Herzen, ihn stach der wandernde Strolch in den Arm um ihretwillen, und um ihrer Lieben willen war er wieder ausgezogen in die feindselige Nacht, und unendliche Angst um ihn schnitt durch das Herz. »Schütze ihn, Allerbarmer,« rief sie, [174] »und mich heb aus dem Dunkel, stärke mir die Kraft und verkläre meinen Geist, daß ich würdig werde des Mannes, der dein Antlitz schaut in vergangenen Zeiten und über geschwundenen Völkern.«

Endlich hörte sie den schnellen Trab eines Reiters und das Schnauben des ungeduldigen Rosses an dem verschlossenen Thor. »Vater!« rief sie, riß den Riegel zurück und flog an den Hals des Absteigenden. Bestürzt vernahm der Landwirth ihren schnellen Bericht, er warf die Zügel des Pferdes dem Sohne zu und eilte in die Kinderstube, seine Kleinen zu herzen, die beim Anblick des Vaters ihres Unglücks gedachten und weinend neue Wehklage begannen.

Als der Landwirth in den Hof trat, zogen die Gutsleute vor das Haus und der Inspector berichtete: »Niemand war um das Feuer und in der Nähe zu sehen. Am Feuer keine Spur, daß dabei gerastet worden, es war zur Täuschung angezündet, sie haben hier nur stehlen wollen, der größere Theil der Bande ist schon am Abend weitergezogen. Sie liegen irgendwo in den Wäldern versteckt, und wenn die Sonne aufgeht, sind sie längst über die Grenze. Das Gewürm kenne ich aus alter Zeit.«

»Er hat Recht,« sagte der Landwirth zu den Freunden, »und ich meine, wir haben nichts mehr zu fürchten. Doch werden zuverlässige Augen diese Nacht geöffnet bleiben. Ihnen aber dankt ein armer Vater,« fügte er bewegt hinzu, »der letzte Tag, den Sie bei uns verlebten, Herr Doctor, sollte vom Morgen bis zum Abend abenteuerlich sein. Das ist sonst nicht unsere Art.«

»Ich scheide allerdings in Sorge um das, was ich hier zurücklasse,« versetzte der Doctor zwischen Ernst und Scherz. »Daß jetzt gar noch verlorene Kinder Asiens um die alten Mauern schleichen, ist außer Spaß.«

»Des Gesindels sind wir ledig, wie ich hoffe,« fuhr der Landwirth gegen seine Tochter fort, »aber auf einen andern Besuch magst du dich bei Zeiten gefaßt machen, der Landesherr [175] wird in einigen Wochen vor diesem Hause absteigen. Ich bin nur deshalb fortgesprengt worden, um Geschwätz über seinen Besuch zu hören und zu vernehmen, daß noch nicht entschieden sei, wo Serenissimus vor der Jagd das Frühstück einnehmen werde. Diesen Wink kenne ich, es war vor fünfzehn Jahren ebenso. Da hilft nun nichts, zu Rossau im Lindwurm kann er nicht bleiben. Auch diese Störung wird vorübergehen. – Und jetzt uns Allen eine gute Nacht und ein Schlaf in Frieden.«

Die beiden Freunde traten nachdenklich in ihr Schlafzimmer. Der Professor stand am Fenster und horchte auf den Tritt der Wächter, die von außen und innen den Hof umzogen, auf das Zirpen der Grillen und auf die gebrochenen Laute, welche aus der schlummernden Flur in das Ohr drangen. Und wieder hörte er ein Geräusch neben sich und sah in das treue Gesicht seines Freundes, der in seiner Aufregung die Hände gefaltet hatte: »Sie ist fromm,« rief Fritz klagend.

»Sind wir's nicht auch?« erwiederte der Professor und richtete sich hoch auf.

»Sie ist dem Leben deines Geistes so fremd wie die heilige Elisabeth.«

»Sie hat Verstand,« entgegnete der Professor.

»Sie steht so sicher und abgeschlossen in ihrem Kreise, sie wird in deiner Welt nie heimisch werden.«

»Sie ist tüchtig hier, sie wird es überall sein.«

»Du verblendest dich,« rief Fritz händeringend. »Willst du in den Frieden deiner Tage einen Zwiespalt bringen, dessen Ende du nicht absehen kannst? Willst du ihr selbst die ungeheure Umwandlung zumuthen, welche sie aus einer tüchtigen Wirthin zur Vertrauten deiner rücksichtslosen Forschung machen soll? Darfst du ihr das sichere Selbstgefühl eines kräftigen Lebens rauben und in ihre Zukunft den Kampf, die Unsicherheit, den Zweifel hineintragen? Wenn du nicht an dich und deine Ruhe denkst, so hast du doch die Verpflichtung, ihr Wesen zu ehren.«

[176] Der Professor legte das heiße Haupt an das Holz des Fensters. Endlich fuhr er auf: »Wir aber sollen Diener der Wahrheit sein und ihre Verkünder. Und wenn wir diese Pflicht gegen tausend Fremde üben, gegen Jeden, der uns hören will, wächst nicht Recht und Pflicht da, wo wir lieben?«

»Täusche dich nicht,« antwortete Fritz, »du, der feinfühlende Mann, der jedes Leben in seiner Berechtigung so willig anerkennt, du wärst der Letzte, die Harmonie ihres Wesens zu stören, wenn du sie nicht für dich begehrtest. Was dich treibt, ist nicht Pflichtgefühl, sondern Leidenschaft.«

»Was ich der Fremden nicht zumuthen darf, das ziemt mir an dem Weibe zu thun, das ich für immer mit mir verbinde. Und hat nicht jede Frau, die unserm Leben nahe tritt, ähnliche Wandlung zu erfahren? Wie hoch stellst du das Wissen der Frauen in der Stadt, welche in unseren Kreisen heraufkommen?«

»Was sie wissen, ist in der Regel unsicherer als ihnen und uns gut ist,« versetzte Fritz, »aber von klein auf sind sie gewöhnt, mit Theilnahme die wissenschaftlichen Interessen der Männer zu begleiten. Die besten Resultate des geistigen Schaffens sind ihnen doch so leicht zugänglich, daß sie überall Anknüpfungspunkte für ein herzliches Verständniß finden. Hier aber, wie schön, wie liebenswerth sich unsern Augen dies Leben darstellt, es ist vielleicht gerade darum so anziehend, weil es uns zugleich so fremdartig gegenübersteht.«

»Du übertreibst und wirst unwahr,« rief der Professor. »Gerade in diesen Tagen habe ich tief gefühlt, was wir über den Büchern leicht vergessen, wie groß die Rechte sind, welche eine edle Leidenschaft in unserm Leben hat. Wer kann sagen, was zwei Menschen einander so lieb macht, daß sie sich nicht scheiden können? Es ist nicht nur die Freude am Dasein des Andern, nicht das Bedürfniß der Ergänzung des eigenen Wesens, auch nicht Sinn und Phantasie allein, welche das Fremde uns so innig verbinden. Ist denn nöthig, daß die [177] Frau nur das feinere Rohr wird, welches eine Octave höher immer dieselben Noten tönt, welche der Mann spielt? Die Sprache ist arm für den mächtigen Ausdruck der Freude und Erhebung, welche ich in ihrer Nähe empfinde, und ich kann dir nur sagen, mein Freund, das ist etwas Gutes und Großes, und es fordert in meinem Leben sein Recht. Was aber jetzt aus dir spricht, das ist nur der kalte Zweifler Verstand, der allem Werdenden abhold so lange seine Ansprüche erhebt, bis er durch die vollendete That widerlegt ist.«

»Es ist nicht allein der Verstand,« versetzte Fritz gekränkt. »Daß du meine Rede so verkennst, habe ich nicht verdient. War es anmaßend, daß ich mit dir über Gefühle gesprochen habe, welche dir jetzt für heilig gelten, so darf ich zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich nur die Rechte in Anspruch nahm, welche mir deine Freundschaft bis zu dieser Stunde eingeräumt hat. Ich mußte meine Pflicht gegen dich thun, bevor ich dich hier verlasse. Kann ich dich nicht überzeugen, so suche diese Unterredung zu vergessen, ich werde dies Thema nie wieder berühren.«

Er ließ den Professor am Fenster stehn und wandte sich zu seinem Lager. Diesmal zog er die Stiefeln leise aus und legte sich auf sein Bett, den Kopf zu der Wand gekehrt. Nach einer Weile fühlte er seine Hand ergriffen, der Professor saß an seinem Lager und hielt die Hand des Freundes fest, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich entzog sie ihm Fritz mit herzlichem Druck und wandte sich wieder zur Wand.

Im ersten Morgengrau stand er auf, trat leise an das Lager des schlummernden Gelehrten und ging still zur Thür hinaus. Im Wohnzimmer erwartete ihn der Hausherr, der Wagen fuhr vor, ein kurzer, freundlicher Abschied und Fritz fuhr davon und ließ seinen Freund allein unter den Grillen des Feldes und unter den Aehren, deren schwere Häupter sich im Morgenwind hoben und senkten, gleich den Wellen des Meeres, in diesem Jahr wie vor tausend und abertausend Jahren.

[178] Der Doctor sah zurück auf den Stein, der das alte Haus trug, auf die Terrasse darunter mit dem Friedhofe und der Holzkirche, und auf den Laubwald, welcher den Fuß der Anhöhe umzog. Und alle Vergangenheit und Gegenwart der gefährlichen Stätte waren ihm deutlich. Das uralte Wesen aus der Sachsenzeit hatte sich an diesem Orte nur wenig geändert. Und er sah den Felsen und die schöne Ilse von Bielstein, wie sie vor Menschengedenken gewesen waren. Damals war der Stein einem Heidengotte heilig, schon damals hatte ein Thurm darauf gestanden und die Ilse hatte darin gewohnt mit ihren gescheitelten blonden Haaren, im weißen Linnengewand, einen Pelz von Otterfell darüber. Damals war sie Priesterin und Prophetin gewesen für einen Stamm wilden Sachsenvolks. Wo jetzt die Kirche stand, war die Opferstätte gewesen, und das Blut der gefangenen Feinde war von dort heruntergerieselt in das Thal.

Wieder später hatte ein christlicher Sachsenhäuptling dort sein Balkenhaus gebaut, und wieder hatte dieselbe Ilse darin gesessen zwischen den hölzernen Pfosten, auf dem erhöhten Raum der Frauen, und sie hatte die Spindel gedreht oder den Männern schwarzen Meth in die Schale gegossen.

Jahrhunderte später war das gemauerte Haus mit steinumfaßten Fenstern und einem Wartthurm auf dem Felsen errichtet worden als Nest eines räuberischen Junkers, und die Ilse von Bielstein hatte wieder darin gehaust in einer sammtnen Schaube, die der Vater auf des Königs Heerstraße den Kaufherren geraubt hatte, und wenn das Haus von einem Feinde berannt wurde, stand die Ilse unter den Männern auf der Mauer und spannte die große Armbrust wie ein Reitersknecht.

Und viele hundert Jahre später hatte sie in dem Jagdschloß eines Fürsten gesessen, bei ihrem Vater, einem alten Kriegsmann aus der Schwedenzeit. Damals war sie spießbürgerlich und fromm geworden, sie kochte Beeren zu Muß und [179] ging hinunter zum Pfarrer in das Conventikel, sie wollte keine Blumen tragen und schlug mit dem Finger in der Bibel nach, welchen Mann ihr der Himmel bescheren würde.

Jetzt aber stand dasselbe Sachsenkind seinem Freunde gegenüber, hoch und kräftig an Leib und Seele, aber immer noch ein Kind des Mittelalters, gefaßt und still, mit gleichmäßigem Ausdruck des schönen Angesichts, der nur wechselte, wenn einmal plötzliche Leidenschaft durch das Herz fuhr; ein Gemüth wie im Halbschlaf, ein so einfaches Gefüge des Geistes, daß man zuweilen nicht wußte, war sie sehr klug oder einfältig. An ihrem Wesen hing etwas von allem, was die Ilsen seit zwei Jahrtausenden gewesen: ein Stück Alraune, Methspenderin, Reiterstochter, Pietistin. Es war die altdeutsche Art und die altdeutsche Schönheit, aber daß sie jetzt mit einemmal auch noch das Weib eines Professors werden sollte, das dünkte dem bekümmerten Doctor zu sehr gegen alle Gesetze ruhiger geschichtlicher Entwicklung.

10. Die Werbung
10.
Die Werbung.

Wenige Stunden, nachdem der Freund das Gut verlassen, trat der Professor in das Arbeitszimmer des Landwirths. »Die Landläufer sind verschwunden und mit ihnen Ihr Freund. Es thut uns Allen leid, daß der Herr Doctor nicht länger bleiben konnte,« rief ihm der Landwirth von seiner Arbeit zu.

»Bei Ihnen liegt die Entscheidung, ob auch ich noch länger weilen darf,« entgegnete der Professor in so tiefem Ernst, daß der Landwirth aufstand und seinen Gast fragend anblickte. »Ich komme, von Ihnen ein großes Vertrauen zu erbitten,« fuhr der Professor fort, »und ich muß von hier scheiden, wenn Sie mir dasselbe versagen.«

[180] »Sprechen Sie, Herr Professor,« entgegnete der Landwirth.

»Es ist für uns beide nicht mehr möglich, in dem unbefangenen Verhältniß als Wirth und Gast fortzuleben. Ich suche die Neigung Ihrer Tochter Elise für mich zu gewinnen.«

Der Landwirth fuhr zurück, die Hand des starken Mannes klammerte sich an die Tischplatte.

»Ich weiß, was ich von Ihnen fordere,« rief der Gelehrte mit ausbrechender Leidenschaft. »Das Höchste nehme ich in Anspruch, was Sie geben können; ich weiß, daß ich Ihr Leben dadurch ärmer mache, denn ich will von Ihnen abwenden, was Ihnen Freude, Hilfe, Stolz gewesen ist.«

»Und doch,« murmelte der Landwirth finster, »Sie ersparen dem Vater, das zu sagen.«

»Ich fürchte, daß Sie mich in diesem Augenblicke für einen Einbrecher in den Frieden Ihres Hauses halten,« fuhr der Gelehrte fort. »Aber wenn Ihnen auch schwer wird, gütig gegen mich zu sein, Sie sollen Alles wissen. Ich sah sie zuerst in der Kirche, und ihr inniges, gottbegeistertes Wesen ergriff mich mächtig. Ich lebte um sie im Hause und fühlte jede Stunde mehr, wie schön und liebenswerth sie ist. Unwiderstehlich wurde die Gewalt, welche sie auf mich ausübt. Die Leidenschaft, in welcher ich lebe, ist so groß geworden, daß mir der Gedanke Entsetzen bereitet, sie könnte mir doch fern bleiben. Für Leib und Seele sehne ich mich, sie zu meinem Weibe zu machen.«

So sprach der Gelehrte, offenherzig wie ein Kind.

»Und wie weit sind Sie mit meiner Tochter?« frug der Landwirth.

»Ich habe zwei Mal in ausbrechendem Gefühl ihre Hand berührt,« rief der Professor.

»Haben Sie über Ihre Liebe mit ihr gesprochen?«

»Dann stände ich nicht so vor Ihnen,« entgegnete der Professor. »Ich bin, Ihnen gänzlich unbekannt, durch einen besonderen Zufall zu Ihnen gekommen. Und ich bin nicht in [181] der glücklichen Lage eines Freiwerbers, der sich auf längere Bekanntschaft berufen kann. Sie haben mir ungewöhnliche Gastfreundschaft erwiesen und ich bin verpflichtet, Ihr Vertrauen nicht zu täuschen; ich will nicht hinter Ihrem Rücken ein Herz für mich gewinnen, das mit Ihrem Leben so eng verbunden ist.«

Der Landwirth neigte beistimmend das Haupt. »Und haben Sie die Zuversicht, ihre Liebe für sich zu gewinnen?«

»Ich bin kein Knabe und sehe wohl, daß sie mir herzlich zugethan ist. Ueber die Tiefe und Dauer eines jungfräulichen Gefühls haben wir beide kein Urtheil. In einzelnen Stunden habe ich die beseligende Ueberzeugung gehabt, daß die warme Neigung des Weibes mir geworden ist, aber gerade die unbefangene Unschuld ihres Empfindens macht mich wieder unsicher. Und wenn ich Ihnen das Schwerste gestehen soll, was mir zu sagen bleibt, ich darf nicht leugnen, daß für sie noch eine Rückkehr zu ruhiger Empfindung möglich ist.«

Der Landwirth sah auf den Mann, der sich mühte, unbefangen zu urtheilen und doch am ganzen Körper bebte. »Ich habe die Pflicht, auf einen Herzenswunsch meines Kindes Rücksicht zu nehmen, wenn er so mächtig wird, daß er sie aus ihrer Heimat fortzieht, zu einem andern Manne. Immer vorausgesetzt, daß ich selbst nicht die Ueberzeugung habe, es werde ihr Unglück sein. Ihr Verhältniß zu meiner Tochter ist bei der kurzen Bekanntschaft und nach dem, was Sie mir darüber sagen, schwerlich so, daß mir nur die Wahl bleibt, entweder einzuwilligen oder mein Kind elend zu machen. Und Ihr Geständniß gibt mir auch die Möglichkeit zu verhüten, was mir vielleicht in vieler Rücksicht unwillkommen ist. Ja, Sie sind mir in diesem Augenblick ein Fremder, und als ich Ihnen anbot, bei mir zu bleiben, habe ich gethan, was für mich und die Meinen schwere Folgen haben mag.«

Als der Landwirth in der Erregung des Augenblicks so sprach, fiel sein Blick auf den Arm, der gestern geblutet hatte, [182] und wieder auf die mannhaften Züge des bleichen Antlitzes vor ihm, er unterbrach seine Rede und legte die Hand auf die Schultern des Andern. »Nein,« rief er, »das ist nicht meines Herzens Meinung, und nicht so darf ich Ihnen antworten.« Er schritt durch das Zimmer, bemüht, sich zu fassen. »Aber hören auch Sie ein vertrauendes Wort und zürnen Sie mir darum nicht,« fuhr er ruhiger fort. »Wohl weiß ich, daß ich meine Tochter nicht für mich erzogen habe, und daß ich mich einmal gewöhnen muß, sie zu entbehren. Aber unsere Bekanntschaft ist zu kurz, als daß ich ein Urtheil hätte, ob mein Kind an Ihrer Seite Frieden oder Unfrieden zu erwarten hat. Wenn ich Ihnen sage, daß Sie mir sehr werth und angenehm geworden sind, so hat das doch in dieser Stunde keine Bedeutung. Wären Sie ein Landwirth wie ich, so würde ich Ihre Mittheilung mit leichterem Herzen anhören, denn ich hätte in der Zeit Ihres Hierseins wohl über Ihre Tüchtigkeit eine feste Ansicht gewonnen. Daß unser Beruf so verschieden ist, macht nicht nur mir schwer, über Sie zu urtheilen, es mag auch gefährlich werden für die Zukunft meines Kindes. Wenn der Vater wünscht, daß die Tochter sich mit einem Manne verheiratet, der in ähnlichem Geschäfte arbeitet, so hat das in jedem Lebenskreise seinen guten Grund, für den Landwirth von meinem Schlage noch einen besonderen. Denn die Tüchtigkeit unserer Kinder liegt zum Theil darin, daß sie als Gehilfen der Eltern heranwachsen. Was Ilse in meinem Hause gelernt hat, gibt mir die Sicherheit, daß sie als Frau eines Landwirths ihren Platz vollkommen ausfüllen wird, ja, sie vermöchte wohl Schwächen ihres Mannes zu ergänzen. Und das wird ihr ein gesundes Leben sichern, selbst wenn ihr Mann Manches zu wünschen übrigließe. Als Frau eines Gelehrten hat sie wenig Nutzen von dem, was sie weiß, und sie wird als ein Unglück empfinden, daß sie vieles Andere nicht gelernt hat.«

»Daß sie entbehren wird, muß ich einräumen, auf Alles, was ihr nach Ihren Worten fehlt, gebe ich wenig,« rief der [183] Gelehrte. »Ich bitte Sie, darin mir und der Zukunft zu vertrauen.«

»Dann also antworte ich Ihnen, Herr Professor, ebenso offen, wie Sie zu mir gesprochen haben, ich darf Ihre Forderung nicht kurz abweisen, denn ich will dem, was vielleicht Sehnsucht und Glück meiner Tochter ist, nicht feindlich in den Weg treten; und doch, ich kann bei der unvollständigen Einsicht, die ich über Ihre Verhältnisse habe, nicht darauf eingehen. Und ich bin in diesem Augenblicke in der schmerzlichen Lage, daß ich nicht weiß, wie ich überhaupt diese Sicherheit gewinnen kann.«

»Wohl fühle ich, wie ungenügend und zufällig die Urtheile sind, welche Sie von Fremden über mich einsammeln können; es wird dennoch geschehen müssen,« antwortete mit Haltung der Gelehrte.

Der Landwirth bejahte schweigend, und der Professor fuhr fort:

»Zunächst bitte ich um Erlaubniß, Ihnen über meine äußeren Verhältnisse Mittheilung zu machen.« Er nannte seine Einnahmen, gab getreulich an, woher sie flossen und legte ein Verzeichniß derselben auf den Arbeitstisch. »Für diese Angaben wird mein Rechtsfreund, ein geachteter Anwalt der Universitätsstadt, Ihnen jede Bestätigung geben, welche Sie wünschen. Ueber meine Brauchbarkeit als Lehrer und meine Stellung an der Universität muß ich Sie aller dings auf das Urtheil meiner Collegen verweisen und auf die Ansicht, die sich etwa in der Stadt darüber gebildet hat.«

Der Landwirth blickte in das Verzeichniß. »Selbst die Bedeutung dieser Summen für Ihre Verhältnisse ist mir nicht ganz deutlich, für weitere Kunde habe ich in Ihrer Heimat kaum eine Anknüpfung. Aber, Herr Professor, ich werde ohne Zögern mir selbst die Gewißheit zu verschaffen suchen, welche ich erhalten kann. Ich werde morgen nach Ihrer Stadt abreisen.«

»O wie danke ich Ihnen,« rief der Professor und faßte die Hand des Landwirths.

[184] »Noch nicht,« antwortete dieser und zog seine Hand zurück.

»Ich werde natürlich, falls Sie das wünschen, Sie begleiten,« fuhr der Professor fort.

»Das wünsche ich nicht,« versetzte der Landwirth. »Schreiben Sie sogleich die Briefe, welche mich einigen Ihrer Bekannten empfehlen, im Uebrigen muß ich mich auf meine Fragen und allerdings auf den Zufall verlassen. Aber, Herr Professor, diese Reise wird mir nur Ihre Angaben bestätigen, die ich ohnedies für wahr halte, und vielleicht Urtheile Anderer über Sie, welche zu dem stimmen, was ich selbstvon Ihnen halte. Setzen wir den Fall, daß diese Auskunft mich befriedigt, was soll die Folge sein?«

»Daß Sie mir gestatten, noch länger in Ihrem Hause zu verweilen,« rief der Professor, »daß Sie vertrauend meine Annäherung an Ihre Tochter dulden und daß Sie mir Ihre Einwilligung zur Ehe geben, sobald ich der Neigung Ihrer Tochter sicher bin.«

»Solche Vorbereitung zu einer Brautwerbung ist ungewöhnlich,« sagte der Landwirth mit trübem Lächeln, »doch sie ist einem Landwirth nicht unwillkommen. Wir sind gewohnt, die Früchte langsam reifen zu sehen. Also, Herr Professor, auch nach meiner Reise behalten wir alle drei Freiheit der Wahl und des letzten Entschlusses. – Und diese Unterredung, soll sie unser Geheimniß bleiben?«

»Ich beschwöre Sie darum,« flehte der Gelehrte. Wieder flog ein leichtes Lächeln über das ernste Antlitz des Wirthes.

»Damit meine schnelle Abreise weniger auffalle, bleiben Sie unterdeß hier. Vermeiden Sie vor meiner Rückkehr, sich meiner Tochter zu nähern. Sie sehen, ich erweise Ihnen ein großes Vertrauen.«

So hatte der Professor seinen Gastfreund gezwungen, der Vertraute seiner Liebe zu werden. Es war ein schöner Vertrag zwischen Leidenschaft und Gewissen, den der Gelehrte [185] durchgesetzt hatte, und doch war in seiner Disposition ein Irrthum, und die Abhandlung, an welcher er mit heißem Haupt und pochendem Herzen arbeitete, gerieth ein wenig anders als er sich und dem Vater vorgestellt. Denn zwischen den drei Menschen, welche jetzt die hochsinnig eingeleitete Brautwerbung durchmachen sollten, war plötzlich die Unbefangenheit verschwunden. Als Ilse am Morgen der verhängnißvollen Unterredung strahlend von Glück zu den Männern trat, fand sie den Himmel des Gutes lichtlos, mit finsteren Wolken umzogen. Der Professor war unruhig und düster, er arbeitete fast den ganzen Tag auf seiner Stube, und als die Kleinen ihn am Abend baten, eine Geschichte zu erzählen, da lehnte er's ab, faßte den Kopf der kleinen Schwester mit beiden Händen, küßte ihre Stirn und legte sein eigenes Haupt darauf, als wollte er sich auf das Kind stützen. Gezwungen und spärlich waren die Worte, die er an Ilse richtete, und doch haftete unablässig sein Blick an ihr, aber fragend und unsicher. Und Ilse überraschte auch den Vater, wie dieser sie gespannt und schmerzlich ansah. Auch zwischen den Vater und sie war ein Geheimniß getreten, das in seinem Innern arbeitete. Ja sogar zwischen den beiden Männern war es nicht wie sonst. Der Vater sprach wohl einmal leise zu dem Freunde, aber beiden sah sie einen Zwang an, wenn sie über Gleichgültiges redeten.

Am nächsten Morgen gar die geheimnißvolle Reise des Vaters, die er ihr durch karge Worte über ein unwichtiges Geschäft anzeigte! War seit jenem wüsten Abend Alles um sie verwandelt? Das Herz des Weibes zog sich ängstlich zusammen. Die Unsicherheit kam ihr, die Furcht vor etwas Feindseligem, das gegen sie heranfuhr. Schmerzvoll hielt sie sich zurück, in ihrem Zimmer kämpfte sie mit schweren Gedanken und sie vermied, mit dem Manne ihrer Liebe allein zu sein.

Natürlich wurde dem Professor die Veränderung an der Geliebten auf der Stelle deutlich und sie quälte den tiefsinnigen [186] Mann. Wollte sie ihn fernhalten, um den Vater nicht zu verlassen, war nur frohes Erstaunen gewesen, was er für herzliche Neigung hielt? Diese Sorge machte seine Haltung gezwungen und ungleichmäßig und der Wechsel seiner Stimmung wirkte wieder auf Ilse zurück.

Fröhlich hatte sich der Blüthenkelch ihrer Seele dem aufsteigenden Lichte geöffnet, da war ein Tropfen Morgenthau hineingefallen und die zarten Blätter schlossen sich noch einmal unter der fremden Last.

Ilse war bei Krankheiten und Verletzungen die weise Frau des Gutes. Von ihrer Mutter hatte sie dies Ehrenamt übernommen und ihr Ruhm in der Umgegend war nicht gering; auch war es nicht unnöthige Beflissenheit, denn Rossau besaß nicht einmal einen ordentlichen Heilkünstler. Ilse aber verstand ihre einfachen Hausmittel vortrefflich anzuwenden, sogar der Vater und die Herren der Wirthschaft unterwarfen sich gehorsam ihrer Pflege. Und sie war in den Beruf einer barmherzigen Schwester so eingelebt, daß ihr jungfräuliches Zartgefühl gar nichts darin fand, am Krankenbett eines Gutsgenossen zu sitzen, und daß sie ohne Ziererei in die Wunde blickte, welche der Hufschlag eines Pferdes oder der Schnitt einer Sense verursacht hatte. Und jetzt stand er mit einer Wunde neben ihr, er hielt den Arm nicht einmal in der Binde, und sie sorgte unaufhörlich, daß der Schaden ärger werden könne. Wie gern hätte sie die Stelle gesehen, ach wie gern sie selbst verbunden, und sie bat ihn am Morgen beim Frühstück, auf den Arm deutend: »Wollen Sie nicht uns zu Liebe etwas dafür thun?«

Der Professor zog befangen den Arm zurück und erwiderte: »Es hat gar nichts zu bedeuten.« Sie schwieg verletzt. Als er aber auf sein Zimmer ging, wurde ihr die Sorge übermächtig und sie sandte die Tagelöhnerfrau, welche in solchen Künsten ihre bewährte Gehilfin war, mit einem Auftrage in das Gastzimmer und schärfte ihr ein, gewaltthätig aufzutreten,[187] jeden Widerspruch des Herrn zu bewältigen, den Arm zu betrachten und ihr zu berichten. Als nun die ehrliche Frau sagte, daß ihr Fräulein sie sende und daß sie darauf bestehen müsse, den Stich zu sehen, da entschloß sich zwar der Professor zögernd, die Stelle zu zeigen, aber als die Botin einen bedenklichen Bericht heraustrug und Ilse, die unruhig vor der Thür auf und ab ging, durch die Vermittlerin wieder kalte Umschläge befahl, da wollte der Professor diese nicht anwenden. Er hatte wohl Ursache dazu, denn wie schmerzlich er den Zwang fühlte, der ihm im Verkehr mit Ilse aufgelegt war, so dünkte ihm doch unerträglich, ihren Anblick ganz zu missen und in seiner Stube allein bei dem Wassernapf zu sitzen. Daß er aber den guten Rath verwarf, schmerzte Ilse noch mehr, denn sie fürchtete die Folgen und es that ihr wieder weh, daß er auf ihre Wünsche nichts gab. Als sie vollends erfuhr, daß er heimlich zum Chirurgus nach Rossau geschickt hatte, da kamen dem Mädchen die Thränen in die Augen über das, was sie für Nichtachtung hielt. Denn sie kannte die verkehrten Mittel des Trunkenbolds, und sie wußte jetzt genau, daß es ein Unglück geben würde. Sie kämpfte mit sich bis zum Abend, endlich besiegte die Sorge um den Geliebten alle Bedenken, und als er neben den Kindern in der Laube saß, trat sie vor ihn und bat in ihrer Herzensangst leise mit niedergeschlagenen Augen: »Der fremde Mann macht Ihnen die Schmerzen größer, bitte, lassen Sie mich die Wunde sehen.« Und der Professor, erschrocken über diese Aussicht, welche seine ganze, mühsam erkämpfte Selbstbeherrschung zu vernichten drohte, erwiederte, wie Ilse hörte, mit rauher Stimme – er war aber in Wahrheit nur durch innere Bewegung ein wenig heiser –: »Ich danke, das kann ich gar nicht annehmen.« Da ergriff Ilse die beiden jüngsten Geschwister, welche in den Händen der Zigeuner gewesen waren, stellte sie vor ihn hin und rief heftig: »Bittet ihr, wenn er auf mich nicht hört.« Dem Professor war dieser kleine Auftritt so beweglich und Ilse sah in ihrer Aufregung so unwiderstehlich [188] schön aus, daß ihn die Rührung übermannte und daß er, um gegen den Vater ehrlich zu bleiben, aufstand und schnell aus dem Garten ging.

Ilse preßte die Hände krampfhaft zusammen und sah starr vor sich hin. Alles war ein Traum gewesen. Täuschung war's und thörichte Einbildung, daß sie in seliger Stunde gehofft hatte, er liebe sie. Sie hatte ihm ihr Herz offenbart, und ihr heißes Gefühl war für ihn nichts als dreiste Zudringlichkeit einer Fremden. Sie war ihm ein ungeschicktes Weib vom Lande, dem das städtische Zartgefühl fehlte, und die sich thöricht etwas in den Kopf gesetzt, weil er einige Male gütig zu ihr gesprochen. Sie stürzte in ihr Zimmer, dort sank sie vor ihrem Lager nieder und ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihre Glieder.

Sie war den ganzen Abend nicht mehr sichtbar, am nächsten Tag trat sie dem Geliebten stolz und kalt gegenüber, sie sprach nur das Nöthigste und rang in der Stille mit Thränen und unendlichem Jammer.

Alles war hochsinnig für eine feine und zarte Brautwerbung zurechtgelegt, aber wenn zwei Menschen einander lieb haben, sollen sie das einer dem andern auch frisch und einfältig sagen, ohne Disposition und, beim Styx, auch ohne Zartgefühl.


Der Landwirth war abgereist. Ein Geldgeschäft, das er auf dem Wege erledigen konnte, gab den Vorwand. Schon den Tag darauf fiel seine gewaltige Gestalt und das sorgenvolle Antlitz in den Straßen der Universitätsstadt auf. Gabriel war sehr verwundert, als ein riesiger Mann, höher als sein alter Freund, der Wachtmeister bei den Kürassieren, an der Thür schellte und einen Brief des Herrn überbrachte, worin Gabriel aufgefordert wurde, sich und das Quartier dem Herrn zur Verfügung zu stellen. Der fremde Mann schritt durch die Zimmer, saß am Arbeitstisch des Professors nieder und begann mit Gabriel ein Gespräch in Kreuzfragen, aus denen der Diener nicht klug werden konnte. Auch Herrn Hummel begrüßte der [189] Fremde, dann ließ er sich nach der Universität führen, hielt auf der Straße Studenten an und frug sie aus, verhandelte mit dem Rechtsanwalt, besuchte einen Kaufmann, mit welchem er zuweilen Getreidegeschäfte machte, ließ sich von Gabriel zum Schneider des Professors führen, dort einen Rock zu bestellen, und Gabriel mußte lange vor der Thür stehen, bis der geschwätzige Schneider den Fremden entließ. Auch zu Herrn Hahn ging er, einen Strohhut zu kaufen, und am Abend sah man seine große Gestalt, welche den chinesischen Tempel unbillig beengte, neben Herrn Hahn bei einer Flasche Wein sitzen. Es war ein armer Vater, der sich bei gleichgültigen Leuten ängstlich erkundigte, ob er sein geliebtes Kind in die Arme eines Fremden legen müsse. Ach, was er erfuhr, war alles noch weit günstiger als er erwartet hatte. Auch ihm wurde deutlich, was die Frau Oberamtmann Rollmaus längst wußte, daß es nach der Meinung Anderer kein gewöhnlicher Mann war, den er bei sich aufgenommen hatte.

Als der Heimkehrende am Abende des nächsten Tages zwischen den letzten Häusern von Rossau dahinfuhr, sah er eine Gestalt eilig auf sich zukommen. Es war der Professor, den die ungeduldige Erwartung auf den Weg getrieben hatte und der jetzt mit verstörtem Gesicht an den Wagen eilte. Der Landwirth sprang von seinem Sitze und sagte dem Professor leise: »Bleiben Sie bei uns, der Himmel gebe zu allem weiteren seinen Segen.« Und als die beiden Männer nebeneinander den Fußpfad hinaufstiegen, fuhr der Gutsherr mit einem Anflug von guter Laune fort: »Sie haben mich gezwungen, um Ihre Wohnung zu spioniren, lieber Herr Professor. Ich habe erfahren, daß Sie still weg leben. Sie bezahlen Ihre Rechnungen pünktlich, Ihr Diener spricht mit Ehrerbietung von Ihnen, die Nachbarn denken gut über Sie, in der Stadt sind Sie ein angesehener Mann, alles was Sie sonst über sich gesagt haben, ist bestätigt. Ihr Quartier ist sehr stattlich, die Küche zu klein, die Vorrathskammer enger [190] als bei uns ein Schrank. Durch die Fenster ist wenigstens Aussicht ins Grüne.«

Sonst wurde kein Wort über den Zweck der Reise gesprochen, aber hoffnungsvoll vernahm der Professor, was der Landwirt von anderen Beobachtungen erzählte, wie reichlich die Bürger lebten, wie glänzend die Läden ausgestattet waren, dann von den hohen Häusern des Marktes, dem Gedränge auf den Straßen und von den Tauben, welche nach altem Herkommen vom Rath gehalten werden und dreist wie Stadtbeamte zwischen Wagen und Menschen umherlaufen.

Es war früher Morgen auf dem Gute, wieder sandte die Sonne ihre ersten Strahlen heiß auf die Erde. Nach einer schlummerlosen Nacht eilte Ilse durch den Garten zu dem kleinen Badehause, das der Vater zwischen Rohr und Gebüsch angelegt hatte. Dort tauchte sie die weißen Glieder in das Wasser, hüllte sich schnell wieder in ihr Gewand und stieg, die Strahlen der Sonne suchend, den Weg hinauf, welcher unweit der Grotte nach der Höhe führte. Da sie wußte, daß unter den Steinen der Höhle noch die kühle Nachtluft lag, stieg sie höher hinauf, wo die Berglehne steil nach der Grotte und dem Thal abfiel. Dort oben auf dem Abhange setzte sie sich zwischen den ersten Büschen nieder, um fern von jedem Menschenauge im Sonnenstrahl die Haare zu trocknen und ihren Anzug zu ordnen.

Sie sah hinüber nach dem Vaterhause, wo auf dem Freunde wohl noch der Morgenschlummer lag, und sah vor sich herunter auf die Steindecke der Grotte und auf den großen Federbusch von Weidenröschen, dem jetzt die weiße Wolle des Samens aus den Schoten quoll. Und sie stützte das Haupt in die Hand und dachte an den letzten Abend, wie wortkarg er wieder gewesen war, und daß der Vater zu ihr gar nicht von seiner Reise sprach. Aber wie unruhig auch die Sorgen durch ihr Haupt fuhren, aus der klaren Fluth hatte sie auch ihren Gedanken Erfrischung geholt und jetzt warf der Morgen sein mildes Licht auch über ihr Herz.

[191] Dort saß das Kind des Gutes, sie wand das Wasser aus dem Haar und stützte die weißen Füße auf das Moos. Neben ihr summten die Bienen über dem blühenden Quendel, und eine kleine Arbeiterin kreiste drohend um ihre Füße. Ilse bewegte sich und stieß an einen ihrer Schuhe, der Schuh glitt hinab, überschlug sich und fiel in kleinen Sätzen über Moos und Stein, er sprang beim Weidenröschen vorbei und verschwand in der Tiefe. Ilse fuhr in den Kameraden des Flüchtlings und eilte auf dem Wege zur Grotte nach. Sie bog um die Felsecke und trat erschrocken zurück, denn auf dem Platze vor der Grotte stand der Professor und betrachtete sinnend die gestickten Arabesken des Schuhes. Der zartfühlende Mann war über diese plötzliche Begegnung kaum weniger betroffen als Ilse. Es hatte auch ihn am frühen Morgen hinausgetrieben zu der Stelle, wo ihm zuerst das Herz des Mädchens aufgegangen war, auf dem Stein am Eingange hatte er gesessen und das Haupt an den Felsen gelehnt in tiefem und schmerzlichem Grübeln. Da, horch, ein leises Rauschen, Steinchen und Sand rollten herab, ein kleines Meisterwerk bildender Kunst fiel dicht vor seine Füße. Er schnellte empor, den er ahnte auf der Stelle, wem der springende Schuh gehörte. Jetzt sah er die Geliebte vor sich stehen, in leichtem Morgengewand, von dem langen blonden Haar umflossen, einer Wasserfee oder Bergnymphe vergleichbar.

»Es ist mein Schuh,« rief Ilse verlegen und verbarg den Fuß.

»Ich weiß,« sagte der Gelehrte ebenfalls verlegen und rückte den Schuh ehrerbietig an den Saum ihres Kleides. Schnell schlüpfte der Fuß hinein, aber die kurze Bewegung der weißen Zehen gab dem Professor plötzlich einen Heldenmut, den er an den letzten Tagen nicht gehabt hatte. »Ich gehe nicht von der Stelle,« rief er entschlossen. Ilse fuhr in die Grotte und barg ihre Haare in dem Netz, das sie in der Hand hielt. Der Gelehrte stand am Eingange zu dem Heiligthume, [192] neben ihm hingen die Ranken der Brombeeren, die Bienen summten über dem Quendel, und ihm pochte das Herz. Als Ilse mit gerötheten Wangen aus der Grotte in das Licht des Tages trat, hörte sie, wie eine Stimme in tiefer Bewegung ihren Namen aussprach, sie fühlte ihre Hände gefaßt, ein heißer Blick aus den treuen Augen, süße Worte in bebendem Tonfall, der Arm des Mannes umschlang sie, lautlos sank sie an sein Herz.

Denn, wie der Professor selbst bei einer andern Gelegenheit auseinandergesetzt hatte, der Mensch vergißt zuweilen, daß sein Leben auf einem Contract mit übermächtigen Naturgewalten beruht, welche den kleinen Herrn der Erde unversehens kreuzen. Dergleichen unbeachtete Mächte zwangen jetzt auch den Professor und Ilse. Weiß nicht, welche Naturgewalt die Biene sandte und den Schuh warf, waren es die Erdmännchen, an welche Ilse nicht glaubte, oder war es Einer aus der antiken Bekanntschaft des Professors, der gaißfüßige Pan, der in den Grotten auf der Rohrpfeife bläst.

Die Brautwerbung war wissenschafttlich begonnen, aber sie war ohne alle Weisheit zur Vollendung gebracht. Es waren zwei große und reine Herzen, welche jetzt an einander schlugen, aber um Alles zu sagen, der feinfühlende Professor hatte zuletzt doch um die Geliebte geworben, als sie gerade keinen Strumpf anhatte.

11. Speihahn
11.
Speihahn.

Ueber den feindlichen Häusern war rabenschwarze Nacht, die Welt sah aus wie eine große Kohlengrube, in der die Leuchte erloschen ist. Der Wind fuhr durch die Bäume des Parkes, man hörte ein Rauschen der Blätter, Geknarr der Aeste, ein tiefes, zorniges Brummen in der Luft, aber man sah nichts [193] als einen ungeheuren schwarzen Vorhang, der den Stadtwald verhüllte, und ein schwarzes Zeltdach, das über die Häuser gespannt war. Die Straßen der Stadt waren leer, wer ein freundliches Verhältniß zu seinem Bett hatte, lag längst darin, wer eine Schlafmütze besaß, heut zog er sie über die Ohren. Alles Menschliche barg sich in tiefem Schweigen, auch den Stundenschlag der Thurmglocke zerriß der Sturmwind und führte die einzelnen Töne hierhin und dorthin, so daß Niemand die Schläge der Mitternachtsstunde vollständig zusammenbringen konnte. Nur um das Haus des Herrn Hummel kläffte die wilde Jagd, die Hunde fuhren im Hofe umher, unbeirrt durch Sturm und Finsterniß, und wenn der Wind wie ein Hifthorn zwischen den Häusern blies, bellte die Meute dem Schlafe der Menschen ein greuliches Halali.

»Den ist heut wohl,« dachte Gabriel in seiner Kammer, »das ist ganz ihr Wetter.« Endlich entschlief auch er und hatte einen Traum, als wenn die beiden Hunde seine Kammerthür aufmachten, sich vor seinem Bett auf zwei Stühle setzten und abwechselnd die Zündhütchen ihrer Taschenpistolen auf ihn abknipsten.

Er lag noch in unruhigem Schlaf, als es an seine Thür pochte.

»Stehen Sie auf, Gabriel,« rief die Stimme des alten Schließers aus der Fabrik, »es ist ein Unglück geschehen.«

»Durch die Hunde?« rief Gabriel, mit beiden Beinen aus dem Bette springend.

»Es muß Jemand eingebrochen sein,« rief der Mann wieder durch die Thür, »die Hunde liegen auf der Erde.«

Gabriel fuhr erschrocken in seine Stiefeln und eilte in den Hof, der durch die Morgendämmerung nothdürftig erhellt wurde. Da lagen die zwei armen nächtlichen Geschöpfe auf dem Boden, nur noch ein wenig zappelnd. Gabriel lief zu dem Waarenlager, sah nach Thür und Fenstern, dann untersuchte er das Haus, jeder Laden war geschlossen, nirgend Verstörung zu entdecken. Als er zurückkehrte, stand Herr Hummel vor den Liegenden.

[194] »Gabriel, hier ist eine Missethat geschehen, den Hunden ist etwas angethan, lassen Sie beide liegen, es muß eine Beweisaufnahme stattfinden, ich schicke zur Polizei.«

»Ei was,« erwiederte Gabriel, »erst kommt das Erbarmen, dann die Polizei, vielleicht ist den Würmern noch zu helfen.« Er nahm die beiden Thiere, trug sie ans Licht und untersuchte ihren Zustand. »Der Schwarze ist dahin,« sagte er mitleidig, »der Rothe hat noch einigen guten Willen.«

»Zum Thierarzt, Klaus,« rief Herr Hummel, »und auf der Stelle, er möchte mir den Gefallen thun und sogleich aufstehen, es soll sein Schade nicht sein. Dieser Fall muß ins Tageblatt. Ich verlange Satisfaction vor Stadtverordneten und Rath. – Gabriel,« fuhr er in zorniger Bewegung fort, »sie ermorden die Hunde von Bürgern. Damit fängt die niederträchtige Bosheit an, aber ich bin nicht der Mann, der sich durch Meuchelmörder behandeln läßt, es soll ein Exempel werden, Gabriel.«

Gabriel streichelte unterdeß das Fell des rothen Hundes, der die Augen wild unter dem zottigen Stirnhaar rollte und kläglich mit den Pfoten schlug.

Endlich kam der Thierarzt. Er fand die ganze Familie im Hofe versammelt, Frau Hummel, noch im Nachtgewande, trug ihm eine Tasse Kaffe zu, er bedauerte trinkend und begann die Untersuchung. Der Ausspruch des Sachverständigen lautete auf Vergiftung. Die Section ergab genossene Klößchen mit Arsenik, und was Herrn Hummel noch tiefer kränkte, außerdem mit Glassplittern. Der Rothe gewährte bei alledem eine unsichere Hoffnung gerettet zu werden.

Das wurde der Familie Hummel ein finsterer Morgen. Herr Hummel setzte sich noch vor dem Frühstück an den Schreibtisch und verfaßte eine Anzeige für das Tageblatt, worin er zehn Thaler Belohnung für den Menschenfreund aussetzte, der ihm den tückischen Vergifter seiner Hunde angeben wollte. [195] Die zehn Thaler unterstrich er dreimal mit Klecksen. Dann trat er an sein Fenster und sah grimmig hinüber nach dem Schlupfwinkel seines Gegners und nach dem chinesischen Tempel, der die Veranlassung des neuen Unfriedens geworden war. Und immer wieder wandte er sich zu seiner Frau und brummte auf und abgehend: »Mir ist der Fall nicht zweifelhaft.«

»Ich begreife dich nicht,« erwiederte die Gattin, welche an dem anstrengenden Morgen zum zweiten Mal ihr Frühstück einnahm, »und ich verstehe nicht, wie du deiner Sache sicher sein kannst. Es ist wahr, in den Leuten ist eine Art, welche uns immer wieder abstößt, und es mag ein Unglück sein, daß wir diese Nachbarschaft haben. Aber du kannst nicht behaupten, daß sie Hunde vergiften. Und ich kann mir nicht denken, daß die Hahn solche Einfälle hat. Ich gebe dir zu, sie ist eine gewöhnliche Frau, und der Doctor sagt, daß es Klößchen waren, was auf eine weibliche Hand schließen läßt. Aber als unser Rother bei den Krammetsvögeln getroffen wurde, die sie in der Küche hatte, hat sie mir den Hund nur mit einer Empfehlung zurückgeschickt, und es wäre nicht schön von ihm, er hätte drei Vögel gefressen. Das war in der Ordnung und ich kann darin keine Mordlust finden. Und er, du lieber Gott, er sieht mir auch nicht aus, als ob er in finsterer Mitternacht sich mit unseren Hunden zu thun machte.«

»Er ist tückisch,« grollte Herr Hummel, »aber du hast immer deine eigene Meinung von den Leuten gehabt. Er ist scheinheilig gegen mich gewesen von dem ersten Tage, wo er sich vor diesen Fenstern bei seinen Ziegeln aufstellte und mir den Rücken zukehrte. Und ich habe mich immer wieder von euch Weibern bewegen lassen, ihn als Nachbar zu behandeln mit Grüßen und Redensarten; und ich habe stillgeschwiegen, wenn ihr mit der Frau drüben euer Gewäsch getrieben habt.«

»Unser Gewäsch, Heinrich,« rief die Gattin und setzte ihre Kaffetasse klirrend hin. »Ich muß dich bitten, daß du nicht vergißt, was du mir schuldig bist.«

[196] »Nun, es war nicht so böse gemeint,« räumte Herr Hummel ein, um den Sturm zu beschwichtigen, den er zur Unzeit heraufbeschworen hatte.

»Wie es gemeint war, mußt du wissen, ich halte mich an das, was ich höre; es zeigt wenig Gefühl, Hummel, daß du um eines toten Hundes willen deine Gattin und deine Tochter als Waschfrauen behandelst.«

Diese Auseinandersetzung trug noch mehr widerwärtiges Grau in die Stimmung des Morgens, förderte aber keineswegs die Entdeckung des Verbrechers. Es war vergebens, daß die Hausfrau, um den stöbernden Verdacht des Gatten von der Familie Hahn abzulenken, viele andere Vermuthungen aufstellte und mit Laura's Hilfe wieder verwarf, gegen die eigenen Arbeiter, gegen den Nachtwächter, und daß sie zuletzt sogar den Markthelfer von drüben als möglichen Missethäter einräumte. Ach, die bürgerliche Stellung der Hunde war so trübselig gewesen, daß die Familie Hummel viel leichter die wenigen Menschen herzählen konnte, welche den Hunden nichts Böses anwünschten, als die vielen, welche Wunsch und Interesse hatten, die Scheusale zum Cocytus wandeln zu sehen. Denn wie Lauffeuer fuhr die Nachricht über die Straße, bei der Obstfrau an der Ecke war heut Versammlung wie auf der Börse, in den Kramläden standen die Leute und besprachen die Unthat, überall mitleidlos, feindselig, schadenfroh. Auch die äußeren Zeichen der Theilnahme, welche die Straße für schicklich hielt, verhüllten schlecht die herrschende Stimmung. Allerdings kamen die Mitfühlenden, zuerst Frau Knips, die Wäscherin, mit wortreicher Entrüstung; dann wagte sich sogar Knips der Jüngere bedauernd in die Nähe des Hauses, der Commis im feindlichen Geschäft, welcher zu den Feinden übergegangen war, aber nicht müde wurde, seinem früheren Lehrherrn gelegentliche Ehrfurcht und Fräulein Laura eine unbequeme Anbetung zu erweisen. Endlich kam ein Komiker der Stadtbühne, der häufig des Sonntags eingeladen wurde und [197] dafür lustige Geschichten erzählte. Aber selbst diese wenigen Getreuen wurden von einzelnen Hausgenossen beargwöhnt. Der Familie Knips mißtraute Gabriel, den Commis verabscheute Laura, und der Komiker, sonst ein willkommener Gast, hatte einige Abende zuvor im Vorbeigehen leichtsinnig gegen einen Begleiter geäußert, daß es verdienstlich sein würde, diese Hunde von der Weltbühne zu entfernen. Heut war dieser unglückliche Einfall der Hausfrau hinterbracht worden, und er lag ihr schwer auf dem Herzen. Fünfzehn Jahre hatte sie gerade dieses Mannes Huldigung mit Wohlgefallen ertragen, viele Freundlichkeit, begeistertes Klatschen im Theater war ihm zu Theil geworden, der Sonntagsbraten und eingesottenen Früchte gar nicht zu gedenken; aber jetzt, wo der Mime bedauernd den Kopf senkte und sein Entsetzen aussprach, da wurde ihm sein Gesicht wegen langer Gewöhnung an komische Wirkungen so heuchlerisch verzogen, daß Frau Hummel aus den Zügen des geschätzten Mannes plötzlich einen Teufel herausgrinsen sah. Und ihre spitzen Bemerkungen über Judasse erschreckten wieder den Mimen, weil sie ihm die Gefahr offenbarten, sein bestes Haus zu verlieren, und je kläglicher er sich fühlte, desto zweideutiger wurde sein Ausdruck.

Während aller dieser Vorfälle hielt sich die Familie Hahn gänzlich zurück. Kein Zeichen von unschicklicher Freude, keines von unnatürlichem Mitgefühl drang ans den schweigenden Mauern. Nur am Nachmittag, als Frau Hummel, um sich zu erholen, ein wenig in die Luft ging, begegnete ihr die Nachbarin. Und Frau Hahn, welche sich seit jener Gartenscene im Unrecht fühlte, blieb stehen und sprach freundlich ihr Bedauern aus, daß Frau Hummel einen so unangenehmen Vorfall erlebt habe. Aber da klang doch die feindliche Stimmung und der Verdacht des Mannes aus der Antwort heraus, sehr kalt und abweisend sprach Frau Hummel, und auch die beiden Frauen schieden in feindseliger Stimmung.

Unterdeß saß Laura an ihrem Schreibtisch, sie besprach [198] die Ereignisse des Tages in ihren geheimen Aufzeichnungen und dichtete mit leichtem Herzen die Schlußverse: »Sie sind dahin! von uns genommen ist der Fluch, und ausgetilgt der Flecken in des Schicksals Buch.« Diese Prophezeiung enthielt gerade soviel Wahrheit, als wenn sie nach dem ersten Scharmützel des trojanischen Krieges durch Kassandra in Hektors Stammbuch eingezeichnet worden wäre. Sie wurde durch endlose Gräuel der Folgezeit widerlegt.

Zunächst war Speihahn gar nicht dahin, sondern blieb am Leben. Aber der nächtliche Verrath übte auf Leib und Seele des Geschöpfes einen betrübenden Einfluß. Er war nie schön gewesen, jetzt wurde sein Leib mager, der Kopf dick und sein zottiges Fell struppig. Die Glassplitter, welche der kunstvolle Arzt aus seinem Magen entfernte, fuhren gewissermaßen in die Haare, daß diese borstig am ganzen Leibe starrten wie an einer Flaschenbürste; das gewundene Schwänzchen wurde kahl, nur an der Spitze bestand eine Haarquaste, daß es aussah wie ein verbogener Korkzieher mit einem Kork am Ende. Mit diesem Schwanze wedelte er selten, auch sein Kläffen hörte auf, bei der Nacht wie am Tage wandelte er schweigend, nur ausnahmsweise vernahm man ein dumpfes Knurren, das zu denken gab. Er kehrte in das Leben zurück, aber die sanfteren Gefühle in ihm waren erstorben, sein Charakter wurde menschenscheu und schwarze Hintergedanken sammelten sich in seinem Innern, Anhänglichkeit und Berufstreue wurden vermißt, statt ihrer erwiesen sich lauernde Heimtücke und allgemeine Rachsucht. Doch Herr Hummel beachtete diese Umwandlung nicht. Der Hund war das Opfer einer unerhörten Bosheit, welche ihn, den Hausbesitzer, schädigen wollte, und wäre er zehnmal häßlicher und menschenfeindlicher gewesen, Herr Hummel hätte ihn doch zu seinem Lieblinge gemacht. Er streichelte ihn und nahm es dem Hunde gar nicht übel, wenn dieser zum Danke nach den Fingern seines Herrn schnappte.

Während aus der neuen Brandstätte des Familienfriedens [199] immer noch die Flämmchen sittlicher Entrüstung emporzüngelten, kehrte Fritz von seiner Reise zurück. In der ersten Stunde erzählte ihm die Mutter alle Vorgänge der jüngsten Zeit: das Glockenspiel, die Hunde, die neue Feindschaft. »Es war recht gut, daß du nicht hier warst. Hast du denn auch immer ein gutes Federbett gehabt? In den Gasthöfen sind sie jetzt mit den Decken gegen Fremde sehr rücksichtslos. Ich hoffe, auf dem Lande, wo sie die Gänse selbst ziehen, wird mehr Einsicht gewesen sein. Und wegen dieses neuen Zankes sprich mit dem Vater, thu, was du kannst, daß wieder Friede wird.«

Fritz hörte schweigend den Bericht der Mutter und sagte endlich begütigend: »Du weißt, es ist nicht das erste Mal, es geht vorüber.«

Diese Neuigkeiten trugen nicht dazu bei, den Doctor heiter zu stimmen. Er sah aus seiner Stube bekümmert nach dem Nachbarhause und den Fenstern des Freundes hinüber. Dort wurde wohl in Kurzem ein neuer Haushalt eingerichtet; konnte dann auch seine Freundschaft zum Professor von den Störungen betroffen werden, welche seit alter Zeit die beiden Häuser beschäftigten? Er ging daran, die Sammlungen seiner Reise zu ordnen, aber die Fußtapfen in der Höhle machten ihm heut eine unbehagliche Empfindung, und beim Hufschlag des wilden Jägers mußte er an die altklugen Worte Ilse's denken: »es ist Alles Aberglaube.« Er legte die Hefte zusammen, ergriff den Hut und ging grübelnd und nicht gerade fröhlich gemuthet in den Stadtpark. Und als er wenige Schritte vor sich Laura Hummel auf demselben Wege dahinschweben sah, bog er seitwärts ab, um Niemandem aus diesem Hause zu begegnen.

Laura trug ein Körbchen mit Früchten zu ihrer Frau Pathe. Die alte Dame bewohnte eine Sommerwohnung im nahen Dorfe, zu welchem ein schattiger Fußweg durch den Park führte. Es war zu dieser Stunde einsam im Stadtwald, und nur die [200] Vögel beobachteten, wie sorglos der kleine Mund des behenden Fräuleins lachte, und wie glücklich zwei schöne tiefblaue Augen in das Dickicht spähten. Aber obgleich Laura eilte, sie hatte doch vielen Aufenthalt. Zuerst fiel ihr ein, daß die Blätter einer Blutbuche ihrem braunen Filzhütchen gut stehen würden, sie brach einen Zweig, nahm den Hut ab und steckte die Blätter auf, und um sich darüber zu freuen, behielt sie den Hut in der Hand und legte zum Schutz gegen einzelne verwegene Lichtstrahlen ein Flortuch über den Kopf. Dann bewunderte sie das Parket von Goldgelb und Grau, welches die Sonne auf den Boden malte. Dann lief gar ein Eichhörnchen über den Weg, fuhr blitzschnell an einem Baum hinauf und duckte sich in die Zweige, und Laura sah zu ihm empor und erkannte seine reizenden Ohrbüschel hinter dem Laub, und sie träumte sich selbst auf die Höhe des Baumes mitten unter Laub und Früchte, schaukelte auf den Zweigen, schwang sich von einem Ast auf den andern und machte zuletzt einen Spaziergang auf den Gipfeln wie auf grünen Hügeln hoch in der Luft über die flatternden Blätter. Als sie dem Wasser nahekam, das auf der andern Wegseite floß, erlebte sie, daß eine große Gesellschaft Frösche, welche am Uferrande in der Sonne saß, wie auf Kommando mit großem Satze ins Wasser sprang, sie lief hinzu und sah mit Erstaunen, daß die Frösche im Wasser weit anders aussahen als auf dem Lande, gar nicht wie Klötze, sondern daß sie dahinfuhren wie kleine Herren mit Bäuchlein und dicken Hälsen, aber langen Beinchen, welche tapfer ausgreifen. Und da ein großer Frosch auf sie zusteuerte und seinen Kopf gegen sie aus dem Wasser hob, fuhr sie zurück, schämte sich einen Augenblick, daß sie seiner Schwimmkunst zugesehen hatte, und lachte dann über sich selbst. So zog sie durch den Wald, selbst ein Sommervogel, leicht beschwingt und in Frieden mit aller Welt.

Aber hinter ihr schritt ihr Schicksal. Speihahn nämlich hatte von seinem gewöhnlichen Platz an der steinernen Freitreppe [201] ihr Beginnen nicht unbemerkt gelassen. Unter den wilden Haaren, die wie ein Schnurrbart über seine Augen hingen, war etwas aufgedämmert, er hatte ihr nachgeschielt, sich endlich aufgemacht und trottete jetzt schweigend hinter ihr her, ungerührt durch Sonnenstrahl, Fruchtkorb und das rothe Kopftuch seiner jungen Herrin. Mitten zwischen Stadt und Dorf stieg der Weg aus dem Thalgrunde und seinen Bäumen zu einer kahlen Ebene, auf welcher die Kriegsmacht der Stadt zuweilen ihre Uebungen hielt, in den friedlichen Stunden ein Schäfer die Herde weidete: der Pfad lief schräg über die offene Fläche dem Dorfe zu. Laura hielt auf der Höhe an und bewunderte die fernen Wollträger und den braunen Schäfer, der mit seinem großen Hut und Hakenstock sehr hübsch aussah. Schon war sie über die Herde hinausgekommen, da hörte sie hinter sich Gebell und drohendes Geschrei, sie wandte sich um und sah die friedliche Gemeinde in wildem Aufruhr. Die Schafe stoben auseinander, einige rannten kopflos in die Weite, andere lagen zusammengeballt in einem Quergraben, die Schäferhunde bellten, der Schäfer und sein Knabe liefen mit gehobenen Stöcken um den verstörten Haufen. Aber während Laura erstaunt in das Getümmel sah, wurde sie selbst davon umringt, der Schäfer und sein Junge sprangen auf sie zu, zwei große Schäferhunde folgten dem hetzenden Zuruf, sie fühlte sich von rauher Männerhand angepackt, das zornige Gesicht des Schäfers und sein Hakenstock bewegten sich dicht vor ihren Augen. »Ihr Hund hat mir die Herde auseinandergejagt, ich fordere Strafe und Zahlung.« Erstarrt und leichenblaß griff Laura nach ihrem Geldtäschchen, kaum vermochte sie zu bitten: »ich habe ja keinen Hund, lassen Sie mich los, lieber Schäfer.« Doch der Mann schüttelte wild ihren Arm, zwei riesige schwarze Thiere sprangen an ihr hinauf und schnappten nach ihrem Tuche. »Es ist Ihr Hund, und ich kenne das rothe Biest,« schrie der Schäfer.

Das war kein Irrthum. Speihahn hatte nämlich ebenfalls die Schafherde beobachtet und seinen ruchlosen Plan geschmiedet. [202] Plötzlich war er mit heiserem Gekläff auf ein Schaf zugesprungen und hatte es heftig ins Bein gebissen. Darauf Flucht der Herde, Zusammenstürzen des Haufens, Speihahn mitten darunter, kläffend, kratzend, beißend, dann linksab einen trockenen Graben entlang, den Abhang zum Walde hinunter in das dichteste Gesträuch. Jetzt trabte er in Sicherheit nach Hause zurück, die Zähne fletschend, mit verworrenem Schnurrbart, und ließ sein Fräulein unter der Faust des Schäfers vergehen, der seinen Hakenstock noch immer über ihr schwenkte.

»Lassen Sie das Fräulein los!« rief die erzürnte Stimme eines Mannes. Fritz Hahn sprang herzu, stieß den Arm des Schäfers zurück und fing Laura, der die Sinne schwanden, in seinen Armen auf.

Das Dazwischentreten eines Dritten zwang den Schäfer zu neuer Anklage, deren Schluß war, daß er wieder in auflodernder Hitze das Mädchen anfassen wollte und daß seine Hunde gegen den Doctor heranfuhren. Aber tief empört gebot Fritz: »Sie halten die Hunde zurück und benehmen sich manierlicher, oder ich veranlasse, daß Sie selbst bestraft werden. Hat ein fremdes Thier Ihrer Herde Schaden gethan, so soll eine billige Entschädigung gezahlt werden, ich bin bereit, Ihnen oder dem Besitzer der Schafherde dafür zu bürgen.«

So rief er und hielt Laura fest im Arme, ihr Kopf lag auf seiner Schulter und das rothe Tuch hing über seine Weste bis auf das Herz hinab. »Fassen Sie sich, liebes Fräulein,« bat er herzlich besorgt. Laura erhob ihr Haupt, blickte furchsam auf das Angesicht, welches sich von Menschenliebe und Mitgefühl geröthet über sie beugte und erkannte mit Schrecken ihre Lage. Furchtbares Schicksal! Wieder er, zum dritten Male er, der unvermeidliche Beschützer und Retter! Sie entwand sich ihm und sagte mit schwacher Stimme: »Ich danke Ihnen, Herr Doctor, ich vermag allein zu gehen.«

»Nein, ich verlasse Sie nicht so,« rief Fritz und verhandelte mit dem Schäfer, der unterdeß die beiden Opfer des mörderischen [203] Hundes herzugeholt und als Beweise der verübten Missethat niedergelegt hatte. Fritz griff in seine Tasche, reichte dem Schäfer ein Aufgeld zu der gebotenen Entschädigung, nannte seinen Namen und besprach mit dem Manne, der nach Anblick des Geldes ruhiger wurde, eine Zusammenkunft.

»Bitte geben Sie mir den Arm,« wandte er sich ritterlich zu Laura.

»Ich kann das nicht annehmen,« erwiederte das betäubte Mädchen, der großen Feindschaft eingedenk.

»Es ist nur Menschenpflicht,« begütigte Fritz, »Sie sind zu angegriffen, um allein zu gehen.«

»Dann bitte ich Sie, mich zu meiner Frau Pathe zu geleiten, es ist am nächsten dorthin.«

Fritz nahm ihr das Körbchen ab und las die herausgefallenen Früchte zusammen, darauf führte er sie dem Dorfe zu. »Vor dem Manne hätte ich mich nicht so sehr gefürchtet,« klagte Laura, »aber die schwarzen Thiere waren so furchtbar.« Dabei hielt sie ihren Arm schwebend in dem seinen, denn jetzt, wo der Schrecken verflog, fühlte sie das Peinliche ihrer Lage, ach, mit Gewissensbissen! Denn sie hatte erst heute früh die Reisetoilette des heimkehrenden Doctors unausstehlich gefunden. Nun war allerdings Fritz kein Mann, dessen Unausstehlichkeit lange vorhielt. Er war voll Zartgefühl und Sorge um sie, strebte ihr jede Unebenheit des Weges zu ersparen, streckte im Gehen seinen Fuß aus und stieß kleine Steine weg. Er begann ein gleichgültiges Gespräch über die Frau Pathe, wobei sie erzählen mußte und auf andere Gedanken kommen konnte. Darüber ergab sich, daß er selbst die Pathe recht hochschätzte, ja, sie hatte ihm einst, als er noch Schulknabe war, einen Kirschkuchen geschenkt und er dafür an ihrem Geburtstage ein Gedicht verfertigt. Ueber das Wort Gedicht erstaunte Laura. Also dort drüben konnte man das auch? Allein der Doctor sprach sehr rücksichtslos von den erhebenden Schöpfungen glücklicher Stunden. Und als sie ihn frug: »Sie haben auch gedichtet?« und [204] er lachend erwiederte: »nur für's Haus, wie Jedermann,« da fühlte sie sich durch seine kalte Nichtachtung der Poesie recht gedrückt. Es war jedenfalls ein Unterschied zwischen Vers und Vers, bei Hahns thaten sie das um Kirschkuchen. Aber gleich darauf tadelte sie sich wegen unziemlicher Gedanken gegen ihren Wohlthäter. Und sie wandte sich freundlich zu ihm und sprach von ihrer Freude über das heutige Eichhorn im Walde. Denn sie hatte früher einmal ein solches Thier von einem Straßenjungen gekauft und ins Freie gesetzt, das Thierchen war zweimal vom Baume wieder auf ihre Schultern gesprungen, sie war endlich mit Thränen weggelaufen, damit das Kleine in seinem Walde bleiben müsse. Und wenn sie jetzt ein Eichhorn sehe, sei ihr immer, als gehöre es ihr zu, und sie täuschte sich gewiß, aber die Eichhörner schienen ihr dieselbe Ansicht zu hegen. Diese Geschichte führte zu der merkwürdigen Entdeckung, daß der Doctor ganz ähnliche Erlebnisse mit einer kleinen Eule gehabt hatte, er machte der Eule nach, wie sie immer mit dem Kopfe nickte, wenn er ihr das Fressen brachte, und dabei sahen seine Brillengläser ganz wie Eulenaugen aus, und Laura konnte das Lachen nicht verbergen.

In diesem Gespräch kamen sie vor der Thür der Pathe an, Fritz entließ Laura's Arm und wollte sich verabschieden, sie blieb an der Thürschwelle stehen, die Hand am Griffe, und sagte verlegen: »Wollen Sie nicht wenigstens einen Augenblick hereinkommen, da Sie die Frau Pathe kennen?« – »Mit Vergnügen,« erwiederte der Doctor.

Die Pathe saß in ihrer Sommerwohnung, welche etwas kleiner, feuchter und ungemüthlicher war als ihr Quartier in der Stadt. Als aber die Kinder der feindlichen Häuser miteinander eintraten, erst Laura, immer noch bleich und feierlich, und hinter ihr der Doctor, ebenfalls mit sehr ernsthaftem Gesicht, da erstaunte die gute Dame so, daß sie starr auf dem Sopha sitzen blieb und nur die Worte herausbrachte: »Was muß ich erblicken! Ist das möglich, ihr Kinder bei einander?«[205] Dieser Ausruf löste den Zauber, welcher die jungen Seelen für einen Augenblick zusammenband. Laura ging erkältet auf die Pathe zu und erzählte, daß der Herr Doctor zufällig bei ihrem Unfall herbeigekommen; der Doctor aber erklärte, daß er nur das Fräulein ihr sicher habe übergeben wollen; dann erkundigte er sich nach dem Befinden der Pathe und nahm seinen Abschied.

Während die Pathe stärkende Mittel herbeiholte und beschloß, daß Laura unter dem Schutze des Dienstmädchens auf einem anderen Wege heimkehren solle, ging der Doctor mit leichten Schritten nach dem Walde zurück. Seine Stimmung war gänzlich verwandelt, häufig flog ihm ein Lächeln über das Antlitz. Immer wieder mußte er daran zurückdenken, wie fest ihm das Mädchen in dem Arm lag. Er hatte ihre Brust an der seinen gefühlt, ihr Haar hatte seine Wange berührt und er hatte auf den weißen Nacken und die Büste herabgesehen. Der wackere Junge erröthete bei dem Gedanken und beschleunigte seinen Marsch. Darin wenigstens hatte der Professor nicht Unrecht, ein Weib war immerhin noch etwas Anderes als die Summe der Gedanken, welche man über Menschenleben und Weltgeschichte aus ihr zu entwickeln vermochte. Dem Doctor schien allerdings, als ob etwas sehr Anziehendes in wallenden Locken, rothen Bäckchen und einem hübschen Halse liege. Er gab zu, daß diese Entdeckung nicht neu war, aber ihren Werth hatte er bis dahin noch nicht mit solcher Deutlichkeit gefühlt. Und es war so rührend gewesen, wie sie aus der Betäubung zu sich kam, die Augen aufschlug und sich schamhaft aus seinen Armen löste. Auch daß er sie trotzig vertheidigt hatte, erfüllte ihn jetzt mit heiterem Stolze, er blieb auf dem Schlachtfelde stehen und lachte recht herzlich vor sich hin. Dann ging er in demselben Wege, den Laura aus dem Walde gekommen war, er sah auf den Boden, als wenn er die Spuren ihrer kleinen Füße auf dem Kies zu erkennen vermöchte und er fühlte Glanz und Wärme der Luft, den Lockruf [206] der Vögel, das Flattern der Libellen mit ebenso beflügeltem Muth wie kurz vorher seine hübsche Nachbarin. Dabei summte ihm die Erinnerung an den Freund durch den Kopf, behaglich dachte er auch an die Regungen dieses Gemüthes und an die Erschütterungen, welche Thusnelda darin hervorgebracht. Es hatte dem Professor närrisch gestanden, sein Freund war in dem Pathos der aufgehenden Leidenschaft sehr komisch gewesen. Solch schwerflüssiges ernsthaftes Wesen stach seltsam ab gegen die neckischen Angriffe, welche der Zufall auf das Leben der Erdgeborenen macht. Und als auf dem letzten Busch eine von den kleinen Heuschrecken rasselte, deren Geschwirr er in sorgenvoller Zeit oft gehört hatte, sagte er lustig vor sich hin: »auch die muß noch dabei sein, erst die Schafe, dann die Grillen.« Und er begann halblaut ein gewisses altes Lied, worin die Grillen aufgefordert wurden, dahinzufahren und sein Gemüth nicht weiter zu belästigen. So kam er von seinem Spaziergange in recht leichter, weltmännischer Stimmung nach Hause.

»Heinrich,« begann Frau Hummel am Nachmittage feierlich zu ihrem Gatten, »mache dich gefaßt auf eine fatale Geschichte, ich beschwöre dich, bleibe ruhig und vermeide eine Scene, mühe dich, deinen Widerwillen zu bezähmen, und vor allem, achte auch unsere Gefühle.« Und sie erzählte ihm das Unglück.

»Was den Hund betrifft,« versetzte Hummel nachdrücklich, »so ist durchaus noch nicht bewiesen, daß es unser Hund war. Das Zeugniß des Schäfers genügt mir nicht, ich kenne dieses Subject, ich verlange einen unbescholtenen Zeugen. Es laufen jetzt so viele fremde Hunde um die Stadt, daß die allgemeine Sicherheit darunter leidet, und ich habe schon oft gesagt, es ist eine Schande für unsere Polizei. Sollte es aber doch unser Hund gewesen sein, so kann ich kein besonderes Unrecht darin finden. Wenn das Schaf ihm ein Bein hinstreckt und er ein wenig daran zwickt, so ist das seine Sache und gar nichts dagegen zu sagen. Was ferner den Schäfer betrifft, ich kenne seinen Herrn, so ist das meine Sache. Was endlich [207] den jungen Mann da drüben betrifft, so ist das eure Sache. Ich habe nicht den Willen, das Unrecht seiner Eltern an ihm heimzusuchen, aber ich will mit den Leuten nichts zu thun haben.«

»Ich mache dich aufmerksam, Hummel,« warf die Gattin ein, »daß der Doctor dem Schäfer bereits Geld gegeben hat.«

»Geld für mein Kind, das leide ich nicht,« rief Hummel, »wieviel war's?«

»Aber Vater –,« bat Laura. – »Wie kannst du verlangen,« rief Frau Hummel vorwurfsvoll, »daß deine Tochter in Todesgefahr die Groschen zählt, welche ihr Retter auslegt.«

»So seid ihr Weiber,« grollte der Hausherr, »für Geschäfte fehlt der Sinn. Konntest du ihn nicht nachträglich fragen? Den Schäfer nehme ich auf mich, der Doctor kümmert mich nicht. Nur das sage ich euch, die Sache wird kurz abgemacht, und im übrigen bleibt's bei unserm Verhältniß zu diesem Hause. Ich fordere mir glattes Geschäft, und ich will diese Hähne nicht grüßen.«

Nach diesem Entscheid überließ er die Frauenstube ihren Gefühlen. »Der Vater hat Recht,« begann Frau Hummel, »daß er uns die Hauptsache anvertraut. Seinem strengen Sinne würde der Dank zu schwer ankommen.«

»Mutter,« bat Laura, »du bist geschickt in Artigkeiten, könntest du nicht hinübergehen?«

»Mein Kind,« erwiederte Frau Hummel sich räuspernd, »das ist nicht leicht. Dieser unglückliche Vorfall mit den Hunden hat uns Frauen zu sehr auseinandergebracht. Nein, da du die Hauptperson bei dem heutigen Vorfalle bist, mußt du selbst hinübergehen.«

»Ich kann doch nicht den Doctor besuchen,« rief Laura erschrocken.

»Das ist gar nicht nöthig,« begütigte Frau Hummel. »Den einzigen Vortheil hat diese Nachbarschaft, daß wir von unserem Fenster sehen, wenn die Männer ausgehen. Dann springst du zu der Mutter hinüber und richtest an sie noch [208] einmal deinen Dank für den Sohn. Du bist mein kluges Kind und wirst dir zu helfen wissen.«

Darauf saß Laura am Fenster, ohne Freude sah sie sich zur Wächterin der Nachbarn gesetzt, und recht widerwärtig erschien ihr das Auflauern. Endlich trat der Doctor auf die Thürschwelle. Sein Aussehen war wie gewöhnlich, gar nichts Ritterliches darin zu erkennen, die Gestalt war zart und der Wuchs regelmäßig, Laura liebte das Hohe; er hatte geistvolle Züge, aber sie wurden versteckt durch die große Brille, welche ihm einen recht pedantischen Ausdruck gab; wenn er einmal lachte, wurde sein Gesicht recht hübsch, aber sein gewöhnlicher Ernst kleidete ihn gar nicht. Fritz verschwand um die Ecke, und Laura setzte mit schwerem Herzen ihr Hütchen auf und ging in das feindliche Haus, dessen Räume sie noch niemals betreten hatte. Dorchen, die nicht im Geheimniß war, blickte den Besuch erstaunt an, brachte ihn aber scharfsinnig mit der Rückkehr des Doctors in Verbindung und verkündete aus freien Stücken, von den Herren sei Niemand zu Hause, Frau Hahn aber im Garten.

Frau Hahn saß im chinesischen Tempel. Verlegen standen die beiden Frauen einander gegenüber, beide dachten zugleich an ihr letztes Gespräch, und beiden war die Erinnerung peinlich. Aber bei Frau Hahn überwog sogleich der menschliche Schauder vor der Gefahr, welche Laura umzingelt hatte. »Ach, Sie armes Fräulein,« begann sie. Und während sie von Mitleid aufwallte, fühlte sie, daß der chinesische Bau für diesen Besuch kein geeigneter Ort sei, sie steuerte zartfühlend davon ab und lud auf die kleine Bank vor der weißen Muse. Das war der glücklichste Platz des Hauses, hier lachte der Orangenbaum seine Käuferin an, und Laura vermochte sich in dankbare Stimmung zu versetzen. Sie sagte der Nachbarin, wie sehr sich sie dem Herrn Doctor verpflichtet fühle, und daß sie die Mutter bitte, dem Sohne dies zu sagen, weil sie selbst in der Verwirrung diese Pflicht nicht gebührend erfüllt habe. Dazu [209] fügte sie das Geschäftliche wegen des bösen Schäfers. Der Dank vergnügte die gute Frau Hahn, und mütterlich bat sie Laura, ihren Hut ein wenig abzunehmen, weil es im Garten noch warm sei. Laura aber nahm den Hut nicht ab. Sie sprach schickliche Freude aus, wie hübsch der Garten blühe, und hörte mit Befriedigung, daß das Prachtstück im Topfe dem Herrn Hahn von einem Unbekannten geschenkt sei, auch die Früchte seien süß, denn Herr Hahn habe die Rückkehr seines Sohnes durch ein künstliches Getränk gefeiert und dazu die erste Frucht des kleinen Baumes genommen.

Es war bei alledem ein diplomatischer Besuch, er wurde nicht über die nothwendige Zeit ausgedehnt, und Laura war froh, als sie beim Abschied Empfehlung und Dank an den Herrn Doctor wiederholt hatte.

Auch in den stillen Aufzeichnungen Laura's wurde die Begebenheit des Tages sehr kurz abgefertigt. Sogar eine angefangene Betrachtung über das Glück einsamer Waldbewohner blieb unvollendet. Wie, Laura? Du schreibst ja Alles nieder; wenn ein Holzwurm tickt, oder ein Sperling in dein Fenster schreit, hüpfen dir einige Versfüße auf. Hier wäre ein Erlebniß, gewaltig für dein junges Leben: Gefahr, Bewußtlosigkeit, Arme eines Fremden, der trotz seinem gelehrten Aussehen doch ein hübscher Knabe ist. Jetzt wäre Zeit zu schildern und zu schwärmen. Eigensinniges Kind, warum liegt das Abenteuer als totes Gestein in der phantastischen Landschaft, welche dich umgibt? Geht dir's wie dem Reisenden, der müde auf die Alpengegend zu seinen Füßen blickt und sich wundert, daß die fremdartige Natur ihn so wenig ergreift, bis allmählich, vielleicht nach Jahren, die Bilder ihn im Traum und Wachen verfolgen und von neuem in die Berge ziehen? Oder hat die Nähe des argen Wichtes, der die Missethat verübt, auch dir die freien Schwingen gelähmt?

Da liegt er vor deiner Thürschwelle, roth und ruppig, und leckt seinen Schnurrbart!

12. Der Abschied vom Gute
[210] 12.
Der Abschied vom Gute.

Der Herbst war gekommen, auf den Hügeln des Gutes trugen die Bäume ihr buntes Trauerkleid; zwischen den Stoppeln hing weißes Gespinst und die Tautropfen lagen darauf, bis der Wind das Gewebe zerriß und aus Flur und Thal entführte in die blaue Ferne. Auf dem Gute aber gingen Hand in Hand zwei Glückliche. In diesem Jahr war der Blätterfall dem Professor gar nicht empfindlich, denn in seinem eigenen Leben hatte ein neuer Frühling begonnen, und die Seligkeit dieser Tage war auf sein Antlitz in einer Schrift geschrieben, da auch der Ungelehrteste zu lesen vermochte.

Ilse war Braut. Demüthig trug sie die unsichtbare Krone, welche nach der Meinung des Hauses und der Nachbarschaft jetzt auf ihrem Haupte saß. Immer noch hatte sie Stunden, wo sie an das Glück kaum glauben konnte. Wenn sie sich früh vom Lager erhob und das Schleifen der ausziehenden Pflüge hörte, oder wenn sie im Keller stand und die Milcheimer klapperten, war ihr die Zukunft wie ein Traum. Aber am Abend, wenn sie neben dem geliebten Mann in der Laube saß, seinen Worten lauschte und die Rede über Großes und Kleines dahinflog, dann faßte sie ihn leise am Arm und versicherte sich, daß er ihr gehörte, und daß sie selbst fortan in der Welt leben sollte, in welcher sein Geist heimisch war.

Noch vor dem Winter, ehe die Vorlesungen der Universität begannen, sollte die Hochzeit sein. Denn der Professor hatte flehentlich gegen langen Brautstand Verwahrung eingelegt, und der Landwirth gab ihm Recht. »Gern hätte ich Ilse über den Winter behalten, denn Clara muß einen Theil ihrer Arbeit übernehmen, und dem Kinde wäre die Anweisung der Schwester sehr nöthig. Aber für euch ist es anders besser. Sie, mein Sohn, haben sich meine Tochter nach kurzer Bekanntschaft gefordert, je eher sich [211] Ilse an Ihr Stadtleben gewöhnt, desto besser wird es für Sie beide sein; und ich meine, im Winter wird ihr das leichter werden.«

Es war eine Zeit seliger Unruhe, und es war gut, daß die verständige Sorge um den neuen Haushalt die hohe Empfindung der Verlobten ein wenig zu irdischen Dingen hinabzwang.

Der Professor reiste noch einmal nach der Universitätsstadt. Sein erster Gang war zum Freund. »Wünsche mir Glück,« rief er, »vertraue ihr und mir.« Der Doctor fiel ihm um den Hals und ging ihm in den Tagen seines Aufenthalt nicht von der Seite, er begleitete ihn bei allen Einkäufen und überlegte mit ihm die Eintheilung der Zimmer. Gabriel, dem der Besuch des Landwirths ein Vorgefühl kommender Ereignisse gegeben hatte, und dem um die eigene Unentbehrlichkeit bange geworden war, fühlte sich stolz, weil der Professor ihm sagte: »Wir bleiben die Alten, thun Sie, was in Ihren Kräften steht, sich meiner Frau nützlich zu machen.« Dann kam Herr Hummel, stattete im Namen der Familie seinen Glückwunsch ab und erbot sich aus freien Stücken, noch zwei Zimmer seines Hauses, die er entbehren konnte, dem Professor zu überlassen. Aber unruhiger als alle Andern erwartete Laura die neue Hausgenossin. Und sie brach in die schriftlichen Worte aus: »Wie wird sie sein, erhaben oder niedlich? voll strenger Würde oder lachend friedlich? mir pocht das Herz, und die Gedanken fliegen! wird liebevolles Ahnen mich betrügen?« Und als der Professor sie und ihre Mutter bat, seiner künftigen Frau entgegenzukommen und bei der Einrichtung zu helfen, und als er gegen Laura hinzusetzte, er hoffe auf ein gutes Verhältniß zwischen ihr und seiner Braut, da ahnte er gar nicht, wieviel Glück er in ein junges Herz senkte, welches das unruhige Bedürfniß hatte, sich hingebend anzuschließen. Die unsichern Angaben, welche er über das Wesen seiner Verlobten machte, hüllten die Gestalt immer noch in Nebel, aber sie wurden doch für Laura ein Rahmen, in welchen sie täglich neue Gesichter und Stellungen hineinzeichnete.

[212] Unterdeß saßen in den Nebenräumen des alten Hauses die Frauen emsig um Truhen und Leinwand beschäftigt. Clara war durch den Brautstand der Schwester auf einmal zum erwachsenen Mädchen geworden, sie half und gab guten Rath und erwies sich in Allem brauchbar und verständig. Und Ilse rühmte das am Abend gegen den Vater und darauf schlang sie die Arme um seinen Hals und brach in heiße Thränen aus. Dem Vater zuckte der Mund, er antwortete nicht, aber er hielte die Tochter mit beiden Händen fest an seinem Herzen. Auch für diese Trennung traf es sich günstig, daß die letzten Wochen vor dem Abschied übervoll von Arbeit und Zerstreuung waren. In der Wirthschaft gab es noch viel zu schaffen, und der Vater erließ den Verlobten keinen Besuch bei seinen Bekannten in der Nachbarschaft.

Zu den nächsten gehörte die Familie Rollmaus. Ilse hatte ihre Verlobung der Frau Oberamtmann in besonderm Briefe angezeigt. Darüber war große Erregung entstanden. Die Frau Oberamtmann triumphirte. Rollmaus aber ließ sich sofort das Pferd satteln und kam nach Bielstein geritten, jedoch nicht vor das Haus, er frug am Hofthor nach dem Gutsherrn und ritt zu diesem auf das Feld. Dort nahm er den Landwirth bei Seite und begann seinen Glückwunsch mit der kurzen Frage: »Was hat er?« Diese Frage konnte durch Zahlen beantwortet werden, und die Antwort beruhigte ihn einigermaßen. Denn er wandte sein Pferd kurz um, trabte vor das Haus und brachte der Braut und dem Professor, den er jetzt als ebenbürtig ansah, seinen Glückwunsch dar. Und diesmal wiederholte er dringend seine Einladung. Nach der Rückkehr sagte er seiner Frau: »Ich hätte der Ilse eine bessere Partie gewünscht, indeß der Mann ist nicht ganz übel, freilich auf einem großen Gute müßte er sich mühsam durchschlagen.«

»Rollmaus,« erwiederte die Frau, »ich hoffe, du wirst dich bei dieser Gelegenheit decent beweisen.«

»Wie so?« frug der Oberamtmann.

[213] »Du mußt beim Essen die Gesundheit des Brautpaars ausbringen.«

Der Gatte brummte. »Jedoch ohne unnützes Zeug, wie Redensarten und Steckenbleiben. Ich kenne das, darauf lasse ich mich nicht ein.«

»Die Redensarten müssen die Voraussetzung sein,« rief die Oberamtmann. »Und wenn du nicht willst, so werde ich selbst besorgen, was vorgesetzt werden muß, und du sprichst die Gesundheit.«

Das Haus Rollmaus hatte für den Brautbesuch sein feinstes Tischzeug aufgedeckt, und die Frau Oberamtmann erwies nicht nur ein gutes Herz, auch gute Küche. Sie schlug beim Braten an das Glas und begann aufgeregt: »Liebe Ilse, da Rollmaus in seiner Gesundheit das Kurze und Drakonische äußern wird, so will ich nur vorher erwähnen, daß wir Ihnen aus einem ehrlichen Herzen Glück wünschen als alte Freunde Ihrer Eltern, und da wir immer gute Nachbarschaft miteinander gehalten haben, in allem Unglück, und wenn ein angenehmer Zuwachs zur Familie kam, und ebenso durch Aushilfe in der Wirtschaft. Es ist uns sehr wehmüthig, daß Sie aus dieser Gegend ziehen, obgleich wir uns freuen, daß Sie in eine Stadt kommen, wo man das Geistige zu schätzen weiß, und was ein höheres Streben genannt wird. Ich will nicht voluminös werden, weshalb wir Sie beide bitten, auch in treuer Freundschaft an uns zu denken.« Sie fuhr mit dem Tuche nach den Augen und Rollmaus faßte die Familiengefühle kräftig in den vier Worten zusammen: »Das Brautpaar soll leben.« Beim Abschied weinte die Frau Oberamtmann ein wenig und bat den Hausherrn zu erlauben, daß sie doch zur Trauung kommen dürfe, wenn auch die Hochzeit ohne Gäste sei.

Und noch eine Störung brach herein. Der Landwirth hatte um die Ehre gebeten und sie war ihm gewährt: auf dem Wege zum Jagdschloß wollte der Fürst anhalten und im alten Hause das Frühstück einnehmen.

[214] »Es ist gut, Ilse, daß du noch bei uns bist,« sagte der Landwirth.

»Aber man weiß ja gar nicht, wie so ein Herr das gewöhnt ist,« wandte Ilse zwischen Freude und Sorge ein.

»Er bringt doch einen seiner Köche mit, der in der Oberförsterei das Jagdessen zurichtet, der mag helfen; sorge nur dafür, daß er etwas in der Küche findet.«

Am Tage der emsigen Vorbereitung saßen die Kinder, die Mamsell und Arbeiterinnen zwischen Hügeln von Waldzweigen und Herbstblumen und wanden Kränze und Festgehänge. »Verschont nichts,« befahl Ilse dem alten Gärtner, »er ist unser lieber Landesvater, wir Kleinen bringen ihm unsere Blumen als Steuer dar.« Und Hans verfertigte mit Hilfe des Professors aus Georginen riesige Kokarden und Namenszüge.

Schon am Abend vor der Jagd hielten der Fourier und der Mundkoch ihren Einzug. Der Fourier bat, die Tafel im Garten zu decken, dem Fürsten folge die nöthige Dienerschaft, bei der übrigen Aufwartung könnten die schmucken Hausmädchen helfen, dem Herrn sei das Ländliche gerade recht. Am Morgen der Jagd ritt der Landwirth in seinem besten Staat nach Rossau hinab, den Fürsten zu empfangen; die Kinder drängten sich um die Fenster der obern Stuben und spähten wie Wegelagerer nach der Landstraße. Kurz vor Mittag kamen die Wagen den Berg herauf und fuhren an der alten Hausthür vor, der Landwirth und der Oberförster, welche zu beiden Seiten des fürstlichen Wagens ritten, sprangen von den Pferden. Der Fürst stieg mit seinen Begleitern aus und betrat grüßend die Schwelle. Ein Herr in höherem Mannesalter von mäßiger Größe, einem schmalen feinen Gesicht, dem man noch glaubte, daß er in seiner Jugend den Ruf eines schönen Mannes gehabt hatte, mit zwei klugen Augen, deren Umgebung nur durch zu viele kleine Falten verknittert war. Ilse trat in den Hausflur, der Landwirth stellte in seiner einfachen Weise die Tochter vor, der Herr begrüßte Ilse huldreich mit einigen[215] Worten und gönnte dem Professor, der ihm als Bräutigam der Tochter genannt wurde, einen Blick und eine Frage, worauf der Professor vom Oberjägermeisteraufgefordert wurde, am Frühstück Theil zu nehmen. Dann schritt der Fürst sogleich in den Garten, rühmte das Haus und die Landschaft und erinnerte sich, daß er zum ersten Mal als vierzehnjähriger Knabe mit seinem Vater diese Gegend besucht habe.

Das Frühstück verlief auf's Beste, der Fürst that dem Landwirth wohlthuende Fragen, welche sein Interesse an den Zuständen der Landschaft erwiesen. Als er sich vom Tisch erhoben hatte, trat er an den Professor und frug nach Einzelheiten der Universität, er kannte den Namen des einen und anderen Collegen. Durch die sichern Antworten und die gute Haltung des Gelehrten wurde er veranlaßt, das Gespräch zu verlängern. Er erzählte, daß er selbst ein wenig Sammler sei, antike Münzen und Gräberfunde aus Italien mitgebracht habe, und daß ihm die Vermehrung seiner Sammlungen viele Freude gemacht. Und ihm war angenehm, daß der Professor bereits von einigem Bedeutenden darin wußte.

Als nun der Fürst mit einer Wendung zum Schlusse den Gelehrten frug, ob er in dieser Gegend heimisch sei, und Felix antwortete, daß ein Zufall ihn hierher geführt, da flog dem Gelehrten plötzlich der Gedanke durch das Haupt, daß hier eine Gelegenheit sei, die wohl so nicht wiederkehren werde, die höchste Gewalt des Landes mit dem Schicksale der verlorenen Handschrift bekannt zu machen, vielleicht Förderung für weitere Nachforschungen in der Residenz zu gewinnen. Er begann seinen Bericht. Der Fürst hörte mit sichtlicher Spannung zu, führte ihn während angelegener Querfragen weiter von der Gesellschaft ab und war so ganz bei der Sache, daß er darüber, wie es schien, die Jagd vergaß. Der Oberjägermeister wenigstens sah oft nach der Uhr und sagte dem Gutsherrn Verbindliches über das Interesse, welches der Herr an seinem Schwiegersohn nehme. Endlich schloß der Fürst die Unterhaltung: »Ich danke Ihnen für Ihre Mittheilung, ich würdige [216] das Vertrauen, welches Sie mir damit erweisen, kann ich Ihnen darin selbst nützlich sein, so wenden Sie sich direkt an mich, führt Sie der Weg einmal in meine Nähe, so lassen Sie mich das wissen, ich werde mich freuen, Sie wieder zu sehen.«

Als der Fürst durch den Hausflur nach dem Wagen schritt, blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um, der Oberjägermeister gab dem Landwirth schnell einen Wink, Ilse wurde gerufen und verneigte sich wieder und der Fürst dankte ihr in Kürze für die gastliche Aufnahme. Ehe die Wagen zwischen den Hofgebäuden verschwanden, sah der Fürst sich noch einmal nach dem Hause um. Auch diese Artigkeit fiel auf fruchtbaren Boden. »Ganz umgedreht hat er sich und ganz eigen darauf gesehen,« erzählte die Taglöhnerfrau, die sich mit Arbeitern bei dem Laubgewinde an der Scheuer aufgepflanzt hatte. Alles war zufrieden und freute sich der Huld, welche mit gutem Anstand erwiesen und empfangen war. Ilse rühmte die Leute des Fürsten, die ihr Alles so bequem gemacht, dem Professor hatten die gescheidten Fragen des Herrn sehr wohl gefallen, und als der Landwirth am späten Abend zurückkehrte, erzählte auch er, wie gut die Jagd verlaufen, und daß der Fürst ihm noch Freundliches gesagt und vor allen Leuten zu seinem Schwiegersohn Glück gewünscht habe.

Der letzte Tag kam, den die Jungfrau im Hause des Vaters verlebte. Sie ging mit Schwester Clara hinab in das Dorf, sie stand am Fenster des armen Lazarus, sie kehrte in jedem Hause ein und übergab die Armen und Kranken der Schwester. Dann saß sie lange bei dem Herrn Pfarrer in der Studierstube, der alte Mann hielt sein liebes Kind an den Händen fest und wollte sie nicht fortlassen. Bei der Trennung schenkte er ihr die alte Bibel, in welcher seine Frau gelesen hatte. »Ich wollte sie mit mir nehmen in die letzte Behausung,« sagte er, »aber sie ist besser aufgehoben in Ihren Händen.« Als Ilse zurückkam, setzte sie sich in ihrer Stube nieder, und die Mägde und Arbeiterinnen des Gutes traten eine nach der andern ein, von jeder nahm sie unter vier Augen Abschied, [217] sie sprach noch einmal über das, was jeder auf dem Herzen lag, gab Trost und guten Rat, ein kleines Andenken aus ihrer Habe und zuletzt einen guten Spruch, wie er auf das Leben paßte. Am Abend saß sie zwischen dem Vater und dem geliebten Mann, der Lehrer hatte den Kindern einige Verse eingelernt, Clara brachte den Brautkranz und der kleine Bruder erschien als Genius, aber als der Genius seinen Spruch sagen sollte, fing er an zu schluchzen, verbarg seinen Kopf in Ilse's Schoß und war gar nicht wieder zu beruhigen.

Zur Gutenachtzeit, als sich Alles entfernt hatte, saß Ilse noch einmal auf ihrem Stuhl in der Wohnstube, und als der Vater aufbrach, reichte sie ihm den Leuchter. Der Vater setzte ihn wieder hin und ging auf und ab, ohne zu sprechen. Endlich begann er: »Deine Stube bleibt für dich unverändert, und wenn du zu uns zurückkehrst, sollst du Alles so finden, wie du es verlassen. Dem Gute bist du nicht zu ersetzen, nicht den Geschwistern, auch nicht deinem Vater. Ich gebe dich hin mit Schmerzen in ein Leben, das uns beiden unbekannt ist. Gute Nacht, mein braves Kind, des Himmels Segen über dich. Gott behüte dir dein ehrliches Herz. Sei tapfer, Ilse, das Leben ist schwer.« Er zog sie an sich und sie weinte still an seinem Herzen.

Die Morgensonne des nächsten Tages schien durch die Fenster der alten Holzkirche auf die Stätte vor dem Altar. Wieder umsäumte sie Ilse's Haupt wie mit überirdischem Glanz und verklärte das glückliche Antlitz des Mannes, in dessen Hand der alte Pfarrer die Hand seines Lieblings legte. Die Kinder des Hauses und die Arbeiterinnen des Gutes streuten Blumen. Ueber den letzten Schmuck des Gartens schritt Ilse mit Kranz und Schleier, das Auge zur Höhe gerichtet. Aus den Armen des Vaters und der Geschwister, unter den lauten Segenswünschen der Frau Oberamtmann und dem leisen Gebet des alten Pfarrers hob der Gatte sie in den Wagen. Noch ein Hoch der Gutsleute, noch ein Blick nach dem Vaterhause, und Ilse faßte die Hand des Gatten und hielt sich an ihm fest.

Zweites Buch
1. Die ersten Grüsse der Stadt
1.
Die ersten Grüsse der Stadt.

Im Stadtwald fiel das Laub vor die Füße der Spaziergänger. Ilse stand am Fenster und dachte an die Heimat. Die Kränze über der Thür waren verwelkt, Linnen und Kleider lagen eingestaut in den Schränken, das eigene Leben rann so still, und draußen das fremde rauschte so überlaut. Im Nebenzimmer saß der Gatte über seiner Arbeit; nur das Knittern der Blätter, welche er umschlug, drang durch die Thür und dazwischen aus der nahen Küche ein Klappern der Teller. Sehr schön war die Wohnung, aber enge eingehegt, zur Seite die schmale Straße; dahinter das Nachbarhaus mit vielen neugierigen Fenstern; auch nach dem Walde der Horizont verbaut durch graue Stämme und ragende Aeste. Und aus der Ferne tönte vom Morgen bis zum Abend das Summen, Rasseln und Rufen der thätigen Stadt in das Ohr, von der Höhe die Klänge eines Flügels, vom Bürgersteig ohne Aufhören die Tritte der Vorübergehenden, Wagen rollten heran, laute Stimmen zankten. Und wie lange man aus dem Fenster schaute, immer neue Menschen und unbekannte Gesichter, viele schöne Herrschaften und wie der sehr ärmliche Leute. Ilse dachte bei jedem Vorübergehenden, der einen modischen Rock trug, wie vornehm er sein müsse, und bei jedem dürftigen Anzug, wie hart den Armen hier das Leben drücke. Alle aber waren ihr fremd, die sie reden hörte, auch die nahe bei ihr wohnten und [219] von allen Ecken auf ihr eigenes Treiben sehen konnten, hatten wenig mit ihr zu schaffen, und wenn sie nach Einzelnen frug, wußten ihre Hausgenossen nur spärliche Nachricht zu geben. Alles fremd und kalt und in endlosem Getümmel! Ilse stand in ihrer Wohnung wie auf einem winzigen Eiland in sturmbewegtem Meere und ihr wurde bange vor dem fremden Leben.

Aber die Stadt, wie riesenhaft und toblustig sie sich gegen Ilse geberdete, war im Grunde ein freundliches Ungethüm, ja sie hegte vielleicht vor andern eine stille Neigung zu poetischen Gefühlen und zu heimlicher Artigkeit. Zwar hatte ein gestrenger Stadtrath den Brauch aufgegeben, ansehnlichen Fremden den Willkommen mit Wein und Fischen zu überreichen, aber er sandte doch den ersten Morgengruß durch seine geflügelten Schützlinge, über welche sich schon Ilse's Vater gefreut hatte. Die Tauben flogen um Ilse's Fenster, saßen gedrängt vor den Scheiben und pickten an das Holz, bis Ilse ihnen Futter hinausstreute. Und Gabriel, der das Frühstück abräumte, konnte nicht umhin, sich selbst zu loben: »Ich habe sie seit einigen Wochen an diesem Fenster gefüttert, weil ich mir dachte, daß sie Ihnen recht sein würden.« Und als Ilse ihn dankbar ansah, gestand er offenherzig: »Denn ich bin auch vom Dorfe, und weil ich zuerst in die Kaserne kam, habe ich auch mein erstes Commisbrot mit einem fremden Pudel aufgegessen.«

Aber die Stadt sorgte noch durch andere Vögel dafür, daß die Frau vom Lande heimisch wurde. Gleich am ersten Tage, wo Ilse allein ausging – es war ein schwerer Gang, denn sie konnte sich mit Mühe enthalten, vor den Schaufenstern stehen zu bleiben, und sie erröthete, sooft die Leute dreist in ihr Gesicht sahen –, gleich damals hatte sie vor einer Conditorei arme Kinder getroffen, welche begehrlich durch die Fensterscheiben auf das Backwerk starrten; die sehnsuchtsvollen Blicke hatten sie gerührt, sie war hineingetreten und hatte Kuchen unter sie vertheilt. Seitdem machte sich's, daß jeden Mittag leise an Ilse's Klingel gezogen wurde und kleine Jungen [220] mit zerrissenen Höschen leere Töpfe darboten und gefüllte heimtrugen, zum Aerger des Herrn Hummel, der ein solches Anlocken von Spitzbuben nicht loben konnte.

Als Ilse am Abend ihrer Ankunft von dem Gatten in ihr Zimmer geführt wurde, fand sie über den Tisch eine schöne Decke gebreitet, ein Meisterstück sorgfältiger Frauenarbeit, daran einen Zettel mit dem Wort: »Willkommen«. Gabriel bekannte, daß Fräulein Laura dies Geschenk aufgelegt habe. Deshalb wurde am nächsten Morgen der erste Besuch im Unterstock gemacht. Als Ilse in das Wohnzimmer der Familie Hummel trat, sprang Laura erröthend auf und stand verlegen der Frau Professorin gegenüber; ihre ganze Seele flog der Fremden entgegen, aber Ilse's Wesen flößte ihr Scheu ein. Ach, die Ersehnte war allerdings erhaben und würdevoll, weit mehr als Laura gedacht hatte, Laura kam sich auf der Stelle sehr klein und unreif vor, sie empfing schüchtern den Dank und zog sich einige Schritte zurück, der Mutter die Pflicht der Worte überlassend. Aber sie wurde nicht müde, die schöne Frau anzusehen und ihre Gestalt in Gedanken mit dem edelsten Costüm der tragischen Bühne zu schmücken.

Laura erklärte der Mutter, daß sie den Gegenbesuch allein machen wolle, und schlüpfte am nächsten schicklichen Tage in der Dämmerung hinauf, mit pochendem Herzen, aber entschlossen, eine gute Unterhaltung zu suchen. Doch da wollte der Zufall, daß gleich nach ihr der Doctor als Störenfried eintrat, und es gab nichts als ein zerpflücktes Gespräch und verblichene Redensarten, durch welche gar nichts erreicht wurde. Und sie empfahl sich wieder, böse auf den Doctor und unzufrieden mit sich selbst, weil sie nichts Besseres zu sagen gewußt.

Seit diesen Tagen war die Hausgenossin für Laura ein Gegenstand stiller unablässiger Verehrung. Sie setzte sich nach Tische an das Fenster und wartete auf die Stunde, in welcher Ilse am Arm des Gatten auszugehen pflegte. Dann lauschte sie hinter der Gardine hervor und sah ihr bewundernd nach. [221] Sie huschte oft über den Hausflur und um die Entreethür der Miether, aber wenn Ilse einmal von weitem sichtbar wurde, verbarg sie sich, oder wenn sie mit ihr zusammentraf, verneigte sie sich tief und wußte in der Schnelle nur Gewöhnliches zu reden. Sie war sehr bekümmert, ob ihr Clavierspiel nicht stören würde und ließ hinauffragen, in welchen Stunden sie am wenigsten damit lästig sei; und als er, der rothe Kobold ohne Namen, einst gegen Ilse geknurrt und ihr tückisch in das Kleid gebissen hatte, gerieth sie in solchen Zorn, daß sie ihren Sonnenschirm holte und das Scheusal damit bis unter die Treppe verfolgte.

Unter dem Namen der Mutter – denn für sich selbst wagte sie es nicht – begann sie einen Feldzug von kleinen Aufmerksamkeiten gegen den Oberstock. Wenn Verkäufer gute Dinge für die Küche anboten, wurde Laura den Mittagsfreuden des Herrn Hummel verhängnißvoll, denn sie fing junge Gänse und fette Hühner vor der Kücheab und sandte sie regelmäßig nach der Höhe, bis das Dienstmädchen Susanne über das Vorkaufsrecht der Miether in Erbitterung gerieth und Frau Hummel zu Hilfe holte. Als durch eine Frage Gabriels offenbar wurde, daß sich die Frau Professorin nach einer bestimmten Art feiner Aepfel erkundigt hatte, eilte Laura auf den Markt, suchte so lange, bis sie ein Körbchen davon heimbrachte, und diesmal zwang sie sogar Herrn Hummel selbst, den Korb mit vielen Empfehlungen hinaufzusenden. Ilse freute sich des artigen Hauswirths, aber sie ahnte nicht den geheimen Quell.

»Vor einem Volk habe ich große Scheu,« sagte Ilse zu ihrem Gatten, »und das sind die Studenten. Ich war kaum flügge und zum Besuch bei unserer Tante, da sah ich eine ganze Gesellschaft zum Thore hereinziehen, mit großen Degen, mit Federhüten und sammtenen Röcken. Thaten die wild! Ich durfte den Tag nicht auf die Straße gehen. Wenn ich jetzt als deine Frau mit den wilden Männern verkehren muß, ich fürchte mich nicht gerade, aber sie sind mir bangsam.«

[222] »Nicht alle sind so arg,« tröstete der Professor, »du wirst sie bald gewöhnt werden.«

Trotzdem erwartete Ilse mit Spannung den ersten Studenten. Und es traf sich, daß an einem Morgen die Schelle gezogen wurde, als gerade der Professor auf der Bibliothek weilte, Gabriel und das Mädchen ausgeschickt waren. Ilse öffnete selbst die Thür. Betroffen prallte ein junger Mann zurück, der durch die bunte Mütze als Student deutlich wurde und außerdem eine schwarze Mappe unter dem Arme trug. Die ser sah freilich anders aus, ohne Straußenfeder und Degen, er war auch bleich und schmächtig; aber Ilse fühlte doch Respect vor dem gelehrten jungen Herrn und fürchtete nebenbei, daß die Wildheit seines Standes plötzlich aus ihm hervorbrechen könnte. Indeß, sie war ein tapferes Mädchen gewesen und nahm den Besuch von der praktischen Seite: Das Unglück ist einmal da, jetzt gilt's artig sein. – »Sie wünschen meinen Mann zu sprechen, er ist im Augenblick nicht zu Hause, wollen Sie sich nicht gütigst hereinbemühen?«

Der Student, ein armer Philolog, welcher als Bewerber um ein kleines Stipendium anlief, gerieth solchem majestätischen Willen gegenüber in starke Beklemmung. Er machte viele Verbeugungen, aber er wagte nicht zu widerstreben. Ilse führte ihn also in das Besuchzimmer, nöthigte ihn, auf einem Lehnsessel niederzusitzen und frug, ob sie ihm mit irgend etwas dienen könne. Der arme Schelm wurde immer verlegener, und auch Ilse wurde durch seine Unruhe ein wenig angesteckt. Sie fing aber entschlossen eine Unterhaltung an und erkundigte sich, ob er aus dieser Stadt stamme. Dies war nicht der Fall. – Aus welcher Gegend er zugezogen, auch sie sei eine Fremde. – Da ergab sich, daß er aus ihrer Landschaft war, zwar nicht aus der Nähe ihrer Heimat, sondern, wie beide miteinander berechneten, etwa zehn Meilen ab aus anderer Ecke, indeß er hatte doch von klein auf dieselben Berge gesehen und kannte die Mundart ihres Landes und die Sprache seiner Vögel. [223] Nun rückte sie ihm näher und machte ihn gesprächig, bis beide wie gute Gesellen miteinander plauderten. Endlich sagte Ilse: »Mein Mann kommt vielleicht nicht so bald, ich möchte ihn aber des Vergnügens nicht berauben, Sie zu sprechen, wie wäre es, Herr Landsmann, wenn Sie uns den nächsten Sonntag die Freude machten, unser Mittagsgast zu sein?« Ueberrascht und unter vielen Danksagungen erhob sich der Student und entfernte sich, von Ilse bis an die Thür begleitet. Er hatte aber, umstrickt durch das Abenteuer, seine Mappe vergessen, noch einmal tönte schüchtern die Schelle, er stand noch einmal verlegen an der Thür und bat mit vielen Entschuldigungen um seine Mappe.

Ilse freute sich der Begegnung und daß sie so gut die erste Schwierigkeit überwunden hatte. Froh rief sie ihrem Mann an der Thür zu: »Felix, der erste Student war hier.«

»So?« erwiederte der Gatte, durch die Nachricht keineswegs erschüttert, »wie hieß er?«

»Den Namen weiß ich nicht, er trug aber eine rothe Mütze und sagte: er sei kein Fuchs. Ich habe mich nicht gefürchtet, ich habe ihn dir für Sonntag zum Essen gebeten.«

»Nun,« versetzte der Professor, »wenn du das bei Jedem thust, so wird unser Haus voll werden.«

»War's nicht recht?« frug Ilse bekümmert. »Ich sah wohl, daß es keiner von den großen war, aber ich wollte um deinetwillen doch lieber zu viel, als zu wenig thun.«

»Laß gut sein,« sagte der Professor, »es soll ihm nicht vergessen werden, daß er der erste war, der in dein liebes Angesicht schaute.«

Der Sonntag kam, und in der Mittagstunde unter vielen Verbeugungen der Studiosus. Obwohl er sonst Freitische in Familien als eine zwar werthvolle, aber lästige Einrichtung leidend ertrug, so hatte er doch diesmal in Weste und sogar in Handschuhen eine außerordentliche Anstrengung gemacht. Und Ilse erhielt durch die Haltung des Gatten gegen [224] den Studenten sogleich eine ruhig mütterliche Würde. In solcher Stimmung legte sie ihm ein zweites Bratenstück auf den Teller und versah ihn mit gehäufter Zukost. Die wohlwollende Behandlung und einige Gläser Wein, deren letztes Ilse eingoß, stärkten dem Studenten das Herz und hoben ihn über die Erbärmlichkeiten des irdischen Daseins. Nach Tische besprach der Professor mit dem Doctor etwas Gelehrtes. Ilse aber setzte gütig die Unterhaltung mit dem jungen Herrn fort und kam, da dies am bequemsten war, auf seine Familienverhältnisse zu sprechen. Da wurde der Student warm und weich und begann Enthüllungen von sehr traurigem Inhalt. Natürlich zunächst, daß er kein Geld hatte, dann aber wagte er auch schmerzliche Offenbarungen über ein zartes Verhältniß zu der Tochter eines Juristen, mit welcher er in demselben Hause gewohnt und die er ein Jahr lang innig verehrt hatte, zuletzt mit Poesie. Endlich kam der Vater dahinter. Dieser verbot mit einer Tyrannei, wie sie geheimen Justizräthen eigen ist, seiner Tochter die Annahme der Gedichte und bewirkte sogar die Entfernung des Studiosus aus dem Hause. Seitdem war das Innere des Studenten ein Abgrund von Verzweiflung; kein Gedicht – es waren Sonette – drang mehr bis zu der umschlossenen Geliebten. Ja, er hatte Grund, anzunehmen, daß auch sie ihn verachte. Denn sie besuchte Bälle, und er hatte sie erst den Abend vorher gesehen, wie sie mit Blumen im Haar aus dem Wagen des Vaters in ein hell erleuchtetes Haus getreten war. Traurig hatte er an der Hausthür unter dem zuschauenden Volk gestanden, sie aber war rosig, lächelnd, strahlend bei ihm vorübergeglitten. Jetzt wandelte er mit seinem Abgrunde dahin, allein, ohne eine menschliche Seele, des Lebens müde und voll schwarzer Gedanken, über welche er sehr düstere Andeutungen machte. Zuletzt bat er Ilse um Erlaubniß, ihr diejenigen Gedichte, welche die Zustände seines Innern am deutlichsten ausdrückten, übersenden zu dürfen.

[225] Natürlich gab das Ilse in warmem Mitleid zu.

Der Studiosus empfahl sich, und Ilse erhielt am nächsten Morgen durch Stadtpost ein ziemliches Päckchen mit einem ehrerbietigen Briefe, worin der Student sich entschuldigte, daß er nicht alle poetischen Actenstücke, welche sein Unglück ins richtige Licht setzten, übersende, da er mit dem Abschreiben nicht fertig geworden sei. Beilage war ein Sonett an Ilse selbst, sehr hochachtungsvoll und zart, doch war daraus allerdings die stille Neigung des Studenten erkennbar, Ilse an Stelle seiner Ungetreuen zur Herrin seiner Träume zu machen.

Ilse trug verlegen diese Sendung auf den Arbeitstisch ihres Gatten. »Habe ich etwas versehen, Felix, so sag' mir's.« Der Professor lachte. »Ich schicke ihm selbst seine Gedichte zurück, das wird die Huldigung wohl bändigen; du weißt jetzt, daß es nicht ohne Gefahr ist, das Vertrauen eines Studenten zu gewinnen. Die Gedichte sind übrigens schlechter als nöthig wäre.«

»Das war also eine Lehre,« sagte Ilse, »die ich mir geholt. In Zukunft wollen wir vorsichtiger sein.«

Aber so schnell wurde sie die Erinnerung an den Studenten nicht los.

Jeden Nachmittag, wenn das Wetter nicht gar unfreundlich war, ging zu derselben Stunde Ilse am Arm des Gatten in den Stadtwald. Die Glücklichen suchten einsame Nebenpfade, wo das Astgeflecht dichter ragte und das Grün des Grundes fröhlich gegen die gelben Blätter abstach. Dann dachte Ilse an die Bäume des Gutes, und da machte sich's, daß die Gatten immer wieder vom Vater und von den Geschwistern sprachen und von den ersten Nachrichten, die sie aus der Heimat bekommen. An dem Wiesengrund, welcher sich von den letzten Gebäuden in den Wald zog, stand unter dichtem Gebüsch eine Bank, dort übersah man im Vordergrund die feindlichen Häuser, dahinter Giebel und Thürme der Stadt. Als Ilse [226] das erste Mal aus dem Gebüsch an die Stelle trat, freute sie sich des Anblicks ihrer Fenster und der umdämmerten Thürme, dabei fiel ihr der Sitz in der Höhle ein, von dem sie sooft auf das Vaterhaus geblickt hatte; sie saß auf der Bank nieder, zog Briefe ihrer Geschwister hervor, die sie eben erhalten, und las dem Gatten die schmucklosen Sätze, in denen die letzten Ereignisse des Gutes berichtet wurden. Seitdem war ihr die Ruhestelle lieb, jedesmal lenkten sich die Schritte auf dem Heimwege dorthin, und sie schaute von der Bank nach der Wohnung, den Dächern der Stadt und dem Himmel darüber.

Als sie nun am Tage nach jener Sendung des Studenten wieder aus dem Gehölz zu der Bank trat, sah sie einen kleinen Blumenstrauß darauf liegen; neugierig griff sie darnach, ein zierlich zusammengelegtes Briefchen aus Rosapapier hing daran, mit der Aufschrift: »Ein Gruß aus B.« Dahinter gerade so viel Punkte, als der Name des väterlichen Gutes Buchstaben enthielt. Ueberrascht reichte sie den Zettel dem Professor, er öffnete und las die anspruchslosen Worte: »Unterm Stein die kleinen Zwerge senden dir den Blumenstrauß, grüßend über Thal und Berge, aus dem lieben Vaterhaus.« – »Das gilt dir,« sagte er verwundert.

»Wie allerliebst,« rief Ilse.

»Die Zwerge sind jedenfalls ein Scherz des Doctors,« entschied der Professor, »freilich hat er seine Hand gut verstellt.«

Erfreut steckte Ilse den Strauß an: »Wenn der Doctor heut Abend kommt, soll er nicht merken, daß wir ihn errathen haben.« Der Professor erzählte von den neckischen Einfällen des Freundes, und Ilse, die sonst den Doctor mit einem geheimen Zweifel betrachtete, stimmte herzlich bei.

Als aber der Doctor am Abend die größte Unbefangenheit heuchelte, wurde fröhlich seine Verstellungskunst gescholten und der Dank doch an ihn abgegeben. Da aber erklärte er fest, daß Strauß und Gedicht nicht von ihm kämen; es erhob [227] sich eine fruchtlose Erörterung über den Urheber, und der Professor sah zuletzt sehr ernsthaft aus.

Die Begrüßung im Walde wiederholte sich. Wenige Tage darauf lag wieder ein kleiner Strauß mit derselben Aufschrift und einem Verse auf der Bank. Noch einmal versuchte Ilse leise eine Mitwirkung des Doctors zu behaupten, aber der Professor wies das kurz ab und steckte den rosafarbenen Zettel ein. Ilse nahm den Strauß mit, diesmal nicht im Gürtel. Als der Doctor herüberkam, wurde das Abenteuer wieder in Erwägung gezogen.

»Es kann Niemand sein als der kleine Student,« gestand Ilse gedrückt.

»Das fürchte auch ich,« sagte der Professor, und erzählte dem Doctor zu Ilse's Kummer von der vertraulichen Sendung des Musensohns. »So harmlos die Sache an sich ist, hat sie doch eine ernste Seite. Das Auflegen dieser Adressen setzt eine genaue Beobachtung voraus, die nichts weniger als angenehm ist, und solche emsige Thätigkeit kann den Verehrer bis zu größerem Wagniß führen. Dem muß gesteuert werden. Ich werde morgen versuchen, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen.«

»Und wenn er dir die Täterschaft ableugnet,« warf der Doctor ein. »Dies wenigstens sollte man ihm vorher unmöglich machen. Der Strauß kann, wenn er andern Vorübergehenden entgehen soll, erst im letzten Augenblicke vor eurer Ankunft hingelegt werden, und es ist nicht schwer, euer Kommen abzuwarten, da der Spaziergang in größter Regelmäßigkeit stattfindet. Man muß den Dreisten zu überraschen suchen.«

»Ich werde also morgen allein gehen,« sagte der Professor.

»Du darfst einem Studenten nicht im Walde aufpassen,« entschied der Doctor, »auch wird, wenn Frau Professorin zu Hause bleibt, der Strauß wahrscheinlich nicht auf der Bank liegen. Ueberlaß mir die Sache. Geht morgen und in den nächsten Tagen aus wie gewöhnlich, ich will von anderer Seite her die Stätte des Frevels beobachten.«

[228] Das wurde beschlossen, der Professor nahm die beiden kleinen Sträuße aus dem Glase und warf sie zum Fenster hinaus.

Den Tag darauf ging der Doctor als Spion verkleidet in grauem Rock und dunklem Hut eine Viertelstunde vor den Freunden in den Stadtwald, um aus einem Versteck den vermessenen Versifex zu überfallen; er nahm sich vor, den Thäter im Gebüsch so zu zerknirschen, daß seinem Professor jede persönliche Einmischung gespart wurde. Gerade gegenüber der Bank fand er eine gute Stelle, wo dauerhaftes Buchenlaub den Jäger vor dem Wilde verbarg. Dort stellte er sich auf dem Anstand zurecht, zog einen großen Operngucker aus der Tasche, zwang ihn durch Drehen zu der schärfsten Wirkung und starrte unverwandt nach der verhängnißvollen Bank. Noch war die Bank leer, wenige Spaziergänger gingen gleichgültig an ihr vorüber, die Zeit wurde lang, der Doctor sah eine halbe Stunde durch die Gläser, daß ihm die Augen schmerzten, aber er hielt aus, sein Stand war ausgezeichnet, der Verbrecher konnte nicht entrinnen. Da plötzlich, gerade als sein Auge zufällig nach Herrn Hummels Haus abschweifte, sah er dort die Gartenthür nach dem Stadtpark geöffnet, etwas Dunkles fuhr heraus zwischen die Bäume, kam bei der Bank aus dem Gehölz, sah sich vorsichtig um, strich längs der Bank dahin und verschwand wieder hinter den Coulissen der Bäume und hinter der feindlichen Gartenpforte. Ein unendliches Erstaunen lagerte sich auf dem Antlitz des Doctors, er drückte das Opernglas zusammen und lachte still vor sich hin, richtete wieder die Gläser und spähte der verschwundenen Gestalt nach, schüttelte mit dem Kopf und verfiel in ein tiefes Sinnen. Da, horch, der ruhige Schritt zweier Lustwandelnden. Der Professor und Ilse traten in seiner Nähe aus dem Holz, sie blieben einige Schritt von der Bank stehen und sahen auf einen verhängnißvollen Strauß, welcher recht unschuldig dalag. Der Doctor brach lachend aus dem Gebüsch, er nahm den Strauß und bot ihn Ilse an. »Es ist nicht der Student,« sagte er.

[229] »Wer also?« frug der Professor unruhig.

»Das darf ich nicht sagen,« versetzte der Doctor, »aber die Sache ist harmlos, der Strauß ist von einer Dame.«

»Im Ernst?« frug der Professor.

»Verlaß dich darauf,« tröstete Fritz überzeugend, »er ist von Jemand, den wir beide kennen. Und deine Frau darf keinen Augenblick anstehen, sich den Gruß gefallen zu lassen, er ist in bester Meinung gegeben.«

»Sind die Städter so reich an Versen und Geheimnissen?« frug Ilse neugierig und nahm mit leichtem Herzen die Blumen. Wieder wurde gerathen, leider fand sich kein Mensch, dem man dergleichen zutrauen konnte. »Es ist mir lieb, daß sich die Sache so löst,« sprach der Professor, »doch sage deiner Dichterin, daß solche Sendung sehr leicht in falsche Hände kommen kann.«

»Ich habe keinen Einfluß auf sie,« erwiederte der Doctor, »aber weshalb sie sich diese Grüße auch in den Kopf gesetzt hat, es wird euch nicht ewig Geheimniß bleiben.«

Endlich kam die heißersehnte Stunde, in welcher Laura mit der hohen Fremden – so wurde Ilse bis zu diesem Tage in den Memoiren bezeichnet – ohne Beobachter zusammentraf. Die Mutter war ausgegangen, als Ilse mit einer häuslichen Frage in das Wohnzimmer trat. Laura gab Auskunft, wurde im Reden herzhaft und wagte endlich die Bitte, daß Ilse mit ihr in den Hausgarten hinabsteigen möchte. Dort saßen beide nebeneinander in dem letzten Strahl der Octobersonne und begutachteten mild den Kahn, den chinesischen Tempel und die Vorübergehenden. Endlich faßte Laura mit den Fingerspitzen Ilse's Hand und zog sie in die Gartenecke, um ihr die größte Seltenheit, das verlassene Nest eines Zaunschlüpfers, zu zeigen. Die Vögel waren längst entflogen, das Gewebe hing an halbentlaubten Aesten. »Hier waren sie,« rief Laura nachdrücklich; »himmlische kleine Wesen, fünf gesprenkelte Eier lagen darin, und sie haben die Kleinen glücklich heraufgebracht. Ich stand [230] die ganze Zeit Todesangst aus wegen der Katzen, die hier sehr umherschleichen.«

»Sie sind ein liebes Stadtkind,« sagte Ilse. »Ach, die Menschen sind hier glücklich, wenn sie nur einen armen Plattmönch im Garten erhalten. Zu Hause schwirrte, flog und sang das von allen Bäumen, und wenn's nicht etwas Besonderes war, konnte man sich gar nicht um das Einzelne kümmern. Hier wird Einem jedes Thierchen werthvoll und wehmüthig. Zuletzt auch die Sperlinge. Ich bin am ersten Morgen erschrocken über diese armen Geschöpfe. Sie sind ihren Kameraden draußen gar nicht zu vergleichen, so struppig und abgestoßen sind ihre Federn, und am ganzen Leibe sind sie schwarz und rußig wie Kohlenbrenner. Ich hätte gern einen Schwamm genommen und die ganze Bande abgewaschen.«

»Es würde nichts helfen, denn sie werden gleich wieder angemalt,« sagte Laura kleinlaut, »das macht der Ruß in den Dachrinnen.«

»Wird man in der Stadt so verstäubt und von allen Seiten gestoßen? Das ist traurig. Es ist doch schöner auf dem Lande,« und als Ilse das leise gestand, wurden ihr bei dem Gedanken an den fernen Waldhügel wider Willen die Augen feucht. »Ich bin nur noch fremd hier,« setzte sie muthiger hinzu. »Die Stadt wäre schon gut, wenn nur nicht gar zu viel Menschen darin wären, die kränken mich noch mit ihrem Anstarren, so oft ich allein auf der Straße gehe.«

»Ich will Sie begleiten,« rief Laura hingerissen, »wenn Sie wollen, ich will immer bereit sein.«

Das war ein freundliches Anerbieten, und es wurde dankbar angenommen. Und Laura bat in ihrer Freude darüber, daß Ilse sie jetzt auch in ihr Geheimzimmer begleite. Sie stiegen in den Oberstock hinauf. Dort wurde das kleine Sopha, der Epheu, Schäfer und Schäferin bewundert, zuletzt das neue Fortepiano.

»Spielen Sie mir etwas vor,« bat Ilse. »Ich kann[231] nichts. Wir hatten ein altes Clavier, da habe ich nur wenig Takte von meiner lieben Mutter gelernt, wenn die Kinder tanzten.« Laura ergriff ein schönes Notenheft, dessen erstes Blatt kunstvoll mit vergoldeten Elfen und Lilien geziert war, und spielte innerlich bebend, aber mit hübscher Fingerfertigkeit das Elfenstück herunter. Und sie erklärte lachend und ihre dunklen Löckchen schüttelnd die Stellen, wo die Geister angehuscht kamen und geheimnißvoll durcheinander schwatzten. Ilse war hoch erfreut. »Wie schnell die kleinen Finger fliegen!« sagte sie und betrachtete mit Bewunderung die feine Hand Laura's, »sehen Sie, wie groß meine Hand dagegen ist, und wie hart die Haut, das kommt vom Anfassen in der Wirthschaft.« Und Laura sah bittend zu ihr auf: »Wenn ich nur Sie singen hörte.«

»Ich vermag nichts als Gesangbuchlieder und ein paar alte Dorfmelodien.«

»O singen Sie doch,« bat Laura, »ich will Sie zu begleiten suchen.«

Ilse begann eine alte Weise, und Laura suchte eine bescheidene Begleitung und horchte hingerissen auf den kräftigen Klang der Stimme, sie fühlte ihr Herz in den Tonwellen zittern und wagte beim letzten Vers leise einzustimmen.

Sofort suchte sie nach einem Liede, das beide kannten, und als der gemeinsame Gesang so ziemlich gelungen war, klatschte Laura begeistert in die Hände, und es wurde der Beschluß gefaßt, ein oder das andere leichte Lied einzuüben und den Professor damit zu überraschen.

Dabei ergab sich, daß Ilse nur selten ein kleines Concert gehört und nur einige Male auf Reisen in ihrer Umgegend ein Schauspiel gesehen hatte, und nicht mehr als eine Oper.

»Das Stück hieß der Freischütz,« sagte Ilse. »Sie war des Oberförsters Tochter, und sie hatte eine Freundin, geradeso lustig und mit solchen hübschen Locken und treuen Augen, wie Sie haben. Und der Mann, den sie liebte, verlor sein Vertrauen auf des Himmels gnadenvollen Schutz, und um [232] das Mädchen für sich zu erhalten, verleugnete er, und gab sich dem Bösen. Das war fürchterlich. Ihr wurde das Herz schwer, und die Ahnung kam über sie, aber sie verlor nicht die Kraft und nicht das Vertrauen zu der Hilfe von oben. Und ihr Glaube rettete den Geliebten, über den der Böse schon seine Hand hielt.« Darauf schilderte sie getreulich den ganzen Verlauf des Stückes. »Es war hinreißend,« sagte sie, »ich war damals noch jung, und als ich in unser Quartier kam, konnte ich mich nicht fassen, und der Vater mußte mich schelten.« Laura lauschte auf dem Fußbänkchen zu Ilse's Füßen, hielt die Hand der Professorin fest, ließ sich wie ein kleines Kind, das ein Märchen hört, erzählen, was sie doch so gut wußte, und die Fremde war ihr unendlich rührend. »Wie warm Sie das schildern, es ist, als ob man ein Gedicht liest.«

»Ach nein,« erwiederte Ilse kopfschüttelnd, »gerade diese Artigkeit verdiene ich am wenigsten, ich habe in meinem ganzen Leben keinen Vers gemacht, und ich bin so prosaisch, daß ich gar nicht weiß, wie ich mit meinem ungeschickten Wesen in der Stadt zurechtkommen werde. Denn hier macht man Verse! Sie summen um einen in der Luft wie die Mücken im Sommer.«

»Meinen Sie?« frug Laura, das Köpfchen senkend.

»Denken Sie, auch ich Fremde habe Verse erhalten.«

»Das finde ich natürlich,« sagte Laura und drückte ihr Taschentuch in Falten, um die Verwirrung zu verbergen.

»Auf der Bank im Park habe ich kleine Sträuße gefunden mit lieben kleinen Gedichten, und den Namen meiner Heimat mit Buchstaben und Punkten. Sehen Sie, erst ein großes B und dann –«

Laura sah in ihrem Entzücken über den Bericht vom Taschentuch auf, ihre Wangen waren mit Purpur Ueübergossen, aber aus den Augen lachte der Schelm. Ilse blickte in das strahlende Gesicht, und während sie sprach, erriet sie die Geberin. Da beugte sich Laura auf Ilse's Hand, sie zu küssen, [233] Ilse aber hob ihr den Lockenkopf in die Höhe, drohte ihr mit dem Finger und küßte sie auf den Mund.

»Sie sind mir nicht böse,« bat Laura, »daß ich so dreist war.«

»Es war lieb und schön. Aber denken Sie, es hat uns doch in Verwirrung gesetzt, der Doctor hat Sie wohl beobachtet, aber er hat uns Ihren Namen nicht genannt.«

»Der Doctor?« rief Laura aufspringend, »muß der überall dazwischen kommen.«

»Er hat Ihr Geheimniß treu bewahrt. Nicht wahr, jetzt darf ich meinem Hausherrn Alles sagen? Denn unter uns, ihm war's eine Zeitlang gar nicht recht.«

Das war nun für Laura ein Triumph. Wieder flog sie zu Ilse's Füßen und bat schelmisch, zu erzählen, was der Herr Professor gesagt.

»Das geht nicht an,« entgegnete Ilse gravitätisch, »denn das ist sein Geheimniß.«

So schwand eine Stunde in süßem Geplauder, bis die Uhr schlug und Ilse schnell aufstand. »Mein Mann wird sich wundern, wohin ich verschwunden bin,« sagte sie, »Sie sind ein liebes Fräulein, ist's Ihnen recht, so wollen wir treu zusammenhalten.«

Ach, Laura war das sehr recht, sie begleitete ihren Besuch bis zur Treppe, auf den Stufen fand Laura, daß sie eine Hauptsache vergessen hatte, ihre Stube lag gerade über dem Zimmer der Frau Professorin, und wenn Ilse das Fenster öffnete, konnte sie im Nothfall der Hausgenossin schnelle Nachricht hinaufwinken. Und als Ilse an ihrer Thür schloß, kam Laura noch einmal herabgelaufen, um ihre Freude auszusprechen, daß Ilse ihr diese Stunde geschenkt habe.

Laura ging in ihrem Zimmer mit schnellen Schritten auf und ab und schnippte mit den Fingern, wie Einer, der das große Loos gewonnen hat. Sie vertraute dem geheimen Werke die ganze Weihestunde an, jedes Wort, das Ilse gesprochen, [234] und schloß mit den Versen: »Ich fand dich, Reine! Leben wird mein Traum. Dir schwebt die Seele zwischen Freud' und Schmerzen, ich aber rühr' an deines Kleides Saum und trage liebend dich in meinem Herzen.« Dann setzte sie sich an das Piano und spielte noch einmal mit leidenschaftlichem Ausdruck die Melodie, welche Ilse ihr vorgesungen hatte. Und Ilse hörte unten den innigen Dank für ihren Besuch.

2. Ein Tag der Besuche
2.
Ein Tag der Besuche.

Der Wagen fuhr vor, Ilse trat, für die ersten Besuche gerüstet, in das Arbeitszimmer des Gatten. »Sieh mich an,« sagte sie, »bin ich so recht?«

»Alles in Ordnung,« rief der Professor, fröhlich seine Frau musternd. Aber es war gut, daß auch ohne seine Hilfe Alles in Ordnung war, denn in Toiletten war des Professors kritischer Blick von zweifelhaftem Werth.

»Jetzt fängt für mich ein neues Spiel an,« fuhr Ilse fort, »wie es zu Hause die Kinder geübt. Ich soll bei deinen Freunden anklopfen und rufen: ›Hollo, holla!‹ und wenn die fremden Frauen fragen: wer ist da? dann werde ich antworten, wie's im Spiele geht: ›ein fremdes Bettelweib.‹ – ›Was will sie denn?‹ – ›Für mich ein Stücklein Brot, für meinen Mann 'nen Kuß, weil er mit mir bitten muß.‹«

»Nun, was die Küsse betrifft, welche ich den Frauen der Collegen austheilen soll,« versetzte der Professor, in die Handschuhe fahrend, »so wäre ich dir im Ganzen verbunden, wenn du das Geschäft übernähmst.«

»Ja, ihr Männer seid darin sehr streng,« sagte Ilse, »auch mein Fränzchen weigerte sich immer, das Spiel zu spielen, weil er den dummen Mädeln keinen Kuß geben wollte. – Ach, wenn ich dir nur keine Unehre mache!«

[235] Sie fuhren durch die Straßen. Der Professor erzählte seiner Frau auf dem Wege von Person und gelehrtem Wesen des Collegen, zu dem sie gerade fuhren. »Zuerst zu lieben Menschen,« sagte er, »der jetzt kommt, ist Professor Raschke, unser Philosoph, und mir ein werther Freund. Ich hoffe, seine Frau wird dir gefallen.«

»Ist er sehr berühmt?« frug Ilse und legte die Hand auf das pochende Herz.

Sie hielten am äußersten Ende der Vorstadt vor einem niedrigen Hause, Gabriel eilte in den Hausflur, den Besuch anzukündigen. Da er die Küche leer fand, klopfte er an die Stubenthür und öffnete endlich, in den Bräuchen des Hauses erfahren, den Eingang zum Hofe. »Herr und Frau Professor sind im Garten.«

Durch den engen Hof traten die Besuchenden in einen Gemüsegarten, dessen Luft der Hauswirth seinem Miether zur vorsichtigen und schonenden Mitbenutzung eingeräumt hatte. Unter der Mittagsonne des Herbsttages schritt ein Ehepaar die geraden Wege entlang. Die Frau trug ein kleines Kind auf dem Arme, der Mann hielt ein Buch in der Hand, aus dem er im Gehen seiner Begleiterin vorlas. Um aber auch seine andere zur Zeit wenig beschäftigte Körperseite für die Familie zu verwerthen, hatte der Professor die Deichsel eines Kinderwagens an den Bund seiner Beinkleider befestigt und fuhr auf solche Weise ein zweites Kind hinter sich her. Die Wandelnden kehrten den Gästen den Rücken zu und bewegten sich langsam, hörend und vorlesend, tragend und fahrend abwärts.

»Ein Zusammenstoß in dem engen Wege ist nicht wünschenswerth,« sagte Felix, »wir müssen warten, bis sie um das Viereck lenken und uns das Gesicht zukehren.« Es dauerte eine gute Weile, bevor der Zug die Hindernisse der Reise überwand, denn der Professor blieb im Eifer des Lesens zuweilen stehen und erklärte etwas, wie aus seinen Handbewegungen zu erkennen war. Neugierig betrachtete Ilse das Aussehen der seltsamen [236] Spaziergänger. Die Frau war bleich und zart, man sah ihr an, daß sie vor Kurzem das Krankenlager verlassen hatte, ihm hing um ein edelgeformtes geistvolles Angesicht langes, dunkeles Haar, auf dem der graue Reif lag. Schon waren sie dicht an die Gäste gekommen, da erst wandte die Frau die Augen von dem Gatten ab und erblickte den Besuch.

»Welche Freude!« rief der Philosoph und senkte sein Buch in die große Rocktasche. »Guten Morgen, College. Ha, da ist ja unsere liebe Frau Professorin. Frau, binde mir den Wagen ab, die Familienbande hemmen.« – Das Ablösen dauerte einige Zeit, da die Hausfrau die Hände nicht frei hatte und Professor Raschke keineswegs stillhielt, sondern vorwärts strebte und bereits die Hände des Collegen und der neuen Professorin in seinen beiden Händen festhielt. »Kommen Sie in das Haus, Sie liebe Gäste,« rief er und ging, während Felix seine Frau der Professorin zuführte, mit großen Schritten voran. Darüber vergaß er seinen Kinderwagen, den Ilse über die Schwelle hob und in den Hausflur rollte. Dort nahm sie das verlassene Kind aus den Betten, die beiden Frauen traten, jede ein kleines Werk der Weltweisheit auf dem Arme, in das Zimmer und sagten dabei einander die ersten freundlichen Worte, während das Kleine auf Ilse's Arm seine Windmühle schwenkte und das jüngste gelehrte Kind auf dem Arme der Mutter zu schreien begann. Unterdeß fuhr College Raschke abräumend in der Stube umher, entfernte Bücher und Papiere vom Sopha, rückte ein ausgebleichtes Sophakissen durch kräftigen Schlag in seine Form, daß der Staub herausfuhr, und bat eifrig: »Nehmen Sie Platz. Aber wie? Sie bemühen sich selbst mit diesem Pupus. Ist's der Säugling, so kann ich's Ihrem schönen Kleide nicht empfehlen. Doch es ist das andere, das gibt bessere Garantien,« verbesserte er sich selbst. Unterdeß befestigte sich die Gesellschaft auf den Sitzen. Ilse spielte mit dem Kinde auf ihrem Schoße, während Frau Raschke auf einen Augenblick verschwand und ohne den schreienden Säugling [237] zurückkam. Sie saß schüchtern da, aber sie that mit leiser Stimme wohlthuende Fragen. Nur unterbrach der lebhafte Philosoph immer wieder die Unterhaltung der Frauen, indem er dem Professor die Hand streichelte und der neuen Frau Collega zunickte: »So war's recht, ich freue mich, daß Sie sich in blühender Jugend an unser Treiben gewöhnen, denn unsere Frauen haben es nicht leicht, das äußere Leben ist enge, das innere anspruchsvoll. Wir sind oft langweilige Gesellen, schwer zu behandeln, mißmüthig, mürrisch und widerwärtig.« Und dabei schüttelte er mißbilligend den Kopf über das gelehrte Wesen, und aus seinem Angesicht lachte ein inniges Behagen.

Der Aufbruch des Besuches wurde durch den Pupus beschleunigt, der in der Nebenstube recht jämmerlich zu schreien begann. »Sie wollen schon fort,« klagte der Philosoph gegen Ilse, »dieser Besuch kann nicht gerechnet werden. Sie gefallen mir sehr, Sie haben ein klares Auge, und ich merke, Sie haben ein freundliches Gemüth, und das ist alles. Im Kopfe einen guten Spiegel, der die Bilder der Welt voll und rein zurückstrahlt, und im Herzen eine dauerhafte Flamme, welche Andern von ihrer Wärme abgibt. Wer das hat, dem kann's nicht fehlen, selbst wenn ihm das Schicksal auferlegt, Frau eines Stubengelehrten zu sein, wie Sie sind und diese arme Mutter von fünf Schreihälsen.« Und wieder strich er beflissen umher, holte einen alten Hut aus dem Winkel und hielt ihn der Frau Collega hin. Ilse lachte. »Ja so,« rief er, »es ist ein Herrenhut, er gehört dem Gatten.« – »Auch ich bin versehen,« entschuldigte sich der Professor. »Dann also ist es mein eigener,« entschied Raschke, setzte den Hut entschlossen auf und schritt zur Thür hinaus, die Gäste an den Wagen zu begleiten.

Ilse saß im Wagen eine Weile stumm vor Erstaunen: »Jetzt habe ich Mut, Felix, die Professoren sind noch weniger schreckhaft als die Studenten.«

[238] »Nicht alle antworten so auf die erste Begrüßung,« erwiderte der Professor. »Der jetzt kommt, ist mein nächster College Struvelius, er lehrt wie ich Griechisch und Latein, gehört nicht zu meinen nähern Bekannten, ist aber ein tüchtiger Gelehrter.«

Diesmal war es ein Haus der Stadt, die Einrichtung des Quartiers ein wenig ältlicher als in Ilse's neuer Wohnung. Diese Frau Professorin trug ein schwarzseidenes Kleid und saß vor einem Schreibtisch, der mit Büchern und Papieren bedeckt war. Zarte Dame in mittleren Jahren mit einem kleinen, aber gescheidten Gesicht und einer seltenen Frisur. Denn ihr kurzes Haar war hinter die Ohren in eine große, eingerollte Locke gekämmt, was ihr eine gewisse Aehnlichkeit mit Sappho oder Korinna gab, soweit nämlich ein Vergleich mit dem keineswegs hinreichend ermittelten Haarwuchs der beiden antiken Damen gestattet ist. Frau Professor Struvelius erhob sich langsam und begrüßte die Eintretenden mit steifer Haltung. Sie sprach gegen Ilse ihre Freude aus und wandte sich dann sogleich an den Professor. »Ich habe heut das Werk des Collegen Raschke angefangen und bewundere den Tiefsinn des Mannes.«

»Alles, was er schreibt, ist erfreulich,« versetzte der Professor, »weil bei Allem ein ganzer und reiner Mensch sichtbar wird.«

»Den Vordersatz und Nachsatz gebe ich für diesen Collegen zu, gegen die Verallgemeinerung des Satzes möchte ich bemerken, daß manches Epoche machende Werk keine hohe Berechtigung haben würde, wenn ein ganzer Mann dazu gehört, um ein gutes Buch zu schreiben.«

Ilse sah scheu auf die gelehrte Frau, welche ihrem Manne zu widersprechen wagte.

»Doch wir wollen uns vereinigen,« fuhr die Professorin so geläufig fort, als ob sie ihre Worte aus einem Buche abläse. »Nicht jedes tüchtige Werk fordert, daß sein Verfasser ein Mann von Charakter sei, aber wer wirklich diese edle [239] Qualität hat, wird schwerlich etwas schaffen, was in seiner Wissenschaft ungünstig wirkt. Und allerdings wurzeln die Schwächen eines gelehrten Werkes häufiger, als man wohl annimmt, in einer Charakterschwäche dessen, der das Werk schrieb.«

Der Professor neigte beistimmend das Haupt.

»Denn,« fuhr sie fort, »die Stellung, welche ein Gelehrter zu den großen Zeitfragen seiner Wissenschaft einnimmt, ja selbst die Vorzüge und Mängel seiner Methode sind doch in der Regel aus dem Charakter zu erklären. – Sie haben immer auf dem Lande gelebt,« wandte sie sich zu Ilse, »es wäre mir belehrend, zu erfahren, welche Eindrücke Ihnen das nahe Aneinandersein der Menschen in der Stadt gemacht hat.«

»Ich habe bis jetzt nur mit sehr Wenigen verkehrt,« entgegnete Ilse ängstlich.

»Natürlich,« fuhr Frau Professor Struvelius fort. »Ich meine aber, Sie werden mit Ueberraschung bemerken, daß die größere Nähe nicht immer ein inneres Zusammenleben fördert. Doch Struvelius muß erfahren, daß Sie hier sind.« Sie stand auf, öffnete das Nebenzimmer und rief, lothrecht an der Thür stehend, hinein: »Herr und Frau Professor Werner.« Aus der Nebenstube wurde leises Brummen gehört und eilfertiges Rauschen großer Blätter. Die Professorin schloß die Thür und fuhr fort: »Denn zuletzt leben wir doch durch Viele und in Wenigen. In der Stadt wählt man aus einer Fülle von Persönlichkeiten mit einer gewissen Willkür. Man könnte reicher sein als man gerade ist. Auch dieses Gefühl verleiht eine Zuversicht. Und solche Zuversicht gibt allerdings die Stadt leichter als das Land.«

Die Seitenthür öffnete sich, Professor Struvelius trat ein mit zerstreutem Blick, scharfer Nase, schmalen Lippen, leider auch mit ungewöhnlichem Hauptschmuck. Denn sein Haar stand so struwelig über den Schläfen, daß die Annahme wohl berechtigt war, diese Kopftracht sei alter Familienbesitz, eine Erbperrücke, welche in früheren naseweisen Jahrhunderten seinem [240] Geschlecht den Namen zugezogen hatte. Er verbeugte sich ein wenig, schob einen Stuhl heran und setzte sich stumm nieder, wahrscheinlich arbeitete er in Gedanken an seinem griechischen Schriftsteller rührig fort. Ilse litt unter der Ueberzeugung, daß ihm der Besuch eine ungelegene Störung sei und daß seine Frau sich unendlich tief herablasse, wenn sie ihr eine Anrede gönnte. »Sind Sie musikalisch?« examinirte Frau Struvelius.

»Ich darf kaum sagen ja,« erwiederte Ilse.

»Das freut mich,« rief die Wirthin, rückte sich ihr gegenüber und musterte sie mit scharfem Blick. »Wie ich Sie mir denke, dürfen Sie nicht musikalisch sein. Diese Kunst macht uns weich und zieht nur zu häufig gebrochene Existenzen.«

Felix bemühte sich noch ohne sonderlichen Erfolg, den Professor zur Theilnahme an der Unterhaltung heranzuziehen; bald erhoben sich die Besuchenden. Beim Abschiede streckte Frau Professor Struvelius die untere Hälfte des Armes rechtwinklig nach Ilse aus und sagte mit feierlichem Händedruck: »Werden Sie heimisch bei uns.« Und die Anrede ihres Gatten: »Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen,« wurde durch die zuklappende Thür entzweigeschnitten.

»Was sagst du jetzt?« frug der Professor im Wagen.

»Ach, Felix, ich bin recht klein geworden, mein Muth ist dahin, ich möchte am liebsten nach Hause fahren.«

»Sei ruhig,« tröstete der Gatte, »du fährst heut auf dem Jahrmarkt umher und siehst über viele aufgeschlagene Tische. Was dir nicht gefällt, brauchst du nicht zu kaufen. Der nächste Besuch gilt unserm Historiker, einem würdigen Mann, der zu den guten Geistern unserer Universität gehört. Auch seine Tochter ist eine liebenswürdige junge Dame.«

Ein Diener öffnete den Vorsaal und führte in das Empfangzimmer. An der Wand hingen einige gute Landschaften; ein Flügel, ein zierlicher Blumentisch, die seltenen Pflanzen wohlgeordnet und gepflegt. Die Tochter trat eilig [241] herein, eine feine, Gestalt mit zwei schönen dunklen Augen, ihr folgte ein stattlicher Herr von vornehmer Haltung, der fast aussah wie ein hoher Beamter, nur seine lebhafte Weise zu sprechen ließ den Gelehrten erkennen. Mit wohlthuender Herzlichkeit wurde Ilse aufgenommen. Der alte Herr setzte sich neben sie, begann eine zwanglose Unterhaltung, und Ilse fühlte sich bald behaglich wie bei guten Bekannten. Sie wurde auch an ihre Heimat erinnert, denn der Gelehrte frug: »Ist von dem alten Kloster in Rossau noch etwas erhalten?« Felix sah neugierig auf und Ilse antwortete: »Nur die Mauer; auch das Innere ist umgebaut.«

»Es war eine der ältesten geistlichen Stiftungen Ihrer Gegend, hat viele Jahrhunderte bestanden und sicher auf eine weite Umgegend Einfluß geübt. Da ist auffallend, daß die Urkunden des Klosters fast ganz fehlen und die übrigen Nachrichten, soviel mir bekannt, sehr dürftig sind. Man muß vermuthen, daß dort noch Manches in Verborgenheit liegt.« Ilse sah, wie sich das Angesicht ihres Gatten verklärte, aber er versetzte ruhig: »Am Orte selbst waren meine Fragen vergeblich.«

»Das ist wohl möglich,« gab der Historiker zu, »vielleicht sind die Documente nach Ihrer Residenz gebracht und liegen dort noch irgendwo unbenutzt.«

So rollte ein Besuch nach dem andern ab. Da war der Rector, Mediciner, ein behaglicher Weltmann in glänzender Einrichtung, seine Gattin eine runde bewegliche Frau mit zwei herausfordernden Augen; dann der große theologische Consistorialrath, ein langer hagerer Herr mit süßlichem Lächeln, auch bei seiner Gattin Alles in übergroßen Verhältnissen, Nase, Mund und Freundlichkeit. Der letzte war der Mineraloge, ein junger gewandter Mann mit einer sehr niedlichen Frau, auch erst seit wenigen Monaten verheiratet. Während die jungen Frauen auf dem Sopha schnell gute Bekanntschaft machten, wurde Ilse zum zweiten Mal durch eine Frage des Professors überrascht: »Ihre Heimat ist für mein Fach nicht ohne Interesse; [242] ist nicht eine Höhle in der Nähe?« Ilse erröthete und sah wieder nach ihrem Felix: »Sie gehört zum Gute meines Vaters.«

»Ei, dann habe ich jetzt gerade mit einem Funde zu thun, der auf Ihrem Gute gemacht ist,« rief der Mineraloge. Er holte einen Stein von auffallendem strahligem Gefüge herbei. »Dies ist ein sehr seltenes Mineral, das in der Nähe der Höhle entdeckt wurde, ein Apotheker der Gegend hat es mir eingeschickt.« Er nannte ihr den Namen des Minerals, sprach über das Gestein der Höhle und des Felsens, auf welchem das väterliche Haus stand, gerade als wäre er selbst dort gewesen, und ließ sich von Ilse die Linien der Berge und die Steinbrüche der Nähe beschreiben. Er hörte achtungsvoll ihre sichern Antworten und fand die Bodenbildung des Gutes sehr merkwürdig.

Erfreut rief Ilse: »Wir meinten, man kümmere sich in der Welt gar nicht um uns, aber ich sehe, die Herren Gelehrten wissen Einiges mehr von unserer Gegend als wir selbst.«

»Wir verstehen wenigstens Werthvolleres dort zu finden als Gesteintrümmer,« erwiederte der Professor artig.

Nach der Heimfahrt trat Ilse in das Zimmer des Gatten, der bereits an seiner Arbeit saß. »Dulde mich heute bei dir, Felix, mir summt der Kopf von all den Menschen, welche eingezogen sind. Das war für mich viel Neues an einem Tage, und viele Freundlichkeit von so gelehrten und vornehmen Geistern. Am gefährlichsten war's bei der belesenen Frau; Felix, es ist wohl unrecht, daß ich so etwas sage, und sie ist ja um sehr vieles feiner und gescheidter, aber wenn ich dir eine Aehnlichkeit nennen soll mit einer guten alten Bekannten –«

»Rollmaus,« bestätigte der Professor. »Die hier aber ist in der That sehr gescheidt.«

»Gebe der Himmel,« bat Ilse, »daß sich ihr Herz ebenso treu erweist, aber vor ihrer Gelehrsamkeit fühle ich einen Schauder. Sonst gefallen mir die Frauen gut, aber die [243] Männer noch viel besser. Etwas Großes haben sie fast alle, sie sprechen wunderschön, sie sind ungezwungen und sehen recht innerlich froh und seelenvergnügt aus. Natürlich, sie schweben über der Erde wie deine alten Götter, da können sie wohl lustig sein. Ach, und dabei das geflickte Hausröckel, welches der liebe Herr Professor Raschke anhatte. Dem wird Motte und Rost das Seine auch nicht fressen! Und wenn ich mir denke, daß diese vielen klugen Leute mich aufmerksam und gut behandeln, nur meines Hausherrn wegen, so weiß ich nicht, wie ich dir danken soll. Jetzt also bin ich unter die neuen Menschen aufgenommen und ich darf bitten: mein Eingang sei gesegnet.«

Der Gatte reichte ihr die Hand und zog sie an sich. Sie faßte sein Haupt mit ihren Händen und neigte sich darüber.

»Was ist es, worüber du jetzt arbeitest?« frug sie endlich leise.

»Nichts Großes, nur eine Abhandlung, wie ich sie alljährlich für die Universität zu machen habe.« Er sprach ihr Einiges von dem Inhalt der Arbeit.

»Und wenn sie fertig ist, was dann?«

»Dann ist für neue Aufgaben gesorgt.«

»Und das geht immer so fort, vom Morgen bis in den Abend, alle Jahre, bis die Augen versagen und die Kraft zerbricht!« klagte Ilse. »Laß mich heut um etwas Ernstes bitten. Zeige mir die Bücher, Felix, die du geschrieben hast, aber Alles.«

»Was ich etwa noch besitze,« sagte der Professor, und holte hier und da aus den Winkeln Bücher und Abhandlungen zusammen. Ilse schlug eine Schrift nach der andern auf, und es ergab sich, daß sie einige von den lateinischen Titeln bereits auswendig wußte. Der Professor wurde darüber eifrig, und ihm fielen immer noch kleine Arbeiten ein, die er vergessen hatte. Ilse aber legte Alles vor sich in einem Häufchen zusammen und begann feierlich: »Jetzt kommt für mich eine [244] große Stunde. Denn ich will jetzt von dir erfahren, was in jeder Schrift steht, soweit du deinem Weibe das deutlich machen kannst. Als ich dir schon im Geheimen gut war, da fanden die Kinder deinen Namen im Lexikon, wir mühten uns, die fremden Namen deiner Bücher zu lesen und die Oberamtmann hatte in ihrer Weise Muthmaßungen über den Inhalt. Da fühlte ich einen Schmerz, daß ich gar nichts von dem verstand, was du für die Menschheit gearbeitet hast. Seither habe ich immer auf den Tag gehofft, wo ich dich nach dem fragen könnte, was du besser gewußt hast als die Andern, und worauf ich stolz sein darf, da ich dir angehöre. Und heut ist die Stunde. Denn du hast mich heut deinen Freunden als deine Frau vorgestellt. Und ich will dein Weib auch da sein, wo dein Schatz ist und dein Herz, soweit ich vermag.«

»Liebe Ilse,« rief der Professor, hingerissen von ihrer ehrbaren Würde.

»Aber vergiß nicht,« fuhr Ilse mit wichtiger Miene fort, »daß ich sehr wenig verstehe, und verliere nicht die Geduld. Ich habe mir ausgedacht, wie ich es haben will. Schreibe du mir die Titel, wie sie in fremder Sprache und wie sie deutsch lauten, in ein Büchel, das ich mir dazu gekauft habe, deine früheste Arbeit zuerst und die jüngste zuletzt. Und dahinter, ob dir die Arbeit sehr lieb ist oder weniger, und welche Wichtigkeit sie für die Menschen hat. Darunter will ich mir bei jeder Schrift aufzeichnen, was ich von deiner Erklärung verstehe, damit ich Alles in gutem Gedächtniß behalte.«

Sie trug ein leeres Heft herzu, der Professor suchte wieder noch einzelne Abhandlungen hervor, ordnete sie nach Jahren und schrieb jeden Titel auf eine besondere Seite des Heftes. Dann erklärte er seiner Frau in ihrer Sprache ein wenig, was jeder Schrift Inhalt war, und half die kleinen Bemerkungen in das Notizbuch schreiben. »Was deutsch ist, suche ich selbst zu lesen,« sagte Ilse.

So saßen Beide ernsthaft über die Bücher geneigt, und [245] dem Professor pochte das Herz vor Freude über den festen Bedacht, mit welchem sein Weib das Verständniß seiner Thätigkeit suchte. Denn es ist das Loos des Gelehrten, daß Wenige mit herzlichem Antheil Mühe, Kampf und Verdienst seines Schaffens betrachten. Der Welt gilt er für einen harten Baugehilfen. Was er mit ausdauernder Kraft gebildet, das wird sofort als Baustein verwandt zu dem unermeßlichen Hause der Wissenschaft, an welchem das Geschlecht der Erde seit Jahrtausenden arbeitet. Hundert Andere stellen sich darauf, um die eigene Arbeit zu fördern, tausend neue Werkstücke werden darüber gewälzt, nicht Viele sind, welche danach fragen, wer den einzelnen Pfeiler gemeißelt, noch seltener drückt dem Arbeiter ein Fremder darum die Hand. Dem leichten Werke des Dichters winkt noch lange grüßend zu, wer einmal davor heiteres Lächeln gefunden hat oder gehobene Stimmung. Der Gelehrte wird nur selten und fast zufällig durch einzelne Werke ein werther Freund und Vertrauter seiner Leser. Er stellt nicht der Phantasie lockende Bilder, er schmeichelt nicht zuvorkommend dem sehnsuchtsvollen Gemüth, er fordert strengen Ernst und nüchterne Sammlung vom Leser, und dieselbe Strenge und Nüchternheit wird ihm selbst zu Theil bei jedem Urtheil über seine Leistung. Auch wo er Ehrfurcht einflößt, bleibt er ein Fremder.

Und doch ist er kein Steinmetz, der unförmliche Masse nach verständigen Maßen zurechtschlägt, auch er schafft mit inneren Kämpfen, mit seinem besten Herzblut, zuweilen unter schwerem Leid, oft mit beglückender Freudigkeit. Auch ihm erblüht, was er seiner Zeit darbringt, aus den tiefsten Wurzeln seines Lebens. Deshalb ist dem Gelehrten die Seele, welche das Wackere seiner Arbeit herzlich empfindet, und nicht nur nach dem letzten Gewinn der Wissenschaft frägt, sondern nach dem innern Kampf des Schaffenden, ein kostbarer Fund, ein seltenes Glück. – Jetzt sah Felix mit Rührung, wie sein Weib nach dieser Stellung rang, und dem kräftigen Manne wurde [246] das Herz weich, während er ihr den Namen eines römischen Dichters nannte, den er zu einem fast unbekannten Gedicht ermittelt, und während er ihr von römischen Tribus und von den Geschäften des Senates erzählte.

Als ein Jedes verzeichnet war, faltete Ilse die Hände über den Büchern und rief: »Hier halte ich Alles. Der Raum, den es einnimmt, ist so klein, und doch waren dafür viele arbeitvolle Tage nöthig, und manche Nacht, der größte Theil deines edlen Lebens. Dies hat dir oft heiße Wangen gemacht, wie du heute wieder hast. Dafür hast du gelernt, daß dir dein armer Kopf brannte, und dafür hast du immer in der Stube und zwischen den engen Mauern gesessen. Ich habe die Bücher sonst auch gleichgültig angesehen, jetzt erkenne ich erst, was ein Buch ist, eine stille, unendliche Arbeit.«

»Nicht von jedem ist das zu rühmen,« versetzte der Professor, »aber die besseren sind dafür auch mehr als eine Arbeit.« Er sah liebevoll auf die Wände, an denen hohe Bücherschränke bis zur Decke reichten, so daß die Stube aussah wie mit Bücherrücken tapeziert.

»Mir wird angst vor der Menge,« sagte Ilse und half ihm seine eignen Werke in eine dunkle Ecke tragen, welche ihnen jetzt als Standquartier eingeräumt wurde. »Sie sehen so gleichgültig aus, und doch mögen viele in Leidenschaft geschrieben sein und auch die Leser aufgestört haben.«

»Ja,« sagte der Gatte, »sie sind die großen Schätzehüter des Menschengeschlechts. Das Beste, was je gedacht und erfunden wurde, bewahren sie aus einem Jahrhundert in das andere, sie verkünden, was nur einst auf Erden lebendig war. Hier steht, was wohl tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung geschaffen wurde, und dicht daneben, was erst vor wenig Wochen in die Welt wanderte.«

»Von den Röckchen, die sie tragen, seht fast eins aus wie das andere,« sagte Ilse, »ich würde mich schwer darin zurechtfinden.«

[247] Der Professor erklärte ihr die Anordnung, führte sie von einem Schrank zum andern und wies ihr einzelne, die ihm besonders lieb waren.

»Und du brauchst sie alle?«

»Gelegentlich wohl noch viele andere. Die hier stehen, sind doch nur ein unendlich kleiner Theil der Bücher, welche je gedruckt wurden. Denn seit sie erfunden sind, liegt in ihnen fast Alles, was wir wissen und Bildung nennen. Aber das ist es nicht allein,« fuhr er geheimnißvoll fort, »Wenige denken daran, daß ein Buch mehr ist als ein Werk des schaffenden Geistes, das er von sich absendet wie der Tischler einen bestellten Sessel. Zwar an jedem Menschenwerk bleibt etwas von der Seele des Menschen hängen, der es gefertigt. Das Buch aber schließt zwischen seinen Deckeln in Wahrheit den Geist des Menschen ein. Was ein Mann für Andere bedeutet, der beste Theil seines Lebens, bleibt in dieser Form für die nächsten Geschlechter, vielleicht bis in die fernste Zukunft. Sowohl die, welche ein gutes Buch schreiben, als auch solche, deren Leben und Thun im Buche dargestellt wird, sie beharren in der That lebendig unter uns. Wir verkehren mit ihnen als mit Freunden und Gegnern, wir bewundern und bekämpfen, wir lieben und verabscheuen sie nicht weniger, als wenn sie leibhaftig unter uns weilten. Der Menschengeist, der zwischen solche Deckel eingeschlossen ist, wird dadurch auf Erden unvergänglich, und deshalb dürfen wir sagen, im Buche dauert das geistige Leben des Einzelnen, und nur der Geist, welcher eingebucht wird, hat sichere Dauer auf Erden.«

»Aber der Irrthum dauert auch,« rief Ilse, »und die Lügner und die unreinen Geister, wenn sie sich in ein Buch stecken.«

»Auch sie, sie werden durch andere Geister widerlegt. Sehr verschieden freilich ist Werth und Bedeutung dieser Unsterblichen. Bei Wenigen bleibt das Schöne und Große, das sie gefunden, für alle Zeiten, Viele gelten späterer Zeit nur, [248] weil wir erkennen, wie in ihren Tagen das Wesen der Menschen beschaffen war, Andere endlich sind ganz nichtig und unnütz, und solche schwinden schnell dahin. Aber alle Bücher, die geschrieben wurden, vom ältesten bis zum jüngsten, stehen in einem geheimnißvollen Zusammenhang. Denn sieh, Keiner, der ein Buch geschrieben, ist durch sich selbst geworden, was er uns ist, jeder steht auf den Schultern seiner Vorgänger. Alles, was vor ihm geschaffen wurde, hat irgendwie dazu geholfen, ihm Leben und Geist zu bilden. Und wieder was er geschaffen, hat irgendwie andre Menschen gebildet, und aus seinem Geist ist in spätere übergegangen. So bildet der Inhalt aller Bücher ein großes Geisterreich auf Erden, von den vergangenen Seelen leben und nähren sich Alle, welche jetzt schaffen. In diesem Sinne ist der Geist des Menschengeschlechts eine unermeßliche Einheit, der jeder Einzelne angehört, der einst lebte und schuf, und jetzt athmet und Neues wirkt. Der Geist, den die vergangenen Menschen als ihren eigenen empfanden, er ging und geht jeden Tag in Andere über. Was heut geschrieben ist, wird morgen vielleicht die Habe von tausend Fremden, wer längst seinen Leib der Natur zurückgegeben hat, lebt unaufhörlich in neuem irdischen Dasein fort und wird täglich in Tausenden auf's Neue lebendig.«

»Höre auf!« rief Ilse ängstlich, »mir schwindelt.«

»Ich sage dir das heut, weil auch ich mich als bescheidenen Arbeiter in diesem irdischen Geisterreich fühle. Diese Empfindung gibt mir eine Freude am Leben, die unzerstörbar ist, und sie gibt mir beides, Freiheit und Demuth. Denn wer in solchem Sinne arbeitet, der schafft, ob seine Kraft sich groß, ob klein erweise, nicht sich zur eigenen Ehre, sondern für Alle. Er lebt nicht für sich, sondern für Alle, gleichwie Alle, die gewesen sind, für ihn fortleben.«

So sprach er ernsthaft, von seinen Büchern umgeben, und die scheidende Sonne warf ihre Strahlen freundlich auf sein Haupt und auf die Behausungen seiner Geister an der [249] Wand. Ilse aber sagte, an seine Schulter gelehnt, demüthig: »Ich bin dein, lehre mich, bilde mich, mache mich verstehen, was du verstehst.«

3. Unter den Gelehrten
3.
Unter den Gelehrten.

Ilse steckte den Kopf in das Arbeitszimmer des Gatten.

»Darf ich stören?«

»Nur herein!«

»Felix, wie unterscheiden sich die Faune und Satyre? Hier liest man, die Satyre haben Ziegenfüße, die Faune aber Menschenbeine, nur hinten ein kleines Schwänzchen.«

»Wer sagt das?« frug Felix entrüstet.

»Es ist gedruckt,« erwiederte Ilse, »hier steht es bewiesen.« Sie hielt dem Gatten ein aufgeschlagenes Buch hin.

»Es ist aber nicht wahr,« versetzte der Professor und erklärte ihr das Sachverhältniß. »Bei den Griechen Satyre, bei den Römern Faune, der Herr mit dem Bocksfuß aber hieß Pan. Wie kommt der Bacchantenzug in deine Wirtschaft?«

»Ihr sagtet gestern, der Consistorialrath hat ein Faungesicht. Nun entstand die Frage: was ist ein Faungesicht und was ist ein Faun? Laura erinnerte sich aus der Schule sehr gut, daß er ein altes römisches Fabelwesen war. Und sie brachte dies Buch, worin die Geschöpfe abgebildet sind. Was ist das für eine ausgelassene Gesellschaft? Warum haben sie spitze Ohren wie die Rehe, und was soll das heißen, wenn man sich nicht einmal in solchen Dingen auf deine unsterblichen Bücher verlassen kann?«

»Komm her,« sagte Felix, »ich will dir schnell die ganze Sippschaft vorstellen.« Er holte ein Kupferwerk herzu und [250] schlug ihr die Gestalten des Bacchuskreises auf. Eine Weile ging die Belehrung gut tvon Statten. »Sie haben alle sehr wenig Kleider,« wandte Ilse bekümmert ein.

»Der Kunst ist der Leib lieber als das Gewand,« tröstete der Gatte.

Aber Ilse wurde ängstlicher. Endlich schlug sie erröthend das Buch zu und sagte: »Ich muß fort. Ich helfe heute in der Küche, es wird eine neue Mehlspeise gelehrt. Dort ist meine hohe Schule. Und das Mädchen ist noch ein Fuchs.« Sie eilte zur Thür hinaus. »Sage deinen Satyren und Faunen, daß ich eine bessere Idee von ihnen gehabt habe, sie sind sehr unanständig,« rief sie, den Kopf noch einmal in das Zimmer steckend.

»Das sind sie,« antwortete Felix durch die Thür, »und sie wollen auch nichts Anderes sein.«

Beim Essen, als Felix die Mehlspeise nach Gebühr bewundert hatte, legte Ilse den Löffel weg und sagte ernsthaft: »Zeige mir nicht wieder solche Bilder, ich möchte deinen Heiden gut werden, aber wie kann ich das, wenn sie so sind?«

»Sie sind nicht alle so arg,« beruhigte der Gatte. »Ist dir's recht, so machen wir heut Abend einigen von den alten Herrschaften unsern Besuch.«

Mit diesem Tage begann für Ilse eine neue Zeit des Lernens. Bald wurde den Erläuterungen des Gatten eine feste Tagesstunde bestimmt, für Ilse die werthvollste Zeit des Tages. Der Professor gab ihr zuerst eine kurze Schilderung der großen Culturvölker des Alterthums und des Mittelalters und schrieb ihr sehr wenige Zahlen und Namen auf, die sie auswendig lernte. Er schilderte ihr, wie das ganze Leben der Menschen im letzten Grunde nichts sei, als ein uuaufhörliches Einnehmen, Umschaffen und Ausgeben der Stoffe, Bilder und Eindrücke, welche die umgebende Welt darbietet; und wie die ganze geistige Entwicklung der Menschheit nichts sei, als ein ernstes und andächtiges Suchen nach Wahrheit, [251] und wie die ganze politische Geschichte im letzten Grunde auch nichts sei, als ein allmähliches Bändigen des Egoismus, welcher Menschen, Stämme, Völker feindlich voneinander scheidet: durch Steigerung der Bedürfnisse, durch Läuterung des Rechtsgefühls und durch die Zunahme der Liebe und Ehrfurcht vor allem Lebendigen.

Nach solcher Vorbereitung begann der Professor sogleich die Odyssee vorzulesen, kurze Erläuterung anfügend. Noch nie hatte Poesie so groß und rein auf die Seele der Frau gewirkt, der heitere Märchenton des ersten Theils, die gewaltige Ausführung des zweiten nahmen ihr Herz ganzgefangen, die Gestalten erhielten ihr ein fast greifbares Leben, sie wandelte, litt und frohlockte mit ihnen, hinaufgehoben in eine neue Welt schöner Bildung und hoher Empfindungen. Als der Schluß herankam, der Vielduldende seiner Gattin gegenübersaß und die Erkennungsscene Töne aus dem geheimsten Leben der jungen Frau anschlug, da saß auch Ilse, die Wangen geröthet, die thränenfeuchten Augen schamhaft niedergeschlagen, neben dem geliebten Manne; und als er geendet, schlang auch sie die weißen Arme um den Geliebten und sank aufgelöst von Entzücken und Rührung ihm an die Brust. Ihrer Seele, die nach langer Ruhe in einem großen Gefühle erglüht war, verklärte das unsterbliche Schöne dieser Dichtung alle Stunden des Tages, ja die Sprache und Haltung. Gern versuchte sie sich selbst mit Vorlesen, und der Professor hörte mit inniger Freude, wie die majestätischen Verse klangvoll von ihren Lippen rollten, und wie sie in Tonfall und Ausdruck unbewußt seine Sprache nachahmte. Wenn er früh in die Vorlesung ging und sie ihm in seinen braunen Tüffelrock half, da klangen ihm die herzerfreuenden Worte nach: »Purpurn ist und rauh das Gewand des edlen Odysseus;« wenn sie ihm in der Lehrstunde gegenübersaß und er einmal Pause machte, dann brachen die bewundernden Worte von ihren Lippen: »So mit klugem Bedacht und verstandvoll redest du Alles.« Und wenn sie sich [252] selbst loben wollte, dann summte sie zuden brodelnden Blasen des Theekessels: »Selbst wohl hab ich im Herzen Verstand und erkenne genugsam Gutes zugleich und Böses; doch vormals war ich ein Kind noch.« Auch das Gut des lieben Vaters leuchtete ihr jetzt in dem goldenen Glanze der Hellenensonne. »Ich weiß nicht,« sagte der Vater einmal des Abends zu Clara, »wie es möglich ist, daß Ilse so schnell den Brauch unserer Wirthschaft vergessen konnte. Sie spricht in ihrem Briefe von der Zeit, wo die Rinder wieder in dem weitscholligen Blachfelde wandeln werden. Sie meint jedenfalls die Brache, aber wir haben ja Stallfütterung.«

Draußen heulte der Nordwind um die beiden Nachbarhäuser und legte Eispalmen über die Fensterscheiben, drinnen aber zog ein Tag nach dem andern lichtvoll und buntfarbig und ein Abend herzerfreuender als der andere über die Häupter der Glücklichen, ob sie allein waren, oder ob die Freunde des Gatten, Führer des Volkes, zusammensaßen und am gedeckten Theetisch die Hände nach dem einfach bereiteten Mahle ausstreckten.

Denn auch die Freunde des Gatten und kluges Wechselgespräch sind der Hausfrau erfreulich. Dann leuchtet die Lampe festlich in Ilse's Stube, die Gardinen sind zugezogen, der Tisch wohlgerüstet, auch eine Flasche Wein ist aufgesetzt, wenn die Herren eintreten. Manchmal beginnt das Gespräch mit Kleinigkeiten, die Freunde wollen auch der Professorin ihre Hochachtung erweisen, der Eine spricht ein wenig über Concerte, der Andere empfiehlt ein neues Bild oder Buch. Zuweilen aber treten sie schon aus der Arbeitstube in eifriger Unterredung, dann ist der Tritt fester und die Bäckchen sind etwas geröthet, dann dringt die Rede gleich auf das los, was ihnen gerade aus ihrer Wissenschaft auf der Seele liegt. Nicht immer ist die Unterhaltung ganz verständlich, und wenn sie sich auf Einzelheiten heftet, auch nicht in jedem Moment sehr anziehend, aber im Ganzen ist sie doch für die Hörerin Freude [253] und Erquickung. Dann sitzt Ilse still da, die Hände, welche sich über der Arbeit bewegten, sinken ihr in den Schoß, und andächtig hört sie zu. Wer nicht Professorfrau ist, hat doch keine Vorstellung, wie schön die Unterhaltung der Gelehrten dahinfließt. Alle wissen gut zu reden, Alle sind eifrig und haben dabei ein gehaltenes Wesen, das ihnen sehr wohlsteht. Die Erörterung erhebt sich, ein Kampf gewichtiger Meinungen beginnt. Diese kreuzen sich und fahren durcheinander, der Eine sagt zuerst schwarz, der Andere weiß, der erste beweist, daß er Recht hat, der zweite widerlegt und engt den ersten ein. Nun denkt die Frau, wie wird sich dieser herauswinden. Aber, keine Sorge! es fehlt ihm nicht, mit einem Sprunge ist er über dem Andern, dann kommt der Andere mit neuen Gründen und treibt die Sache noch höher, darauf reden die Uebrigen auch hinein, sie werden feurig, und ihre Stimmen ertönen lauter. Und ob sie sich zuletzt miteinander vergleichen, oder ob jeder bei seiner Meinung bleibt – was häufig vorkommt –, immer ist eine Freude, schwierige Fragen so von allen Seiten beleuchtet zu sehen. Wenn endlich der Eine etwas recht Großes sagt und auf den Kern der Wahrheit kommt, dann sind sie sämmtlich in gehobener Stimmung, dann leuchtet es in dem heimlichen Raume wie von überirdischem Lichte, und wer spricht und wer hört, fühlt sich frei, sicher und leicht. Ach aber, der gescheidteste von Allen und der, dessen Meinung mit der größten Hochachtung gehört wird, das ist doch immer der Hausfrau lieber Mann.

Freilich bemerkte Ilse auch, daß nicht alle gelehrten Herren dasselbe gute Wesen bewährten. Mancher konnte Widerspruch nicht recht vertragen und es war ihm in schwachen Augenblicken mehr um seine Geltung als um die Wahrheit zu thun. Wieder Einer wollte nur sprechen und nicht hören und beengte die Unterhaltung, indem er immer auf das zurückkam, was die Andern überwunden hatten. Ilse entdeckte, daß auch eine ungelehrte Frau aus dem Gespräche der weisen Männer Einiges [254] von ihrem Charakter erkennen konnte. Und wenn sich die Gäste entfernt hatten, dann wagte sie wohl ein bescheidenes Urtheil über Wissen und Wesen Einzelner. Und sie war stolz, wenn Felix zugab, daß ihr Urtheil das Richtige getroffen.

Bei solcher Unterhaltung erfuhr die Frau des Gelehrten auch viele Sachen ganz genau, die jeder andern Frau schwierig bleiben. Da war z.B. die römische Plebs, wenig bedeutet den meisten Frauen dieses Wort. Die alte Plebs hat zu ihrer Zeit nie Kaffegesellschaften gegeben, nie auf dem Flügel gespielt, nie Reifröcke getragen und nie einen französischen Roman gelesen. Sie ist eine im Schutt des Alterthums begrabene, sehr ungemüthliche Einrichtung. Die Frau eines Philologen aber weiß davon. Was hörte nicht Ilse alles von Plebejern und Patriciern, ja, sie nahm in ihrem Herzen Partei für die Plebejer, sie verwarf gänzlich die Ansicht, daß sie nur aus kleinen Leuten und leichtfertigem Gesindel zusammengeflossen seien, und schätzte sie als tüchtige Landwirthe, trotzige politische Männer, die hartnäckig bis auf den Tod in einem großen Vereine gegen ungerechte Patricier kämpften. Und sie dachte dabei an ihren eigenen Vater und hatte Tage, wo sie ihre Bekannten darauf ansah, ob sie auch zur Plebs gehören würden, wenn sie Römer wären.

Auch ihr selbst waren die Herren freundlich, und fast alle hatten eine Eigenschaft, die den Verkehr bequem machte, sie erklärten gern. Im Anfange wollte Ilse ungern verrathen, daß sie von Vielem gar nichts wußte. An einem Abend aber setzte sie sich vor ihren Gatten und begann: »Ich habe mir etwas ausgedacht. Bisher habe ich mich gescheut zu fragen, nicht weil ich mich meiner Unwissenheit schäme, wo sollte ich's her haben? nur um deinetwillen, damit die Leute nicht merken, daß du eine einfältige Frau hast. Aber wenn dir's recht ist, will ich's jetzt anders machen, denn ich merke, sie sprechen zumeist gern, und da werden sie wohl auch mir ein geflügeltes Wort gönnen.«

[255] »So ist es recht,« sagte der Gatte, »du wirst ihnen um so lieber werden, je mehr du ihnen Antheil zeigst.«

»Wissen möchte ich Alles, die ganze Welt, um dir ähnlicher zu werden, aber es fehlt mir immer noch an Verständniß.«

Die neue Politik bewährte sich vortrefflich. Ilse erfuhr sogar, daß es zuweilen leichter war, einen lieben Bekannten zum Reden als zum Aufhören zu bringen. Denn die Herren berichteten ihr gewissenhaft und in großen Zügen, was sie erfahren wollte, aber sie vergaßen wohl einmal, daß die Fähigkeit der Frau, das Neue aufzunehmen, nicht so entwickelt war, als ihnen die Kunst zu belehren.

Ja, sie schwebten wie Götter über der Erde. Aber sie theilten auch darin das Loos der ambrosischen Genossenschaft, daß der heitere Friede, welchen sie in die Herzen der Sterblichen sandten, unter ihnen selbst durchaus nicht immer waltete und durch geworfene Erisäpfel leicht verscheucht wurde. Es war Ilse's Schicksal, daß sie unter heftiger Fehde der Unsterblichen im Olymp heimisch werden sollte.

An einem finstern Wintertage fuhr der Sturmwind übelgelaunt gegen die Fenster und versteckte den Stadtwald hinter wirbelnden Schneewolken. Da hörte Ilse im Zimmer ihres Gatten die scharfen Laute des Professor Struvelius in bedächtigem Fluß der Rede, dazwischen langes und eingehendes Gespräch ihres Felix. Die Worte waren nicht zu unterscheiden, der Tonfall aber war zwei Stimmen schnellschwebender Vögel vergleichbar, dem Wettgesange der Drossel und einer Uebles weissagenden Krähe. Die Unterredung zog sich lange hin, und Ilse wunderte sich, daß Struvelius so ausdauernden Gebrauch der Rede ertrug. Als er sich endlich entfernt hatte, trat Felix zu ungewohnter Stunde in ihr Zimmer und ging, mit geheimen Gedanken beschäftigt, einigemal schweigend auf und ab. Zuletzt brach er kurz heraus: »Ich bin in die Lage gekommen, dem Collegen über unsere Handschrift eine Mittheilung zu machen.«

Ilse sah neugierig auf. Seit ihrer Vermählung war von [256] Tacitus noch nicht die Rede gewesen. »Du hattest doch die Absicht, gegen Fremde nicht mehr davon zu sprechen.«

»Ich habe das Schweigen ungern gebrochen. Mir blieb nichts übrig, als gegen meinen nächsten Collegen offen zu sein. Das Gebiet unserer Wissenschaft ist umfangreich, nicht häufig geschieht es, daß Genossen derselben Universität jeder für sich auf dieselbe Arbeit verfallen. Ja, aus naheliegenden Gründen vermeiden sie, einander darin eine gewisse Concurrenz zu machen. Fügt der Zufall nun doch einmal solches Zusammentreffen, so ist Mitgliedern derselben Anstalt jede zarte Rücksicht geboten. Heut nun sagte mir Struvelius, er wisse, daß ich mich ab und zu mit Tacitus beschäftige, und er bitte mich um einige Auskunft. Er frug nach den Handschriften, die ich vor Jahren im Auslande eingesehen und verglichen, und nach der Durchzeichnung, die ich von den Schriftzügen derselben für mich gemacht habe.«

»Du hast ihm mitgetheilt, was du wußtest?« frug Ilse.

»Ich habe ihm gegeben, was ich besaß, das verstand sich von selbst,« erwiederte der Professor. »Denn was er auch damit anfangen mag, es wird nicht ganz ohne Gewinn für die Wissenschaft sein.«

»Er soll deine Arbeit benutzen, um die seine möglich zu machen? Jetzt wird er vor der Welt in deinen Federn singen,« klagte Ilse.

»Ob er das Gegebene mit Anstand gebraucht, ob er es mißbraucht, ist seine Sache, ich habe die Verpflichtung, einem bewährten Amtsgenossen nur das Ehrenhafte zuzutrauen. Das war mir keinen Augenblick zweifelhaft, wohl aber fiel mir Anderes auf. Er war nicht offen gegen mich. Er gab an, daß ihn die Kritik einiger Stellen des Tacitus beschäftige, aber er verbarg mir die Hauptsache, das empfand ich deutlich. Da mußte ich ihm geradeheraus sagen, daß ich seit langer Zeit für diesen Schriftsteller ein warmes Interesse herumtrage, und daß ich seit dem letzten Sommer an ihn gefesselt sei durch [257] die, wenn auch unsichere Möglichkeit eines neuen Fundes. Ich habe ihm die Nachricht gezeigt, welche mich zuerst in deine Nähe leitete. Er ist Philolog wie ich und weiß jetzt, welche Bedeutung für mich dieser Autor gewonnen hat.«

»Mein einziger Trost ist,« sagte Ilse, »daß der verständige Vater dem Struvelius ein schweres Verhängniß bereiten wird, wenn dieser auf unserm Gute nach der Handschrift freien will.«

Dem Professor war der Gedanke an den Trotz seines gewaltigen Schwiegervaters heut tröstlich und er lächelte. »Nach dieser Seite bin ich sicher. Aber was will der Andere mit Tacitus, die Historiker lagen doch sonst nicht auf seinem Wege? – Es ist kaum denkbar, – aber sollte das Unglaubliche geschehen sein? ist die geheimnißvolle Handschrift durch irgendeinen Zufall aufgefunden und in seinen Händen? – Doch es ist Thorheit, darum zu sorgen.« Er schritt heftig auf und ab und rief endlich, in starker Bewegung seiner Frau die Hand schüttelnd: »Es ist immer widerwärtig, wenn man sich auf selbstsüchtigen Empfindungen ertappt.«

Er ging wieder an seine Arbeit, und als Ilse leise die Thür öffnete, sah sie seine Feder in gleichförmiger Bewegung. Gegen Abend aber, wo sie nach seiner Lampe sah und die Ankunft des Doctors verkündigte, saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, in finsterm Sinnen. Sie strich ihm leise über das Haar und er merkte es kaum.

Der Doctor aber nahm die Sache nicht so innerlich, er gerieth in Aerger über die Geheimnißkrämerei des Andern und über die Hochherzigkeit des Freundes, und es gab eine lebhafte Erörterung. »Möchtest du diese Offenheit niemals bereuen,« rief der Doctor, »der Mann wird aus deinem Silber seine Münzen schlagen. Denke an mich, dir wird ein Possen gespielt.«

»Zuletzt,« so schloß der Professor bedachtsam, »lohnt nicht, sich darüber aufzuregen. Kam durch irgendeinen unwahrscheinlichen und unerhörten Zufall wesentlich Neues in seinen Besitz, [258] so hat er ein Recht auf alles vorhandene Material, auf meine Sammlungen, auf meine Unterstützung, soweit ich sie zu geben vermag. Uebt er seinen Scharfsinn nur an dem vorhandenen Text, so ist unserer kindlichen Hoffnung gegenüber Alles, was er fördern mag, unwesentlich.«

In solcher Weise zog unscheinbar und harmlos ein akademisches Gewölk herauf.

Vier Wochen waren vergangen, der Professor war oft mit seinem Collegen zusammengetroffen. Es konnte nicht auffallen, daß Struvelius den Namen Tacitus nicht über seine schweigsamen Lippen brachte, der Professor aber blickte unruhig auf den Pfad des Amtsgenossen, denn er glaubte zu bemerken, daß der Andere ihm auswich. An einem friedlichen Abend saß Felix Werner mit Ilse und dem Doctor am Theetisch, als Gabriel eintrat und eine kleine Broschüre in unscheinbarem Zeitungspapier vor dem Professor niederlegte. Der Professor riß die Hülle ab, warf einen Blick auf den Titel und reichte das Heft schweigend dem Doctor. Der lateinische Titel lautete in die Sprache dieses Buches übersetzt: »Ein Fragment des Tacitus, als Spur einer verlorenen Handschrift mitgetheilt von Dr. Friedobald Struvelius, Professor u.s.w.« Ohne ein Wort zu sagen, standen die Freunde auf und trugen die Abhandlung in das Arbeitszimmer des Professors. Ilse blieb erschrocken zurück, sie hörte, wie ihr Gatte den lateinischen Text vorlas, und erkannte, daß er sich zwang, durch langsames und festes Lesen seine Aufregung zu überwältigen. Was in dieser verhängnißvollen Schrift enthalten war, darf leider dem Leser nicht vorenthalten werden.

Aeltere Zeitgenossen erinnern sich der Culturperiode, in welcher der Tabak aus Pfeifenköpfen geraucht wurde; sie kennen die wohlthätige Erfindung, welche mit einem noch durch keine Forschung hinreichend aufgehellten Worte Fidibus benannt wird; sie kennen auch die normale Länge und Breite eines solchen Papierstreifens, welchen unsere Väter aus verjährten Acten [259] massenhaft zusammenfalteten. Ein solcher Streifen, allerdings nicht von Papier, sondern von einem Pergamentblatt geschnitten, war in die Hände des Herausgebers gefallen. Der Streifen hatte aber vorher schwere Schicksale erfahren. Er war vor etwa zweihundert Jahren von einem Buchbinder auf die Rückseite eines dicken Bandes geklebt worden, um die Dauer des Heftzwirns zu verstärken, und er war für diesen Zweck durch Leim übel zugerichtet. Nach Entfernung des Leims erschienen die Schriftzüge einer alten Mönchshand. Das Wort Amen und einige heilige Namen machten zweifellos, daß das Geschriebene dazu gedient hatte, christliche Frömmigkeit zu fördern. Unter dieser Mönchsschrift aber waren andere und größere lateinische Buchstaben sichtbar, sehr verblichen, fast ganz geschwunden, von denen man einige mit mäßiger Anstrengung zu dem römischen Namen Piso zusammendeuten konnte. Da hatte nun Professor Struvelius durch Hartnäckigkeit und durch Anwendung einiger chemischer Mittel möglich gemacht, diese untere Schrift zu lesen. Sie war nach den Formen ihrer Buchstaben uralt. Da der Pergamentfidibus aber von einem ganzen Blatte abgeschnitten war, enthielt er natürlich nicht vollständige Sätze, nur einzelne Wörter, welche in die Seele des Lesers fielen wie verlorene Noten einer fernen Musik, die ein Wind ans Ohr trägt, es war daraus keine Melodie zu machen. Gerade das hatte den Herausgeber angezogen. Er hatte die verschwundenen Buchstaben ermittelt, die durchschnittenen Worte ergänzt, ja, den gesammten fehlenden Theil des Blattes gemuthmaßt. Und er hatte durch bewundernswerthe Anwendung der allergrößten Gelehrsamkeit aus wenigen schattenhaften Flecken des Fidibus ziemlich die ganze Seite einer Pergamenthandschrift hergestellt, wie sie etwa vor zwölfhundert Jahren leibhaftig gewesen sein konnte. Es war eine staunenswerthe Arbeit.

Daraus ergab sich Folgendes. Noch am deutlichsten, obgleich für gewöhnliche Augen kaum lesbar, war auf dem Pergamentstreif ein gewisser Pontifex Piso gewesen, in wortgetreuer [260] Uebersetzung: Brückenmacher Erbs. Dieser Erbs schien den Pergamentstreif sehr zu beschäftigen, denn der Name zeigte sich einigemal. Nun aber hatte der Herausgeber aus diesem Namen und aus den Ruinen zerstörter Wörter bewiesen, daß der Pergamentstreif letzter Ueberrest einer Handschrift des Tacitus war, und daß seine Worte einem uns verlorenen Abschnitt der Annalen angehörten; und er hatte endlich aus dem Charakter der schattenhaften Buchstaben nachgewiesen, daß der Pergamentstreif zu keiner der vorhandenen Handschriften des Römers gehört habe, sondern daß er durch Zerstörung einer ganz unbekannten entstanden sei.

Die Freunde saßen, nachdem der Aufsatz vorgelesen war, finster und sinnend. Endlich brach der Doctor aus: »Wie unfreundlich, dir dies zu verbergen und doch deine Hilfe in Anspruch zu nehmen!«

»Darauf kommt jetzt wenig an,« erwiederte der Professor, »die Arbeit selbst kann ich nicht loben, sie wendet auf unsichere Grundlage einen übergroßen Scharfsinn, und gegen Manches, was er ergänzt und vermuthet, wird Einspruch zu erheben sein. Aber warum sprichst du nicht aus, was uns beiden mehr am Herzen liegt als das Ungeschick eines wunderlichen Mannes. Wir sind einer Handschrift des Tacitus auf der Spur, und hier findet sich das Trümmerstück einer solchen Handschrift, welche nach dem dreißigjährigen Kriege von einem Buchbinder zerschnitten ward. Die Ausbeute, welche dies kleine Fragment für unser Wissen geben mag, ist so unbedeutend, daß der Gewinn den aufgewandten Fleiß gar nicht lohnt, gleichgültig für alle Welt, nur nicht für uns. Denn, mein Freund, wenn wirklich eine Handschrift des Tacitus in solche Streifen zerschnitten wurde, so ist es mit großer Wahrscheinlichkeit dieselbe, auf welche wir gehofft haben. – Was weiter!« schloß er bitter, »wir werden ein Traumbild los, das uns vielleicht noch lange geäfft hätte.«

»Wie kann dies Pergament von der Handschrift unseres [261] Freundes Bachhuber stammen?« rief der Doctor, »auf diesem hier ist der Text ja mit Gebeten überschrieben.«

»Wer steht uns dafür, daß nicht auch die Mönche von Rossau wenigstens einzelne verblichene Blätter mit ihrem geistlichen Hausbedarf übermalten? Dergleichen ist nicht gewöhnlich, aber wohl denkbar.«

»Vor allem mußt du selbst das Pergamentblatt des Struvelius sehen,« entschied der Doctor. »Genaue Betrachtung kann Manches aufhellen.«

»Es ist mir nicht bequem, deshalb mit ihm zu sprechen, aber es soll morgen geschehen.«

Den Tag darauf trat der Professor ruhiger in das Zimmer des Collegen Struvelius. »Sie mögen denken,« begann er, »daß ich mit besonderer Spannung Ihre Abhandlung gelesen habe. Nach dem, was ich Ihnen von einem unbekannten Codex des Tacitus mittheilte, wissen Sie, daß unsere Aussicht, diesen Codex zu ermitteln, sehr verringert wird, wenn der Pergamentstreif von Blättern des Tacitus geschnitten ist, welche noch vor zweihundert Jahren in Deutschland erhalten waren.«

»Wenn er geschnitten ist?« erwiederte Struvelius scharf. »Er ist davon geschnitten. Und was Sie mir über den Versteck von Rossau mittheilten, war doch unsicher, und ich bin nicht der Meinung, daß darauf Werth zu legen ist. Wenn dort in der That eine Handschrift des Tacitus vorhanden war, so ist sie allerdings zerschnitten und diese Frage erledigt.«

»Wenn solche Handschrift vorhanden war?« entgegnete Felix. »Sie war vorhanden. Ich aber komme, Sie zu bitten, daß Sie mich das Pergamentblatt sehen lassen. Seit der Inhalt veröffentlicht ist, wird das wohl keinem Bedenken unterliegen.«

Struvelius sah verlegen aus, als er antwortete: »Ich bedaure Ihren Wunsch, den ich übrigens ganz in der Ordnung finde, nicht erfüllen zu können, ich bin nicht mehr im Besitz des Blattes.«

[262] »An wen habe ich mich deshalb zu wenden?« frug der Professor befremdet.

»Auch darüber bin ich vorläufig zum Schweigen verpflichtet.«

»Das ist auffallend,« brach Felix los, »und verzeihen Sie mir das offene Wort, es ist schlimmer als unfreundlich. Denn ob die Bedeutung dieses Fragments groß oder gering ist, es sollte nach dem Druck seines Inhaltes den Augen Anderer nicht entzogen werden. Ihnen selbst muß daran liegen, daß Andere Ihre Herstellung des Textes gründlich zu würdigen vermögen.«

»Das gebe ich zu,« erwiederte Struvelius, »aber ich bin nicht im Stande, Ihnen die Einsicht dieses Blattes zu bewirken.«

»Haben Sie daran gedacht,« rief der Professor auflodernd, »daß Sie durch solche Weigerung Mißdeutungen Fremder ausgesetzt werden, Mißdeutungen, die niemals mit Ihrem Namen in Verbindung gebracht werden sollten?«

»Ich halte mich selbst für hinreichend befähigt, Wächter meines guten Namens zu sein, und muß Sie bitten, diese Sorge vollständig mir zu überlassen.«

»Dann habe ich Ihnen nichts weiter zu sagen, Herr Professor,« erwiederte Felix und ging nach der Thür.

Im Gehen sah er noch, daß sich die Mittelthür öffnete und die Frau Professorin, aufgeschreckt durch die lauten Worte der Sprechenden, wie ein Genius eintrat und die Hand flehend nach ihm ausstreckte. Er aber schloß nach flüchtiger Verbeugung die Thür und ging zornig nach Hause.

Die Wolke war geballt, der Himmel wurde finster. Der Professor nahm jetzt noch einmal die Abhandlung des unholden Collegen zur Hand. Und es war gerade, als wenn ein Luchs einen Hasen oder ein Zicklein zerrissen hat und sich des Schmauses zu freuen bereit ist, und der wilde Bergleu wirft sich, die Mähne schüttelnd, gegen die Beute, daß der andere entweicht, die Schläge des Starken im Nacken.

Ilse rief heut den Gatten zweimal vergebens zu Tische; als sie besorgt an seinen Stuhl trat, sah sie in ein verstörtes [263] Antlitz. »Ich kann nicht essen,« sagte er kurz, »schicke hinüber, ich lasse Fritz bitten, sich sogleich her zu bemühen.«

Ilse sandte erschrocken in das Nachbarhaus, setzte sich im Zimmer des Professors nieder und folgte mit ihrem Blick dem auf und ab Schreitenden. »Was hat dich so erregt, Felix?« frug sie ängstlich.

»Ich bitte dich, liebes Weib, iß heut ohne mich,« rief er und setzte seine Wanderung fort.

Eilig trat der Doctor ein: »Das Bruchstück ist nicht aus einer Handschrift des Tacitus,« rief der Professor dem Freunde entgegen.

»Vivat Bachhuber!« erwiederte dieser noch an der Thür und schwenkte den Hut.

»Es ist kein Grund zur Freude,« unterbrach ihn der Professor finster, »das Fragment, soweit es überhaupt irgend wo her ist, enthält eine Stelle des Tacitus.«

»Nun, irgend wo her muß es doch sein,« sagte der Doctor.

»Nein,« rief der Professor mit starker Stimme, »das Ganze ist eine Fälschung. Die obere Hälfte des Textes scheinen wüst zusammengeschriebene Worte, auch sind die Versuche des Herausgebers, diese in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, nicht glücklich. Der untere Theil des sogenannten Fragments ist aus einem Kirchenvater abgeschrieben, welcher an einer bis jetzt nicht beachteten Stelle einen Satz des Tacitus anführt. Der Fälscher hat einzelne Worte dieses Citats mit regelmäßiger Auslassung der dazwischenliegenden Wörter auf den Pergamentzettel untereinander geschrieben. Das letzte ist unzweifelhaft.« Er führte den Doctor, der jetzt fast so betroffen aussah wie er selbst, zu den Büchern und bewies ihm die Richtigkeit seiner Behauptung. »Der Fälscher hat aus diesem gedruckten Text des Kirchenvaters seine Weisheit geholt, denn er hat das Ungeschick gehabt, einen Druckfehler des Setzers mit abzuschreiben. So sind wir mit dem Pergamentblatt fertig und mit einem deutschen Gelehrten auch.« Er zog das [264] Tuch, den Schweiß von seiner Stirn zu trocknen, und warf sich in einen Sessel.

»Halt,« rief der Doctor, »hier handelt es sich um einen Gelehrten von Ruf und Ehre. Laß uns noch einmal kaltblütig untersuchen, ob nicht ein zufälliges Zusammenstimmen möglich ist.«

»Suche,« sagte der Professor, »ich bin am Ende.«

Der Doctor verglich lange und ängstlich den ergänzten Text des Struvelius mit den gedruckten Worten des Kirchenvaters. Endlich sagte er traurig: »Was Struvelius ergänzt hat, trifft in Sinn und Wortlaut mit den Worten des Kirchenvaters so merkwürdig überein, daß man in Versuchung geräth, die etwa abweichenden Worte seiner Ergänzung für Schlauheiten zu halten, durch welche seine Bekanntschaft mit dem erhaltenen Citat versteckt werden sollte; aber unmöglich ist doch nicht, daß Jemand durch Glück und Scharfsinn auf den richtigen Zusammenhang kommen konnte, wie er ihn gefunden hat.«

»Ich zweifle keinen Augenblick, daß Struvelius ehrlich und in gutem Glauben seine Ergänzungen selbst gefunden,« versetzte der Professor. »Aber seine Niederlage ist doch so widerwärtig als möglich. Betrüger oder betrogen, die unselige Abhandlung ist nicht nur für ihn, auch für unsere Universität eine gräuliche Demüthigung.«

»Die Worte des Pergamentblattes selbst,« fuhr der Doctor fort, »sind unzweifelhaft abgeschrieben und unzweifelhaft eine Fälschung. Und dir liegt die Pflicht ob, das Sachverhältniß aufzudecken.«

»Meinem Mann?« frug Ilse aufstehend.

»Dem, der die Fälschung gefunden, und wenn Struvelius der nächste Freund wäre, Felix müßte es thun.«

»Sprich zuvor mit dem Andern,« bat Ilse, »handle nicht so an ihm, wie er an dir; hat er geirrt, laß es ihn selbst verbessern.«

Der Professor dachte nach und nickte dem Freunde zu: [265] »Sie hat Recht.« Er eilte an den Tisch und schrieb dem Professor Struvelius seinen Wunsch, ihn heut noch in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Gabriel empfing den Brief, und das Herz war dem Professor doch leichter geworden, denn er war jetzt bereit, sich das Mittagessen gefallen zu lassen.

Ilse ersuchte den Doctor, bei ihrem Gatten zu bleiben, und mühte sich am Tisch, die Herren ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Sie zog einen Brief der Rollmaus aus der Tasche, worin diese bat, ihr etwas Gelehrtes ganz nach Wahl des Herrn Professors zum Lesen zu schicken. Und Ilse sprach den Wunsch aus, es möchte durch solche Sendung eine schöne Kiste mit Rebhühnern und Eingeschlachtetem gutgemacht werden, welche die Frau Oberamtmann der städtischen Wissenschaft gewidmet hatte. Das half doch etwas, die Mordgedanken der finstern Männer in den Hintergrund zu drängen. Zuletzt brachte sie eine große runde Wurst herbei, welche die Rollmaus eigens dem Doctor bestimmt hatte, und setzte sie als Schaugericht auf den Tisch. Wenn man die Wurst ansah, wie sie so vergnügt dalag, in runder Fülle, ohne innere Kämpfe, mit blauem Band umwunden, da war es unmöglich zu verkennen, daß auf dieser Erde trotz falschem Schein und leerer Anmaßung doch auch Gediegenes zu finden war. Und als die Männer das gute dicke Ding betrachteten, erweichte sich ihr Herz zu einem leisen Lächeln und einer mildern Auffassung menschlicher Schwäche.

Aber da klingelte es, und Struvelius erschien. Der Professor rückte sich heftig zusammen und ging mit starken Schritten in sein Zimmer, der Doctor entfernte sich heimlich und versprach, in Kurzem wieder zu kommen.

Zuverlässig empfand Struvelius beim ersten Blick auf den Collegen, daß die letzte Unterredung ihre Schatten über diese neue Zusammenkunft zu werfen drohe, denn er sah betroffen aus, und sein Haar stand chaotisch auf dem Haupte. Der Professor legte ihm die gedruckte Stelle des Kirchenvaters vor [266] Augen und sagte dazu nur die Worte: »Diese Stelle ist Ihnen entgangen.«

»In der That,« rief Struvelius und saß lange darübergebeugt. »Ich kann mir diese Bestätigung gefallen lassen,« sprach er endlich, von dem Folianten aufsehend.

Der Professor aber legte den Finger auf das Buch: »In den Text des Pergamentblattes, welchen Sie ergänzt haben, ist ein ungewöhnlicher Druckfehler dieser Ausgabe aufgenommen, ein Druckfehler, welcher am Ende des Buches verbessert wurde. Die Worte des Pergamentblattes sind also zum Theil nach dieser gedruckten Stelle zusammengesetzt und eine Fälschung.«

Struvelius blieb stumm sitzen, aber er war sehr erschrocken und sah ängstlich in das zusammengezogene Gesicht des Collegen.

»Es wird jetzt zunächst Ihr Interesse sein, dem Publicum darüber die unvermeidliche Aufklärung zu geben.«

»Eine Fälschung ist unmöglich,« entgegnete Struvelius unbesonnen, »ich selbst habe das Pergamentblatt von dem alten Leim gereinigt, der den Text verdeckte.«

»Und doch sagten Sie mir, daß das Blatt nicht in Ihrem Besitz sei. Sie werden begreifen, daß es mir keine Freude machen kann, einem Amtsgenossen gegenüber zu treten, deshalb müssen Sie selbst unverzüglich das ganze Sachverhältniß öffentlich darlegen. Denn daß die Fälschung bekannt werden muß, ist selbstverständlich.«

Struvelius dachte nach »Ich räume ein, daß Sie in guter Meinung sprechen,« begann er endlich, »aber ich habe die feste Ueberzeugung, daß die Schrift des Pergamentes echt ist, und ich muß Ihnen überlassen, zu thun, was Sie für Pflicht halten. Wenn Sie Ihren Collegen öffentlich angreifen, so werde ich das zu ertragen suchen.«

Nach diesen Worten entfernte sich Struvelius widerspenstig, aber in großer Unruhe, und die Angelegenheit wälzte sich auf der Bahn des Unheils weiter. Ilse sah mit Betrübniß, wie heftig ihr Gatte unter der Störrigkeit seines Collegen litt, die [267] er als unreinliches Wesen verurtheilte. Jetzt schrieb der Professor in die wissenschaftliche Zeitung, für welche er arbeitete, eine kurze Darstellung des wirklichen Sachverhältnisses. Er führte die verhängnisvolle Stelle des Kirchenvaters an und sprach schonend sein Bedauern aus, daß der scharfsinnige Herausgeber irgendwie durch einen Betrüger hintergangen sei.

Diese schlagende Beurtheilung machte an der Universität ein ungeheures Aufsehen. Wie ein gestörter Bienenschwarm, welcher hierhin und dorthin fliegt, summten die Collegen durcheinander. Struvelius hatte wenig warme Freunde, aber er hatte auch keine Gegner. Zwar die ersten Tage nach jenem literarischen Urtheil galt er für einen aufzugebenden Mann, aber er selbst hielt sich gar nicht dafür, sondern verfaßte eine Entgegnung. Darin betonte er nicht ohne Selbstgefühl die schöne Bestätigung, welche seine Ergänzungen durch die von ihm allerdings übersehene Stelle des Kirchenvaters erhalten, er behandelte das Zusammentreffen des Druckfehlers mit dem Wortlaut seines Pergaments als einen wunderlichen, keineswegs aber unerhörten Zufall und versagte sich zuletzt nicht, einige scharfe Seitenblicke auf andere Gelehrte zu werfen, welche gewisse Autoren für ihre Domäne hielten und einen kleinen Fund mißachteten, während doch kein unbefangenes Urtheil auf einen größern hoffen dürfe.

Diese tactlose Anspielung auf den geheimen Codex empörte den Professor in tiefster Seele, aber stolz verschmähte er jeden weitern Kampf vor der Oeffentlichkeit. Die Entgegnung des Struvelius war allerdings übel gelungen, indeß hatte sie doch die Wirkung, daß die Mitglieder der Universität, welche gegen Felix gestimmt waren, den Muth gewannen, auf Seite des Gegners zu treten. Die Sache sei immerhin zweifelhaft, und es sei doch gegen die Bundespflicht des Amtes, seinen Collegen öffentlich so groben Versehens zu bezichtigen. Der Angreifer hätte das auch einem Andern überlassen können. Gegen diese Schwachen kämpfte der bessere Theil der Amtsgenossen aus [268] dem Lager unseres Professors. Einige der angesehensten, unter ihnen alle von Ilse's Theetisch, beschlossen, daß die Angelegenheit nicht im Sande verlaufen dürfe. In der That stand für Struvelius der Streit ungünstig genug, denn ihm wurde ernstlich vorgestellt, daß seine Ehre ihn verpflichte, über das Pergament irgendeine Aufklärung zu geben. Er aber schwieg sich durch diese Verhaue hingeworfener Behauptungen durch, so wohl oder übel ihm möglich war.

Auch die Abende in Ilse's Zimmer erhielten durch dies Ereigniß einen kriegerischen Charakter, immer wieder saßen die nächsten Freunde, der Doctor, der Mineralog und nicht zuletzt Raschke, wie Kriegstribunen in Berathung gegen den Feind. Raschke gestand an einem Abend, daß er soeben bei dem verstockten Gegner gewesen war und ihn flehentlich gebeten hatte, wenigstens zu bewirken, daß irgend ein Dritter das unglückliche Pergament zur Ansicht erhalte. Und Struvelius war einigermaßen in Thauwärme gekommen und hatte bedauert, daß er Schweigen versprochen, weil ihm noch andere Seltenheiten in Aussicht gestellt seien. Da hatte ihn Raschke beschworen, auf solche unheimliche Schätze zu verzichten und sich die Freiheit der Rede zurück zu kaufen. Es war eine lebhafte Erörterung gewesen, denn Raschke fuhr sich mit der kleinen Theeserviette – sie hatte Fransen und war Ilse's Freude – über Nase und Augen und steckte sie dann in seine Tasche. Als Ilse ihm lachend seinen Raub zu Gemüth führte, brachte er nicht nur die Serviette hervor, sondern mit ihr noch ein seidenes Taschentuch, von dem er behauptete, daß es ebenfalls Ilsen gehören müsse, obgleich es offenbar Eigenthum eines mit Schnupftabak umgehenden Herrn war. Deshalb wurde gegen ihn der Verdacht erhoben, daß er das Tuch aus dem Zimmer des Struvelius mitgebracht habe. »Nicht unmöglich,« sagte er, »denn wir waren bewegt.«

Das fremde Taschentuch lag auf einem Stuhle und wurde von den Anwesenden mit kalten Blicken und feindlichen Empfindungen betrachtet.

4. Der Professorenball
[269] 4.
Der Professorenball.

In diese akademische Verstörung fiel der große Professorenball, das einzige Fest des Jahres, welches sämmtlichen Familien der Universität Gelegenheit gab, in fröhlicher Geselligkeit zusammenzutreffen. Auch Studenten und andere Bekannte wurden geladen, der Ball war in der Stadt wohlangesehen und die Einladungen begehrt.

Ein akademischer Tanz ist etwas ganz Anderes als ein gewöhnlicher Ball. Denn außer allen guten Eigenschaften eines distinguirten Balles erweist er noch drei Vorzüge deutscher Wissenschaft: Fleiß, Freiheit und Gleichgültigkeit; Fleiß im Tanzen, auch bei den Herren, Freiheit in anmuthigem Verkehr zwischen Jung und Alt und Gleichgültigkeit gegen Uniformen und lackirte Tanzstiefeln. Zwar die Jugend hat auch hier im Ganzen einen weltbürgerlichen Charakter, denn dieselben Tanzweisen, Roben, Sträuße und Verbeugungen, grüßende Augen und geröthete Bäckchen mag man bei tausend ähnlichen Festen von der Newa bis nach Kalifornien erblicken. Nur wer genauer zusah, erkannte wohl an einem Mädchenkopf die geistvollen Augen und beredten Lippen, welche von dem gelehrten Vater auf sie übergegangen waren, und vielleicht in Locken und Bändern eine kleine akademische Eigenheit. Und der alte Satz, welchen Tiefsinn vergangener Studenten gefunden: Professorentöchter sind entweder hübsch oder häßlich, empfahl sich auch hier dem betrachtenden Menschenfreund, die landesübliche Mischung beider Eigenschaften war selten. Und unter den Tänzern waren neben einigen Offizieren und der Blüthe städtischer Jugend, dem gewöhnlichen Ballgut, hie und da junge Gelehrtengesichter zu sehen, hager und bleich, umflossen von schlichtem Haar, welches mehr geeignet war, sinnig auf die Bücher hinabzuhängen, als im Tanz durch den Saal zu schweifen. Was aber diesem Fest seinen Werth gab, war gar nicht die [270] Jugend, sondern Herren und Frauen in gesetzten Jahren. Unter den älteren Herren mit grauem Haar und fröhlichem Antlitz, welche in Gruppen zusammenstanden oder behaglich zwischen den Damen umhertrieben, viele bedeutende Köpfe, feine ausgearbeitete Züge, ein frisches, lebendiges, unterhaltsames Wesen. Und unter den Frauen nicht wenige, die sonst das ganze Jahr geräuschlos zwischen dem Arbeitszimmer des Gatten und der Kinderstube einherschwebten, und die sich jetzt im ungewohnten Staatskleid dem Kerzenglanz ausgesetzt sahen, ebenso schüchtern und verschämt, wie sie vor langer Zeit als Mädchen gewesen waren.

Diesmal aber war beim Beginn des Festes in einzelnen Gruppen doch eine gewisse Spannung unverkennbar. Der Theetisch Werners hatte angenommen, daß Struvelius nicht kommen werde. Aber er war da. Er stand still in sich gezogen mit seinem gewöhnlichen zerstreuten Blick unweit des Eingangs, und Ilse und ihr Gatte mußten an ihm vorüber. Als Ilse am Arm des Professors durch den Saal schritt, sah sie, daß die Augen Vieler sich neugierig auf sie richteten, und hohe Röthe stieg ihr in die Wangen. Der Professor führte sie der Frau des Collegen Günther zu, welche mit Ilse verabredet hatte, daß sie am Abende zusammenhalten wollten, und Ilse war froh, als sie auf einem der erhöhten Sitze neben der muntern Frau Platz gefunden hatte, und sie wagte im Anfange nur schüchtern um sich zu blicken. Aber der Schmuck des Saales, die vielen stattlichen Menschen, welche suchend, plaudernd, grüßend den großen Raum füllten, dazwischen die ersten Klänge der Ouvertüre, gaben ihr bald eine gehobene Stimmung. Sie getraute sich weiter umzuschauen und nach ihren Bekannten zu spähen, vor Allem nach dem lieben Manne. Sie sah ihn unweit der einen Saalthür stehen inmitten seiner Freunde und Genossen, ragend an Haupt und Gliedern. Und sie sah unweit der andern Thür den Gegner Struvelius stehen mit kleinem Gefolge, fast nur von Studenten umgeben; so standen die [271] Männer zwiefach getheilt, den Groll in ihrem Busen ehrbar bändigend. Aber zu Ilse kamen die Bekannten des Gatten, der Doctor kam und lachte sie aus, weil sie vorher große Sorge gehabt, wie man in dem Gewirr fremder Menschen einander finden werde, auch der Mineraloge kam und erklärte seine Absicht, sie um einen Tanz zu ersuchen. Doch Ilse machte ihm dagegen ernste Vorstellungen: »Bitte, thun Sie das nicht, ich bin in den neuen städtischen Tänzen nicht sicher, und Sie möchten mit mir nicht gut bestehen. Da wollen wir einen Grundsatz daraus machen, und ich werde gar nicht tanzen. Aber das ist auch nicht nöthig, denn mir ist sehr festlich zu Muth, und ich freue mich von Herzen über all die schmucken Leute.« Bald traten Fremde heran, ließen sich ihr vorstellen, und sie erlangte schnell größere Gewandtheit, Tänze abzuschlagen. Darauf führte auch der Historiker seine Tochter zu ihr, der würdige Herr sprach längere Zeit mit Ilse und setzte sich endlich sogar neben sie, und Ilse fühlte freudig, daß darin eine Auszeichnung lag. Endlich wagte sie sich selbst einige Schritte von ihrem Platz, um Frau Professor Raschke zu sich zu holen. Und es dauerte nicht lange, so bildete sie mit den Bekannten eine hübsche kleine Gesellschaft, die niedliche Frau Günther machte allerliebste Scherze und erklärte ihr fremde Damen und Herren. Auch die Frau Rectorin kam herbei und sagte, sie müsse sich zu ihnen setzen, weil sie merke, daß es bei ihnen so lustig hergehe, und die Magnificenz warf ihre Augen wie Leuchtkugeln hin und her und zog einen Herrn nach dem andern zu der Gruppe; und wer der Magnificenz Hochachtung bewies, der begrüßte auch die neue Frau Collegin. Es wurde in ihrer Nähe ein Kommen und Gehen wie auf einem Jahrmarkt, und Ilse und die Magnificenz saßen da wie zwei Nachbarsterne, von denen einer den Glanz des andern vermehrt. Alles war gut und schön, Ilse war seelenvergnügt, und es fand in ihrer Nähe nur etwas mehr freundschaftliches Händeschütteln statt, als sich im Ganzen mit der Feierlichkeit eines Balles verträgt. [272] Und als Felix auch einmal herzutrat und sie fragend ansah, da drückte sie ihm leise die Fingerspitze und lachte ihn so glücklich an, daß er keiner weitern Antwort bedurfte.

Da, in einer Pause, als Ilse die Wände des Saales entlang sah, erblickte sie auf der entgegengesetzten Seite Frau Professor Struvelius. Sie saß in auffallend dunklem Kleide, ihre eine sapphische Locke hing ernst und schwermüthig von dem feinen Haupt. Die Gattin des Feindes sah bleich aus und blickte still vor sich nieder. In der Haltung der Frau war etwas, was Ilsen das Herz bewegte, und ihr war, als müßte sie hinübergehen. Sie überlegte, ob ihrem Felix das recht sein werde, und fürchtete sich auch vor einer kalten Abweisung. Endlich aber faßte sie ein Herz und schritt quer durch den Saal auf die gelehrte Frau zu.

Sie wußte nicht, was sie that. Sie selbst war viel mehr aufgefallen, sie wurde viel schärfer beobachtet, und die Anwesenden beschäftigte der Zwist zweier Häuptlinge viel angelegentlicher, als sie ahnte. Wie sie jetzt mit festem Schritt auf die Andere zuging und schon einige Schritt vor ihr die Hand nach ihr ausstreckte, da entstand eine bemerkbare Stille im Saale und viele Augen richteten sich auf die beiden Frauen. Die Struvelius erhob sich geradlinig, stieg eine Stufe von ihrem Sitz hinab und sah so gefroren aus, daß Ilse erschrak und kaum eine alltägliche Frage nach ihrem Befinden über die Lippen brachte.

»Ich danke Ihnen,« antwortete die Struvelius, »ich bin keine Freundin lauter Geselligkeit, wohl nur deshalb, weil mir alle Eigenschaften dafür fehlen. Denn zuletzt ist dem Menschen nur da wohl, wo er Gelegenheit hat, irgendeine Anlage thätig darzustellen.«

»Mit meiner Anlage sieht es vollends schlecht aus,« sagte Ilse schüchtern, »aber mir ist hier Alles neu und deshalb unterhalte ich mich sehr durch das Zusehen, und ich möchte meine Augen überall haben.«

[273] »Das ist bei Ihnen eine ganz andere Sache,« versetzte die Struvelius mit kalter Abfertigung.

Zum Glück wurde die dürftige Unterhaltung im Beginn unterbrochen. Denn die Consistorialräthin schoß neugierig wie eine Elster zu der Gruppe, um menschenfreundlich zu vermitteln oder in der auffallenden Scene mitzuwirken. Sie pickte in das Gespräch hinein, und gleichgültige Reden wurden kurze Zeit fortgesetzt. Ilse kehrte erkältet auf ihren Platz zurück, mit sich selbst ein wenig unzufrieden. Sie hatte keine Ursache dazu. Die kleine Günther sagte ihr leise: »Das war recht, und ich bin Ihnen jetzt noch einmal so gut;« und Professor Raschke kam zu ihr herangeschossen; er erwähnte nichts, aber nannte sie einmal über das andere seine liebe Frau Collega. Er frug besorgt, ob er ihr nicht etwas Gutes, wie Thee oder Limonade, zutragen dürfe, er nahm den feingeschnitzten Fächer, den ihr Laura aufgenöthigt hatte, bewundernd aus ihrer Hand und steckte ihn aus Vorsicht in die Brusttasche seines Fracks. Dabei kam er auf eine lustige Geschichte, wie er als Student sich in seiner kleinen Stube selbst tanzen gelehrt hatte, um seiner gegenwärtigen Frau zu gefallen, und im Feuer seiner Erzählung begann er vor Ilse die Methode darzustellen, durch welche er sich in der Stille die ersten Pas beigebracht. Er bewegte sich gerade im Schwunge, und der Schwanenflaum des Fächers ragte wie eine große Feder aus seinem Flügel hervor, als ein neuer Tanz begann und der Professor durch die wirbelnden Paare mit Laura's Fächer weggefegt wurde. – Es waren nur wenige Schritte, die Ilse durch den Saal gethan hatte, aber die kleine Aeußerung eines selbständigen Willens hatte ihr die gute Meinung der Universität gewonnen. Denn mancher Bemerkung, welche wohl über ihr ländliches Wesen gemacht wurde, klang jetzt bei Männern und Frauen die Anerkennung entgegen: sie hat Gemüth und Charakter.

Nach altem Brauch wurde der Ball in seiner Mitte durch ein gemeinschaftliches Abendessen unterbrochen. Würdige Professoren [274] waren schon einige Zeit vorher im Nebenzimmer spähend um gedeckte Tische gewandelt, hatten vorsorglich Zettel gelegt und mit wohlgekräuselten Kellnern eine Weinlieferung verabredet. Endlich lagerte sich die Gesellschaft, nach Familien geordnet, um die Tafeln. Als Ilse am Arm des Gatten nach ihrem Platze schritt, frug sie leise: »War's recht, daß ich hinüberging?« Und er erwiederte ernsthaft: »Es war nicht unrecht.« Damit mußte sie sich vorläufig begnügen.

Während der Tafel brachte Magnisiens den ersten Toast auf die akademische Geselligkeit aus, und die Herren vom Theetisch fanden, daß seine leise Anspielung auf ein freundliches Zusammenhalten der Collegen in unzarter Weise an die brennende Frage des Tages rühre. Aber diese Wirkung ging sogleich in andern Trinksprüchen unter, und Ilse merkte, daß die Tischreden hier anders betrieben wurden als in der Familie Rollmaus, denn ein College nach dem andern schlug an das Glas. Wie zierlich und geistreich wußten sie leben zu lassen, sie hielten ihre Frackschöße und blickten kaltblütig in die Runde und gedachten in herrlichen Worten der Gäste, der Frauen und der übrigen Menschheit. Als die Pfropfen des Champagners knallten, wurde die Beredtsamkeit übermächtig, und es schlugen sogar zwei Professoren zu gleicher Zeit an die Gläser. Da erhob sich noch einmal der Professor der Geschichte, und Alles wurde still. Er begrüßte die neuen Mitglieder der Universität, die Frauen und Männer, und Ilse merkte, daß dieser Gruß auch auf sie selbst gehe, und sah auf ihren Teller herab. Aber sie erschrak, als er immer persönlicher wurde und zuletzt gar ihren Namen laut in den Saal rief und den der Mineralogin, welche auf der andern Seite ihres Felix saß. Die Gläser klangen, ein Tusch wurde geblasen, viele Collegen und einige Frauen erhoben sich und zogen mit ihren Gläsern heran, es entstand hinter den Stühlen eine kleine Völkerwanderung, und Ilse und die Mineralogin mußten ohne Aufhören anstoßen, danken und sich verneigen. Als Ilse erröthend aufstand, [275] um mit den Grüßenden anzustoßen, streifte ihr Blick unwillkürlich die nächste Tafel, wo wieder die Struvelius gegenüber saß, und sie sah, wie diese nach dem Glase zuckte, aber schnell zurückfuhr und finster vor sich hinstarrte.

Die Gesellschaft erhob sich, und jetzt erst begann die rechte Festfreude. Denn auch die Professoren wurden regsam und gedachten ihrer alten Tüchtigkeit. Und der Saal erhielt ein verändertes Aussehen, denn jetzt drehten sich auch ehrwürdige Herren mit ihren eigenen Frauen im Kreise. Ach, es war für Ilse ein herziger und rührender Anblick! Mancher alte Frack und bequeme Wegstiefel bewegte sich im Tacte. Die Herren tanzten entschlossen mit allerlei Schleifung des Fußes und kühner Bewegung der Kniee in dem Stil ihrer Jugendzeit und mit dem Gefühl, daß sie ihre Kunst auch noch verstanden. Einige der Frauen hingen schüchtern in den Armen der Tänzer, manche auch etwas schwerfällig, andern aber sah man an, wie gut sie das Regiment im Hause führten, denn wenn die Wissenschaft des Gemahls nicht ganz ausreichte, wußten sie ihn durch ein kräftiges Herumschwingen im Kreise fortzutreiben. Und Magnificus tanzte mit seiner runden Frau, sehr zierlich, und Raschke tanzte mit seiner Frau und sah beim Anlauf, der einige Zeit in Anspruch nahm, triumphirend nach Ilse hinüber. Bei diesem Ball geschah, was lange nicht vorgekommen war: die Professoren wagten auch eine Senioren-Française. Als aber Raschke dazu antrat, entstand ein besorgtes Kopfschütteln seiner Vertrauten. Nicht ohne Grund, denn er brachte eine heillose Verwirrung in die Touren. Er wollte seine Frau durchaus nicht mit einer andern Dame vertauschen, welche ihm gegenüberstand, dann ergab sich, daß er keine feste Ansicht über seinen eigentlichen Platz gewinnen konnte, und erst am Ende, als ein großer Stern gebildet wurde, bei welchem die Herren an der Außenseite als Strahlen herumkreisten, da fand er sich an der Hand irgendeiner Dame wieder zurecht und schwenkte lachend seine Beinchen gegen die Außenwelt.

[276] Lustiger wurde das Getümmel, alle Nachbarinnen Ilsens waren durch den Taumel ergriffen und tanzten Walzer; Ilse stand unweit einer Säule und sah in das bunte Treiben herab. Da strich etwas hinter ihr herum, ein seidenes Kleid rauschte, die Struvelius trat neben sie.

Betroffen sah Ilse in die großen grauen Augen der Gegnerin, welche langsam begann: »Ich halte Sie für edel und gemeiner Empfindung ganz unfähig.«

Ilse verneigte sich ein wenig, um ihren Dank für die unerwartete Erklärung auszudrücken.

»Ich gehe umher,« fuhr die Struvelius in ihrer gemessenen Weise fort, »wie mit einem Fluche beladen. Was ich in diesen Wochen gelitten habe, ist unaussprechlich, heute in der lauten Freude komme ich mir vor wie eine Ausgestoßene.« Das Tuch in ihrer Hand zitterte, aber sie sprach eintönig fort: »Mein Mann ist unschuldig und in der Hauptsache von seinem Recht überzeugt. Mir als seiner Frau geziemt, seine Auffassung und sein Schicksal zu theilen. Aber ich sehe auch ihn durch eine unselige Verwickelung innerlich verstört, und ich fühle mit Entsetzen, daß ihm die gute Meinung seiner nächsten Bekannten verloren sein mag, wenn es nicht gelingt, die Zweifel zu lösen, welche sich um sein Haupt sammeln. – Helfen Sie mir,« rief sie in plötzlichem Ausbruch die Hände ringend, und zwei große Thränen rollten ihr über die Wangen.

»Vermag ich das?« frug Ilse.

»Es ist ein Geheimniß bei der Sache,« fuhr die Struvelius fort, »mein Mann hat die Unvorsichtigkeit gehabt, unbedingtes Schweigen zu versprechen, sein Wort ist ihm heilig, und er selbst ist wie ein Kind in Geschäften und weiß sich in dieser Sache keinen Rath. Ohne sein Wissen und Zuthun muß versucht werden, was ihn rechtfertigt. Ich bitte Sie, mir dabei Ihren Beistand nicht zu versagen.«

»Ich kann nichts thun, was mein Mann mißbilligen würde, [277] und ich habe bis jetzt niemals ein Geheimniß vor ihm gehabt,« versetzte Ilse ernst.

»Ich will nichts, was nicht vor dem strengsten Urtheil bestehen könnte,« fuhr die Andere fort. »Ihr Gemahl soll zuerst wissen, was ich etwa ermitteln kann; gerade deshalb wende ich mich an Sie. Ach, nicht deshalb allein, ich weiß Niemanden, dem ich vertrauen könnte. – Ihnen sage ich, was ich nicht von Struvelius erfahren habe, er hat das unglückliche Pergamentblatt von Magister Knips erhalten und an diesen wie der zurückgegeben.«

»Das ist der kleine Magister auf unserer Straße?« frug Ilse neugierig.

»Derselbe. Ich muß den Magister veranlassen, daß er das Blatt wieder herbeischafft oder mir sagt, wo es zu finden ist. Nicht hier ist der Ort, dies zu besprechen,« rief sie, als die Tanzmusik verstummte. »Bei der Stellung unserer Männer darf ich Sie nicht besuchen, es würde mir zu schmerzlich sein, die veränderte Haltung Ihres Gemahls in einer Begegnung zu empfinden; aber ich wünsche Ihren Rath und bitte Sie, eine Zusammenkunft am dritten Orte möglich zu machen.«

»Wenn Magister Knips im Spiel ist,« erwiederte Ilse zögernd, »so schlage ich Ihnenvor, sich zu Fräulein Laura Hummel, meiner Hausgenossin, zu bemühen, wir sind in ihrem Zimmer ungestört, und sie weiß mehr von dem Magister und seiner Familie als wir beide. Aber, Frau Professorin, wir armen Frauen werden bei einem fremden Manne schwerlich etwas durchsetzen.«

»Ich bin entschlossen, Alles zu wagen, um meinen Gatten von dem unwürdigen Verdacht zu befreien, der sich gegen ihn zu erheben droht. Beweisen Sie sich so, wie Sie mir erscheinen, und ich will Ihnen auf Knieen danken.« Sie rückte wieder heftig mit der Hand und sah dabei sehr gleichgültig aus.

»Wir treffen uns morgen,« versetzte Ilse, »darin wenigstens [278] darf ich Ihrem Vertrauen entsprechen.« Und sie beredeten die Stunde.

So trennten sich die Frauen. Noch einmal sah die Struvelius hinter der Säule hervor aus ihren großen Augen flehend nach Ilse, dann umschloß beide der Schwarm aufbrechender Ballgäste.

Nach der Heimfahrt hörte Ilse im Traum noch lange die Tanzmusik und sah fremde Männer und Frauen an ihr Lager kommen, und sie lachte und wunderte sich über die närrischen Leute, die sich gerade eine Zeit aussuchten, wo sie im Bette lag ohne ihr schönes Kleid und den Fächer. Aber in diese frohe Betrachtung fuhr die heimliche Sorge, daß sie ihrem Felix von all diesen Besuchen nichts sagen dürfe. Und da sie leise über solchen Zwang seufzte, schwebte der Traum zurück nach der elfenbeinenen Pforte, aus welcher er herangezogen war, und ein fester Schlummer löste ihr die Glieder.

Am nächsten Morgen ging Ilse zu Laura hinauf und vertraute ihr die Ereignisse des Abends, zuletzt die Bitte der Struvelius. Die geheime Zusammenkunft mit der Frau Professorin war ganz nach Laura's Sinn. Sie hatte in den letzten Wochen am Theetisch mehr als einmal von dem geheimnißvollen Pergament gehört, sie fand den Entschluß der Struvelius hochherzig und sprach von allem, was Magister Knips anzetteln könne, mit Verachtung.

Mit dem Stundenschlag traf Frau Struvelius ein. Sie sah heut recht gedrückt und leidend aus und man erkannte auch hinter ihren unbeweglichen Zügen die ängstliche Spannung.

Ilse kürzte die unvermeidliche Einleitung von Grüßen und Entschuldigungen ab, indem sie begann: »Ich habe Fräulein Laura von Ihrem Wunsche gesagt, das Pergamentblatt zu erhalten, sie ist bereit, Herrn Magister Knips sogleich herüber zu rufen.«

»Das ist unendlich mehr, als ich zu hoffen wagte,« sagte die Struvelius, »ich war bereit, mit Ihrer gütigen Hilfe ihn selbst aufzusuchen.«

[279] »Er soll herkommen,« entschied Laura, »und er soll sich hier verantworten. Er ist mir immer unausstehlich gewesen, obgleich er mir manchmal für Geld hübsche kleine Bilder gemalt hat. Denn seine Demuth ist so, wie sie keinem Manne geziemt, und ich halte ihn im Grund seines Herzens für einen Schleicher.«

Die Köchin Susanne wurde gerufen und von Laura in Gegenwart der Frauen als Herold in die Burg der Knipse gesandt. »Du sagst unter keinen Umständen, daß Jemand bei mir ist, und wenn er kommt, führst du ihn sogleich herauf.« Susanne kehrte mit schlauem Gesicht zurück und überbrachte den Gegengruß: »Der Magister läßt sagen, er wird sich sogleich die hohe Ehre geben. Er erstauntesich, aber es war ihm recht.«

»Er soll sich wundern,« rief Laura. Die verbündeten Damen ließen sich um den Sophatisch nieder und empfanden den Ernst der Stunde, welche ihnen bevorstand. »Wenn ich mit ihm spreche,« begann Frau Struvelius feierlich, »haben Sie die Güte, genau auf seine Antworten zu achten, damit Sie dieselben im Nothfalle wiederholen können, seien Sie mir Beistand und Zeugen.«

»Ich kann schnell schreiben,« rief Laura, »ich will aufzeichnen, was er antwortet, nachher kann er's nicht ableugnen.«

»Das wird zu sehr wie ein Verhör,« warf Ilse ein, »es macht ihn nur mißtrauisch.«

Draußen scholl das wüthende Gekläff eines Hundes. »Er kommt,« rief die Struvelius und rückte sich entschlossen zurecht. Ein polternder Schritt ließ sich von der Treppe hören, Susanne öffnete und Magister Knips trat ein.

Gefährlich sah der nicht aus, ein kleiner gekrümmter Mann, von dem man zweifeln konnte, ob er jung oder alt war, ein blasses Gesicht mit hervorragenden Backenknochen, auf denen zwei rothe Flecke lagen, zusammengedrückte Augen, wie Kurzsichtige zu haben pflegen, von vieler Nachtarbeit bei trüber[280] Lampe geröthet, so stand er, den Kopf auf eine Seite geneigt, in fadenscheinigem Rock, ein demüthiger Diener, vielleicht ein Opfer der Wissenschaft. Als er drei Damen sitzen sah, wo er seinem Herzen nur für eine Fassung gegeben hatte, alle streng und feierlich, darunter die Frauen gewaltiger Männer, blieb er bestürzt an der Thür stehen. Doch faßte er sich und machte drei tiefe Verbeugungen, wahrscheinlich jeder Dame eine, enthielt sich aber alles Gebrauchs der Worte. »Setzen Sie sich, Herr Magister,« begann Laura herablassend und wies auf einen leeren Stuhl gegenüber dem Sopha. Der Magister trat zögernd heran, rückte den Stuhl weiter aus dem Bereich der drei Schicksalsgöttinnen und schob sich mit einer neuen Verbeugung auf eine Ecke des Rohrgeflechts.

»Es wird Ihnen bekannt sein, Herr Magister,« begann Frau Struvelius, »daß die letzte Schrift meines Mannes Erörterungen veranlaßt hat, welche allen Betheiligten und, wie ich voraussetze, auch Ihnen peinlich gewesen sind.«

Knips machte ein sehr klägliches Gesicht und legte den Kopf ganz auf eine Schulter.

»Ich berufe mich jetzt auf das Interesse, welches auch Sie für die Studien meines Mannes haben, und ich berufe mich auf Ihr Herz, wenn ich Sie ersuche, mir offen und geradsinnig die Auskunft zu geben, welche uns Allen wünschenswerth sein muß.« Sie hielt an, Knips sah mit gebeugtem Haupt von der Seite zu ihr hinüber und schwieg ebenfalls. »Ich bitte um eine Antwort,« rief die Struvelius nachdrücklich.

»Ach sehr gern, hochverehrte Frau Professorin,« begann endlich Knips mit feiner Stimme, »ich weiß nur nicht, worauf ich antworten soll.«

»Aus Ihren Händen hat mein Mann das Pergament bekommen, welches die Veranlassung zu seiner letzten Abhandlung gewesen ist.«

»Hat der Herr Professor der hochverehrten Frau Professorin das gesagt?« frug Knips noch kläglicher.

[281] »Nein,« antwortete die Struvelius, »aber ich habe durch die Thür gehört, daß Sie kamen, und ich habe gehört, daß er versprach, über etwas zu schweigen, und da ich später bei ihm eintrat, sah ich das Pergament auf seinem Tisch liegen, und als ich darnach frug, sagte er mir auch: das ist ein Geheimniß.«

Der Magister sah ängstlich in der Luft umher und senkte den Blick endlich auf seine Kniespitzen, welche in ungewöhnlicher Glätte und Abgestoßenheit glänzten.

»Wenn der Herr Professor selbst meinten, daß die Sache Geheimniß sei, so steht doch mir nicht zu, darüber zu sprechen, selbst wenn ich in der That etwas wüßte.«

»Sie verweigern also, uns Auskunft zu geben?«

»Ach! hochverehrte und wohlgeneigte Frau Professorin, ich würde Niemandem lieber eine Mittheilung machen als den gütigen Damen, welche ich hier zu sehen die Ehre habe, aber ich bin viel zu schwach, Ihnen hierin zu dienen.«

»Haben Sie auch überlegt, was Ihre Weigerung für verwirrende Folgen haben muß für meinen Gatten, für die ganze Universität, und was Ihnen mehr als dies alles gelten muß, wenn Sie im Dienst der Wahrheit stehen, für die Wissenschaft?«

Knips gab zu, im Dienst der Wahrheit zu stehen.

Laura merkte, daß das Verhör sich in Seitenpfade schlängelte, auf denen das Pergament nicht zu finden war, sie sprang auf und rief: »Gehen Sie einmal hinaus, Magister Knips, ich habe mit Frau Professorin etwas zu besprechen.« Knips erhob sich bereitwillig und machte eine Verbeugung. »Sie dürfen aber nicht fort, treten Sie in das Zimmer nebenan. Kommen Sie, ich werde Sie sogleich wieder einlassen.« Knips folgte mit gesenktem Haupt und Laura kam auf den Fußspitzen zurück und sagte leise: »Ich habe ihn eingeschlossen, damit er nicht entläuft.« Die Frauen neigten die Köpfe zu geheimer Berathung.

[282] »Sie behandeln ihn zu zartfühlend, Frau Professorin,« flüsterte Laura, »bieten Sie ihm Geld, das wird ihn locken. Es ist hart, daß ich so etwas sagen muß, aber ich kenne die Familie Knips, sie ist egoistisch.«

»Auch ich habe für den äußersten Fall daran gedacht,« versetzte die Struvelius, »ich wollte ihn nur nicht durch ein kaltes Angebot verletzen, wenn eine männliche Empfindung in ihm lebt.«

»Ei was,« rief Laura, »es ist gar kein Mann, es ist nur ein Hasenfuß. Und wenn er Ihnen widersteht, so bieten Sie mehr. Bitte, hier ist meine Sparcasse.« Sie lief zum geheimen Schreibtisch und holte die Perlentasche hervor.

»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar,« raunte die Struvelius und zog auch ihre Börse aus dem Gewande. »Wenn es nur reichen wird,« sagte sie, ängstlich an den Schnüren ziehend, »sehen wir schnell, was wir haben.«

»Behüte,« rief Laura erschrocken, »sie ist ja voll Gold.«

»Ich habe zu Geld gemacht, was ich gerade konnte,« erwiederte hastig die Struvelius. »Das ist ja jetzt alles unwesentlich.«

Ilse nahm beiden Frauen die Börsen aus der Hand und sagte fest: »Das ist vielzu viel. Solche Summe dürfen wir ihm nicht anbieten, wir wissen nicht, ob wir nicht den armen Mann in Versuchung führen, ein Unrecht zu thun. Ueberhaupt, wenn wir Geld bieten, lassen wir uns auf einen Handel ein, den wir gar nicht verstehen.« Das bestritten die Andern, und im Flüsterton wurde eifrig darüber verhandelt.

Endlich entschied Laura: »Zwei Goldstücke soll er haben, und damit abgemacht.« Sie eilte hinaus, den Gefangenen wieder einzuführen.

Als der Magister eintrat, sah die Struvelius so bittend auf Ilse, daß diese sich überwand, die Verhandlung einzuleiten. »Herr Magister, wir Frauen haben uns in den Kopf gesetzt, das Schriftstück zu erhalten, welches die Herren Gelehrten so [283] sehr beschäftigt, und da Sie Bescheid wissen, bitten wir Sie, uns dabei zu helfen.« Magister Knips bewegte seine Lippen zu einem untertänigen Lächeln.

»Wir wollen es kaufen,« fiel die Struvelius ein, »und wir bitten Sie, den Ankauf zu besorgen. Sie sollen das Geld haben, welches Sie dafür brauchen.« Sie fuhr in ihre Börse, vergaß in innerer Angst die Verabredung und zählte einen Louisdor nach dem andern auf den Tisch, daß Laura erschrocken zu ihr sprang und sie von hinten heftig an dem Tuch zupfte. Knips trug sein bedrängtes Haupt wieder auf der Schulter, und wie ein Hündchen auf die Hand des Brotschneidenden starrt, blickte er auf die kleinen Finger der Frau Professorin, aus denen ein Goldstück nach dem andern fiel. »Dies und noch mehr gehört Ihnen,« rief die Struvelius, »wenn Sie mir das Pergament schaffen.« Der Magister fuhr in die Tasche nach seinem Tuch und trocknete sich die Stirne. »Wohl wird Denenselben bekannt sein,« sagte er klagend, »daß ich viele Correcturen lesen muß, und manches Mal in die liebe Nacht arbeiten, bevor ich nur den zehnten Theil von dem verdiene, was hier liegt. Es ist eine große Verlockung für mich, aber ich glaube nicht, daß ich das Pergamentblatt schaffen kann. Und wenn es mir gelingen sollte, so fürchte ich, es könnte nur unter der Bedingung sein, daß den Streifen keiner der Herren Professoren in die Hand bekommt, sondern daß derselbe hier in Gegenwart der hochverehrten Frauen und Fräulein vernichtet wird.«

»Gehen Sie noch einmal hinaus, Magister Knips,« gebot Laura aufspringend, »lassen Sie aber Ihren Hut hier liegen, damit Sie uns nicht entwischen.«

Der Magister verschwand zum zweiten Male. Wieder fuhren die Frauenköpfe zusammen.

»Er hat das Blatt, und er kann es schaffen, jetzt wissen wir's,« rief Laura.

»Auf sein Anerbieten können Sie nicht eingehen,« sagte [284] Ilse, »denn es liegt Ihnen doch nichts daran, das Blatt zu behalten, es soll nur noch einmal von unsern Männern untersucht werden, dann kann es ja der Herr Magister wieder zurücknehmen.«

»Bitte, schaffen Sie alles Gold fort bis auf dies hier,« rieth Laura, »und erlauben Sie mir, jetzt aus einem andern Tone mit ihm zu sprechen, denn meine Geduld ist am Ende.« Sie öffnete die Thür: »Kommen Sie herein, Magister Knips, und hören Sie mich mit Ueberlegung an. Sie haben sich geweigert, das Geld ist verschwunden bis auf zwei Stücke, die liegen noch für Sie da. Aber nur unter der Bedingung, daß Sie auf der Stelle schaffen, was Frau Professorin von Ihnen erbeten hat. Denn wir haben Ihnen deutlich angesehen, Sie besitzen das Blatt, und wenn Sie sich noch weigern, so kommt uns der Verdacht, daß Sie dabei etwas Unehrliches verübt haben.« Knips sah sie erschrocken an und winkte flehend mit der Hand. »Und ich gehe sogleich zu Ihrer Mutter und sage ihr, daß es ein Ende hat zwischen ihr und unserm Hause. Ich gehe hinüber zu Herrn Hahn und erzähle ihm von Ihrem Verhalten, und daß er Ihnen Ihren Bruder auf den Hals schickt. Ihr Bruder ist in einem Geschäft und weiß, was Redlichkeit heißt. Und wenn er es nicht einsieht, so wird Herr Hahn daran denken, und auch Ihrem Bruder wird es nicht zum Heile gereichen. Zuletzt will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich lasse auf der Stelle Herrn Fritz Hahn herüber bitten und wir theilen ihm Alles mit, und dann soll er mit Ihnen verhandeln. Denn daß Fritz Hahn mit Ihnen fertig wird, wissen Sie. Und ich auch, denn ich habe als kleines Mädchen dabeigestanden. Ich kenne Sie, Herr Magister. Wir auf unserer Straße sind nicht von der Art, daß wir uns hinter's Licht führen lassen. Und wir halten auf Ordnung in der Nachbarschaft. Deshalb schaffen Sie das Blatt, oder Sie sollen Laura Hummel kennenlernen.« Das rief Laura mit blitzenden Augen, und sie ballte die kleine Hand gegen den Magister. Und Ilse [285] sah mit Erstaunen, wie in der Rede der Eifrigen auf einmal der Doctor als Ajax gegen den Magister heranstürmte.

Wenn ein Vortrag nach seinen Wirkungen beurtheilt werden darf, so war Laura's Anrede musterhaft, denn sie bewirkte in dem Magister völlige Zerstörung. Er war unter den Menschen und Gewohnheiten der kleinen Straße aufgewachsen und würdigte sehr wohl die Folgen, welche Laura's Feindschaft für das geringe Behagen seines eigenen Lebens haben konnte. Er kämpfte deshalb eine Weile um die Worte, endlich begann er leise: »Da es so weit gekommen ist, daß Fräulein Laura sogar gegen mich selbst etwas muthmaßt, so bin ich allerdings genöthigt, den hochverehrten Frauen zu sagen, wie die Sache zusammenhängt. Ich kenne einen kleinen reisenden Händler, der allerlei Antiquitäten mit sich führt, Holzschnitte, Miniaturen, auch Bruchstücke alter Handschriften, und was sonst in dieser Art vorkommt, ich habe ihm manchmal Kunden zugewiesen und wohl auch über den Werth seltener Sachen Auskunft gegeben. Dieser Mann zeigte mir bei seinem Hiersein einen Haufen alter Pergamentblätter, über welche er bereits, wie er sagte, mit einem Auswärtigen im Handel war. Und weil man jetzt auf die doppelt beschriebenen Blätter sehr aufmerkt, war ihm der Streifen aufgefallen und mir auch. Ich las Einiges darin, soweit man es durch den Leim erkennen konnte, der noch darüber lag, und ich bat ihn, mir das Pergament wenigstens zu leihen, damit ich es einem unserer großen Herren Gelehrten zeigen könnte. Ich trug es zu Herrn Professor Struvelius. Und als der Herr Professor meinten, die Sache wäre vielleicht der Mühe werth, ging ich wieder zu dem Händler. Dieser sagte mir, verkaufen könne er das Blatt vorläufig nicht, aber es sei ihm recht, wenn darüber geschrieben würde, denn dadurch könnte es größeren Werth erhalten.Der Händler überließ ers mir bis zu seiner Zurückkunft. In dieser Woche ist er wieder angekommen, um es mit fortzunehmen. Jetzt weiß ich nicht, ob es noch vorhanden ist, und ich kann gar[286] nicht sagen, ob er es für dieses Geld herausgeben wird. Ich besorge: Nein.«

Die Frauen sahen einander an. »Sie Alle hörten diese Aussage,« begann die Struvelius. »Aber weshalb haben Sie, Herr Magister, meinen Mann gebeten, Niemandem zu sagen, daß das Pergament von Ihnen kommt?«

Der Magister wand sich auf dem Stuhl und sah verlegen auf seine Kniee herab. »Ach, die hochverehrten Damen werden mir zürnen, wenn ich das ausspreche. Herr Professor Werner hat gegen mich immer viele Freundlichkeit gehabt und ich hatte Angst, derselbe könnte übel empfinden, wenn ich einen solchen Fund nicht zuerst ihm zeigte. Und doch hatte auch Herr Professor Struvelius mich wieder zu Dank verpflichtet, denn derselbe hatte mir geneigtest Correctur und Inhaltsverzeichniß seiner neuen großen Ausgabe übertragen. Deshalb stand ich zwischen zwei schätzbaren Gönnern in Verlegenheit.«

Das war so kläglich, daß es leider nicht unwahrscheinlich war.

»O bewirken Sie, daß Ihr Gemahl ihn anhört,« rief die Struvelius.

»Wir hoffen, Herr Magister, Sie werden Ihre Worte vor Andern wiederholen, welche den Inhalt besser verstehen als wir,« sagte Ilse, und der Magister erklärte furchtsam seine Bereitwilligkeit.

»Aber das Pergament müssen Sie doch schaffen,« warf Laura dazwischen.

Knips zuckte die Achseln. »Wenn es möglich ist,« sagte er, »und ob der Mann für diesen Betrag mir das Blatt überlassen wird –«

Die Struvelius griff wieder nach der Tasche, aber Ilse hielt ihr die Hand fest und Laura rief: »Wir geben nicht mehr.« »Dennoch, aber,« fuhr der Magister, gedrückt durch den Widerstand seiner Richterinnen, fort: »es sind Zweifel erhoben an der Echtheit, und wie es bei solchen Leuten geht, vielleicht [287] hat das Blatt dem Händler dadurch an Werth verloren. – Aber, hochverehrte Frauen und Fräulein, wenn es mir gelingen sollte, Ihnen zu dienen, so flehe ich in Ehrerbietung, daß Dieselben mir nicht den unglückseligen Antheil nachtragen, den ich ohne mein Verschulden in dieser schwierigen Sache gehabt habe. Sie hat mich die ganze Zeit sehr bekümmert, und seit die Worte des Herrn Professor Werner gedruckt wurden, habe ich jeden Tag gejammert, daß ich je mit einem Auge auf das Blatt gesehen. Denn ich darf meine gewichtigen Gönner nicht verlieren, wenn ich nicht in den Abgrund des Elends sinken soll.«

Diese Worte regten den Richterinnen das Mitleid auf, und die Struvelius sagte gütig: »Wir glauben Ihnen, denn es ist eine häßliche Empfindung, auch wider Willen Andere getäuscht zu haben.« Aber Laura, welche sich zur Vorsitzenden des Rathes aufgeworfen hatte, entschied kurz: »Ich bitte also, daß alle Betheiligten sich morgen um dieselbe Stunde hierher bemühen. Ihnen, Magister Knips, gebe ich bis dahin Zeit, das Blatt in unsere Hände zu liefern. Nach Ablauf dieser Frist wird Wäsche entzogen, das Haus verboten und der Familie Hahn Anzeige gemacht. Sehen Sie zu, daß wir im Guten auseinander kommen.«

Der Magister näherte sich dem Tisch, schob mit einem Finger die Geldstücke in die hohle Hand, welche er bescheiden unter den Rand der Tischplatte hielt, machte geknickt drei tiefe Verbeugungen und empfahl sich den hochverehrten Anwesenden.

Ilse erzählte dem Gatten das Abenteuer, und Felix hörte erstaunt von der Rolle, welche das gelehrte Fac totum in der Tragödie gespielt hatte.

Schon am nächsten Morgen erschien der Magister vor dem Gelehrten. Athemlos zog er das eingepackte Unglücksblatt aus der Tasche und trug es mit geneigtem Haupt und ausgestreckter Hand, immer kleiner werdend, demüthig und flehend [288] von der Thür bis zum Arbeitstisch des Professors. »Dem Herrn Professor dies zu bringen, möchte ich immer noch eher wagen, als zum zweiten Mal höherer weiblicher Würde entgegentreten. Wenn der Herr Professor geruhen wollten, dasselbe durch Dero Gemahlin geneigtest in die Hände der neuen Eigenthümerin zu befördern.« Auf die strengen Fragen des Professors begann er Bericht und Verteidigung. Was er sagte, war nicht unwahrscheinlich. Dem Professor war der Name des unsichern Händlers bekannt, er wußte, daß der Mann sich in diesen Wochen am Orte aufgehalten hatte, und bei den zahlreichen Verbindungen, welche Knips im Interesse seiner Gönner unterhielt, war seine Bekanntschaft mit diesem Verkäufer nicht auffallend. Der Professor untersuchte neugierig das Pergament. Hatte hier eine Fälschung stattgefunden, so war sie meisterhaft ausgeführt; aber Knips selbst brachte eine Lupe aus der Westentasche und machte darauf aufmerksam, wie man unter dem Vergrößerungsglase erkenne, daß einige Male die schattenhaften Schriftzüge der scheinbar ältesten Hand über die Buchstaben des Kirchengebets geführt, also später aufgemalt seien. »Des Herrn Professors Einwürfe in der Literaturzeitung haben mich aufmerksam gemacht, und heut früh, als ich das Pergament in die Hand bekam, habe ich sorgenvoll untersucht, was vorher durch den aufgestrichenen Kleister undeutlich war. Und soweit ich mir in solchen Dingen überhaupt ein Urtheil erlauben darf, wage ich jetzt Dero Ansicht zu theilen, daß ein Falsarius an diesem Blatt Uebles gethan hat.«

Der Professor warf das Blatt weit von sich: »Ich bedaure, daß Ihre Hand jemals an dies gerührt hat. Denn Sie haben, wenn auch wider Willen, eine Verwüstung angerichtet, deren Schmerzlichkeit Sie wohl nicht übersehen. Auch um Sie selbst thut es mir sehr leid. Dieser unglückliche Vorfall wirft einen Schatten auf Ihr Leben. Ich würde viel darum geben, wenn ich ihn hinwegwischen könnte. Denn wir kennen einander von [289] mancher Arbeit, Herr Magister, ich habe für Ihre opfervolle Thätigkeit zu Gunsten Anderer immer Theilnahme gefühlt. Und trotz Ihrem Bücherschacher, den ich nicht lobe, und trotz der Zersplitterung Ihrer Zeit durch Arbeiten, die auch Schwächere abmachen könnten, habe ich Sie stets für einen Mann gehalten, dessen ungewöhnliche Kenntnisse Achtung einflößen.«

Der gebeugte Magister erhob das Haupt und über sein Gesicht flog ein Lächeln. »Und ich habe Herrn Professor immer für den einzigen unter meinen vornehmen Gönnern gehalten, welcher das Recht hätte, mir zu sagen, daß ich zu wenig gelernt habe. Der Herr Professor sind ebenso der einzige, dem ich zu gestehen wage, daß ich mich in der Stille auch als einen Gelehrten zu ästimiren nicht unterlassen kann. Und ich verhoffe, daß Sie mir nicht das Zeugniß versagen werden, Denenselben stets ein zuverlässiger und treuer Arbeiter gewesen zu sein.« Er fiel in sein gedrücktes Wesen zurück, als er fortfuhr: »Was geschehen ist, soll mir für die Zukunft eine Lehre sein.«

»Ich muß mehr von Ihnen fordern. Zuerst werden Sie sich Mühe geben, durch Ihre Bekanntschaft den Versteck zu ermitteln, aus welchem diese Fälschung hervorgegangen ist, denn sie ist schwerlich der zufällige Einfall eines gewissenlosen Mannes, sondern Beginn einer unheimlichen Industrie, welche noch mehr Unheil anrichten kann. Ferner ist Ihre Pflicht, auf der Stelle Herrn Professor Struvelius das Pergament zu überbringen und Ihre Entdeckung mitzutheilen. Sie selbst aber werden gut thun, fortan vorsichtiger in der Wahl der Geschäftsleute zu sein, mit welchen Sie verkehren.« Diese Ansichten theilte Knips vollständig und schied, indem er sich flehentlich für die Zukunft zu hochgeneigter Berücksichtigung empfahl.

»Er ist doch irgendwie bei der Schurkerei betheiligt,« rief der Doctor.

»Nein,« entgegnete der Professor. »Sein Unrecht ist, [290] daß ihm bis zum letzten Augenblick mehr an einem Handel als an Ermittlung der Wahrheit lag.« Und Frau Professor Struvelius sprach am Nachmittag zu Ilse: »Was wir erreicht haben, ist für meinen Gatten sehr schmerzlich. Denn es gibt ihm die Ueberzeugung, daß er getäuscht wurde, während Andere das wahre Sachverhältniß erkannt haben. Es ist für eine Frau grausame Qual, wenn sie selbst zu solcher Demüthigung des Liebsten die Hand reichen muß. Dieses Leid werde ich lange in mir herumtragen. Auch unsere Gatten sind einander so entfremdet, daß für beide längere Zeit nothwendig sein wird, bevor die verletzte Empfindung einer unbefangenen Würdigung des Collegen Raum gibt. Mir aber liegt daran, daß das Verhältniß zwischen Ihnen und mir darunter nicht leidet. Ich habe den Werth Ihres Herzens erkannt und ich bitte Sie, sich trotz meinem schwerfälligen Wesen, das ich sehr wohl kenne, die Freundschaft gefallen zu lassen, welche ich Ihnen entgegentrage.«

Als sie in ihrem schwarzen Kleide langsam zur Thür hinausschritt, wunderte sich Ilse, wie schnell der erste Eindruck, den ihr die gelehrte Dame gemacht, durch andere Gefühle zurückgedrängt war.

In der nächsten Nummer der Literaturzeitung erschien eine kurze Erklärung des Professor Struvelius, worin er ehrlich bekannte, daß er durch einen – aller dings sehr geschickten – Betrug getäuscht worden sei, und daß er dem Scharfsinn und der freundlichen Thätigkeit seines verehrten Collegen dankbar sein müsse, welcher zur Aufklärung des Sachverhältnisses beigetragen.

»Diese Erklärung hat die Frau geschrieben,« sagte wieder der hartnäckige Doctor.

»Wir dürfen annehmen, daß die unbehagliche Novelle dadurch für alle Betheiligten zum Ende gebracht ist,« schloß der Professor mit leichtem Herzen.

Aber auch die Hoffnungen eines großen Gelehrten gehen [291] nicht immer in Erfüllung. Dieser Streit der Scepter tragenden Fürsten an der Universität hatte nicht nur Ilse in neuen Beruf eingeführt, auch einen Andern.

Magister Knips kauerte am Abend des entscheidenden Tages, welcher die Nichtigkeit des Pergaments enthüllt hatte, in der ungeheizten Kammer seiner dürftigen Wohnung auf dem Boden. Auf den Bretern an der Wand und auf dem Fußboden lagen die Bücher unordentlich gehäuft und er saß von ihnen ringsum eingeschlossen, wie ein Ameisenlöwe in seinem Trichter. Er räumte eine alte Cigarrenkiste seines Bruders, die mit kleinen Flaschen und Farbentöpfchen gefüllt war, in eine dunkle Ecke und legte Bücher darüber. Dann stellte er die Lampe auf einen Schemel neben sich, nahm mit innigem Behagen ein und das andere alte Buch in die Hand, betrachtete den Einband, las den Titel und die letzte Seite, strich liebkosend mit der Hand darüber und legte es wieder zum Haufen. Endlich faßte er mit beiden Händen den alten italienischen Druck eines griechischen Autors, schob sich näher an die Lampe und untersuchte Blatt für Blatt. Die Mutter rief zur Thür herein: »Höre auf mit deinen Büchern und komm aus der kalten Kammer zu deinem Abendbrot.«

»Seit zweihundert Jahren hat kein Gelehrter dies Buch gesehen, Mutter, sie leugnen, daß es überhaupt vorhanden ist, ich aber halte es in meinen Händen, und es gehört mir. Das ist ein Schatz, Mutter.«

»Was hilft dir der Schatz, du armer Junge?«

»Ich hab' ihn, Mutter,« sagte der Magister, zu den harten Zügen der Frau aufblickend, und seine zwinkernden Augen glänzten verklärt. »Heut erst mußte ich eine Correctur lesen, in der ein berühmter Mann behauptet, dieser Band, den ich hier halte, sei nie vorhanden gewesen. Er wollte das ›nie vorhanden‹ mit gesperrter Schrift gedruckt, und ich habe es dem Setzer gezeichnet, aber ich wußte es besser.«

[292] »Kommst du wieder nicht los?« rief die Mutter ärgerlich, »dein Bier wird am Ofen warm, mach' ein Ende.«

Widerstrebend erhob sich der Magister, fuhr mit seinen Filzschuhen aus der Kammer und setzte sich zu seinem Butterbrot in der Stube nieder. »Mutter,« sagte er der Frau, die dem schnellen Essen zusah, »ich habe einiges Geld übrig, brauchst du etwas, so kaufe dir's. Aber ich will wissen, was es ist, und ich will es auch sehen, daß nicht der Bruder dir das Geld wieder abborgt. Denn es ist mit Sorgen verdient.«

»Dein Bruder wird mir jetzt Alles zurückzahlen; denn Hahn hat ihm seine Stelle gebessert und er hat sein gutes Auskommen.«

»Das ist nicht wahr,« versetzte der Magister, die Mutter scharf ansehend, »er ist zu vornehm geworden, um noch bei uns zu wohnen, aber so oft er herkommt, will er etwas von dir. Und du hast ihn immer lieber gehabt als mich.«

»Rede nicht so, mein Sohn,« rief Frau Knips, »er hat nur eine andere Art, du hast immer fleißig stillgesessen und gesammelt, und schon als kleiner Junge hast du zusammengetragen.«

»Ich habe mir etwas gesucht, das mir lieb war,« sagte der Magister und sah nach seiner Kammer, »und ich habe Manches gefunden.«

»Ach, und wie sauer läßt du dir's werden, mein armes Kind,« schmeichelte die Mutter.

»Wie's kommt,« antwortete der Magister und verzog in heiterer Stimmung sein Gesicht. »Ich lese Correcturen und ich mache Arbeiten für diese Gelehrten, die vornehm im Wagen fahren und, wenn ich zu ihnen komme, mich behandeln wie einen römischen Sklaven. Und kein Mensch weiß, wie oft ich ihre Dummheiten ausbessere und die groben Fehler aus ihrem Latein. Ich thue es aber nicht Jedem, nur dem, welchen ich mag und der es wohl um mich verdient hat. Den Andern lasse ich stehen, was sie nicht gewußt haben, und ich zucke in [293] der Stille die Achseln über die hohlen Köpfe. Es ist nicht Alles Gold, was glänzt,« sagte er, und hielt behaglich sein Dünnbier gegen das Licht, »ich allein weiß, wie es in manchem aussieht. Ihre elenden Manuscripte, immer wieder corrigirt, und das Schlechteste darin nicht corrigirt; ich sehe, wie sie sich abquälen und, was sie etwa wissen, noch aus fremden Büchern mausen. Man sieht das alle Tage, Mutter, und man lächelt in der Stille über den Lauf der Welt.«

Und Magister Knips lächelte über die Welt.

5. Herr Hummel als Falsarius
5.
Herr Hummel als Falsarius.

In den Häusern der Parkstraße waltete Friede, Duldsamkeit, heimliche Hoffnung. Seit Ilse's Ankunft schien der alte Streit abgethan, das Kriegsbeil begraben. Zwar Hummels Hund knurrte und schnappte nach Hahns Katze und wurde von ihr geohrfeigt, und der Markthelfer Rothe von A.C. Hahn schlug im Kuchengarten vor dem Schließer der Fabrik von H. Hummel auf den Tisch und erklärte ihm seine Verachtung. Aber diese kleinen Vorfälle glichen unschädlichen Wasserblasen, welche an der Stätte aufstiegen, wo einst ein strudelnder Abgrund von Feindschaft gewesen war, das Leben zwischen den beiden Häusern floß dahin wie ein klarer Bach, und Vergißmeinnicht wuchs an seinem Ufer. Wenn ein menschenfeindlicher Zauber in den Boden gesteckt war zu jener Zeit, wo Frau Knips allein darauf herrschte, so schien er jetzt durch weibliche Beschwörung gänzlich beseitigt.

An einem Morgen, kurz vor der Messe, stellte der Markthelfer einer Buchhandlung einen Stoß neuer Bücher auf den Schreibtisch des Doctors. Es waren die Freiexemplare des ersten größeren Werkes, das er geschrieben. Fritz schlug die ersten Seiten auf, sah einen Augenblick in stillem Genuß auf [294] den Titel, noch einmal flog die Hauptsache des Inhalts durch seine Seele. Dann ergriff er schnell die Feder, schrieb in das Exemplar einige herzliche Worte und trug es zu seinen Eltern hinab.

Das Buch handelte, um in der Weise Gabriels zu sprechen, von den alten Indern sowie von den alten Deutschen, es besprach das Leben unserer Vorfahren vor der Zeit, in welcher diese den verständigen Entschluß faßten, auf dem Blocksberg artige Brockensträuße zu binden und im Vater Rhein ihre Trinkhörner auszuspülen. Es war ein sehr gelehrtes Buch, und es enthüllte, soweit der Verfasser sich nicht geirrt hatte, viele geheime Tiefen der Urzeit.

Vater und Mutter, denen Fritz das Buch hinuntertrug, hatten nicht nöthig, sich durch Fremde über die Bedeutung des Werkes belehren zu lassen. Die Mutter küßte dem Sohne die Stirn und konnte ihre Rührung nicht bekämpfen, als sie seinen Namen sogroß und schön gedruckt auf dem Titel sah; Herr Hahn aber nahm ihr das Buch aus den Händen und trug es in den Garten. Dort legte er es auf den Tisch des chinesischen Tempels, las mehre Mal die Widmung und umkreiste darauf den Pavillon, immer wieder hineinsehend, um zu beobachten, wie sich der Baustil in Verbindung mit dem Buch ausnehme. Dabei begegnete auch ihm, daß er sich einige Mal herzhaft räusperte, um seiner freudigen Bewegung Herr zu werden.

Nicht geringer war die Freude im Arbeitszimmer des Professors. Dieser ging das Buch hastig vom Anfang bis zum Ende durch. »Es ist merkwürdig,« sagte er dann vergnügt zu Ilse, »wie kühn und fest Fritz auf die Sache losgeht. Dabei mit einer Selbstbeherrschung, die ich ihm nicht in dem Maße zugetraut habe. Vieles darin ist mir ganz neu,; mich wundert, daß er so schnell und heimlich mit der Arbeit abgeschlossen hat.«

Wie die gelehrte Welt das Buch des Doctors betrachtete, [295] ist aus vielem gedruckten Lobe ersichtlich. Schwerer ist zu schätzen, wie es auf die Parkgasse wirkte. Herr Hummel studirte in seiner Zeitung eine ausführliche Besprechung des Werkes, nicht ohne Geräusch, er summte bei dem Wort Veda, er brummte bei dem Namen Humboldt und er pfiff durch die Zähne bei dem Lobe, welches der tiefen Gelehrsamkeit des Verfassers ertheilt wurde. Als endlich am Schluß Recensent sich nicht enthalten konnte, im Namen der Wissenschaft dem Doctor förmlich Dank zu sagen und das Werk allen Lesern angelegentlichst zu empfehlen, verstärkte sich das Gesumm in Herrn Hummels Kopf bis zur Melodie des alten Dessauers, und er warf die Zeitung auf den Tisch. »Ich denke nicht daran, es zu kaufen,« war Alles, was er den Frauen über seine Empfindungen gönnte. Aber er sah im Laufe des Tages einige Mal nach der feindlichen Hausecke hinüber, wo das Zimmer des Doctors lag, und dann wieder nach dem eigenen Oberstock, als wenn er die beiden Gelehrten und ihre Behausungen gegeneinander abschätzen wollte.

Als Ilse gegen Laura das Urtheil des Gatten über das Buch wiederholte, erröthete Laura ein wenig und erwiederte, ihr Köpfchen zurückwerfend: »Ich hoffe, es ist so gelehrt, daß wir nicht nöthig haben, uns damit abzugeben.« Aber die Abneigung, sich darauf einzulassen, verhinderte sie doch nicht, einige Tage später den Professor um das Buch zu bitten, weil sie es der Mutter zeigen wolle. Bei dieser Gelegenheit wurde es in das Geheimzimmer getragen und verweilte dort längere Zeit.

Auch unter den übrigen Anwohnern der Straße wurde die Bedeutung der Familie Hahn, welche so rühmlich in die Zeitung gekommen, deren Fritz sogar im Tageblatt gepriesen war, sehr vermehrt. Die Wagschale der Volksgunst senkte sich entschieden auf Seite dieses Hauses, sogar Hummel fand zweckmäßig, sich nicht dagegen aufzulehnen, daß in seiner Familie mit kühler Anerkennung von dem Nachbarsohn gesprochen wurde. [296] Und wenn Dorchen, wie zuweilen geschah, mit Gabriel auf der Straße zusammentraf, so wagte sie sogar für einige Augenblicke in den Hofraum der Feinde zu treten, trotz dem Geknurr des Hundes und dem düstern Blick des Hausherrn.

An einem warmen Abend des März hatte sie gerade wieder im Vorbeigehen mit Gabriel Nothwendiges besprochen und trippelte zierlich über die Straße nach ihrer Hausthür, während Gabriel ihr voll Bewunderung nachsah. Da trat Herr Hummel ins Freie und erhaschte den letzten Gruß und Blick Gabriels.

»Sie ist niedlich wie ein Rothschwänzchen,« sagte Gabriel zu Herrn Hummel. Dieser schüttelte menschenfreundlich den Kopf. »Ich merke wohl, Gabriel, wie dieser Hase läuft. Und ich sage nichts, denn es würde nichts nutzen. Aber Eines will ich Ihnen als eine gute Lehre mittheilen. Sie verstehen das weibliche Geschlecht nicht zu behandeln, Sie sind nicht borstig gegen das Frauenzimmer. Als ich jung war, zitterten sie, wenn ich mein Taschentuch schwenkte, und liefen doch um mich her wie die Ameisen. Diese Nation will furchtsam sein, Sie verderben sich Alles durch Freundlichkeit. Ich schätze Sie, Gabriel, und deshalb gebe ich Ihnen diesen Rath, wie man ihn gleichsam einem Freunde gibt. Sehen Sie, da ist Madame Hummel. Sie ist ziemlich kräftig, ich zwinge sie doch; wenn ich nicht brummig wäre, würde sie es sein. Da nun gebrummt werden muß, so ist mir immer pläsirlicher, daß ich derjenige bin.«

»Jedes Thier hat seine Manier,« versetzte Gabriel verbindlich, »ich habe kein Geschick zum Brummbär.«

»Es will gelernt sein,« sagte Herr Hummel wohlwollend. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und machte ein schlaues Gesicht: »Dort drüben schleicht man auch schon im Garten herum, wahrscheinlich speculiert man wieder mit einem neuen Einfall, den ich zu seiner Zeit mit dem richtigen Namen zu nennen mir unter allen Umständen vorbehalte.« Er dämpfte seine Stimme: »Es ist bereits etwas Anonymes abgeladen und [297] in den Garten geschafft.« – Aergerlich über seine eigene Vorsicht fuhr er fort: »Glauben Sie mir, Gabriel, durch das viele Erzeugen von Kindern wird die Welt feig, die Menschen werden so zusammengedrängt, daß die Freiheit aufhört; das Leben ist eine Sklaverei vom ersten Kasten, in den man gelegt wird, bis zum letzten. Ich stehe hierauf meinem eigenen Grund und Boden. Wenn ich an dieser Stelle ein Loch graben will bis zum Mittelpunkt der Erde, kein Mensch kann mir's verwehren. Dennoch dürfen wir beide auf meinem freien Eigenthum nicht einmal mit gewöhnlicher Menschenstimme eine Meinung aussprechen. Warum? Es könnte gehört werden und fremden Ohren mißfallen. Soweit sind wir. Man ist ein Knecht seiner Nachbarn. Und nun bedenken Sie, ich habe nur Einen gegenüber, auf der andern Seite schützt mich das Wasser und die Fabrik, und ich muß doch die Wahrheit hinunterschlucken, die ich wenigstens zehn Fuß von meiner Grenze aussprechen will. Wer nun gar von allen Seiten mit Nachbarn umgeben ist, der führt ein erbärmliches Leben, er kann sich nicht einmal in seinem eigenen Garten den Kopf abschneiden, ohne daß die ganze Nachbarschaft ein Geschrei erhebt, weil ihr der Anblick nicht gefällt.« – Er deutete mit dem Daumen nach dem Nachbarhause und fuhr vertraulich fort: »Heut sind wir verglichen worden, die Weiber haben nicht eher geruht. Und ich versichere Sie, dort drüben fehlt die richtige Courage zum Streit. Die Sache wurde langweilig, da gab ich mich drein.«

»Es ist doch gut, daß Alles wieder in Ordnung kam,« sagte Gabriel. »Wenn die Väter im Streit leben, wie sollen die Kinder einander grüßen?«

»Warum sollen sie einander nicht auch Gesichter schneiden?« rief Hummel ärgerlich. »Ich bin nicht für die ewigen Knixe.«

»Das weiß Jedermann,« versetzte Gabriel. »Wenn aber Fräulein Laura bei uns mit dem Doctor zusammentrifft, [298] was ja oft geschieht, so kann sie doch nicht gegen ihn brummen.«

»Sie treffen also oft zusammen?« wiederholte Hummel bedachtsam. »Da haben Sie wieder die Ueberfüllung, man kann einander nicht aus dem Wege gehen. Nun, meiner Tochter bin ich sicher, sie ist von meiner Art, Gabriel.«

»Das weiß ich doch nicht,« erwiederte Gabriella chend.

»Ich versichere Sie, es ist ganz mein Kopf,« bestätigte Hummel mit Ueberzeugung. »Was aber diesen Frieden betrifft, so freuen Sie sich nicht so sehr darüber, denn verlassen Sie sich auf mich, zwischen hier und drüben hat er keine Dauer. Wenn das Eis aufthaut und das Gartenvergnügen angeht, dann gibt's wieder Händel. Das ist hier immer so gewesen. Und ich sehe nicht ein, warum das nicht so bleiben soll, trotz Vergleich und trotz Ihrer neuen Herrschaft, der ich übrigens meinen Respect nicht vorenthalten will.«

Die Unterredung, welche sich in den Garten hineingesponnen hatte, wurde durch einen schwarzen feierlichen Mann unterbrochen, welcher einen großen Brief in bunter Hülle darbot, sich vor Herrn Hummel aufstellte und demselben für seine abwesende Tochter die Aufforderung überbrachte, Pathenstelle bei einem Kinde zu übernehmen, welches vor Kurzem geboren war, die Welt zu verengen. Gegen die Einladung war nichts einzuwenden, die junge Mutter, Frau eines Juristen, war Laura's Freundin und eine Tochter ihrer angesehenen Pathe, es war ein alter Familienzusammenhang und Hummel nahm als Vater und Bürger das Ceremoniel der Einladung mit Würde entgegen. »Für wen ist der Brief, den Sie noch in der Hand halten?« frug er den Lohndiener.

»Für Herrn Doctor Hahn, welcher mit Fräulein Laura zusammen stehen soll.«

»So?« sagte Hummel ironisch, »das geht ja mit vier Kutschpferden. Tragen Sie Ihren Brief nur dort hinüber. – Habe ich's nicht gesagt, Gabriel?« wandte er sich zu seinem [299] Vertrauten. »Kaum vor Gericht verglichen und auf der Stelle Gevatter, kein Mensch kann dafür stehen, daß nicht morgen der Strohmann von drüben zu mir kommt und mir Brüderschaft anbietet. Da haben Sie die Folgen der Ueberfüllung und des Christenthums. Diesmal ist gar mein armes Kind das Opfer.«

Er trug den Brief in die Stube und warf ihn vor den heimkehrenden Frauen auf den Tisch. »Das kommt von eurem Vergleich, ihr schwachen Weiber,« rief er grollend, »hier hängen sich die Amme und die Hebamme und der Herr Gevatter an euren Hals.«

Die Frauen studirten den Brief, und Laura fand rücksichtslos, daß die Frau Pathe gerade den Doctor für sie zum Partner gewählt habe.

»Es ist bequem für den Pathenwagen,« höhnte Hummel aus seiner Ecke. »Er kann in einer Fahrt Zwei abliefern. Jetzt läuft der Humboldt von drüben in weißen Glacéhandschuhen bis in dieses Zimmer, um dich zur Kirche abzuholen, und ich traue ihm obendrein die Unverschämtheit zu, daß er dir den Gevattergruß schickt.«

»Wenn er es nicht thäte, so wäre es eine Beleidigung,« versetzte die Gattin, »das muß schon der Menschen wegen geschehen, sonst gibt es ein Gerede. Dagegen dürfen wir nichts sagen, er wird ihr den Blumenkorb schicken mit den Pathenhandschuhen, und Laura sendet ihm dagegen das Taschentuch, wie es in unserer Bekanntschaft Brauch ist. Du weißt ja, daß Laura's Pathe auf so etwas hält.«

»Seine Blumen in unserm Hause, seine Handschuhe auf unsern Fingern und unser Tuch in seiner Tasche,« zankte der Hausherr, »das wird ja recht lustig.«

»Ich bitte dich, Hummel,« entgegnete seine Frau unwillig, »verleide uns nicht durch dein Schelten die Artigkeiten, die bei solcher Gelegenheit nicht zu vermeiden sind, und hinter denen kein Mensch etwas sucht.«

[300] »Ich danke für eure Artigkeiten, die man nicht vermeiden kann, und an denen Niemandem etwas gelegen ist. Nichts ist mir unter den Leuten hier so unausstehlich als ihre ewigen Artigkeiten durch die Vorderthür und ihr Kratzen durch die Hinterthür.« Er ging aus dem Zimmer und schloß die Thür nicht leise. Die Mutter aber begann: »Im Grunde hat er nichts dagegen, er will nur sein strenges Wesen behaupten. Daß du dem Doctor etwas für seinen Gevattergruß sendest, ist nicht gerade nöthig, aber du bist ihm noch eine Aufmerksamkeit von dem Schäfer her schuldig.«

Laura versöhnte sich mit dem Gedanken, Gevatterin des Doctors zu werden, und sagte: »Ich mache mir eine Zeichnung für die Zipfel des Tuches und ich sticke sie.«

Am nächsten Morgen ging sie aus, Battist zu kaufen. Aber auch Herr Hummel ging aus. Er besuchte einen Bekannten, der Kürschner war, zog ihn vertraulich bei Seite und bestellte ein Paar Handschuhe ganz von weißem Katzenfell, mit fünf Fingern für eine kleine Hand. Und er forderte, daß an die Spitze jedes Fingers eine Katzenkralle befestigt werde. »Es muß aber etwas Zartes sein,« verordnete er, »von ungeborenem Kater, im Nothfall auch Säugling von Kanin, und daß mir die Krallen groß und steif herausstehen.« Dann trat er in einen andern Laden, ließ sich bunt gedruckte Taschentücher von Baumwolle zeigen, wie man sie um einige Groschen kauft, und wählte ein schwarz und rothes mit einem abscheulichen Porträt, das gerade zu seiner Stimmung paßte. Diesen Erwerb senkte er in seine Tasche.

Der Morgen des Tauftags brach an, in der Wohnung des Herrn Hummel klapperte das Plätteisen, die Mutter that noch einige letzte Nadelstiche und Laura fuhr die Treppe geschäftig auf und ab. Unterdeß wandelte Hummel zwischen Hausthür und Fabrik, jeden Eintretenden beobachtend, Speihahn saß auf der Schwelle und knurrte, sooft ein fremder Fuß an die Hausthür rührte. »Beweise dich, Speihahn, wie [301] du bist,« brummte Hummel vor seinen Hund tretend, »und fahre der Jungfer von drüben an den Rock; sie traut sich nicht herein, wenn du Wache hältst.« Der rothe Hund antwortete, indem er seinem eigenen Herrn boshaft die Zähne wies. »So ist's recht,« sagte Hummel und setzte seinen Spaziergang fort. Endlich erschien Dorchen in ihrer Hausthür und tänzelte, einen verhüllten Korb in der Hand, zur Treppe des Herrn Hummel. Speihahn erhob sich grimmig, stieß ein heiseres Gestöhn aus und seine Haare sträubten sich.

»Rufen Sie den häßlichen Hund weg, Herr Hummel,« rief Dorchen schnippisch, »ich habe einen Auftrag an Fräulein Laura.«

Hummel gab seinem Gesicht einen wohlwollenden Ausdruck und griff in die Tasche. »Die Frauen sind in Arbeit, mein hübsches Kind,« sagte er, ein schweres Geldstück herausholend, »vielleicht kann ich's bestellen.« Die Botin war über die unerwartete Menschlichkeit des Tyrannen so betroffen, daß sie einen stummen Knix machte und das Körbchen in seine Hand gleiten ließ. »Es wird Alles auf's Beste besorgt werden,« versicherte Herr Hummel mit einnehmendem Lächeln.

Er trug den Korb in das Haus und rief Susanne, ihn den Frauen zu bringen, darauf trat er wieder an die Thür und streichelte den Hund.

Nicht lange, und er hörte, daß die Thür der Wohnstube aufflog und sein Name laut in den Flur gerufen wurde. Bedächtig schritt er in das Frauengemach und fand hier arge Verstörung. Ein zierlicher Korb stand auf dem Tisch, zerstreute Blumen lagen umher und zwei kleine Pelzhandschuhe mit großen Krallen an den Fingerspitzen lagen wie abgeschlagene Tatzen eines Raubthiers auf dem Boden. Laura aber saß vor ihnen und schluchzte laut.

»Holla,« rief Hummel, »gehört das auch zum Pathenvergnügen?«

»Heinrich,« rief die Gattin heftig, »deinem Kinde ist eine [302] Beleidigung widerfahren. Der Doctor hat gewagt, deiner Tochter dies zu senden.«

»Ei,« rief Hummel, »Katzenpfoten, und gar mit Krallen! Warum nicht, die werden warm halten in der Kirche, du kannst den Doctor ja damit anfassen.«

»Es soll ein Scherz sein,« rief Laura unter heißen Thränen, »weil ich ihn oben zuweilen geneckt habe. Eine solche Unzartheit hätte ich ihm niemals zugetraut.«

»Kennst du ihn so gut?« frug Hummel. »Nun, da es ein Spaß sein soll, wie du sagst, so nimm es auch als einen Spaß. Diese Feuchtigkeit ist unnöthig.«

»Was soll jetzt geschehen?« rief die Mutter, »kann sie nach dieser Beleidigung noch mit ihm Pathe stehen?«

»Ich sollte meinen,« versetzte Hummel ironisch, »Diese Beleidigung ist eine Kinderei gegen andere Beleidigungen, gegen Hausmauern, Glockenspiel und Hundegift. Wenn ihr das alles hinunterschlucken konntet, warum nicht auch die Katzenpfoten?«

»Sie hat ihm selbst ein Taschentuch gesäumt und gestickt,« rief die Mutter wieder, »und sie hatte sich die größte Mühe gegeben, noch fertig zu werden.«

»Das sende ich nicht hinüber,« rief Laura.

»Also sie hat es selber gesäumt und gestickt?« wiederholte Herr Hummel. »Es ist doch hübsch, wenn man mit seinen Nachbarn in Freundschaft lebt. Ihr seid ein weiches Völkchen und ihr nehmt die Sache zu ernsthaft. Das sind ja Artigkeiten, die man nicht vermeiden kann, und bei denen man nichts denken soll. So handelt doch nach euren Worten. Jetzt gerade müßt ihr das Zeug hinüberschicken, und ihr müßt euch gegen ihn und Jedermann gar nichts merken lassen. Behaltet die Verachtung innerlich.«

»Der Vater hat Recht,« rief Laura aufspringend, »hinweg mit dem Tuch. Und meine Rechnung mit dem Doctor sei für immer geschlossen.«

[303] »So ist's recht,« bestätigte Hummel, »wo ist der Lappen? Fort damit.«

Das Tuch lag bereits auf einer Platte in seines blaues Papier geschlagen, ebenfalls von Frühlingsblumen umgeben. »Dies also ist das Gesäumte und Gestickte? wir schicken es sogleich hinüber.« Er nahm die Platte vom Tisch und trug sie eilig in die Fabrik, von dort ging das blaue Packet mit vielen Empfehlungen für den Herrn Gevatter in das Haus der Feinde.

Frau Hahn brachte Gruß und Gabe in das Zimmer ihres Sohnes. »Ah, das ist eine liebe Aufmerksamkeit,« rief der Doctor und betrachtete angelegentlich die Blumen.

»Es kommt ab, daß man auch den Herren etwas sendet,« sprach die Mutter behaglich, »ich hab's immer für eine hübsche Einrichtung gehalten, man sollte an so etwas nicht rütteln.« Neugierig entfaltete sie das Papier und sah sehr betroffen aus. Ein bedrucktes baumwollenes Taschentuch lag darin, lederartig, aus groben Fäden gewebt. Es konnte noch eine Atrappe sein, in dieser Hoffnung breitete sie es auseinander, aber nichts war daran zu sehen als ein grimmiger Kopf in den Teufelsfarben Roth und Schwarz. »Das ist kein hübscher Scherz!« rief die Mutter gekränkt.

Der Doctor sah vor sich nieder. »Ich habe Laura Hummel zuweilen geärgert. Dies hat wohl Bezug auf eine Neckerei, die wir gehabt haben. Bitte, Mutter, setze die Blumen in ein Glas.« Er nahm das Tuch, verbarg es in einer Schublade und beugte sich wieder über die Schrift. »Das hätte ich Laura doch nicht zugetraut,« fuhr die Mutter bekümmert fort. Da aber der Sohn weitere Klagen nicht begünstigte, stellte sie ihm die Blumen zurecht und verließ das Zimmer, die Kränkung ihres Kindes in mütterlichem Herzen umherwälzend.

Der Wagen fuhr vor und der Doctor stieg ein, die Gevatterin abzuholen. »Er kann nur gleich auf der andern Seite wieder herauskriechen,« sagte Herr Hummel am Fenster, »die [304] Hausthüren sind nahe genug.« Durch eine schwierige Wendung gelangte der Festwagen an die Treppe des Herrn Hummel, der Lohndiener öffnete den Schlag, aber bevor der Doctor die Stufen hinaufdringen konnte, erschien Susanne auf der Treppe und rief hinunter: »Bemühen Sie sich nicht erst herein, das Fräulein wird sogleich kommen.« Laura schwebte von den Stufen herab, ganz in Weiß, wie in eine Schneewolke gehüllt. Wie schön sah sie heut aus! Zwar die Wangen waren bleicher als gewöhnlich und die Augenbrauen finster zusammengezogen, aber der schwermüthige Zug gab ihrem Antlitz eine bezaubernde Würde. Sie vermied, den Doctor anzusehen, bewegte ihr Haupt nur ein wenig auf seinen Gruß, und als er die Hand bot, ihr Einsteigen zu unterstützen, fuhr sie an ihm vorüber und setzte sich auf ihren Platz, als sei er gar nicht vorhanden. Mit Mühe fand er Raum an ihrer Seite, sie nickte noch einmal über ihn weg nach der Treppe, auf welcher jetzt Herr Hummel stand, der heut viel aufgeräumter aussah als sein Kind. Schwerfällig trabten die Rosse vorwärts, die bleiche Laura sah weder nach rechts noch links. Es ist ihr erstes Pathenamt, dachte der Doctor, ist das feierliche Stimmung? Oder ist es Reue über das bunte Tuch? Er sah nach ihren Händen, die Handschuhe, die er ihr gesandt, waren nicht darauf zu sehen. Habe ich gegen die Mode gesündigt? dachte er wieder, oder waren sie zu groß für die kleine Hand?

Er schweigt, dachte sie, das ist sein böses Gewissen, er denkt an die Katzenkrallen, und für mein Taschentuch hat er kein Wort des Dankes. Ich habe mich doch sehr in ihm geirrt. Und die Betrachtung wurde ihr so wehmüthig, daß ihr wieder eine Thräne in die Augen stieg, sie aber preßte heftig die Lippen aneinander, drückte sich selbst den Daumen der rechten Hand und zählte in der Stille von eins bis zehn, ein altes Mittel, das ihr schon früher heftige Gefühle gebändigt hatte.

So kann das nicht bleiben, dachte der Doctor, ich muß [305] sie anreden. »Sie haben die Handschuhe, die ich Ihnen zu senden wagte, nicht brauchen können,« begann er bescheiden, »ich habe gewiß recht ungeschickt gewählt.«

Das war zu viel. Laura wandte den Kopf mit heftiger Bewegung nach dem Doctor, er sah einen Augenblick in zwei rollende zornige Augen und hörte die verächtlichen Worte: »Ich bin keine Katze.« Und wieder zuckten ihre Lippen und sie drückte krampfhaft die Hand zusammen.

Fritz sann erstaunt darüber nach, ob Handschuhe, welche Falten werfen, jemals ein charakteristisches Kennzeichen unserer Hausthiere gewesen sein könnten. Er fand die Beziehung unergründlich. Wie schade, daß sie Launen hat! Nach einer Weile begann er von Neuem: »Ich fürchte, die Zugluft wird Ihnen lästig, soll ich das Fenster schließen?«

»Ich danke,« sagte Laura mit eisiger Kälte.

»Wissen Sie etwas über den Namen des Täuflings?« frug der Doctor weiter.

»Er soll Fritz heißen,« erwiederte Laura, und zum zweiten Mal traf ein flammender Zornesblick seine Brillengläser, dann trat wieder Profilstellung mit Ohrläppchen und Nasenspitze ein.

Ach, sie war trotz dem Gewitter, das aus ihr blitzte, in diesem Augenblick wunderschön, und der Doctor konnte sich das nicht verhehlen. Sie aber fühlte jetzt ebenfalls die Verpflichtung, etwas zu reden, und begann über die Schulter: »Ich finde den Namen sehr gewöhnlich.«

»Da es mein eigener Name ist und ich ihn jeden Tag hören muß,« versetzte der Doctor, »so darf ich Ihnen vor Andern Recht geben. Es ist wenigstens ein deutscher Name,« fügte er gutmüthig hinzu, »es ist unrecht, daß man diese so sehr vernachlässigt.«

»Da mein Name auch aus der Fremde stammt,« entgegnete Laura wieder über die Achsel, »so habe ich ein Recht, fremde Namen für gewählter zu halten.«

[306] Wenn sie den ganzen Tag so bleibt, dachte Fritz entmuthigt, werden die nächsten Stunden peinlich sein.

Bei Tische muß ich auch neben ihm sitzen und den Hohn ertragen, dachte sie. Ach, das Leben legt Schreckliches auf.

Sie fuhren am Taufhause vor, beide froh, daß sie wieder unter Menschen kamen. Als sie in die Zimmer traten, stoben sie nach den entgegengesetzten Seiten auseinander. Aber natürlich mußten sie zuerst die junge Mutter begrüßen, und ihre Bahnen stießen hier wieder zusammen. Als Laura sich zu der Pathe wandte, trat auch der Doctor von der andern Seite dazu. Und der guten Pathe fiel wieder jener Tag ein, wo die Beiden ebenso feierlich in ihre Sommerwohnung gekommen waren, und sie konnte sich nicht enthalten, zu rufen: »Das hat etwas zu bedeuten, da seid ihr ja wieder zusammen, ihr lieben Kinder.« Laura erhob stolz das Haupt und erwiederte: »Nur, weil Sie es durchaus so gewollt haben.«

Man fuhr zur Kirche. Der Geistliche that alles Mögliche, dem Täuflinge in diesem und jenem Leben gute Freundschaft zu sichern, und der kleine Fritz umkreiste auf den Armen seiner Pathen widerwillig den Taufstein. Als er aber dem großen Fritz überliefert wurde, brach er in ein zorniges Geschrei aus, und Laura sah mit Verachtung, wie der Doctor beunruhigt wurde und ungeschickte Versuche machte, durch Heben und Senken der Arme den Schreihals mit seinem Anblicke zu versöhnen; bis ihm zuletzt die Hebamme – eine sehr entschlossene Frau – aus der Noth half.

Je weiter die Sonne herabsank, desto unerträglicher wurde die Pflicht des Tages. Bei dem Taufessen gingen alle schwarzen Ahnungen Laura's in Erfüllung, sie saß neben dem Doctor. Es war beiden ein ausgezeichnet behagliches Mahl. Der Doctor wagte noch einige Anläufe, ihre unbegreifliche Stimmung zu durchbrechen, er hätte ebenso leicht mit einem Schwefelholz das Eis eines Gletschers aufgethaut, denn jetzt war Laura an die kalte Luft geselliger Nichtachtung gewöhnt. Sie [307] sprach ausschließlich mit dem Taufvater, der auf ihrer andern Seite saß, und fand in der Unterhaltung mit dem heitern Manne die Schwungkraft des Geistes wieder, während Fritz immer stiller wurde und seine Nachbarin zur Linken, eine freundliche junge Frau, auffallend vernachlässigte. Es wurde noch ärger. Denn als der Braten herannahte, kam der Mitgevatter, ein Stadtrath und sonst ein Mann von Welt und Wort, hinter den Stuhl des Doctors und erklärte, daß er den Toast auf den Täufling auszubringen keineswegs gesonnen sei, weil ihm ein Kopfschmerz alle Gedanken nehme, und daß der Doctor an seiner Stelle zu reden habe. Dem Doctor aber war diese Möglichkeit gar nicht eingefallen und ihm war so unbehaglich zu Muthe, daß er sich ebenfalls leise, aber ernsthaft gegen die Zumuthung auflehnte. Laura hörte wieder mit tiefer Verachtung den Kampf der beiden Herren um eine Stilübung, die noch dazu nicht einmal schriftlich war. Auch der Hausherr wurde aufmerksam, und über die Gesellschaft kam eine gewisse peinliche Erwartung, welche in der Regel nicht die Wirkung hat, widerwilligen Tischrednern ihre Geisteskräfte zu beflügeln, sondern vielmehr zu banger Gedankenlosigkeit herabzudrücken. Eben war der Doctor im Begriff, doch seine Pflicht zu thun, als Laura ihm noch einen kalten Blick gönnte, dann aufstand und an das Glas schlug. Ein lautes Bravo begrüßte sie und sie sprach zu ihrem eigenen Erstaunen und zur Freude aller Anwesenden: »Da die Herren Pathen ihrer Pflicht so wenig eingedenk sind, so bitte ich um Verzeihung, daß ich unternehme, was sie hätten thun sollen.« Darauf brachte sie tapfer ein Hoch aus. Es war ein sehr gewagtes Unternehmen, aber es war gelungen und sie wurde mit Beifall überschüttet. Auf den Doctor dagegen richteten sich jetzt die Stachelreden sämmtlicher Herren. Es ist wahr, er zog sich noch erträglich heraus, denn die verzweifelte Lage gab ihm seine Kraft wieder, ja er hatte die Unverschämtheit, zu erklären, daß er absichtlich gezögert, um der Gesellschaft die Freude zu bereiten, welche Allen [308] durch die Beredsamkeit seiner Nachbarin geworden sei. Darauf hielt er einen lustigen Vortrag über alles Mögliche, und als Alle lachten und Keiner mehr wußte, wo er hinaus wollte, machte er eine kühne Wendung auf die Pathen und brachte die Gesundheit dieser Menschenclasse aus, und insbesondere die seiner Nachbarin. Für die Anwesenden war das gut genug, für Laura war es ein unleidlicher Hohn und Heuchelei. Und als sie mit ihm anstoßen mußte, sah sie ihn wieder so feindselig an, daß er sich schnell von ihr zurückzog.

Jetzt aber begann er ihr in seiner Weise Gleichgültigkeit zu zeigen, er sprach laut mit seiner Nachbarin, er trank mehre Gläser Wein. Laura rückte ihren Stuhl von ihm ab und dachte, er trinkt am Ende gar zu viel, er wurde ihr unheimlich, und jetzt wurde sie stiller. Der Doctor aber achtete gar nicht mehr darauf, er schlug wieder an das Glas und hielt noch eine Rede, und die war so possirlich, daß die Anwesenden dadurch in die glücklichste Stimmung versetzt wurden. Laura aber saß starr wie ein Steinbild und sah ihn nur manchmal verstohlen von der Seite an. Darauf verließ der Doctor ganz seine Nachbarin, der Stuhl neben ihr stand leer, er hatte, um bildlich zu sprechen, das baumwollene Taschentuch darauf gelegt, sie aber die kleinen Pelzhandschuhe, daß der leere Stuhl unter seiner unsichtbaren Last recht unheimlich aussah, und der Doctor ging hinter der Tafel herum und machte kleine Besuche, und wo er anhielt, gab es Lachen und Anstoßen der Gläser. Und als er die Runde um den Tisch geendet hatte, und zu Wirth und Wirthin trat, hörte Laura, wie diese ihm für den lustigen Abend dankten und seine frohe Laune rühmten.

So kehrte er zu seinem Platz zurück. Und jetzt hatte er sogar die Unverschämtheit, sich an Laura zu wenden. Mit einem Ausdruck, in welchem Laura deutlich den Hohn erkannte, hielt er ihr unterm Tisch die Hand hin und sagte: »Machen wir Friede, böse Frau Gevatterin; reichen Sie mir Ihre Hand.« Da empörte sich Laura's ganzes Herz, sie rief: »Sogleich[309] sollen Sie meine Hand haben.« Sie griff schnell in eine geheime Tasche, fuhr in einen Katzenhandschuh und kratzte ihn damit auf die Rückseite seiner Hand. »Da nehmen Sie den Händedruck, den Sie verdienen.«

Der Doctor fühlte einen scharfen Schmerz, fuhr mit der Hand in die Höhe und sah diese durch einige rothe Striche tätowirt. Laura aber warf ihm den Handschuh in den Schoß und setzte dazu: »Wäre ich ein Mann, ich machte Ihnen auf andere Weise fühlbar, daß Sie mich beleidigt haben.«

Der Doctor blickte um sich, seine Nachbarin zur Linken war aufgestanden, auf der andern Seite bildete der Hausherr, über den Tisch gebeugt, harmlos einen Wall gegen die Außenwelt. Dann sah er erstaunt auf den Fehdehandschuh in seinem Schoß, Alles war ihm unbegreiflich, nur das Eine empfand er, daß Laura trotz ihrer Leidenschaft von hinreißender Schönheit war.

Auch er fuhr mit der Hand in seine Tasche und sagte: »Glücklicherweise bin ich in der Lage, auf diese Risse Ihr Geschenk von heut Morgen legen zu können.« Er holte das roth und schwarze Tuch hervor und mühte sich, dasselbe um die verwundete Hand zu schlingen, wobei nicht zu vermeiden war, daß die Hand ein unheimliches, mörderisches Aussehen erhielt. Als Laura die blutigen Schrammen sah, erschrak sie, aber sie wußte ihre Reue tapfer zu verbergen und warf ihm nur die kalten Worte zu: »Wenigstens wird für Ihre Hand besser sein, wenn Sie mein Tuch zum Verband nehmen, als dieses steife Leder.«

»Es ist Ihr Tuch,« versetzte der Doctor traurig.

»Das ist noch schlimmer als alles Andere,« rief Laura mit bebender Stimme. »Sie haben heut eine Art, mit mir zu verkehren, die für mich entwürdigend ist, und ich frage Sie, was habe ich gethan, um solche Behandlung zu verdienen?«

»Was habe denn ich gethan, daß Sie mir diese Vorhaltung [310] machen?« frug der Doctor. »Sie haben mir heut Morgen diesen Gevattergruß gesandt.«

»Ich?« rief Laura, »Sie haben mir diese Katzenpfoten gesandt, aber nicht ich dies Tuch. Mein Tuch hatte nichts von den Reizen dieses bunten Drucks, es war nur weiß.«

»Ebenso darf ich von meinen Handschuhen sagen, sie hatten nicht den Vorzug, Krallen zu besitzen, es war gewöhnliches Leder.«

Laura wandte sich zu ihm hin und starrte ihm ängstlich in das Gesicht. »Ist das wahr?«

»Es ist wahr,« versicherte der Doctor mit überzeugender Aufrichtigkeit, »von diesen Pelzhandschuhen weiß ich nichts.«

»Dann sind wir beide Opfer einer Täuschung,« rief Laura bestürzt. »O, verzeihen Sie mir, vergessen Sie, was geschehen ist.« Und den Zusammenhang ahnend, fuhr sie fort: »Ich bitte Sie, sprechen wir nicht mehr davon. – Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das Tuch umbinde.« Er hielt ihr die Hand hin, sie trocknete ihm die Finger mit ihrem Tuche und schlang es hastig über die Risse. »Es ist zu klein zum Verbande,« sagte sie traurig, »wir müssen Ihr eigenes darüberlegen. Das war ein häßlicher Tag, Herr Doctor, o vergessen Sie und sein Sie mir nicht böse.«

Böse war der Doctor keineswegs, und das war auch aus der eifrigen Unterhaltung zu erkennen, in welche beide jetzt versanken. Denn beiden war das Herz leicht geworden und sie waren bemüht, einander das gegenseitig zu beweisen. Als der Wagen sie vor ihren Thüren absetzte, gab es einen herzlichen Nachtgruß.

Am nächsten Morgen trat Herr Hummel in Laura's Geheimzimmer und legte ein blaues Papier auf den Tisch. »Da ist gestern ein Irrthum vorgefallen,« sagte er, »hier hast du, was dir gehört.« Laura öffnete schnell das Papier, ihr gesticktes Tuch lag darin. »Dem Doctor drüben habe ich seine Handschuhe auch zurückgeschickt und eine Empfehlung dazu, [311] und ich habe ihm auch sagen lassen, es sei ein Versehen, und ich, der Vater Hummel, sendete ihm, was ihm gehörte.«

»Vater,« rief Laura ihm gegenübertretend, »diese neue Kränkung war nicht nöthig. Mir magst du anthun, was dir dein Haß gegen die Nachbarn eingibt, aber daß du nach Allem, was gestern geschehen ist, aufs Neue einen Dritten verletzen kannst, das ist grausam von dir. Dies Tuch gehört dem Doctor. Und da ich es zurückerhalte, werde ich es ihm bei erster Gelegenheit wiedergeben.«

»Richtig,« sagte Hummel, »es ist von dir mit eigenen Händen gesäumt und gestickt. Thue jetzt, was du vor deinem Kopfe verantworten kannst. Du weißt aber, und auch er weiß, was ich von diesen Artigkeiten zwischen hier und dort halte. Willst du gegen meinen entschiedenen Willen handeln, so wage es. Auf einen Geschenkfuß mit den Hähnen möchte ich unsere Wirthschaft nicht einrichten, weder in Kleinem, noch in Größerem. Da du, wie ich höre, bei den Miethern mit dem Doctor oft zusammenkommst, so wird es gut sein, wenn du auch daran denkst. Dies sollte eine Erinnerung sein.« Er ging gemüthlich zur Thür hinaus und ließ seine Tochter im Aufruhr gegen sein hartes Regiment zurück. Sie hatte nicht gewagt, dem Vater zu widersprechen, denn er war heut, abweichend von seinem polternden Wesen, in ruhiger Haltung und sie fühlte aus seinen Worten einen Sinn, der ihr den Mund schloß und das Blut in die Wangen trieb. Und es wurde für das geheime Tagebuch ein stürmischer Vormittag.

Herr Hummel war auf seinem Comtoir mit einer Lieferung von Soldatenkäppis beschäftigt, als ihn ein Klopfen störte und zu seiner Verwunderung Fritz Hahn eintrat. Hummel blieb würdig sitzen, bis der achtungsvolle Gruß des Andern vollzogen war, dann erhob er sich langsam und begann im Geschäftston: »Was steht zu Ihren Diensten, Herr Doctor? Wenn Sie einen feinen Filzhut nöthig haben, wie ich annehme, so ist das Verkaufslokal eine Treppe tiefer.«

[312] »Ich weiß es,« versetzte der Doctor artig. »Ich komme zunächst, Ihnen für das Tuch zu danken, das Ihre Güte mir ausgesucht und gestern zum Geschenk gemacht hat.«

»Nicht übel,« sagte Hummel. »Es ist der alte Blücher darauf gemalt; er ist ein Stück Landsmann von mir und ich dachte, daß Ihnen das Tuch deswegen angenehm sein würde.«

»Ganz recht,« antwortete Fritz, »ich werde es mir als Andenken sorgfältig aufheben. Ich verbinde mit meinem Dank die Bitte, daß Sie diese Handschuhe hier Fräulein Laura überreichen. Wenn gestern bei der Uebergabe ein Versehen vorgefallen ist, wie Sie mir freundlich mittheilen ließen, so habe ich daran keine Schuld. Da diese Handschuhe Ihrem Fräulein Tochter bereits gehören, so bin ich natürlich außer Stande, dieselben zurückzunehmen.«

»Wieder nicht übel,« sagte Hummel, »aber Sie sind im Irrthum. Die Handschuhe gehören meiner Tochter ganz und gar nicht, sie sind von Ihnen gekauft und von meiner Tochter mit keinem Auge gesehen worden. Und sie sind heut früh zum Eigenthümer zurückgewandert.«

»Verzeihung,« erwiederte Fritz, »wenn ich Sie selbst als Zeugen gegen Ihre Worte in Anspruch nehme, die Handschuhe sind gestern als ein landesübliches Geschenk an Fräulein Laura geschickt worden. Sie selbst haben dem Boten die Sendung abgenommen und durch Ihre Worte die Annahme bestätigt. Die Handschuhe sind also durch Ihre eigene Mitwirkung Eigenthum des Fräuleins geworden und ich habe durchaus kein Anrecht darauf.«

»Kein Advocat kann einen Fall besser ins Licht setzen,« entgegnete Herr Hummel mit Behagen. »Es ist nur ein Uebelstand dabei. Diese Handschuhe waren undeutlich, denn sie lagen in Papier und Blumen versteckt, wie ein Frosch im Grase. Hätten Sie mir die Handschuhe offen und mit der Bitte, sie meiner Tochter zu geben, in dies Comtoir gebracht, so würde ich Ihnen schon gestern gesagt haben, was ich Ihnen [313] jetzt sage, daß ich Sie nämlich für einen ganz wackern jungen Mann halte und daß ich nichts dawider habe, wenn Sie jeden Tag Pathe stehen, daß ich aber sehr viel dawider habe, wenn Sie meiner Tochter irgend etwas von dem beweisen, was man hier zu Lande Artigkeit nennt. Ich bin gegen Ihr Haus nicht artig, und ich will es nicht sein. Deshalb kann ich auch nicht zugeben, daß Sie gegen meine Leute artig sind. Denn was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig.«

»Ich bin wieder in der unangenehmen Lage,« antwortete der Doctor, »Sie durch Ihre eigenen Thaten widerlegen zu müssen. Sie selbst haben mir gestern die Ehre einer Artigkeit erwiesen. Da Sie mir als persönliches Zeichen Ihres Wohlwollens ein Tuch geschenkt haben, worauf ich, der ich nicht Ihr Mitgevatter bin, gar keinen Anspruch hatte, so darf auch ich sagen, was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig. Und gerade Sie werden gar nichts einwenden dürfen, wenn ich diese Handschuhe in Ihr Haus sende.«

Hummel lachte. »Alle Hochachtung, Herr Doctor; Sie haben nur vergessen, daß Vater und Tochter nicht ganz dasselbe sind. Ich habe nichts dagegen, daß Sie mir gelegentlich ein Geschenk machen, wenn Sie diesem Triebe nicht widerstehen können. Ich werde mir dann überlegen, was ich Ihnen dagegen zuschicken kann. Wenn Sie also meinen, daß diese Handschuhe für mich passend sind, so will ich sie als eine Ausgleichung zwischen uns beiden behalten. Und wenn ich einmal mit Ihnen zusammen Pathe stehen sollte, werde ich sie über meine Daumen ziehen und Ihnen vorzeigen.«

»Ich habe sie Ihnen als Eigenthum Ihrer Tochter übergeben,« erwiederte Fritz mit Haltung, »wie Sie weiter damit verfahren, darüber steht mir keine Entscheidung zu, nur ein Wunsch.«

»So ist es recht, Herr Doctor,« stimmte Hummel bei, »die Sache ist zur Zufriedenheit aller Betheiligten abgemacht, und wir sind miteinander zu Ende.«

[314] »Noch nicht ganz,« versetzte der Doctor. »Was jetzt kommt, ist allerdings eine Forderung an Sie. Auch Fräulein Laura hat als meine Gevatterin mir ein Tuch bestimmt und übersandt. Das Tuch ist nicht in meine Hände gekommen, ich habe unzweifelhaft das Recht, auch dieses Tuch als mein Eigenthum zu betrachten, und ich ersuche Sie ergebenst, die Zusendung zu bewirken.«

»Oho,« rief Hummel, und der Bär in ihm regte sich. »Das sieht aus wie Trotz, und darauf gebührt eine andere Sprache. Mit meinem Willen erhalten Sie das Tuch nicht, es ist meiner Tochter zurückgegeben, und wenn sie es Ihnen noch einhändigt, handelt sie als ein ungehorsames Kind gegen das Gebot ihres Vaters.«

»Dann also ist meine Absicht, Sie zum Widerruf dieses Verbotes zu veranlassen,« antwortete der Doctor nachdrücklich. »Sie haben, wie ich gestern zufällig bemerkte, die übersandten Handschuhe mit anderen vertauscht, welche bei Fräulein Laura den Glauben anregen mußten, daß ich ein unverschämter und schaler Spaßmacher sei. Solche hinterlistige Kränkung eines Fremden, selbst wenn er ein Gegner wäre, ziemt keinem redlichen Mann.«

Hummels Augen wurden groß, und er trat einen Schritt zurück. »Alle Wetter,« brummte er, »ist so etwas möglich? sind Sie der Sohn Ihres Vaters? sind Sie Fritz Hahn, der junge Humboldt? Sie können ja grob sein wie ein Bürstenbinder.«

»Nur wo es nöthig ist,« versetzte Fritz. »Ich habe mir in meinem Verhalten gegen Sie nie einen Mangel an Zartgefühl zu Schulden kommen lassen, Sie aber haben gegen mich ein Unrecht begangen und Sie sind mir eine Genugthuung schuldig. Als ehrlicher Mann werden Sie mir diese geben und meine Genugthuung soll das Tuch sein.«

»Es ist hinreichend,« unterbrach ihn Hummel, die Hand erhebend, »das alles nutzt Ihnen nichts. Denn ich will Ihnen, [315] da wir unter uns sind, geradezu sagen, ich habe das nicht, was Sie Zartgefühl nennen. Wenn Sie sich durch mich gekränkt fühlen, so wäre mir das in der Stille leid, insofern ich Sie als einen muthigen jungen Mann vor mir sehe, der auch seine Grobheit hat. Wenn ich mir aber wieder bedenke, daß Sie Fritz Hahn heißen, so kommt mir die Meinung, daß es mir ganz recht ist, wenn Sie sich durch mich gekränkt fühlen. Und damit müssen Sie sich begnügen.«

»Was Sie mir sagen,« entgegnete Fritz, »ist zwar unhöflich, aber redlich ist es nicht. Und ich gehe mit der Empfindung von Ihnen, daß Sie gegen mich etwas gut zu machen haben. Dies Gefühl ist für mich jedenfalls angenehmer, als wenn ich in Ihrer Lage wäre.«

»Ich sehe, wir verstehen uns in allen Dingen,« erwiederte Hummel, »wie zwei Geschäftsleute, die beide ihren Vortheil gehabt haben. Ihnen ist angenehm, daß ich ein Unrecht gegen Sie habe, und mir macht es keinen Kummer. So soll es bleiben, Herr Doctor. Wir sind in unserm Herzen und vor der Welt Feinde, im Uebrigen aber alle Hochachtung.«

Der Doctor verneigte sich und schied aus dem Comtoir, Herr Hummel sah nachdenklich auf die Stelle, wo er gestanden hatte.

Er war den ganzen Tag in einer milden und menschenfreundlichen Stimmung, die er zunächst dadurch bewies, daß er mit seinem Buchhalter philosophirte. »Haben Sie auch einmal Bienenzucht getrieben?« frug er ihn über den Comtoirtisch.

»Nein, Herr Hummel,« antwortete dieser, »wie sollte ich dazu kommen?«

»Es fehlt Ihnen an Unternehmungsgeist,« fuhr Hummel tadelnd fort, »warum wollen Sie sich dieses Vergnügen nicht gönnen?«

»Ich wohne ja in einer Dachstube, Herr Hummel.«

»Tut nichts, die neuen Erfindungen erlauben den Bienengenuß [316] in einem Tabakskasten. Sie setzen den Schwarm hinein, öffnen das Fenster und schneiden von Zeit zu Zeit Ihren Honig heraus. Sie können dabei ein reicher Mann werden. Sie sagen, daß dieses Geschmeiß Ihre Hausleute und Nachbarn stechen wird, haben Sie keine Sorge, solche Rücksichten sind altfränkisch. Folgen Sie doch dem Beispiel gewisser anderer Leute, die auch ihre Bienenstöcke an die Straße setzen, um die Ausgaben für Zucker zu ersparen.«

Der Buchhalter wollte diesem Vorschlag zur Güte nicht widersprechen. »Wenn Sie meinen,« versetzte er nachgiebig.

»Den Teufel meine ich, Herr,« brach Hummel los, »lassen Sie sich nicht einfallen, mit einem Bienenschwarm in der Tasche in mein Comtoir zu kommen, ich bin entschlossen, dergleichen Unfug unter keinen Umständen zu dulden. Für diese Gasse bin ich Hummel genug, und ich verbitte mir jede Art von Summen und Schwärmen um Haus und Hof.«

Als er am Nachmittag mit Frau und Tochter im Garten lustwandelte, hielt er plötzlich an. »Was war es doch, das hier durch die Luft flog?«

»Es war ein Käfer,« sagte seine Frau.

»Es war eine Biene,« sagte Herr Hummel. »Sollte dieses Gesindel schon ausfliegen? Wenn es etwas gibt, was ich nicht leiden kann, so sind es Bienen. Richtig, da ist wieder eine. Sie belästigt dich, Philippine.«

»Ich kann's nicht sagen,« antwortete diese.

Aber wenige Augenblicke darauf flog eine Biene unleugbar um Laura's Locken, und Laura mußte sich mit ihrem Sonnenschirme gegen die kleine Arbeiterin vertheidigen, welche die Wangen des Mädchens mit einem Pfirsich verwechselte. »Es ist auffallend,« sagte Hummel zu den Frauen, »das war doch sonst nicht so arg. In einem hohlen Baum des Parks muß sich ein Bienenstock etablirt haben, dergleichen kommt vor. Da draußen schläft der Parkwächter auf einer Bank, froh, daß ihn selber Niemand stiehlt. Du stehst ja gut mit dem Manne, [317] mache ihn doch darauf aufmerksam. Das Ungeziefer ist unleidlich.«

Frau Hummel ließ sich zu einer Frage verleiten, der Wächter versprach aufzumerken, kam nach einer Weile wieder an den Zaun und rief leise: »Pst, Madame Hummel.«

»Der Mann ruft dich,« ermahnte Hummel.

»Sie kommen aus dem Garten des Herrn Hahn,« berichtete vorsichtig der Parkwächter, »dort steht jetzt ein Bienenstock.«

»Wirklich?« frug Hummel, »ist es möglich, sollte Hahn diese Liebhaberei gewählt haben?« Laura sah unruhig auf den Vater. »Ich bin ein friedlicher Mann, Wächter, und ich kann meinem Nachbar nicht zutrauen, daß er uns solchen Tort anthut.«

»Es ist sicher, Herr Hummel,« sagte der Parkwächter, »sehen Sie dort das gelbe Ding?«

»Richtig,« rief Hummel kopfschüttelnd, »es ist gelb.«

»Laß gut sein, Heinrich, vielleicht wird es nicht so arg,« begütigte seine Frau.

»Nicht so arg?« frug Hummel zornig. »Soll ich zusehen, wie sich die Bienen auf deine Nasenspitze setzen, soll ich dulden, daß meine Frau den ganzen Sommer eine Kugel vor sich herträgt, so groß wie ein Apfel? Laß nur gleich eine Stube für den Chirurgus zurecht machen, er wird doch die nächsten Monate nicht aus unserm Hause kommen.«

Laura trat an den Vater: »Ich sehe dir's an, du willst mit dem Nachbar wieder Streit anfangen; wenn du mich liebst, thu' es nicht. Ich kann dir nicht sagen, Vater, wie sehr mir dieses Gezänk zuwider ist. Ich habe genug darunter gelitten.«

»Ich glaube dir's,« erwiederte Hummel gemüthlich. »Aber gerade weil ich dich liebe, muß ich bei guter Zeit diesen Injurien von drüben ein Ende machen, bevor dieses beflügelte Zeug seinen Honig aus unserm Garten hinüberträgt. Ich will dich von keiner Nachbarbiene anfallen lassen, verstehst du?«

Laura wandte sich ab und sah finster in das Wasser, [318] auf welchem abgefallene Kätzchen der Birken langsam der Stadt zuschwammen. »Thun Sie etwas Uebriges, Wächter, um den Frieden zwischen Nachbarn zu erhalten,« fuhr Hummel fort, »und richten Sie Herrn Hahn meine Empfehlung und die Bitte aus, er möchte seine Bienen anbinden, damit ich nicht in die Lage komme, wieder die Polizei zu Hilfe zu rufen.«

»Ich will ihm sagen, Herr Hummel, daß die Bienen der Nachbarschaft lästig werden. Denn es ist wahr, die Gärten sind klein.«

»Sie sind ja so enge, daß man sie in einer Schachtel auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen kann,« räumte Hummel bereitwillig ein. »Thun Sie's auch aus Erbarmen mit den Bienen selbst. Unsere drei Märzbecher werden als Futter nicht lange vorhalten. Und nachher bleibt ihnen nichts übrig, als das eiserne Gitter zu benagen.« Er gab dem Wächter einige Groschen und fügte für seine Frau und Tochter hinzu: »Um des lieben Friedens willen, ihr seht, wie sehr ich den Nachbar schone.«

Die Frauen kehrten gedrückt nnd voll trüber Ahnung in das Haus zurück.

Da der Wächter sich nicht wieder sehen ließ, lauerte ihm Hummel am nächsten Tage auf. »Nun?« frug er.

»Herr Hahn meinte, die Stöcke wären weit von der Straße hinter Gebüsch. Sie belästigten Niemanden. Und er würde sich sein Recht nicht nehmen lassen.«

»Da haben wir's,« brach Hummel los, »Sie sind mein Zeuge, daß ich das Menschenmögliche gethan habe, um Streit zu vermeiden. Der Mann hat vergessen, daß es einen Paragraph 167 gibt. Es thut mir leid, Wächter, aber jetzt muß die Polizei das letzte Wort sprechen.«

Herr Hummel besprach sich vertraulich mit einem Polizeidiener. Herr Hahn aber gerieth wieder einmal in Aufregung und Zorn, als er auf's Rathhaus bestellt wurde; und Herr Hummel behielt gewissermaßen Recht, denn die Polizei gab [319] Herrn Hahn den Rath, einer Belästigung der Nachbarn und Vorübergehenden durch Entfernung der Körbe zuvorzukommen. Herr Hahn hatte sich so herzlich über seine Bienen gefreut, ihre Wohnungen waren mit allen neuen Erfindungen ausgestattet, auch waren es gar nicht unsere zornigen deutschen Bienen, sondern italienische, welche nur stechen, wenn sie aufs äußerste gereizt werden. Das half jetzt alles nichts, denn auch der Doctor und Frau Hahn baten, die Stöcke zu entfernen, und so wurden diese in einer dunkeln Nacht von Herrn Hahn unter bittern und niederbeugenden Empfindungen aufs Land geschafft. An der Stätte, die sie öde zurückgelassen, errichtete Herr Hahn wenigstens einige Starnester auf Stangen. Sie waren ein schwacher Trost. Die Stare hatten bereits nach dem alten Brauch ihres Stammes Boten durch das Land geschickt und ihre Sommerwohnungen gemietet, und nur Sperlinge nahmen frohlockend Besitz von den Kästen und ließen als liederliche Haushalter lange Strohhalme zu den Löchern herabhängen. Herr Hummel aber zuckte verächtlich die Achseln und nannte die neue Erfindung mit lautem Baß Spatztelegraphen.

Das Gartenvergnügen begann, schwermüthige Ahnung war zur Wirklichkeit geworden, Argwohn und finstere Mienen schieden auf's Neue die Nachbarhäuser.

6. Kleine Gegensätze
6.
Kleine Gegensätze.

Eine Professorsfrau hat auch Noth mit ihrem Mann. Wenn Ilse einmal mit wohlbekannten Frauen zusammensaß, mit der Raschke, der Struvelius und der kleinen Günther, etwa bei einem vertraulichen Kaffe, der nicht gänzlich verachtet wurde, dann kam so allerlei zutage.

Es war doch eine hübsche Unterhaltung mit den gebildeten [320] Frauen. Allerdings streifte das Gespräch zuweilen flüchtig über die Häupter der Dienstboten, die Sorgen der Wirthschaft wagten sich auch als quakende Frösche aus dem Weiher gemüthlicher Plauderei hervor, und Ilse wunderte sich, daß auch Flaminia Struvelius ernsthaft über das Aufbewahren kleiner Essiggurken zu sprechen wußte und daß sie angelegentlich nach den Kennzeichen der Jugend an einer gerupften Gans forschte. Die lustige Günther aber erregte den Hausfrauen von größerer Erfahrung Entsetzen und Gelächter, als sie erklärte, daß sie das Geschrei kleiner Kinder gar nicht ertragen könne und daß sie das ihre – das sie noch nicht einmal hatte – vom ersten Anfang durch Streiche zu ehrbarer Ruhe zwingen werde. Wie gesagt, die Rede schweifte von Größerem auch auf diese Gebiete. Und wenn so einmal Unbedeutendes darankam, geschah es natürlich auch, daß die Männer einer ruhigen Besprechung gewürdigt wurden, und da ergab sich, daß jede der Frauen, wenn von Männern im Allgemeinen die Rede war, doch an ihren eigenen dachte, und daß jede, ohne daß sie es aussprach, ein heimliches Bündel Sorgen mit sich herumtrug und die Hörerinnen zu dem Schluß berechtigte, auch dieser Mann sei schwer zu behandeln. Gar nicht zu verbergen waren die Schicksale der Frau Raschke, denn sie waren stadtkundig. Man wußte sehr wohl, daß er an einem Markttage in seinem Schlafrock zur Universität gezogen war, in einem leuchtenden Schlafrock, orange und blau mit türkischen Mustern. Seine Studenten, die ihn zärtlich liebten und seine Gewohnheiten wohl kannten, hatten doch ein lautes Lachen nicht unterdrückt, und Raschke hatte ruhig den Schlafrock über das Katheder gehängt und in Hemdsärmeln gelesen und war im Ueberzieher eines Studenten nach Hause gekommen. Seitdem ließ Frau Raschke den Gatten niemals ausgehen, ohne ihn noch einmal zu untersuchen. Ferner kam heraus, daß er sich nach zehn Jahren in den Straßen der Stadt noch immer nicht zurecht fand und daß sie ihr Quartier nicht wechseln durfte, weil sie überzeugt [321] war, daß ihr Professor sich nicht daran kehren und doch immer wieder in die alte Wohnung zurücklaufen würde. Auch Struvelius machte Sorge. Die letzte gewaltige hatte Ilse persönlich kennengelernt, aber es wurde auch ermittelt, daß er von seiner Frau forderte, für ihn lateinische Correcturen zu lesen, weil sie ein wenig diese Sprache gelernt hatte, und daß er gänzlich außer Stande war, freundlichen Weinreisenden seine Aufträge zu versagen. Denn die Struvelius hatte bei ihrer Verheiratung einen ganzen Keller voll kleiner und großer Weinfässer gefunden, die noch gar nicht abgezogen waren, während er selbst bitterlich klagte, daß er keinen Wein in den Keller bekomme. Sogar die kleine Günther erzählte, daß ihr Gatte der Nachtarbeiten sich nicht entschlagen konnte und daß er bei einer solchen Ausschweifung mit der Lampe unter den Büchern umherflackerte und einer Gardine zu nahe kam, die Gardine fing Feuer, er riß sie ab, verbrannte sich dabei die Hände und drang mit kohlschwarzen Fingern in die Schlafstube, verstört und einem Othello ähnlicher als einem Mineralogen.

Ilse erzählte nichts aus ihrer kurzen Laufbahn, aber auch sie hatte Gelegenheit, Erfahrungen zu machen. Zwar in später Arbeit war ihr Hausherr mäßig, auch mit dem Weine wußte er ziemlich Bescheid und trank bei Gelegenheit wacker sein Glas, wie einem deutschen Gelehrten ziemt. Doch mit dem Essen war's bei ihm traurig bestellt. Es ist zwar nicht schön, wenn man viel um den Magen sorgt, und vollends einem Professor nicht anständig, aber wenn einer gar nicht weiß, was er ißt und Entenbein und Gansbein verwechselt, so ist das auch keine Freude für die, welche ihm etwas Gutes erweisen möchten. Zum Tranchiren war er vollends nicht zu brauchen. Die zähen stymphalischen Vögel, welche Herkules erlegt hatte, und den ungenießbaren Vogel Phönix, den sein Tacitus mit Achtung erwähnte, kannte er viel genauer als den Knochenbau einer Truthenne. Ilse gehörte zwar nicht zu den Hausfrauen, denen Vergnügen ist, den ganzen Tag in der Küche zu stehen, [322] aber sie verstand das Geschäft und setzte eine Ehre darein, für den Mittagstisch ihr Herrscheramt würdig zu üben. Das war alles vergebens. Er machte zuweilen einen Versuch, seine Tafel zu loben, aber Ilse kam dahinter, daß sein Herz gar nicht dabei war. Denn als sie ihm einen prächtigen Fasan vorsetzte und er an ihrer beobachtenden Miene merkte, daß eine Aeußerung erwartet werde, da lobte er die Köchin, weil sie ein so stattliches Huhn eingekauft. Ilse seufzte und suchte ihm den Unterschied aus einander zu setzen, und sie mußte erleben, daß ihr Gabriel nach Tisch bedauernd sagte: »Es ist umsonst, ich kenne den Herrn, er hat kein Geschick zum Essen.« Seitdem war Ilse auf die Anerkennung angewiesen, welche ihr einzelne Herren des Theetisches zollten. Das war ihr kein Ersatz. Auch der Doctor hatte nach dieser Richtung nicht viel Achtungswerthes. Und es war jämmerlich und niederbeugend, die beiden Herren vor einem Schnepfenpaar zu sehen, das der Vater geschickt hatte.

Der Professor aber hielt den Doctor für ausnehmend praktisch, weil dieser etwas Geschick im Kaufen und Einrichten hatte, und er war gewöhnt, bei vielen Ereignissen des Tages den Freund zu Rathe zu ziehen. Der Schneider kam und brachte Tuchproben zu einem neuen Rock. Der Professor sah zerstreut auf die farbigen Signale der aufgeklappten Mappe. »Ilse, schicke doch zum Doctor, damit er wählen hilft.« Ilse schickte, aber mit bösem Willen; – zum Rockkaufen brauchte man den Doctor auch noch nicht, und wenn ihr lieber Mann darin keinen Entschluß hatte, so war sie doch da. Aber vorläufig half das nichts, der Doctor bestimmte gebietend Rock, Weste und den übrigen Kleiderbedarf ihres Gatten. Ilse hörte der Verhandlung schweigend zu, aber sie war recht herzlich böse auf den Doctor und auch ein wenig auf ihren Hausherrn. Sie beschloß in der Stille, daß das nicht so bleiben dürfe, unternahm schnell eine Kopfrechnung mit ihrem Wirthschaftsgeld, ließ den Schneider in ihr Zimmer kommen und bestellte selbst [323] einen zweiten Anzug für ihren Mann mit dem Auftrage, diesen zuerst zu machen. Als der Künstler sein Werk abgeliefert hatte, rief sie den Gatten und frug, wie ihm die Prachtstücke gefielen. Er lobte, und sie sagte: »Sie sind für dich. Ich mache mich so hübsch als ich kann, um dir zu gefallen, trage du auch einmal mir zu Ehren, was ich für dich ausgesucht habe. Habe ich's getroffen, so wähle ich dir in Zukunft und ich übernehme die Verantwortung für deine Kleidung.«

Aber der Doctor sah verwundert darein, als der Professor in anderm Schmucke erschien. Es ergab sich jedoch, daß er nichts daran auszusetzen vermochte. Und als Ilse dem Doctor allein gegenübersaß, begann sie: »Beide lieben wir den Mann da drinnen und wir wollen uns über ihn vereinigen. Sie haben das größte Recht, der Vertraute seiner Arbeiten zu sein, und ich darf nie daran denken, mich darin Ihnen gleich zu stellen. Aber wo mein kleiner Hausverstand ausreicht, da wenigstens möchte ich ihm nützlich werden, und was ich ihm darin sein kann, lieber Herr Doctor, überlassen Sie mir.«

Sie sagte das lächelnd, der Doctor aber trat ernsthaft vor sie hin: »Sie sprechen aus, was ich lange empfunden. Ich habe mehre Jahre mit ihm gelebt und manchmal für ihn gelebt, und diese Zeit war mir ein hohes Glück, jetzt fühle ich sehr wohl, daß Sie den nächsten Anspruch auf ihn haben. Ich werde versuchen müssen, mich in Manchem zu bescheiden; es wird mir schwer, aber es ist zuletzt gut, daß es so kommt.«

»So waren meine Worte nicht gemeint,« rief Ilse unruhig.

»Ich verstehe wohl, wie sie gemeint waren, und ich verstehe auch, daß Sie Recht haben. Ihre Aufgabe ist nicht nur, ihm sein Leben bequem zu machen. Denn er sieht gleichgültig über Vieles weg, was den Tag schmückt und behaglich zurichtet. Aber inniges Bedürfniß ist ihm, mit seiner Umgebung bei Allem, was ihn und seine Zeit bewegt, im Einklang zu leben. Darin ist er weich und reizbar. Nicht daß ich ein Verständniß [324] für Einzelheiten seiner Arbeit habe, machte ihn zu meinem Freund, sondern weit mehr das gute Einvernehmen in den großen und kleinen Fragen unseres Lebens. Ich sehe jetzt, wie eifrig Sie bemüht sind, auch darin ihm Vertraute zu werden. Glauben Sie mir, der wärmste Wunsch meines Herzens ist, daß Sie mit der Zeit dieses hohe Recht erhalten.«

Er schied mit ernstem Gruß, und Ilse sah ihm betroffen nach. Der Doctor hatte an eine Saite gerührt, deren Schwirren sie in ihrem Glücke immer wieder mit Schmerzen fühlte. Ihr war das neue Hauswesen leicht und klein, und Alles schnurrte wie ein Kreisel, und auch sie legte keinen großen Werth auf ihre Thätigkeit. Aber es that ihr doch weh, daß ihre Arbeit dem Gatten so wenig war, und sie dachte wieder: »Was ich ihm sein kann, das merkt er kaum, und wo es mir schwer wird, seinem Geiste zu folgen, da entbehrt er vielleicht eine Seele, die ein besseres Verständniß hat.«

Das waren leichte Wolkenschatten, welche über die sonnige Landschaft dahinfuhren, aber sie kamen oft, wenn Ilse in ihrem Zimmer grübelnd allein saß.

Einst in der Dunkelstunde war Professor Raschke angelangt, er zeigte sich willig, über Abend zu bleiben, und Felix sandte den Diener zur Frau Professorin, dieser die Sorge um den abwesenden Gatten zu nehmen. Da Raschke unter den gelehrten Herren Ilse's Liebling war, gab sie in der Noth einen Küchenbefehl, der ihm wohlthun sollte. Dieser Befehl verurtheilte einige junge Hühner, welche kurz vorher lebend angelangt waren, zum Tode. Die Herren waren bereits in Ilse's Zimmer, als aus der Küche ein klägliches Geschrei ertönte und das Küchenmädchen ihr bleiches Gesicht an der Thür zeigte und die Herrin herausrief. Dort fand sich, daß das Gemüth des Mädchens das Schlachten nicht bewerkstelligen konnte. Da Gabriel die nöthigen Meucheleien sonst still an entlegener Stätte besorgt hatte, wußte sie sich heut keinen Rath, ein ängstlicher Versuch war schlecht abgelaufen und Ilse mußte [325] das Unvermeidliche selbst thun. Als sie wieder eintrat, frug unglücklicher Weise Felix nach dem Grunde der Aufregung, und Ilse erzählte kurz den Vorfall.

Die Hähnchen kamen auf den Tisch, sie machten der Küche keine Schande, Ilse schnitt und legte vor. Aber ihr Gatte schob den Teller zurück und Raschke arbeitete zwar aus Artigkeit ein wenig an seinem Bruststücke herum, würgte aber auch über den Bissen. Ilse sah mit großen Augen auf die beiden Männer. »Weshalb essen Sie nicht, Herr Professor?« frug sie endlich den Gast mit mühsam erkämpfter Ruhe.

»Es ist nur eine Schwäche der Empfindung,« antwortete Raschke, »und Sie haben ganz Recht, es ist eine Thorheit; mich stört noch das Geschrei der armen Gebratenen.«

»Dich auch, Felix?« frug Ilse mit ausbrechendem Eifer.

»Ja,« erwiederte dieser, »ist es nicht möglich, das Umbringen unmerklich zu machen?«

»Nicht immer,« entgegnete Ilse gekränkt, »wenn der Raum so enge und die Küche so nahe ist.« Sie klingelte und ließ den unglücklichen Braten abtragen. »Da man in der Stadt das Schlachten so sehr bedauert, sollte man kein Fleisch essen.«

»Sie haben ganz Recht,« wiederholte Raschke versöhnend, »und unsere Empfindlichkeit hat nur geringe Berechtigung. Wir finden die Zubereitungen unbehaglich und lassen uns Bereitetes in der Regel sehr wohl gefallen. Aber wer gewöhnt ist, das Thierleben mit Theilnahme zu betrachten, den beunruhigt die Zerstörung eines Organismus für egoistische Zwecke immer, wenn sie in einer Weise vollzogen wird, an welche er zufällig nicht gewöhnt ist. Denn das ganze Leben der Thiere hat für uns etwas Geheimnißvolles. Dieselbe Lebenskraft, die wir an uns beobachten, ist im Grunde auch in ihnen thätig, nur eingeengt durch eine anders beschränkte und im Ganzen weit unvollkommenere Organisation!«

»Wie kann man ihre Seele mit der des Menschen vergleichen!« [326] rief Ilse, »das Vernunftlose mit dem Vernünftigen, das Vergängliche mit dem Ewigen!«

»Was das Unvernünftige betrifft, liebe Frau Collega, so ist es ein Wort, bei dem man sich in diesem Falle nichts Genaues denkt. Wie groß der Unterschied zwischen Mensch und Thier auch sei, er ist schwer festzustellen, und auch nach dieser Richtung ziemt uns Bescheidenheit. Wir wissen sehr wenig von den Thieren, selbst von denen, welche täglich mit uns leben. Ich gestehe Ihnen, daß mir der gelegentliche Versuch, dies Unverständliche meinem Verständniß näher zu rücken, eine Achtung und Scheu vor dem fremdartigen Leben eingeflößt hat, bei welcher zuweilen Schrecken war. Ich leide nicht, daß Jemand von meinen Leuten sein Herz an ein Thier hängt. Auch aus einer Weichheit des Gefühls, die, wie ich Ihnen zugebe, pedantisch ist. Aber die Einwirkung des menschlichen Gemüthes auf die Thiere ist mir vollends räthselhaft und unheimlich erschienen, es werden in den fremden Creaturen dadurch Seiten ihres Lebens entwickelt, welche sie nach einzelnen Richtungen dem Menschen sehr ähnlich machen. Auch hat die liebevolle Annäherung an unsere Art für uns soviel Rührendes, daß wir leicht mehr Herz und Empfindung auf ein Thier wenden als ihm und uns frommt.«

»Aber das Thier bleibt doch, wie es seit der Schöpfung war,« rief Ilse, »unverändert in seinen Trieben und Neigungen. Wir können einen Vogel abrichten und einen Hund zwingen, daß er überbringt, was er selbst fressen möchte, aber das ist nur äußerer Zwang. Sind sie sich selbst überlassen, so bleibt ihnen Art und Natur ungeändert, und was wir Cultur nennen, fehlt ihnen ganz.«

»Auch darüber sind wir keineswegs sicher,« versetzte Raschke. »Wir wissen gar nicht, ob nicht jedes Geschlecht der Thiere auch eine Bildung und Geschichte hat, welche von der ersten Generation bis zur letzten reicht. Es ist sehr möglich, daß Kenntnisse, Virtuositäten und Verständniß der Welt, soweit dies den Thieren [327] möglich ist, sich in engerem. Kreise ebenso wandelte als bei den Menschen. Es ist eine willkürliche Annahme, daß die Vögel vor tausend Jahren genau ebenso gesungen haben als jetzt. Ich bin der Ansicht, daß Wolf und Fuchs auf cultivirtem Boden in ähnlicher Lage sind wie die letzten Trümmer der Indianerstämme unter den Weißen, während solche Thiere, die in erträglichem Frieden mit den Menschen leben, wie die Sperlinge und anderes kleines Volk, sogar die Bienen, in ihrer Art klüger werden und im Laufe der Zeit Fortschritte machen, Fortschritte, die wir in einzelnen Fällen ahnen, die unsere Wissenschaft aber noch nicht darzustellen vermag.«

»Damit wird unser Herr Oberförster sehr einverstanden sein,« sagte Ilse ruhiger, »er klagt bitterlich, daß die Finken unserer Gegend sich seit Menschengedenken in ihrem Gesange erbärmlich verschlechtert haben, weil alle guten Sänger weggefangen sind und die jungen nichts Ordentliches mehr lernen.«

»Vortrefflich,« rief Raschke. »Und wie es unter den Thieren derselben Art kluge und unwissende gibt, läßt sich auch annehmen, daß den einzelnen eine gewisse geistige Arbeit zugewiesen ist, welche über ihr Leben hinausreicht. Die Erfahrung eines alten Raben oder die melodische Tonfolge einer schönsingenden Nachtigall wäre für die späteren Geschlechter nicht verloren, sondern wirkte auch in ihnen mit einer gewissen Dauer. Nach dieser Richtung darf man wohl von Cultur und Fortbildung auch der Thiere sprechen. – Aber der Küche gegenüber bekennen wir, daß wir zum Nachtheil für das gemeinsame Behagen an unrechter Stelle gefühlvoll geworden sind, und Sie zürnen uns deshalb nicht, liebe Freundin.«

»Für diesmal wird es vergessen,« erwiederte Ilse versöhnt, »das nächste Mal setze ich Ihnen gesottene Eier vor, die werden doch kein Bedenken haben.«

»Mit den Eiern ist es auch so ein eigen Ding,« versetzte Raschke, »doch darüber enthalte ich mich billig einer näheren Betrachtung. Was mich aber hierhergeführt hat,« fuhr er [328] zu Felix gewandt fort, »war nicht Huhn, nicht Ei, sondern College Struvelius. Ich suche für ihn Versöhnung.«

Felix setzte sich steif zurecht. »Kommen Sie in seinem Auftrage?«

»Noch nicht, aber auf Wunsch einiger Collegen. Sie wissen, daß für das nächste Jahr ein energischer Rector nöthig wird. Es ist unter den Bekannten wiederholt von Ihnen die Rede gewesen. Struvelius wird wahrscheinlich Decan, schon deshalb wünschen wir, daß Sie beide in ein freundliches Verhältniß treten. Noch mehr des akademischen Friedens wegen. Ungern sehen wir unsere Alterthumswissenschaft auf gespanntem Fuße.«

»Was der Mann etwa gegen mich versehen hat,« antwortete der Professor stolz, »kann ich ihm leicht vergeben, obgleich das kleinliche und versteckte Wesen mir innerlich zuwider ist. Daß er durch seine thörichte Arbeit sich selbst und dadurch unsere Universität bloßgestellt hat, ertrage ich schwerer. Was mich aber von ihm scheidet, das ist die Unehrlichkeit seiner Empfindung.«

»Der Ausdruck ist zu stark,« rief Raschke.

»Er entspricht genau seinem Thun,« behauptete der Professor. »Als der Beweis einer Fälschung geführt war, da noch war seine Furcht, eine Niederlage zu erleben, stärker als sein Sinn für Wahrheit, und er hat sich selbst belogen, um Andere zu täuschen. Das ist eines deutschen Gelehrten unwürdig, und für solches Unrecht kenne ich keine Vergebung.«

»Das ist wieder zu hart,« versetzte Raschke, »er hat offen und loyal seinen Irrthum bekannt.«

»Er hat es erst gethan, als durch Magister Knips ihm und Anderen die Fälschung an der Schrift augenscheinlich nachgewiesen und dadurch die letzte Ausflucht genommen war.«

»Die Gefühle eines Menschen sind nicht so leicht wie Zahlen in ihre Elemente zu zerfällen,« entgegnete Raschke, »und nur wer billig urtheilt, wird richtig rechnen. Er hat gekämpft mit verletztem Stolz, vielleicht zu lange, aber er hat sich herausgehoben.«

[329] »Ich gestatte an der Sittlichkeit eines wissenschaftlichen Mannes keine irrationalen Größen, hier war die Frage, schwarz oder weiß, Wahrheit oder Lüge,« rief Felix.

»Du hast doch dem Magister größere Nachsicht bewiesen,« sagte Ilse bittend, »ich habe ihn seit der Zeit mehr als einmal bei dir gesehen.«

»Der Magister hat in der Hauptsache geringere Schuld,« antwortete der Gatte. »Als ihm die Frage ernsthaft vor die Seele trat, hat er sehr wohl seinen Scharfsinn angewandt.«

»Er hatte Geld dafür bekommen,« sagte Ilse.

»Er ist ein armer Teufel, gewöhnt, als Zwischenhändler bei Antiquargeschäften einigen Vortheil zu haben, und Niemand wird an ihn die Forderung stellen, daß er sich durchweg als Gentleman erweise. Soweit seine gedrückte Seele der Wissenschaft angehört, ist sie nicht ohne männlichen Stolz, das weiß ich. Für dergleichen Naturen habe ich das wärmste Mitgefühl. Denn sein Leben ist in der Hauptsache ein fortgesetztes Martyrium zum Besten Anderer. Wenn ich einen solchen Mann verwende, so weiß ich sicher, wo ich ihm vertrauen kann, wo nicht.«

»Möchten Sie sich darin nicht täuschen,« rief Raschke.

»Ich übernehme Gefahr und Verantwortung,« entgegnete der Professor; »nichts weiter von dem Magister, er gehört nicht hierher. Wenn ich aber seine Schuld mit der des Struvelius vergleichen soll, so ist mir nicht zweifelhaft, wer, Alles eingerechnet, den größeren Mangel an Ehrgefühl gezeigt hat.«

»Das ist wieder so ungerecht,« rief Raschke, »daß ich eine solche Aeußerung über den abwesenden Collegen nicht anhören kann. Ich vermisse mit tiefem Bedauern in Ihrer Auffassung die Unbefangenheit, welche ich unter allen Umständen geboten halte, am meisten im Urtheil über einen Amtsgenossen.«

»Sie selbst haben mir gesagt,« versetzte der Professor ruhiger, »daß er dem Verkäufer Schweigen versprochen hat, weil ihm Aussicht auf noch andere geheimnißvolle Pergamente [330] gemacht wurde. Wie können Sie für solches Preisgeben des eigenen Selbstgefühls ein Wort der Entschuldigung finden?«

»Es ist wahr,« erwiederte Raschke, »das hat er gethan, und das war seine Schwäche.«

»Das war seine Unsittlichkeit,« rief der Professor wieder, »und darüber komme ich nicht weg. Wer anders denkt, mag ihm die Hand drücken.«

Raschke stand auf. »Wenn Ihre Worte meinen, daß derjenige weniger Ethos besitzt, der dem Struvelius noch die Hand drückt, so entgegne ich Ihnen, daß ich dieser Mann bin, und daß mich diese Handlung noch keinen Augenblick vor mir selbst gedemüthigt hat. Ich habe vor Ihrem kräftigen und reinen Empfinden eine recht innerliche Hochachtung, und es ist mir manchmal ein Beispiel gewesen, aber heut muß ich Ihnen sagen, daß ich mich Ihrer nicht freue. Ist diese Härte doch im Grunde deshalb in Sie gekommen, weil Struvelius Sie persönlich verletzt hat; so geht sie über das Maß hinaus, nach welchem wir nicht uns selbst, aber Andere beurtheilen sollen.«

»Sie gehe über das Maß hinaus,« rief der Professor, »ich kenne kein bescheidenes Maß bei den Anforderungen, die ich an das Rechts- und Anstandsgefühl meiner persönlichen Bekannten stelle. Mir ist nicht gleichgültig, bei dieser Auffassung Sie zum Gegner zu haben; aber wie ich bin, selbst ein unvollkommener und irrender Mensch, ich kann mir diese Forderungen an meine Umgebung nicht herabstimmen.«

»So will ich wünschen,« brach Raschke los, »daß Sie selbst nie in den Fall kommen, Anderen bekennen zu müssen, Sie seien durch einen Betrüger gerade da getäuscht, wo sich Ihr Selbstgefühl am kräftigsten erhob. Denn wer so stolz über Andere urtheilt, dem würde das Bekenntniß der eigenen Kurzsichtigkeit nicht geringe Schmerzen bereiten.«

»Ja, es wäre furchtbar für mich,« rief Felix, »auch wider meinen Willen Andere in Unwahrheit und Lüge zu verstricken. Aber darauf vertrauen Sie, ich würde, um solches Unrecht zu [331] sühnen, Alles, was ich an Leben und Kraft noch habe, daran setzen. Unterdeß bleibt es zwischen jenem und mir wie bisher.«

Raschke rückte seinen Stuhl unter den Tisch. »Dann gehe ich heute, denn ich bin durch unsere Erörterung aus der Ruhe gekommen und ich würde ein schlechter Gesellschafter sein. Es ist das erste Mal, Frau Collega, daß ich aus diesem Hause mit unbehaglichem Gefühl scheide, und nicht am wenigsten schmerzt mich, daß meine unzeitige Parteinahme für Hühnerseelen auch gegen Sie den Kamm gesträubt hat.«

Ilse sah betrübt in das erregte Antlitz des werthen Mannes, und um die wogenden Gedanken zu glätten und an gute Freundschaft zu mahnen, sagte sie bittend: »Aber das arme Huhn ist Ihnen nicht erlassen, das müssen Sie doch noch essen, und ich sorge dafür, daß es Ihnen morgen durch Ihre Frau zum Frühstück vorgesetzt wird.«

Raschke drückte ihr die Hand und eilte zur Thür hinaus, der Professor ging heftig im Zimmer auf und ab, endlich trat er vor seine Frau und frug kurz: »Habe ich Unrecht?«

»Ich weiß es nicht,« erwiederte Ilse zögernd, »aber als der Freund zu dir sprach, war meine ganze Empfindung auf seiner Seite, und mir war, als hätte er Recht.«

»Auch du?« sagte der Professor finster, wandte sich ab und schritt in seine Arbeitsstube.

Wieder saß Ilse allein, das Herz war ihr schwer und sie grübelte: »Er sieht doch in vielen Dingen das Leben anders an als ich. Gegen die Thiere ist er weicher und gegen die Menschen zuweilen härter als ich sein kann. Wie ich mich auch mühe, ich bleibe ihm gegenüber ein ungeschicktes Weib vom Lande. Er ist gütig gewesen gegen die Rollmaus, er wird es auch gegen mich sein, aber er wird immer gegen mich Nachsicht üben müssen.«

Sie sprang auf und ihr Antlitz flammte.

Unterdeß fuhr Raschke im Vorzimmer umher. Auch dort herrschte Unordnung, Gabriel war noch nicht von seinem weiten [332] Wege zurückgekehrt, die Köchin hatte das abgeräumte Mahl bis zu seiner Ankunft auf einen Seitentisch gestellt und Raschke mußte allein seinen Ueberrock suchen. Er wühlte unter den Kleidern, griff einen Rock und einen Hut. Da er heut nicht zerstreut war wie wohl sonst, fiel ihm bei einem Blick über die verschmähte Abendkost noch zu rechter Zeit ein, daß er ein Huhn essen mußte. Deshalb erfaßte er die neuen Zeitungen, welche Gabriel für seinen Herrn zurechtgelegt hatte, nahm schnell ein Huhn aus der Schüssel, wickelte es in die Blätter und versenkte es in die Tasche, deren Tiefe und Geräumigkeit ihn angenehm überraschte. So eilte er bei der erstaunten Köchin vorüber zur Wohnung hinaus. Als er die Entreethür öffnete, stieß er an etwas, das an der Schwelle wurzelte, er hörte hinter sich ein häßliches Geknurr und stürmte die Treppe hinab ins Freie.

Dabei flogen ihm die Reden des verlassenen Freundes durch den Kopf. Das ganze Verhalten Werners war sehr charakteristisch, und es war ein tüchtiges Wesen. Merkwürdig, daß in einem Augenblick des Zornes Werners Gesicht plötzliche Aehnlichkeit mit dem einer Dogge erhalten hatte. Hier wurde dem Philosophen die geradlinige Kette seiner Betrachtungen gekreuzt durch die Erinnerung an das Gespräch über Thierseelen. »Es ist doch zu bedauern, daß es immer noch schwer wird, den seelischen Ausdruck der Thiere zu fixiren. Gelänge das, so würde auch die Wissenschaft davon Nutzen ziehen. Wer Ausdruck und Geberde der Leidenschaften bei Menschen und höheren Thieren genau bis auf Einzelheiten vergleichen könnte, der vermöchte aus dem Gemeingültigen wie aus den einzelnen Abweichungen Interessantes zu folgern. Denn dadurch würde das Naturgemäße ihrer dramatischen Bewegung und vielleicht einige neue Gesetze derselben gefunden werden.«

Während der Philosoph darüber dachte, fühlte er ein wiederholtes Ziehen am Rockschoß. Da seine Frau die Gewohnheit hatte, ihn leise zu zupfen, wenn er neben ihr in Gedanken wandelte und einem Bekannten begegnete, so ließ [333] er sich dadurch nicht weiter stören, er nahm freundlich seinen Hut ab und sagte gegen das Brückengeländer gewendet: »Guten Abend.«

»Dies Gemeinsame und Ursprüngliche des mimischen Ausdrucks bei Menschen und höheren Thieren würde aber, genau erkannt, vielleicht sogar neue Blicke in das große Geheimniß des Lebens verstatten.« – Es zupfte wieder. Raschke nahm mechanisch den Hut ab; es zupfte wieder. »Ich danke, liebe Aurelie, ich habe gegrüßt.« Darüber entwickelte sich in ihm der Seitengedanke, daß seine Frau nicht so tief unten am Rock ziehen könnte. Die zupfte, war gar nicht sie, sondern seine kleine Tochter Bertha, die zuweilen altklug neben ihm ging und ebenso wie die Mutter leise die Glocke zum Grüßen zog. »Es ist gut, mein Kind,« sagte er, da Bertha unaufhörlich an dem Rockschoß kratzte und läutete. »Komm hervor, du Schelm,« und er faßte in Gedanken hinter sich, die Neckerin heranzuziehen. Er ergriff tief unten etwas Rundes, Zottiges, fühlte im Augenblick scharfe Zähne an seinen Fingern und wandte sich erschrocken um. Da sah er im Laternenlicht ein röthlich schimmerndes Ungethüm mit dickem Kopf, mit gesträubtem Haar und einer Quaste statt des Schwanzes aus gehobener Stellung auf die Vorderbeine zurückfallen. Frau und Tochter waren ihm greulich verwandelt und er blickte verwundert auf das undeutliche Geschöpf, das sich ihm gegenübersetzte und ihn ebenfalls schweigend anstarrte.

»Eine merkwürdige Begegnung,« rief Raschke. »Was bist du, unbekanntes Wesen? muthmaßlich ein Hund, hinweg mit dir!« Die Creatur wich einige Schritte zurück, Raschke eilte in seiner Untersuchung weiter: »Wenn man den Gesichtsausdruck und die Geberde der Affecte in solcher Art auf Grundformen zurückführte, so würde sich jedenfalls als eins der thätigsten Gesetze das Bestreben erweisen, Fremdes anzuziehen und abzustoßen. Es wäre lehrreich, bei diesen unwillkürlichen Bewegungen der Menschen und Thiere zu unterscheiden, was jeder Art naturnothwendig [334] und was ihr conventionell ist. Hinweg, Hund, thu' mir den Gefallen und geh nach Haus. Was will er von mir? er gehört offenbar in Werners Reich. Das arme Geschöpf wird sich unter der Herrschaft einer fixen Idee in der Stadt verlaufen.«

Unterdeß wurden die Angriffe Speihahns leidenschaftlicher, zuletzt bewegte er sich in ganz unnatürlichen und rein conventionellem Marsche nur auf den Hinterbeinen vorwärts, indem er sich mit den Vorderpfoten an die Rückseite des Professors stemmte und mit dem Maul förmlich in den Rock einbiß.

Ein später Schusterjunge blieb stehen und schlug an sein Schurzfell. »Schämt sich der Meister nicht, daß er sich von dem armen Lehrjungen bockschieben läßt?« In Wahrheit sah der Hund hinter dem Manne aus wie ein Zwerg, der auf der Eisbahn einen Riesen stoßend fortbewegt.

Raschke's Interesse an den Gedanken des Hundes wurde größer Er blieb an einer Laterne stehen, besah und befühlte seinen Rock. Dieser Rock war zu einem Sammetkragen und sehr langen Aermeln gekommen, zu Vorzügen, welche der Philosoph an seinem Ueberrocke niemals bemerkt hatte. Jetzt war die Sache klar, er selbst hatte in Gedanken ein falsches Kleid gewählt und der wackere Hund bestand darauf, das Gewand seines Herrn zu retten und dem Räuber fühlbar zu ma chen, daß etwas nicht in Ordnung war. Raschke freute sich so sehr über diese Klugheit, daß er sich umdrehte, an Speihahn einige gütige Worte richtete und einen Versuch machte, das borstige Fell zu streicheln. Der Hund schnappte wieder nach seiner Hand. »Du hast ganz Recht,« entgegnete Raschke, »daß du mir zürnst, ich will dir beweisen, daß ich mein Unrecht einsehe.« Er zog den Rock aus und hing ihn über den Arm: »Richtig, er ist weit schwerer als mein eigener.« So ging er in seinem dünnen Leibrock frisch vorwärts und erkannte mit Befriedigung, daß der Hund die Angriffe auf den Rücken aufgab. Dafür aber sprang Speihahn an der Rockseite dahin, und wieder biß er nach dem Rock und nach der Hand und knurrte widerwärtig.

[335] Dem Professor wurde der Hund ärgerlich, und als er auf der Promenade an eine Bank kam, legte er den Rock auf die Bank, um den Hund in ernster Begegnung nach Hause zu treiben. Dadurch wurde er zwar den Hund los, aber auch den Rock. Denn Speihahn sprang mit gewaltigem Satze auf die Bank, stellte sich breitbeinig über den Rock und erhob gegen den Professor, der ihn vertreiben wollte, ein grimmiges Knurren und Fauchen. »Es ist Werners Rock,« sagte sichder Professor, »und es ist Werners Hund, es wäre unrecht, das arme Thier zu schlagen, weil es in seiner Treue leidenschaftlich wird, und es wäre unrecht, Hund und Rock zu verlassen.« So blieb er vor dem Hunde stehen und redete ihm freundschaftlich zu, aber Speihahn achtete gar nicht mehr auf den Professor, er wandte sich gegen den Rock selbst und kratzte, wühlte, biß hinein. Raschke sah, daß der Rock diese Wuth nicht lange ertragen konnte. »Er ist verrückt oder toll,« sagte er sichmißtrauisch, »zuletzt werde ich doch Gewalt gegen dich brauchen müssen, arme Creatur,« und dabei überlegte er, ob er ebenfalls auf die Bank springen und den Verrückten durch eine kräftige Fußbewegung in die Tiefe schleudern sollte, oder ob er den unvermeidlichen Angriff besser von unten eröffnen würde. Er entschloß sich zu letzterem und sah umher, ob irgendwo ein Stein oder Pfahl gegen den Wüthenden erreichbar sei. Dabei blickte er auf die Bäume und den dunkeln Himmel über sich, und die Oertlichkeit erschien ihm ganz fremd. »Ist hier Zauberei im Spiel?« rief er ergötzt. »Bitte,« wandte er sich grüßend an einen einsamen Wanderer, der seines Weges kam, »in welcher Stadtgegend sind wir wohl? Und könnten Sie mir wohl auf einen Augenblick Ihren Stock leihen?«

»Wirklich?« entgegnete der Angeredete in unwilligem Ton, »das sind ja sehr verfängliche Fragen. Meinen Stock brauche ich des Abends selbst. Wer sind denn Sie, mein Herr?« Der Fremde trat dem Professor drohend näher.

»Ich bin friedlich,« versetzte Raschke, »und thätlichen Angriffen durchaus abgeneigt. Es hat sich nur zwischen jenem [336] Thiere auf der Bank und mir ein Streit um den Besitz eines Rockes erhoben, und ich würde Ihnen verbunden sein, wenn Sie den Hund von dem Rocke verscheuchten. Aber ich bitte Sie, dem Thiere nicht mehr weh zu thun, als durchaus nöthig ist.«

»Ist denn das Ihr Rock?« frug der Mann.

»Das kann ich leider nicht bejahen,« versetzte Raschke gewissenhaft.

»Hier ist etwas nicht in Ordnung,« rief der Fremde und sah wieder argwöhnisch auf den Professor.

»Allerdings nicht,« versetzte Raschke, »der Hund ist außer sich, der Rock ist vertauscht und ich weiß nicht, wo wir sind.«

»Nahe beim Thalthor, Herr Professor Raschke,« antwortete die Stimme Gabriels, welcher eilig zu der Gruppe trat. »Um Vergebung, wie kommen Sie hierher?«

»Vortrefflich,« rief Raschke vergnügt, »ich bitte, übernehmen Sie hier diesen Rock und diesen Hund.«

Erstaunt sah Gabriel auf Freund Speihahn, der jetzt über dem Rocke saß und gegen seinen Gönner das Haupt senkte. Gabriel warf den Hund herab und riß den Rock an sich. »Das ist ja unser Ueberzieher,« rief er.

»Ja, Gabriel,« bestätigte der Professor, »das war mein Irrthum, und der Hund hat dem Rock eine merkwürdige Treue bewiesen.«

»Treue?« rief Gabriel entrüstet und zog ein Packet aus der Tasche des Rockes. »Es war gefräßiger Eigennutz, Herr Professor, hierin muß etwas Gebratenes sein.«

»Ha,« rief Raschke, »richtig, ich erinnere mich, das Huhn ist an Allem schuld. Geben Sie mir das Packet, Gabriel, das Huhn muß ich selbst essen. Und wir könnten jetzt mit völliger Befriedigung einander Gute Nacht sagen, wenn Sie mir noch ein wenig meine Richtung durch diese Bäume angeben wollten.«

»Aber Sie dürfen mir nicht in der Abendluft ohne Ueberrock nach Hause gehen,« bat Gabriel wohlmeinend, »wir sind [337] nicht weit von unserer Wohnung, am besten wäre wirklich, der Herr Professor kehrte mit mir um.«

Raschke überlegte und lachte: »Sie haben Recht, lieber Gabriel, mein Aufbruch war ungeschickt, und die Thierseele hat heut eine Menschenseele zur Ordnung gebracht.«

»Wenn Sie diesen Hund meinen,« versetzte Gabriel, »so wär's zum ersten Mal, daß er etwas Ordentliches zu Stande bringt. Ich merke, er ist Ihnen von unserer Thür nachgeschlichen, denn dorthin stelle ich ihm des Abends die kleinen Knochen.«

»Er that einmal, als wäre er nicht ganz bei Sinnen,« sagte der Professor.

»Er ist schlau, wo er will,« versetzte Gabriel geheimnißvoll, »aber wenn ich von meinen Erfahrungen mit diesem Hunde reden sollte –«

»Sprechen Sie, Gabriel,« rief der Philosoph wißbegierig. »Nichts ist von Thieren so werthvoll, als wahrhafter Bericht solcher, welche genau beobachtet haben.«

»Das darf ich von mir sagen,« bestätigte Gabriel mit Selbstgefühl, »und wenn Sie genau wissen wollen, wie er ist, so versichre ich Sie, er ist verwünscht, er ist unehrlich, er ist vergiftet und er hat einen Grimm gegen die Menschheit.«

»Hm, so!« versetzte der Philosoph kleinlaut, »ich merke, es ist viel schwerer, einem Hunde ins Herz zu sehen als einem Professor.«

Speihahn schlich still und gedrückt und hörte auf das Lob, das ihm ertheilt wurde, während Professor Raschke, von Gabriel geleitet, in das Haus am Parke zurückkehrte. Gabriel öffnete die Thür des Wohnzimmers und rief hinein: »Herr Professor Raschke.«

Ilse streckte ihm beide Hände entgegen: »Willkommen, willkommen, lieber Herr Professor,« und führte ihn in das Arbeitszimmer des Gatten.

»Da bin ich wieder,« rief Raschke vergnügt, »nach einer [338] Irrfahrt wie im Märchen; was mich zurückgeführt hat, waren zwei Thiere, die mir den richtigen Weg wiesen, ein gebratnes Huhn und ein vergifteter Hund.« Felix sprang auf, die Männer grüßten einander mit warmem Händedruck, und es wurde nach aller Irrung noch ein herzerfreuender Abend.

Als Raschke sich spät entfernt hatte, sagte Gabriel traurig zu seiner Herrin: »Dies war der neue Rock; das Huhn und der Hund haben ihn verwüstet, daß es ein Jammer ist.«

7. Die Erkrankung
7.
Die Erkrankung.

Ueber dem Stadtwald und den Gärten rührte sich das junge Leben des Frühlings. In stillem Wintertraum hatten Knospen und Raupen nebeneinander geschlafen, jetzt schoß das Blatt aus seiner Hülle und der Wurm kroch über das junge Grün. Unter dem hellen Schein einer höheren Sonne begann der Kampf des Lebens, das Blühen und Welken, die bunten Farben und der Spätfrost, in dem sie erblichen, das lustige Laub und der Käfer, der daran nagte. Der uralte Streit erhob sich um Knospen und Blüthen wie im Herzen des Menschen.

In Ilse's Lehrstunden wurde jetzt Herodot gelesen. Auch er ein Frühlingsbote des Menschengeschlechts an der Grenze zwischen träumender Poesie und heller Wirklichkeit, der frohe Verkünder einer Zeit, in welcher das Volk der Erde sich der eigenen Schönheit freute und die Wahrheit mit Ernst zu suchen begann. Wieder las Ilse in leidenschaftlicher Spannung die Seiten, welche ihr eine verschüttete Welt so lebendig und herzlich vor Augen stellten. Aber es war nicht mehr die ungetrübte erhebende Freude an dem Erzählten, wie bei dem Werk des großen Dichters, der Schicksal und Thaten seiner Helden so [339] lenkte, daß sie dem Gemüth auch da wohlthaten, wo sie Leid und Schrecken erregten. Denn das ist ein Recht der menschlichen Erfindung, die Welt zu gestalten, wie das weiche Herz des Menschen sie ersehnt: Wechsel und billiges Verhältniß in Glück und Leid, jedem Einzelnen nach seiner Kraft und seinem Thun Anerkennung und klug zugemessene Vergeltung. Der Geist aber, welcher hier das geschwundene Leben regierte, waltete übermenschlich; die Fülle des Lebendigen drängte sich, eines verwüstete das andere, erbarmungslos brach die Zerstörung ein, sie traf die Guten wie die Bösen, es war auch eine Vergeltung, es war auch ein Fluch, aber sie schlugen unbegreiflich, grausam, herzzerm almend. Das Gute blieb nicht gut, und das Böse behielt den Sieg. Was erst zum Segen war, wurde später zum Verderben, was heut wohlthätig Größe und Herrschaft gab, das wurde morgen eine Krankheit, welche den Staat zerstörte. Wenig galt jetzt der einzelne Held; wo sich eine große Menschenkraft für Augenblicke herrschend erhob, sah Ilse gleich darauf, wie sie dahinschwand in dem wirbelnden Strom der Ereignisse. Krösus, der übersichere gutherzige König, fiel, der starke Cyrus verging, und Xerxes wurde geschlagen. Aber auch die Völker versanken, die große Wunderblume Egypten verdorrte, das goldene Reich der Lyder zerbrach, die mächtigen Perser verdarben zuerst Andere, dann sich selbst. Und in dem jungen Hellenenvolk, das sich so heldenkräftig erhob, sah sie bereits den Zorn, die Missethat und die feindlichen Gegensätze geschäftig, durch welche das schönste Gebilde des Alterthums nach kurzem Gedeihen vergehen sollte.

Ilse und Laura saßen einander gegenüber, zwischen ihnen lag das aufgeschlagene Buch. Zwar wurde Laura nicht bei dem geheimen Vortrag des Professors zugelassen, aber ihre Seele flog getreulich auf der Wildbahn nebenher. Ilse theilte ihr von dem Erwerb ihrer Stunden mit und genoß die süße Freude, neues Wissen in den Geist einer Vertrauten zu senken.

»Auf diesen Xerxes habe ich einen großen Zorn,« rief [340] Laura, »schon von der Fibel her: Der Perser Xerxes war ein reicher König, Xanthippe war ein Weib, doch taugten beide wenig. Ich dachte lange, Xanthippe wäre seine Frau gewesen, ich hätte sie ihm gegönnt. Sehen Sie dagegen die dreihundert Spartaner, sie senden die Andern nach Haus, kränzen sich und salben sich und ziehen ihr Festkleid an zum Tode. Das erhebt das Herz. Sie waren Männer. Und könnte ich ihrem Gedächtniß etwas Liebes erweisen durch meinen dummen Kopf und meine schwachen Hände, ich wollte dafür arbeiten, bis mir die Finger schmerzten. Aber was kann ich Armselige thun! Höchstens Reisetaschen sticken für ihren Weg in die Unterwelt, und die kämen zweitausend Jahre zu spät. Wir Frauen sind erbärmlich dran,« rief sie ärgerlich.

»Ich weiß andere aus der Schlacht,« sagte Ilse, »die mir rührender sind als die dreihundert von Sparta. Das sind die Thespier, welche zugleich mit ihnen kämpften und starben. Die Spartaner zwang ihr stolzes Herz, die strenge Zucht und Befehl ihrer Obrigkeit. Die Thespier aber starben freiwillig. Sie waren kleine Leute und sie wußten wohl, daß die größte Ehre ihren vornehmen Nachbarn bleiben würde. Sie aber standen treu in bescheidenem Sinn, und das war weit selbstloser und edler. – Ach, ihnen allen war es leicht,« fuhr sie traurig fort, »aber die zurückblieben, ihre armen Eltern, die Frauen und Kinder, das zerstörte Glück und der unsägliche Jammer daheim.«

»Jammer!« rief Laura, »wenn sie dachten wie ich, waren sie stolz auf den Tod ihrer Lieben und trugen, wie diese, Kränze in ihrem Schmerz. Wozu ist unser Leben, wenn man sich nicht freuen darf, es für Höheres hinzugeben?«

»Für Höheres?« frug Ilse. »Was den Männern höher gilt als Weib und Kind, ist das höher auch für uns? Unser Amt ist, das ganze Herz auf sie, die Kinder und das Haus zu richten. Wenn sie uns genommen werden, uns ist das ganze Leben verwüstet, und nichts bleibt als unendliche Trübsal. [341] Das ist für uns wohl natürlich, wenn wir ihren Beruf anders ansehen als sie selbst.«

»Ich will auch ein Mann sein,« rief Laura. »Sind wir denn so schwach an Geist und Gemüth, daß wir weniger Begeisterung und Ehrgefühl und Liebe zum Vaterland haben müssen als sie? Der Gedanke ist furchtbar, durch das ganze Leben nur Dienerin zu sein eines Gebieters, der auch nicht stärker und besser ist als ich, der Gummischuhe trägt, sich die Füße nicht naß zu machen, und einen wollenen Shawl, sobald ein rauhes Lüftchen weht.«

»Man trägt dergleichen hier in der Nachbarschaft,« versetzte Ilse lächelnd.

»Es thun's die Meisten,« sagte Laura ausweichend, »und glauben Sie mir, Frau Ilse, dies Männervolk hat kein Recht darauf, daß wir unser ganzes Herz und Leben auf sie richten. Gerade die tüchtigsten haben kein volles Herz für uns. Wie sollten sie auch? Wir sind ihnen gut zur Unterhaltung und ihre Strümpfe zu stopfen und vielleicht ihre Vertrauten zu werden, wenn sie einmal nicht Rath wissen, aber die besten von ihnen sehen immer über uns weg auf das Ganze, und dort ist ihr eigentliches Leben. Was ihnen Recht ist, das sollte uns billig sein.«

»Haben wir nicht genug an dem, was sie uns von ihrem Leben geben?« frug Ilse. »Ist's auch nur ein Theil, er macht uns glücklich.«

»Ist es ein Glück, die größten Gefühle zu entbehren?« rief Laura wieder, »können wir sterben wie Leonidas?«

Ilse wies auf die Thür ihres Gatten. »Mein Hellas sitzt dort drin und arbeitet, und mir pocht das Herz, wenn ich seinen Tritt höre oder auch nur das Knistern seiner Feder. Für den einen Geliebten zu leben oder zu sterben, ist doch auch eine erhebende Idee, und sie macht glücklich. Ach, nur glücklich, wenn man weiß, daß man ihm ein Glück ist.«

Laura flog zu den Füßen der Freundin, sah ihr in das [342] sorgenvolle Antlitz und schmeichelte. »Ich habe Sie ernsthaft gemacht mit meinem Geschwätz, und das war unrecht, denn ich möchte Ihnen jede Stunde ein Lächeln um die Lippen zaubern und immer ein freundliches Licht in die sanften Augen. Haben Sie Geduld mit mir, ich bin ein Querkopf und ein unwirsches Ding und oft unzufrieden mit mir und Andern, und ich weiß manchmal selbst nicht warum. – Aber Xerxes taugt nichts, dabei bleibe ich, und wenn ich ihn hätte, ich könnte ihn alle Tage ohrfeigen.«

»Ihm wenigstens ist es vergolten worden,« versetzte Ilse. Laura sprang wieder auf. »Ist das eine Vergeltung für den Buben, Hunderttausende hat er umgebracht oder elend gemacht, und er fährt mit heiler Haut nach Hause. Es gibt keine Strafe, die hart genug ist für solchen frevelhaften König. – Ich weiß aber recht gut, wie er war, er war ein verzogenes Muttersöhnchen, er hatte immer in seinem elterlichen Hause gelebt, er war aufgewachsen im Ueberfluß, und alle Menschen waren ihm unterthänig. Deswegen behandelte er Alle mit Verachtung. Es würde Andern ebenso gehen, wenn sie in die Lage kämen. Ich kann mir's recht gut denken, daß ich selbst so ein Ungethüm sein würde, und mancher Bekannte auch.«

»Etwa mein Mann?« frug Ilse.

»Der ist mehr Cyrus oder Kambyses,« versetzte Laura.

Ilse lachte. »Das ist nicht wahr. Aber wie wäre es mit dem Doctor drüben?«

Laura hob strafend die Hand gegen das Nachbarhaus. »Der wäre Xerxes, gerade wie er im Buche steht. Wenn Sie sich den Doctor denken ohne Brille, in einem goldenen Schlafrock, mit einem Scepter in der Hand, ohne sein gutes Herz, was Fritz Hahn allerdings hat, und etwas weniger gescheidt als er ist, und noch mehr verzogen als er ist, und als einen Menschen, der kein Buch geschrieben hat, und nichts gelernt hat als Andere schlecht behandeln, so ist er ganz Xerxes. Ich sehe ihn vor mir auf dem Throne sitzen hier am Bach und [343] mit seiner Peitsche in das Wasser schlagen, weil es ihm die Stiefeln naß macht. Der hätte wohl gefährlich werden können, wenn er nicht hier am Stadtpark geboren wäre.«

»Das meine ich auch,« versetzte Ilse.

Aber am Abend in der Lehrstunde sprach Ilse zum Gatten: »Als Leonidas mit seinen Helden starb, rettete er seine Landsleute vor der Herrschaft fremder Barbaren, aber nach ihm endeten viele Tausende des schönen Volkes im innern Kampf der Städte, und in solchem Streite verdarb das Volk, und nicht lange währte es, da kamen andere Fremde und nahmen ihren Enkeln doch die Freiheit. Wozu sind die vielen Tausende gestorben, was half der Haß und die Begeisterung und der Parteieifer, Alles war eitel und Alles ein Zeichen des Untergangs. Der Mensch ist hier wie ein Sandkorn, das in den Boden getreten wird, ich stehe vor einem schrecklichen Räthsel und mir wird bange auf der Erde.«

»Ich will versuchen, dir eine Lösung zu geben,« versetzte der Gatte ernst, »aber die Worte, welche ich dir heut sagen darf, sind wie die Schlüssel zu den Gemächern des bösen Blaubart. Oeffne nicht zu hastig jedes Zimmer, denn in einigen ist zu schauen, was dir jetzt vorzeitig neue Unsicherheit aufregt.«

»Ich bin dein Weib,« rief Ilse, »und hast du eine Antwort für die Fragen, welche mich peinigen, so fordere ich sie.«

»Es ist auch dir kein Geheimniß, was ich dir antworte,« sprach der Professor. »Du bist nicht nur, wofür du dich hältst, ein Mensch, geschaffen zu Leid und Freude, durch Natur, Liebe, Glauben mit Einzelnen verbunden, du bist zugleich mit Leib und Seele einer irdischen Macht verpflichtet, um die du nur wenig sorgst, und die doch vom ersten bis zum letzten Athemzuge dein Leben leitet. Wenn ich dir sage, daß du ein Kind deines Volkes und daß du ein Kind des Menschengeschlechts bist, so ist dir dies Wort so geläufig, daß du wohl nicht mehr an die hohe Bedeutung denkst. Und doch ist dies Verhältniß [344] das höchste irdische, in dem du stehst. Zu sehr werden wir von klein auf gewöhnt, nur die Einzelnen, mit denen uns Natur oder freie Wahl verbindet, in unser Herz zu schließen, und selten denken wir daran, daß unser Volk der Ahnherr ist, von dem die Eltern stammen, der uns Sprache, Recht, Sitte, Erwerb und jede Möglichkeit des Lebens, fast Alles, was unser Schicksal bestimmt, unser Herz erhebt, geschaffen oder zugetragen hat. Freilich nicht unser Volk allein; denn auch die Völker der Erde stehen wie Geschwister nebeneinander, und ein Volk hilft Leben und Schicksal der andern bestimmen. Alle zusammen haben gelebt, gelitten und gearbeitet, damit du lebst, dich freust und schaffst.«

Ilse lächelte. »Auch der böse König Kambyses und seine Perser?«

»Auch sie,« versetzte der Professor, »denn das große Netz, in welchem dein Leben einer Masche gleicht, ist aus unendlich vielen Fäden zusammengewebt, und wenn einer gefehlt hätte, wäre das Gewebe unvollständig. Denke zuerst an Kleines. Der Tisch, an welchem du sitzest, die Nadel, welche du in der Hand hältst, die Ringe an Finger und Ohr verdankst du Erfindungen einer Zeit, aus welcher jede Kunde fehlt; damit dein Kleid gewebt werden konnte, ist der Webstuhl in einem unbekannten Volke erfunden, und ähnliche Palmenmuster, wie du trägst, sind in einer Fabrik der Phönicier erdacht worden.«

»Gut,« sagte Ilse, »das lasse ich mir gefallen, es ist ein hübscher Gedanke, daß die Vorzeit so artig für mein Behagen gesorgt hat.«

»Nicht dafür allein,« fuhr der Gelehrte fort, »auch was du weißt und was du glaubst, und Vieles, was dein Herz beschäftigt, ist dir durch dein Volk aus eigener und fremder Habe überliefert. Jedes Wort, das du sprichst, ist durch hunderte von Generationen fortgepflanzt und umgebildet worden, damit es den Klang und die Bedeutung bekam, welche du jetzt spielend gebrauchst. In diesem Sinne sind unsere Ahnen aus Asien [345] ins Land gezogen, hat Armin mit den Römern für Erhaltung unserer Sprache gekämpft, damit du an Gabriel einen Befehl geben kannst, den ihr beide versteht. Für dich haben die Dichter gelebt, welche dir in der Jugendzeit des Hellenenvolkes den kräftigen Klang des epischen Verses erfanden, den ich so gern von deinen Lippen höre. Und ferner, damit du glauben kannst, wie du glaubst, war vor dreihundert Jahren in deinem Vaterlande der großartigste Kampf der Gedanken nöthig, und wieder anderthalbtausend Jahre früher in einem kleinen Volke Asiens noch machtvolleres Ringen der Seele, und wieder fünfzig Generationen früher ehrwürdige Gebote unter den Zelten eines wandernden Wüstenvolkes. Das Meiste, was du hast und bist, verdankst du einer Vergangenheit, die anfängt von dem ersten Menschenleben auf Erden. In diesem Sinne hat das ganze Menschengeschlecht gelebt, damit du leben kannst.«

Ilse sah mit Spannung auf den Gatten. »Der Gedanke erhebt,« rief sie, »und er kann den Menschen stolz machen. Aber wie stimmt dazu, daß derselbe Mensch wieder ein Nichts ist und wie ein Wurm zertreten wird in dem großen Treiben deiner Geschichte?«

»Wie du ein Kind deines Volkes und des Menschengeschlechtes bist, so ist es zu jeder Zeit der Einzelne gewesen, und wie er sein Leben und fast den ganzen Inhalt desselben dem größeren Erdengebilde verdankt, von dem er ein Theil ist, so ist auch sein Schicksal an das größere Schicksal des Volkes, an die Geschicke der Menschheit gefesselt. Dein Volk und dein Geschlecht haben dir Vieles gegeben, sie verlangen dafür ebensoviel von dir. Sie haben dir den Leib behütet, den Geist geformt, sie fordern auch deinen Leib und Geist für sich. Wie frei du als Einzelner die Flügel regst, diesen Gläubigern bist du für den Gebrauch deiner Freiheit verantwortlich. Ob sie als milde Herren dein Leben friedlich gewähren lassen, ob sie es sichmit hoher Mahnung in einer Stunde fordern, deine Pflicht ist dieselbe; indem du für dich zu leben und zu [346] sterben meinst, lebst und stirbst du für sie. Das einzelne Leben ist für solche Betrachtung unermeßlich klein gegen das Ganze. Uns ist der einzelne verstorbene Mensch nur erkennbar, sofern er auf andere Menschen eingewirkt hat, nur im Zusammenhange mit denen, die vor ihm waren und nach ihm kamen, hat er Werth. Werth hat aber in diesem Sinne der Große und der Kleine. Denn in solcher Pflicht gegen sein Volk arbeitet Jeder von uns, wer seine Kinder erzieht, wer den Staat regiert, wer Wohlstand, Behagen, Bildung seines Geschlechtes mehrt. Unzählige wirken dies, ohne daß von ihnen eine persönliche Kunde bleibt, sie sind wie Wassertropfen, die mit andern eng verbunden als große Fluth dahinrinnen, für spätere Augen nicht erkennbar. Aber vergebens haben darum auch sie nicht gelebt. Und wie die zahllosen Kleinen Bewahrer der Bildung und Arbeiter für Fortdauer der Volkskraft sind, so stellt auch die höchste Kraft des Einzelnen, der größte Held, der edelste Reformator durch sein Leben nur einen kleinen Theil der Volkskraft dar. Während er für sich und seine Zwecke kämpft, arbeitet er zugleich umgestaltend für seine Zeit, vielleicht über seine Zeit und sein Volk hinaus, für alle Zukunft. Auch er zahlt nur die Schuld seines Lebens, indem er die Verpflichtung späterer Menschen größer und edler macht. Sieh, Geliebte, bei solcher Auffassung schwindet der Tod aus der Geschichte. Das Resultat des Lebens wird wichtiger als das Leben selbst, über dem Mann steht das Volk, über dem Volk die Menschheit, Alles, was sich menschlich auf Erden regte, hat nicht nur für sich gelebt, sondern auch für alle anderen, auch für uns, denn es ist ein Gewinn geworden für unser Leben. Wie die Griechen in schöner Freiheit heraufwuchsen und vergingen und wie ihre Gedanken und Arbeiten den späteren Menschen zu gut kamen, so wird auch unser Leben, das in kleinem Kreise verläuft, nicht vergeblich für die Geschlechter der Zukunft.«

»Ach,« rief Ilse, »das ist eine Ansicht über das Erdenleben, die nur Solchen möglich ist, welche Großes thun, und [347] um die man sich in später Zeit immer wieder kümmert. Mich friert dabei. Der Mensch ist hier nur wie Blume und Kraut und das Volk wie eine Wiesenfläche, und sind sie gemäht durch die Zeit, so ist, was übrigbleibt, nur nützliches Heu für die Spätern. Alle, die einst waren und die jetzt sind, sie haben doch auch für sich selbst gelebt und für die, welche sie sich mit freier Liebe suchten, für Weib und Kind und ihre Freunde, und sie waren noch etwas Anderes als eine Ziffer unter Millionen und als ein Blatt am ungeheuren Baume. Und wenn ihr Dasein so klein ist und so unnütz, daß euer Auge keine Spur seines Schaffens erkennt, das Leben des armen Bettlers, meines Kranken am Dorffenster, ihre Seelen werden doch behütet von einer Macht, welche größer ist als dein großes Netz, das aus Menschenseelen gewebt ist.« Sie sprang auf und starrte dem Gatten ängstlich in das Anlitz. »Beugt euren Menschenstolz vor einer Gewalt, die ihr nicht versteht.«

Der Gelehrte sah besorgt auf sein Weib. »Auch ich beuge mich in Demuth vor dem Gedanken, daß die große Einheit des Lebendigen auf dieser Erde nicht die höchste Macht des Lebens ist. Nur der Unterschied ist zwischen dir und mir, daß ich gewöhnt bin, in meinem Geist mit den hohen Gewalten der Erde zu verkehren. Auch mir sind die Offenbarungen so ehrwürdig und heilig, daß ich dem Ewigen und Unbegreiflichen am liebsten auf diesem Wege zu nahen suche. Du bist gewohnt, das Unerforschliche im Bilde zu schauen, welches fromme Ueberlieferung in dein Gemüth gelegt hat, und ich wiederhole die Worte, welche ich dir früher sagte: Dein Suchen und Vertrauen und das meinige entspringen aus derselben Quelle, und es ist dasselbe Licht, zu dem wir aufblicken, wenn auch auf verschiedene Weise. Was dem Glauben früherer Geschlechter die Götter und wieder die Engel und Erzengel waren, höhere Gewalten, welche als Boten des Höchsten das Leben der Einzelnen umschweben, das sind in anderem Sinne für uns die großen geistigen Einheiten der Völker und der [348] Menschheit, Persönlichkeiten, welche dauern und vergehen, aber nach andern Gesetzen als die einzelnen Menschen. Und daß ich dieses Gesetz zu verstehen suche, das ist ein Theil meiner Frömmigkeit. Du selbst wirst allmählich die bescheidene und erhebende Auffassung des Heiligen, in welcher ich lebe, kennenlernen. Auch du wirst allmählich erfahren, daß dein und mein Glaube im Grunde derselbe ist.«

»Nein,« rief Ilse, »ich sehe nur Eines, eine tiefe Kluft, welche meine Gedanken von deinen scheidet. O nimm mir die Angst, welche mich jetzt um deine Seele peinigt.«

»Nicht ich kann das thun, und nicht ein Tag kann das thun, nur unser Leben selbst, tausend Eindrücke, tausend Tage, an denen du dich gewöhnst, die Welt so anzusehen wie ich.«

Er zog die Gattin, welche starr vor ihm stand, näher an sich und sagte ihrleise: »Gedenke an den Spruch: im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Auch er, der so gesprochen, wußte, daß Mann und Weib Eines sind durch das stärkste Gefühl der Erde, welches Alles trägt und Alles duldet.«

»Was kann ich dir sein, dem der Einzelne so wenig und klein ist?« frug Ilse tonlos.

»Das Höchste und Liebste auf Erden, die Blüthe meines Volkes, ein Kind meines Geschlechts, in dem ich ehre und liebe, was vor uns war und was uns überleben wird,« rief der Professor.

Ilse stand allein unter den fremden Büchern, draußen schlug der Wind an die Mauern, er jagte die Wolken an dem Monde vorüber, bald wurde die Stube dunkel, bald füllte sie sich mit fahlem Scheine. Und in dem wechselnden Lichte der Dämmerung dehnten sich ihr die Wände zu einem unabsehbaren Raum, aus den Büchern stiegen fremde Gestalten, sie hingen an den Wänden und schwebten von der Höhe, ein Heer von grauen Schatten, die bei Tage in die geradlinigen Gehäuse der Bücher gebannt waren, zogen gegen das Weib heran, und die Toten, die gespenstig fortlebten auf der Erde, streckten die Arme nach ihr und forderten ihre Seele für sich.

[349] Ilse richtete sich hoch auf, sie hob die Hände nach oben und rief sich die hellen Bilder zu Hilfe, die von klein auf ihre Tage segnend umgeben hatten, weiße Gestalten mit leuchtendem Antlitz. Sie neigte das Haupt und bat: »Schützet mir den Frieden meiner Seele.«

Als Ilse in ihr Zimmer trat, lag ein Brief ihres Vaters auf dem Tisch, sie öffnete hastig und sank, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen, schluchzend darüber hin.

Der Vater zeigte der Tochter den Tod eines alten Freundes an. Der gute Herr Pfarrer war aus dem engen Thal hinaufgetragen zu der Ruhestätte, die er sich auf dem Friedhof neben seiner Frau erwählt. Von der Aufregung, die ihm Ilse's Scheiden verursacht, hatte er sich nicht wieder erholt, der Winter war in langem Siechthum vergangen, an einem warmen Frühlingsabend überraschte ihn im Garten vor seinem Pfirsichbaume das schnelle Ende. Dort fand ihn die treue Magd und lief mit der Schreckensbotschaft nach dem Schlosse. Er hatte wenige Stunden vorher Clara gebeten, seinem lieben Kinde in der Stadt zu schreiben, daß es ihm jetzt wohl gehe.

Ilse hatte oft im Winter um das Leben des Freundes gesorgt, und die Nachricht kam ihr nicht überraschend. Und doch fühlte sie gerade jetzt seinen Verlust als entsetzliches Unglück. Das war ein Leben, welches fest und treu an dem ihren hing, sie wußte wohl, in den letzten Jahren war sie der Mittelpunkt seiner Gedanken und fast ausschließlich der Inhalt seines Herzens gewesen. Sie hatte dies Leben, das ganz ihr gehörte, um eine stärkere Neigung verlassen, und ihr schien jetzt ein Unrecht, daß sie von ihm geschieden war. Sie sah den Stab zerbrochen, der sie festband an die Gefühle ihrer Kindheit. Und ihr war, als wankte der Boden und als sei Alles unsicher geworden, das Herz des Gatten, die eigene Zukunft.

So fand sie der Professor, über den Brief gebeugt, in Thränen aufgelöst, ihr Schmerz erschütterte auch ihm das Herz [350] und er bat sie ängstlich, ihrer selbst zu gedenken. Lange redete er zärtlich in sie hinein. Endlich sah sie ihn wieder mit treuen Augen an und versprach ruhig zu sein.

Aber es gelang ihr nicht. – Nach wenigen Stunden mußte er sie zu ihrem Lager führen.

Es wurde eine gefährliche Krankheit. Ilse hatte Tage, wo sie in tötlicher Schwäche bewußtlos lag. Wenn sie einmal die müden Augen aufschlug, sah sie in das abgehärmte Antlitz ihres Gatten, und sie sah Laura's Lockenkopf zärtlich über ihr Lager geneigt, dann schwand wieder Alles in dumpfer Betäubung.

Es war ein langes Ringen zwischen Leben und Vergehen, aber sie überwand. Der erste Eindruck, den sie empfing, als sie schmerzlos wie aus einem Schlummer erwachte, war das Rauschen eines schwarzen Kleides und die große Locke der Struvelius, welche ihren Kopf durch die geschlossenen Vorhänge gesteckt hatte und kummervoll aus den grauen Augen auf sie herabsah. Leise rief sie den Namen ihres Gatten, und im nächsten Augenblick kniete er selbst an ihrem Lager und bedeckte ihre Hand mit Küssen, und der starke Mann war so außer Fassung, daß sein Leib in krampfhaftem Weinen bebte. Sie legte ihm die Hand auf das Haupt, strich ihm das verworrene Haar zurück und sagte ihm leise: »Felix, Geliebter, ich will leben.«

Jetzt kam eine Zeit großer Schwäche und zögernder Genesung, noch manche Stunde kraftloser Schwermuth, aber auch ein leises Lächeln flog zuweilen über ihre bleichen Lippen.

Draußen grünte der Frühling, nicht alle Knospen hatte der Nachtreif vernichtet, und die Stadtvögel zwitscherten vor ihren Fenstern. Mit Rührung sah Ilse, welch guter Krankenpfleger ihr Mann war, wie geschickt er ihr die Arznei reichte und die Tasse mit Brühe herzutrug, wie er kaum dulden wollte, daß einmal Andere seine Stelle an ihrem Lager einnahmen, und wie er auch jetzt noch trotzig verweigerte, sich in der Nacht einige Stunden Schlaf zu gönnen, aber als sie selbst bat, ganz widerstandslos und mit feuchten Augen nachgab. Von Laura [351] erfuhr Ilse, daß dieser Mann sehr große Noth gemacht hatte, er war in der argen Zeit ganz verstört gewesen, finster und heftig gegen Jedermann, er hatte bei Tag und Nacht an dem Lager gesessen, daß man gar nicht begriff, wie er selbst den Zustand ausgehalten hatte. »Der Arzt konnte ihn nicht zwingen,« sagte Laura, »ich aber fand das rechte Wort, denn ich drohte ihm ernsthaft, daß ich Ihnen seine Widersetzlichkeit klagen würde. Da überließ er mir endlich auf einzelne Stunden den Platz, und zuletzt auch der Struvelius, aber ungern, weil er behauptete, daß diese zu viel raschele.«

Laura selbst bewies jetzt prächtig ihre Liebe; sie war stets zur Stelle, schwebte geräuschlos wie ein Vogel um das Krankenbett, saß stundenlang unbeweglich, und wenn Ilse die Augen aufschlug und ein wenig bei Kräften war, hatte sie immer eine hübsche Geschichte bei der Hand. Wie sie erzählte, war die Struvelius gleich am zweiten Tage herzugekommen, hatte dem Professor eine kleine Rede gehalten, worin sie feierlich die Rechte einer Freundin in Anspruch nahm, und sich dann auf die andere Seite des Bettes gesetzt. Er aber hatte gar nichts von ihren Perioden gehört, war plötzlich aufgefahren und hatte sie gefragt, wer sie sei und was sie hier wolle. Da antwortete die Frau Professorin ihm ruhig, sie heiße Flaminia Struvelius und sie habe ebenfalls ein Recht, hier zu sein durch ihr Herz, und darauf hielt sie ihm die Rede noch einmal, bis er sich's endlich gefallen ließ. »Sogar ihr Mann war hier,« setzte Laura vorsichtig hinzu, »als es gerade am schlimmsten war, und er stieß auf den Gemahl, und ich sah, wie dieser ihm die Hand reichte, aber, unter uns, ich glaube, er kannte ihn gar nicht. – Und dann,« erzählte Laura, »kam auch der thörichte Mensch, der Doctor, gleich am ersten Abend mit seiner Schlafdecke und einer Kaffemaschine von Blech und erklärte, er werde hier wachen. Da er nicht in die Krankenstube gelassen wer den konnte, setzte er sich mit seinem Blech in des Professors Stube und es war wie bei der Geschichte mit dem Jokel, den sein [352] Herr ausschickt: der Professor pflegte Sie, und der Doctor pflegte den Professor.« Ilse zog Laura's Kopf zu sich nieder und sagte ihr ins Ohr: »Und Schwester Laura pflegte den Doctor.« Worauf Laura sie auf den Mund küßte, aber heftig mit dem Kopf schüttelte. »Wenigstens lästig war er nicht,« fuhr sie fort, »er verhielt sich still, und wir haben ihn als Cerberus gebraucht, der die Besuche und die Vielen, welche anfrugen, abfertigte. Das hat er treulich gethan. Wenn es möglich wäre, ihn zu sehen, so glaube ich, es würde ihm große Freude sein.«

Ilse nickte. »Laßt ihn herein.« Der Doctor kam, Ilse streckte ihm den Arm entgegen und empfand aus dem treuen Händedruck und dem bewegten Gesicht des Nachbars, daß auch der gelehrte Vertraute des Geliebten, auf dessen Beifall sie nicht immer rechnete, als ein wackerer Freund an ihrem Lager saß. Und Ilse erlebte, daß noch andere fremde Herren an ihr Bett drangen. »Wenn die Frau Collega Audienz gibt, so bitte ich mich zu melden,« sprach eine fröhliche Stimme draußen.

»Herein, Herr Professor Raschke,« rief Ilse von ihrem Lager.

»Da ist sie,« rief er lauter, als in einem Krankenzimmer üblich ist. »Zum frohen Licht entronnen dem schweren Verhängnis.«

»Was machen die Thierseelen, lieber Herr Professor?« frug Ilse.

»Sie fressen im Stadtwald die Blätter ab,« versetzte Raschke, »es hat in diesem Jahr zahllose Maikäfer gegeben. – Siehe, da fliegt einer um die Arzneiflasche, ich fürchte, er hat mich als Omnibus benutzt, um zu Ihnen zu dringen. Die Bäume stehen wie Besen, und das Federvieh ist so gemästet, daß alle Vorurtheile gegen den Genuß dieser Mitlebenden gänzlich beseitigt sind. Ich zähle die Tage bis zu dem frohen Augenblick, wo die Freundin mir erlauben wird, einen Beweis meiner Besserung abzulegen.«

Es war eine langsame Genesung, aber sie war reich an tröstender Empfindung. Denn das Schicksal gönnt dem Genesenden [353] gern als Entschädigung für Gefahr und Schmerz, daß er seine Umgebung frei von dem Staub der Werktage schaut in reinen Umrissen und frischem Glanz. Diese milde Poesie des Krankenlagers fühlte jetzt Ilse, als sie dem ehrlichen Gabriel die Hand entgegenhielt, die der Bursch küßte, sein Schnupftuch in der Hand, während der Professor rühmte, wie sorglich er seinen Dienst gethan. Sie fühlte dies Behagen, als sie an Laura's Arm in den Garten hinabstieg und Herr Hummel in seinem besten Rocke ehrbar auf sie zuschritt, das Haar glattgebürstet und die trotzigen Augen in milder Stimmung halb zusammengedrückt, und hinter ihm langsam sein Hund Speihahn, der den Kopf ebenfalls in widerwilliger Achtung senkte. Als Herr Hummel seine Huldigung dargebracht hatte, sagte er in seinem Mitgefühl sogar: »Wenn Sie sich einmal eine ruhige Bewegung anthun wollen, so bitte ich, sich meines Kahns ganz nach Belieben zu bedienen.« Das war die höchste Gunst, die Herr Hummel erweisen konnte, denn er traute den Bewohnern des Landes, in welchem er lebte, keine von den Fähigkeiten zu, welche für das Wasser nothwendig sind. Und er hatte allerdings Recht, wenn er eine Reise auf einem Kahn ein ruhiges Vergnügen nannte, denn der Kahn blieb bei dem niedrigen Wasserstand dieses Jahres häufig auf dem Grunde sitzen, und die größte Aufregung welche er gestattete, war, daß man die Hände nach beiden Ufern ausstreckte und mit jeder ein Grasbüschel abriß.

Als Ilse wieder in ihrem Zimmer saß, geschah es oft, daß sich die Thür leise öffnete, der Gatte eintrat, ihr Stirn und Mund küßte und dann vergnügt unter seine Bücher zurückging. Wenn sie die zärtliche Sorge aus seinen Augen las und sein Glück, daß er sie wieder genesen und in seiner Nähe wußte, da zweifelte sie nicht mehr an seiner Liebe, und ihr war, als dürfe sie auch nicht mehr um das sorgen, was er über Leben und Untergang der Einzelnen und der Völker dachte.

8. Eine Frage der Residenz
[354] 8.
Eine Frage der Residenz.

Unter den Fragen nach der Frau Professorin, welche während der Krankheit kamen, war auch die eines Fremden. Gabriel erregte im Haushalt ein kleines Erstaunen, als er erzählte: »Da ich einmal nach der Apotheke lief, stand ein Mann von feinem Aussehen auf der Straße im Gespräch mit Dorchen. Dorchen rief mich hinzu, der Mann erkundigte sich nach Allerlei und es schien ihm sehr ungelegen, daß Sie erkrankt waren.«

»Haben Sie nach seinem Namen gefragt?«

»Den wollte er nicht nennen. Er wäre aus Ihrer Gegend und hätte sich nur auf der Durchreise erkundigen wollen.«

»Vielleicht war's Jemand aus Rossau,« klagte Ilse, »wenn er nur nicht den Vater durch seine Reden geängstigt hat.«

Gabriel schüttelte den Kopf. »Er meinte etwas dabei, er spionirte nach dem ganzen Haushalt und that dreiste Fragen, die ich ihm gar nicht beantworten wollte. Weil er ein schlaues Aussehen hatte, ging ich ihm nach bis zum nächsten Gasthof, und da sagte mir der Hausknecht, daß es der Kammerdiener eines Fürsten wäre.« Gabriel nannte den Namen.

»Das ist unser Landesherr,« rief Ilse, »was kann der an mir für Theil nehmen?«

»Der Mann wollte eine Neuigkeit nach Hause bringen,« versetzte der Gatte. »Er war wohl damals mit im Jagdgefolge, und es war gute Meinung.«

Mit diesem Bescheid wurde Gabriel beruhigt, und Ilse sagte vergnügt: »Es ist doch hübsch, wenn ein Landesvater sich auch um die Kinder in der Fremde kümmert, denen es gerade schlecht geht.«

[355] Indeß, Gabriels Kopfschütteln war nicht ohne Grund, die Nachfrage hatte etwas zu bedeuten.


Hinter der Scheuer eines Bauerhofes saß eine junge Dame auf dem Rasen und band Wiesenblumen zu einem dicken Strauß; ein Knäuel blauer Wolle rollte in ihren Schoß, so oft sie ein neues Büschel Blumen einfügte. Auf der Wiese vor ihr lief ein junger Herr geschäftig durch das tiefe Gras, suchte die Blüthen zusammen und legte sie nach den Farben geordnet vor die Straußwinderin. Daß der Jüngling und das Fräulein Geschwister waren, ließ ein stark ausgeprägter Familienzug ihres Angesichts erkennen, und das gewählte Promenadenkleid machte Jedem zweifellos, daß Beide nicht unter Klee und Kamillen des Grundes aufgeblüht waren, auch wer nicht durch eine Lücke zwischen den Scheuern sah, wie sich auf der andern Seite Pferdeköpfe und die Tressenhüte ihrer Dienerschaft bewegten.

»Du bringst den Strauß nicht zu Stande, Siddy,« sagte der junge Herr zweifelnd zu dem Fräulein, als dieses ungeschickt an dem zerrissenen Wollfaden knüpfte.

»Wenn nur der Faden besser hielte,« rief die Emsige, »mach mir den Knoten.« Es erwies sich, daß der junge Herr damit auch nicht leicht zu Stande kam. »Gib Acht, Benno, wie schön der Strauß wird, das ist meine Kunst.«

»Es ist ja Alles viel zu locker,« wandte der junge Herr ein.

»Für's erste Mal ist's gut genug,« versetzte Siddy. »Da schau meine Hände an, und wie sie riechen.« Sie zeigte die blauen Spitzen der kleinen Finger, hielt sie ihm an das Gesicht, und als er gutmüthig daran roch, gab sie ihm einen kleinen Nasenstüber. »Von den rothen Blumen habe ich genug,« fuhr sie wieder über dem Strauße fort, »jetzt kommen nur weiße im Kreise herum.«

»Was für weiße?«

»Ja, wer die Namen wüßte,« versetzte Siddy bedenklich, [356] »ich meine Margueriten. Wie nennen Sie diese weiße Blume?« frug sie nach rückwärts gewandt die Bäuerin, welche respectvoll einige Schritt hinter dem beschäftigten Paare stand und mit vergnügtem Lächeln dem Treiben der Beiden zusah.

»Wir nennen sie Gänseblume,« sagte die Bäuerin.

»Ah, richtig,« rief Siddy, »aber lange Stiele, Benno.«

»Sie haben aber gar keine langen Stiele,« klagte dieser und trug herzu, was er in der Nähe abrupfen konnte. »Weißt du, was mich wundert?« begann er, neben der Schwester im Grase sitzend. »Diese Wiese ist voll Blumen, wenn man sie mäht, wird Heu daraus, und im Heu sieht man von all den Blumen nichts.«

»Nicht?« frug Siddy und knüpfte wieder an der Wolle. »Sie mögen auch vertrocknet sein.«

Benno schüttelte den Kopf. »Sieh dir einmal ein Bündel Heu an, du wirst wenig darin merken. Ich denke, die Leute pflücken sie vorher heraus und verkaufen sie in der Stadt.«

Siddy lachte und wies über die grüne Fläche. »Da, schau um dich, sie sind zahllos, und die Leute kaufen auch nur die ewigen Gartenblumen. Und diese hier sind doch weit zierlicher. Wie reizend ist das Sternchen an der Blume unserer Frau Marguerite.« Sie hielt den Strauß ihrem Bruder hin und sah liebevoll auf ihr Kunstwerk.

»Du hast es doch durchgesetzt,« sagte der junge Herr bewundernd, »du bist immer ein kluges Weibchen gewesen. – Mir thut's leid, Siddy, daß du von uns gehst,« setzte er traurig hinzu.

Die Schwester sah ihn ernsthaft an. »Ist das wahr? – Erhalte mir immer deine Freundschaft, mein Bruder, du bist der Einzige hier, der mir den Abschied schwer machen wird. – Benno, wir sind wiezwei Waisenkinder, die in einer kalten Winternacht im Schnee sitzen.«

Die so sprach, war Prinzessin Sidonie, und die Sonne schien warm auf die blühende Wiese vor ihr.

[357] »Wie gefällt dir mein Bräutigam?« frug sie nach einer Pause, den blauen Faden häufig um den fertigen Strauß windend.

»Er ist ein schöner Mann und er war sehr freundlich zu mir,« sagte Benno nachdenklich. »Ob er gescheidt ist?«

Siddy nickte. »Er ist darin ordentlich. Er schreibt auch liebe Briefe. Willst du, so sollst du einen lesen.«

»Das möchte ich gern,« rief Benno.

»Und weißt du,« fuhr Siddy geheimnißvoll fort, »auch ich schreibe ihm alle Tage. Denn ich merke, eine Frau soll ihrem Manne Großes und Kleines vertrauen, und da will ich mich und ihn daran gewöhnen. Ich schreibe ihm der Sicherheit wegen unter fremder Adresse und meine Kammerfrau besorgt die Briefe zur Post, denn ich fürchte, meine dummen Zeilen werden sonst gelesen, bevor sie abgehen.« Sie sagte das gleichmüthig und betrachtete ihren Strauß. »Auch diesen Besuch bei Frau Marguerite erfährt er haarklein, und daß er dir gut gefallen hat. Und jetzt ist der Strauß fertig,« rief sie fröhlich, »ich schlage ein Tuch darum, wir nehmen ihn in den Wagen, und ich setze ihn auf meinen Schreibtisch.«

Benno lachte: »Er sieht aus wie eine Keule, du kannst ihn heut Abend im Ballet den Wilden borgen.«

»Er ist doch besser als die flachen Teller, die man nicht einmal ins Wasser setzen darf,« antwortete die Schwester aufspringend. »Vorwärts, wir tragen ihn zum Brunnen.«

Sie eilten, von der Bäuerin gefolgt, nach dem Hofe. Benno ergriff einen Eimer und trug ihn nach der Pumpe. »Ich will pumpen,« rief Siddy; sie faßte den Schwengel und versuchte zu drücken, aber es gelang ihr schlecht, nur einzelne Tropfen rannen in den Eimer. Benno tadelte: »Du bist ungeschickt, laß mich daran.« Jetzt trat er an das Holz, und Siddy faßte den Eimer; er drückte kräftig und der Strahl fuhr über den Eimer auf die Hände und das Kleid der Prinzessin. Sie stieß einen leisen Schrei aus, ließ den Eimer fallen, und Beide lachten laut. »Du hast mich schön zugerichtet, [358] unartiger Bonbon,« rief Siddy. »Ei, das thut nichts, Mutter,« tröstete sie die Bäuerin, welche herzulief und erschrocken die Hände zusammenschlug. »Du, mir fällt etwas ein, ich ziehe mir den Rock unserer Dame Marguerite an und du einen Kittel ihres Mannes, und wenn der Vetter kommt, soll er uns nicht erkennen und wir überfallen ihn.«

»Wenn nur Alles gut abläuft,« wandte Benno bedenklich ein.

»Es sieht uns ja Niemand,« überredete Siddy. »Mütterchen,« schmeichelte sie der Bäuerin, »kommt in eure Kammer und helft mir beim Anziehen.« Die jungen Herrschaften ergriffen die Hände der Frau und zogen sie in das Haus. Benno legte im Hausflur seinen Sommerrock ab, besah mißtrauisch den neuen Kittel, welchen eine stämmige Magd zutrug, und fuhr mit ihrer Hilfe hinein. Der zierliche Bauernbursch setzte sich geduldig auf eine Bank, seine Gefährtin zu erwarten, und benützte die Muße, einen Schleifstein zu drehen und neugierig die Fingerspitze ein wenig daran zu halten. Während dieser Untersuchung fühlte er einen Schlag auf den Rücken und sah erstaunt eine kleine Bäuerin in blauem Rock und schwarzer Jacke, die landesübliche Mütze auf dem Kopf, hinter sich stehen. »Wie gefalle ich dir?« frug Siddy, die Arme in einander legend.

»Allerliebst,« rief Benno überrascht, »ich hätte nicht gedacht, daß ich eine so hübsche Schwester habe.« Siddy machte einen bäurischen Knix. »Wo hast du bis heut die Augen gehabt, du thörichter Bonbon? – Und jetzt helfen wir in der Wirthschaft. Was haben Sie für Ihre neuen Dienstleute zu thun, Frau Marguerite?«

Die Bäuerin schmunzelte. »Dort ist das Futter für die Kühe mit Schrotwasser abzubrühen,« sagte sie.

»Nichts mehr mit Wasser, wir haben genug davon. Komm, Benno, wir decken unterdeß den Tisch im Garten unter den Obstbäumen und tragen die saure Milch herzu.« Sie drangen in die Stube, trugen zusammen eine kleine Bank heraus und [359] setzten sie in den Grasgarten unter einen Apfelbaum, dann flogen sie nach Tellern und Löffeln zurück, die Bäuerin und die Magd brachten den Tisch, einen großen Milchnapf und Schwarzbrot. Siddy fuhr behende umher, deckte die Serviette über, strich sie eifrig zurecht und setzte die buntbemalten Thonteller auf. »Sieh dies an,« flüsterte Benno und wies betrübt auf die abgenutzten Blechlöffel.

»Wir waschen sie noch einmal ab und trocknen sie mit grünen Blättern,« rieth die Schwester. Wieder liefen sie mit den Löffeln zu dem Brunnen und rieben kräftig mit Blättern daran, aber sie vermochten keinen weißen Glanz hervorzubringen. »Es ist ihre Art so,« tröstete Benno, »das gehört mit zum ländlichen Fest.«

Der Tisch war gedeckt, Siddy rückte an den Schemeln und wischte mit ihrem Battisttuch herum. »Du bist der Erbprinz,« sagte Siddy, »du mußt auf die Bank und wir andern zu deinen Seiten. Das Schwarzbrot muß zerkrümelt werden, das kann sich Jeder selbst machen. Der Zucker fehlt, es kommt nicht dar auf an.« Sie saßen erwartungsvoll vor dem Milchnapf und klapperten im Tact mit den Löffeln. Ein kleiner grüner Apfel fiel vom Baum mitten in die Milchschüssel und verursachte ein Spritzen. Beide lachten laut, sprangen wieder auf, lasen die unreifen Aepfel und Pflaumen aus dem Grase und spähten über die Hecke auf einen Feldweg, der zur Stadt führte. »Er kommt,« rief Benno, »verstecke dich.«

Ein Reiter ritt im Galopp heran, von dem schnaubenden Pferde schwang sich ein junger Offizier, er band das Pferd an einen Pfahl und sprang mit einem Satz über die Hecke. Aber er hielt erstaunt an, denn er wurde aus den Winkeln mit einem Kreuzfeuer von unreifen Aepfeln und Pflaumen überschüttet, schnell ergriff er einige der grünen Geschosse und vertheidigte sich, so gut er konnte, gegen den Angriff. Die kleinen Bauerleute sprangen hervor. »Endlich,« rief Benno, »du hast lange warten lassen.« Und Siddy verneigte sich vor ihm: [360] »Prinz, die saure Milch ist servirt.« Prinz Victor sah mit unverhohlener Verwunderung auf die junge Bäuerin. »Ei,« sagte er gutmüthig, »jetzt sieht man doch endlich einmal, wie klein die Füße sind, vor die man seine Huldigungen niederlegt. So war's recht, ihr Kinder. Aber vor allem muß ich Satisfaction haben für den Ueberfall.« Er drehte sein Taschentuch zusammen, die Geschwister lachten und baten: »Sei gut, Vetter, wir thun's nicht wieder. – Ach, lieber Herr Oger, Gnade, Erbarmen,« flehte Siddy und fuhr mit dem Zipfel ihrer Schürze nach den Augen.

»Nichts da,« rief Victor, »ich erhalte euretwegen doch wieder Arrest, da will ich euch wenigstens vorher abstrafen.« So trieb er die Andern um den Tisch. »Das thut weh, Vetter,« rief Siddy; »laß die Thorheiten und komm zu Tisch. Ich lege vor. Oben ist der Rahm. Da wird Gerechtigkeit nöthig, wenn Victor dabei ist.«

Victor musterte den Tisch. »Das ist alles sehr schön, aber der Zucker fehlt.«

»Es war keiner zu haben,« riefen die Geschwister im Chor. Victor griff in seine Tasche und setzte eine silberne Büchse auf den Tisch. »Was würde aus euch, wenn ihr mich nicht hättet. Hier ist der Zucker.« Und er griff wieder in den Rock und brachte eine Lederflasche mit kleinem Trinkglas zu Tage. »Und hier ist eine andere Hauptsache, der Cognac«

»Wozu?« frug Siddy.

»Zum Trinken, gnädigste Cousine. Willst du dies kalte Gelee ohne Cognac mit deinem Innern vermählen, so wage ich nicht zu widersprechen, dir aber, Benno, rathe ich als Mann, sorge für dein Heil.«

Die beiden hielten verlegen ihre Löffel beim Stiele.

»Das wäre nothwendig?« frug Benno argwöhnisch.

»Es calmirt, wie unser Doctor sagt,« erklärte Victor, »es pacificirt und zwingt die rebellische Masse zu ruhiger Submission, welche in Frieden tiefer und tiefer wird. Verweigerst du den [361] Cognac, so geht's wie auf dem Weg zur Hölle. Der Pfad ist anfangs leicht, aber was dahinter kommt, ist Chaos. Jedenfalls würde dir das heutige Ballet erspart werden. Ist euch die Sache klar?«

»Sehr klar,« rief Siddy, »daß du uns zum Besten hast wie immer. Gib ihm eins auf die Finger, Benno.«

Benno tippte ihm mit dem Löffel auf die Hand, Victor sprang auf und parirte in Fechterstellung mit seinem Löffel, und die Geschwister jagten den Vetter wieder lustig um die Bäume.

Da störte ein eiliger Tritt, ein Lakai erschien auf einen Augenblick an der Gartenthür: »Der durchlauchtigste Herr kommt geritten,« rief er.

Alle drei standen still, die Löffel sanken ins Gras. »Wir sind verrathen,« rief Siddy erbleichend, »mache dich fort, Victor.«

»Ich bin Offizier und darf nicht entlaufen,« entgegnete dieser achselzuckend, ergriff seinen Säbel und hakte ihn eilig ein.

»Du nimmst Alles auf dich, Benno,« rief die Schwester.

»Ich möchte wohl,« versetzte dieser kleinlaut, »ich habe nur zum Erfinden niemals Geschick gehabt.«

Vor dem Hofe stieg der Fürst mit Hilfe des Stallmeisters ab, der Lakai eilte voran, die Pforte zu öffnen, langsam nahte das Schicksal. Der Fürst trat in den Garten und sein scharfer Blick flog über die jungen Herrschaften, welche steif auf ihrem Platz stehen blieben und sich vor ihm verneigten. Ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen Mund, als er die Zurüstungen des Tisches sah. »Wer von euch hat den ländlichen Carneval arrangirt?« frug er. Alle schwiegen. »Antworte, Benno,« wandte er sich finster an den jungen Herrn im blauen Kittel.

»Siddy und ich wollten einmal auf einer Wiese sitzen, bevor die Schwester unser Land verläßt. Ich habe aus Ungeschick die Schwester mit Wasser beschüttet, sie mußte sich umziehen.«

»Wo ist dein Fräulein, Sidonie?« frug er die Tochter.

[362] »Ich bat sie, auf das nahe Gut ihrer Tante zu fahren und mich in einer Stunde von hier abzuholen,« versetzte Prinzessin Sidonie.

»Sie hat nicht gut gethan, meine Befehle zu vergessen, um die deinen zu erfüllen, und sie hat ihre Pflicht verletzt, als sie die Prinzessin einem solchen Abenteuer überließ. Es ziemt nicht, daß Prinzessinnen allein und verkleidet in Dorfhäusern einkehren.«

Die Prinzessin preßte die Lippen zusammen. »Mein gnädigster Herr und Vater möge verzeihen, ich war nicht allein; ich hatte den besten Schützer bei mir, den eine Fürstin unseres Hauses haben kann, und der war Ew. Hoheit Sohn, mein erlauchter Bruder.«

Der Fürst trat einen Schritt näher und sah ihr schweigend ins Gesicht, und so stark war in seinem Antlitz der Ausdruck von Zorn und Abneigung, daß die Prinzessin erbleichte und die Augen niederschlug. »Gehört Prinz Victor auch zu den Beschützern, welche sich die Prinzessin in den Bauerhof bestellt?« frug er. »Hat der Lieutenant – er nannte den Namen seines Geschlechts – Urlaub, sich aus der Garnison zu entfernen?«

»Ich bin ohne Urlaub herausgeritten,« versetzte der Prinz in militärischer Haltung.

»Melde dich als Arrestant,« befahl der Fürst.

Victor salutirte und machte Kehrt, er band sein Pferd ab und nickte hinter dem Rücken des Fürsten über die Hecke seinem Vetter zu, bevor er der Stadt zutrabte.

»Ihr aber eilt, diese Mummerei los zu werden,« befahl der Fürst, »die Prinzessin fährt im Wagen des Erbprinzen nach Haus.« Er winkte, die jungen Herrschaften verneigten sich und eilten aus dem Garten.

»Mir hat das Unglück geahnt,« sagte der Erbprinz im Wagen zu seiner Schwester. »Arme Siddy!«

»Ich will lieber eine Magd dieser Bäuerin sein und Holzpantoffeln [363] an den Füßen tragen, als dies Sklavenleben noch lange erdulden,« rief die zornige Prinzessin.

»Laß dir nur heut beim Diner nichts merken,« bat Benno.

Der Strauß von Wiesenblumen stand im Eimer, und am Abend zerrupften ihn die Kühe der Bäuerin.

Den Tag darauf trat der Obersthofmeister von Ottenberg, ein alter Herr mit weißem Haar, bei dem Fürsten ein. »Ich bemühe Ew. Excellenz,« begann der Fürst zuvorkommend, »weil ich in einer Familienangelegenheit Ihre Ansicht zu vernehmen wünsche. Der Tag naht, wo die Prinzessin uns verläßt. – Haben Sie meine Tochter heut gesprochen?« unterbrach er sich.

»Ich komme von Ihrer Hoheit,« antwortete ehrerbietig der alte Herr.

Der Fürst lächelte: »Ich habe ihr gestern einige ernste Worte gesagt. Die Kinder spielten auf eigene Hand eine Idylle und ich traf sie in Bauerkleidern und ausgelassener Stimmung. Unsere liebe Siddy hatte vergessen, daß solches Spiel Mißdeutungen ausgesetzt ist, die sie zu vermeiden jede Ursache hat.«

Der Obersthofmeister verbeugte sich schweigend.

»Doch nicht um die Prinzeß handelt es sich. Die Zeit ist gekommen, wo über die nächsten Jahre des Erbprinzen ein Entschluß gefaßt werden muß. Ich habe daran gedacht, ihn trotz der Bedenken, welche seine zarte Gesundheit nahelegt, in eine größere Armee eintreten zu lassen. Sie wissen, daß dies uns nur in Einem Staate möglich ist. Auch dort hat sich eine unerwartete Schwierigkeit gefunden. Es sind dort zwei Regimenter, welche Sicherheit gewähren, daß der Prinz nur mit Offizieren von Familie in ein kameradschaftliches Verhältniß treten würde. Aber das eine Regiment hat jetzt zum Commandeur denselben Kobell erhalten, der vor Jahren unsern Dienst quittirt hat; es ist unthunlich, den Prinzen zu seinem Untergebenen zu machen. Bei dem andern Regiment [364] aber ist in den letzten Monaten das Unerwartete geschehen und trotz dem Widerstande des Offizierscorps ein Herr Müller eingeschoben worden. So ist dem Erbprinzen unmöglich gemacht, in die einzige Armee zu treten, welche uns offensteht.«

»Darf ich mir die Frage erlauben, ob nicht das zweite Hinderniß zu beseitigen wäre?« frug der Obersthofmeister.

»Man möchte uns gern gefällig sein,« versetzte der Fürst, »weiß aber selbst keinen Rath, denn das Einreihen des bürgerlichen Lieutenants war ein Zugeständniß, welches man aus politischen Gründen gemacht hatte.«

»Und es würde nicht viel helfen, wenn an Name und Familie des Lieutenant Müller selbst das Störende geändert würde?« warf der Obersthofmeister ein.

»Auch das ist vorsichtig versucht worden, es hat sich ergeben, daß in dem Vater des Menschen keine Bereitwilligkeit war. Und Excellenz, zuletzt bliebe die Inconvenienz doch dieselbe. Sie wissen, daß ich in diesen Dingen keineswegs Purist bin, aber für den kameradschaftlichen Verkehr des Tages wäre dem Erbprinzen solche Nähe doch gar zu unbehaglich. Müller oder von Müller, der Mehlstaub bleibt.«

Es entstand eine Pause. Endlich begann der Obersthofmeister: »Für jüngere Prinzen ohne Vermögen und die Möglichkeit, sich selbst eine kräftige Thätigkeit zu finden, sind die Vortheile einer militärischen Carriere allerdings unleugbar. Ob sie auch für einen Fürsten unzweifelhaft sind, der die Vorbildung für einen großen Beruf sucht? Ich erinnere mich, daß in früherer Zeit Ew. Hoheit das Soldatenspiel an den Höfen als eine Modelaune ohne Vorliebe betrachteten.«

»Das leugne ich nicht,« versetzte der Fürst, »und Ihnen gegenüber darf ich mich wohl zu dieser Ansicht bekennen. Der gewöhnliche Zustand der menschlichen Gesellschaft ist jetzt nicht der Krieg, sondern der Friede. Die angelegentliche Vorbildung eines jungen Fürsten für den Krieg wird allerdings in seinem Wesen einige männliche Seiten entwickeln, überliefert ihn aber [365] in allen Hauptsachen hilflos den Händen seiner Beamten. Und im Vertrauen, Excellenz, die Freude an Epauletten ist gerade während der Friedenszeit in die Höfe gedrungen, und im Fall eines großen Krieges, wo nur bei wirklichem Feldherrntalent Hilfe zu finden ist, wird das militärische Dilettiren der Fürsten sich mit wenigen Ausnahmen als durchaus unnütz erweisen. Das alles ist unleugbar. Leider ist es gegenwärtig nicht mehr Modelaune, wenn an den meisten Höfen dieser Bildungsweg für junge Fürsten gewählt wird, sondern ernste Nothwendigkeit. Die Zeit, in welcher wir zu leben verurtheilt sind, hat eine engere Verbindung der Höfe mit den Heeren unvermeidlich gemacht, und was einst besser unterblieb, ist jetzt eine Stütze fürstlicher Stellung geworden.«

»Ich sehe die Stellung erlauchter Herren nicht dadurch verstärkt, daß sie schlechte Generäle sind,« erwiederte der Obersthofmeister. »Ja, man darf behaupten, daß viele von den Schwierigkeiten, welche die Gegenwart zwischen Fürsten und Völkern aufgehäuft hat, gerade daher rühren, daß unsere Prinzen neben vortrefflichen Ansichten über den Hufbeschlag der Pferde und Ausarbeiten der Recruten auch einige Vorurtheile und Unarten der Garnison zu ihrem hohen Beruf mitbringen und viel zu wenig von der Sicherheit, dem edlen Stolz und dem fürstlichen Sinn, welchen die Uebung in den großen Geschäften zu entwickeln vermag.«

Der Fürst lächelte. »Excellenz sind also der Ansicht, daß der Erbprinz eine Universität besuchen soll? Denn eine andere Schule gibt es doch nicht, wenn er einmal diesen Hof verläßt. Der Prinz ist schwach und bestimmbar, die Gefahren, welche für ihn auf diesem Wege liegen, sind doch noch größer als der Verkehr mit einem ungeeigneten Offizier.«

»Es ist wahr,« warf der Obersthofmeister ein, »daß während dieser Jahre der Erbprinz gewisse Zugeständnisse an den Brauch einer Akademie zu machen hat; für den persönlichen Umgang finden sich aber doch auf jeder Universität Söhne [366] alter Familien, welche die Ehre, den Prinzen zu entouriren, wohl würdigen. Es wird vielleicht dort leichter sein, den jungen Herrn von unpassender Kameradschaft frei zu halten als beim Regiment.«

»Nicht diese Gefahr fürchte ich,« versetzte der Fürst, »sondern unpraktische Theorie und zerstörende Ideen, welche dort verkündet werden.«

»Was man bekämpfen muß, sollte man doch vorher kennenlernen,« entgegnete der Obersthofmeister. »Erachten Ew. Hoheit bei der vielseitigen Erfahrung, welche Höchstdenselben ein reiches Leben verlieh, die Bekanntschaft mit diesen Ideen so gefährlich?«

»Wer geht in die Hölle, um fromm zu werden?« frug der Fürst in guter Laune.

»Als ein großer Dichter dies gewagt hatte,« versetzte der Obersthofmeister, »schrieb er sein göttliches Gedicht. Und mein gnädigster Herr, der selbst warmes Interesse für wissenschaftliche Thätigkeit vielfach bewährt hat, wird doch unsere Akademien höchstens für Orte eines milden Fegfeuers halten. Sollte an den Seelen unserer erlauchten Herren nach der Rückkehr von dieser Stätte hie und da ein infernalisches Flämmchen hängen, es wird durch die hohen Interessen des fürstlichen Berufes sehr bald getilgt.«

»Ja,« bestätigte der Fürst mit devoter Miene, »es liegt eine Weihe auf dem Amt des Fürsten, welche das Wesen auch des schwachen Mannes für die großen Interessen umbildet, welche er durch sein Leben darzustellen hat. Aber, Excellenz, es ist schwer, ohne verächtliches Mitleid auf die sentimentale Gefühlsseligkeit neuer Regenten zu sehen und aus Fürstenmunde immer wieder die alten Phrasen von Liebe und Vertrauen gläubig nachgesprochen zu hören. Allerdings sind diese populären Aufwallungen vergänglich, und auch mancher von uns älteren hat einst geschwärmt und da grünes Moos zu pflanzen versucht, wo es von der Sonne versengt wird, aber die furchtbaren Gefahren unserer argen Zeit machen solches Schwanken [367] neuer Regenten immer gefährlicher, und falsche Schritte der ersten Regierungswochen mögen oft die ganze spätere Stellung verderben.«

Der Obersthofmeister erwiederte entschuldigend: »Es ist vielleicht gut, weiser zu sein als Andere, aber nüchterner zu sein als alle Andere, bringt doch nicht zu jeder Zeit Vortheil. Ein wenig Poesie und jugendliche Begeisterung mag man unsern Fürsten auch gönnen. Wenn ich deshalb für des Erbprinzen Hoheit den Besuch einer Universität zu empfehlen wage, so thue ich dies mit der willkommenen Empfindung, daß ich damit auch Ew. Hoheit eigentliche Meinung ausspreche.«

Der Fürst sah scharf nach dem Obersthofmeister, und auf seiner Stirn zog sich ein schnelles Gewölk zusammen. »Wie wollen Sie wissen, was meine geheimen Gedanken sind?«

»Das wäre Ew. Hoheit gegenüber ein ganz vergeblicher Versuch,« versetzte der alte Herr ruhig, »und es würde einem alten Diener wenig anstehen, nach den geheimen Gedanken seines Herrn zu spähen. Aber Höchstdieselben haben bis jetzt dem Erbprinzen immer solche Gouverneure und Begleiter gegeben, welche nicht Militärs waren. Das legte einen Schluß auf Ew. Hoheit Willensmeinung für Jedermann nahe.«

»Sie haben Recht – wie immer,« sagte der Fürst versöhnt. »Und es war mir Freude, Ihre Auffassung in Uebereinstimmung mit der meinigen zu finden. Denn es ist immerhin ein ernster Entschluß, er raubt mir auf längere Zeit die Nähe meines lieben Benno.«

Der Obersthofmeister bewies sein Mitgefühl durch eine stumme Verbeugung. »Der Höchste Entscheid wird allerdings große Veränderungen hervorbringen, denn er entfernt zu gleicher Zeit alle jungen Herrschaften vom Hofe.«

»Alle?« frug der Fürst überrascht. »Der Erbprinz würde kurz nach der Vermählung seiner Schwester abreisen, aber da ist ja noch Prinz Victor, welcher zurückbleibt.«

»Dann bitte ich unterthänigst um Verzeihung,« entgegnete [368] der Obersthofmeister, »ich hatte vorausgesetzt, daß die Abreise des Erbprinzen auch den Uebertritt des Prinzen Victor in eine fremde Armee zur Folge haben würde.«

»Wie kommen Sie dazu?« frug der Fürst überrascht. »Ich habe durchaus nicht die Absicht, den Prinzen Victor in der Fremde zu fourniren, er mag seine Reitkunst bei unsern Schwadronen üben.«

»In diesem Falle würde seine Stellung am Hofe geändert,« sagte der Obersthofmeister nachdenklich, »er erhält den Rang und wird für diese Jahre dem Hofe bei Gelegenheit der stellvertretende Prinz des erlauchten Hauses.«

»Was fällt Ihnen ein, Obersthofmeister?« versetzte der Fürst unwillig.

»Hoheit wollen gnädigst angeben, wie das vermieden werden soll. Das Recht des Blutes kann nie gegeben und nie genommen werden. Der Prinz ist der nächste Anverwandte, die Ordnung des Hofes fordert die entsprechende Stellung, und der Hof wird in tiefster Ehrfurcht darauf bestehen, daß sie dem Prinzen nicht versagt werde.«

»Der Hof,« rief der Fürst verächtlich, »sagen Sie gerade heraus, der Obersthofmeister.«

»Der Obersthofmeister ist von Ew. Hoheit dazu bestellt, über die Ordnung des Hofes zu wachen,« versetzte der alte Herr mit Festigkeit. »Als persönliche Meinung wage ich noch anzufügen, daß für den lebendigen und thatkräftigen Geist des Prinzen Victor der Dienst in dieser Residenz und die Nähe des Hofes nicht vorteilhaft sind; es ist vorauszusehen, daß er öfter Ew. Hoheit Veranlassung zur Unzufriedenheit geben wird und daß der Verlust Höchster Gnade bei dem aufgeweckten und volkstümlichen Wesen des Prinzen eine dauernde Veranlassung zu Medisance und böswilligem Geschwätz sein würde. Deshalb wagte ich anzunehmen, daß die Bedenken, welche eine militärische Carriere des Erbprinzen in fremder Armee hindern, bei Prinz Victor ohne Gewicht sein würden.«

[369] Der Fürst sah finster vor sich hin. Endlich begann er mit Ueberwindung: »Ich muß Ihnen dankbar sein, daß Sie mich auf dieses Bedenken geführt haben. Ich werde nach reiflicher Ueberlegung meinen Entschluß fassen. Seien Excellenz überzeugt, daß ich den warmen Antheil wohl zu schätzen weiß, den sie mir und den Meinen bewahren.« Er neigte das Haupt, der Obersthofmeister verließ das Zimmer; und die Falten im Antlitz des Fürsten zogen sich drohend zusammen, als er dem Alten nachsah.

Die Folge dieser Unterredung war, daß der Erbprinz auf eine Universität gesandt wurde. Dies Ereigniß ward an der Universität im Schein der höllischen Flämmchen, welche hie und da loderten, nicht ganz so aufgefaßt als am Hofe.

Der Magnificus trat eines Abends bei Professor Werner ein und begann, Ilse begrüßend: »Sie haben Ihrem Lande ein gutes Beispiel gegeben, als Sie zu uns kamen, von oben ist der Universität die Mittheilung geworden, daß im nächsten Semester Ihr Erbprinz bei uns seine Studien beginnen will.« Zum Professor gewandt fuhr er fort: »Man erwartet, daß wir Alles thun werden, den jungen Herrn zu fördern, was mit den Pflichten unseres Amtes verträglich ist. Ihnen habe ich den Hohen Wunsch auszudrücken, daß auch Sie dem Erbprinzen auf seinem Zimmer eine Vorlesung halten.«

»Ich lese kein Prinzencollegium,« erwiederte der Professor, »dazu ist meine Wissenschaft zu umfangreich, sie läßt sich nicht in eine Nußschale packen.«

»Vielleicht würde sich doch irgendein populäres Thema ergeben,« mahnte der kluge Magnificus. »Mir scheint fast höherer Werth, als auf den Inhalt der Vorlesung, darauf gelegt zu werden, daß Ihre Person mit dem Erbprinzen in wohlthuende Verbindung tritt.«

»Wenn der Prinz sich in meinem Hause wohlfühlen und unserm Brauch fügen kann, so bin ich zu jeder anständigen Aufmerksamkeit erbötig. In meinen Vorträgen führe ich seinetwegen [370] keine Aenderung ein. Besucht er als Student eines meiner Collegien, gut. Auf seinem Zimmer lese ich weder ihm noch jemand Anderem.«

»Wird man die Weigerung nicht als eine Unfreundlichkeit empfinden?« wandte der Rector ein.

»Wohl möglich,« versetzte der Professor, »und ich gestehe Ihnen, daß mir dies im vorliegenden Fall besonders peinlich ist. Aber keine persönliche Rücksicht soll mich bestimmen, von einem Grundsatz abzuweichen. Ich habe früher einmal die Erfahrung gemacht, wie demüthigend es ist, einem Knaben, dem die nöthige Vorbildung, dem Verständniß und inneres Interesse fehlte, ernste Männerarbeit zurechtzuschneiden. Ich thue es nie wieder. Dann aber handle ich im Interesse dieser jungen Herren selbst, soviel ich als Einzelner vermag, dessen Studien von der Heerstraße fürstlicher Bildung weitab liegen. Wollen sie von uns etwas lernen, was für ihr Leben fruchtbar ist, so sollen sie es ordentlich lernen, und sie sollen mit den Vorkenntnissen zu uns kommen, welche ihnen möglich machen, von der Wissenschaft Nutzen zu ziehen. Ich habe hie und da aus der Ferne gesehen, wie traurig es mit der innern Bildung der Mehrzahl bestellt ist. Das flache zerstreuende Wesen ihrer Erziehung, welches ihnen fast die Möglichkeit nimmt, an irgendeinem Gebiete geistiger Arbeit ein warmes Interesse zu nehmen, macht sie auch später für das Leben und für ihre Regentenpflichten wenig brauchbar. Und wir nehmen Theil an diesem Unrecht, wenn wir Jünglinge, die in Wahrheit nicht die Kenntnisse eines Tertianers haben, mit dem Schein und Firniß wissenschaftlicher Cultur überziehen. Denn darauf ist es doch in der Regel abgesehen. Man braucht sicher nicht die Universität zu besuchen, um ein tüchtiger Mann zu werden; wenn man aber diesen schwierigen Weg einschlägt – und ich meine allerdings, jeder künftige Regent sollte das –, so darf es nur in einer Weise geschehen, welche auch tüchtige Resultate sichert. Ich verurtheile nicht die Lehrer, welche anders denken,« schloß [371] der Professor, »es gibt ohne Zweifel Disciplinen, bei denen gedrängte Darstellung einiger Hauptsätze möglich und nützlich ist. Die Alterthumswissenschaft wenigstens gehört nicht dazu. Und deshalb bitte ich zu entschuldigen, wenn ich mich dem jungen Herrn für Privatstunden versage.«

Der Rector zuckte die Achseln und sprach diesen Grundsätzen seine Anerkennung aus.

»Mein armer Erbprinz,« rief Ilse bedauernd, als der Rector sich entfernt hatte.

»Mein armer Codex,« parodirte der Professor lachend.

»Aber eine Ausnahme hast du doch gemacht,« wandte Ilse ein, »bei deinem Weibe.«

»Hier ist die Lehrstunde nur der Leitfaden, unser ganzes Leben die Erläuterung,« versetzte der Professor. »Den künftigen Landesherrn von Bielstein aber wirst du unter diesen Umständen wohl nur aus der Ferne als dein stilles Eigenthum betrachten können; und auch mir schwindet eine gewisse unsichere Hoffnung, welche ich auf das flüchtige Begegnen mit seinem Vater baute. Denn es ist allerdings wahrscheinlich, daß man dort meine Weigerung als launischen Hochmuth auffaßt.«

Darüber hätte der Professor ruhig sein können. Es wird dafür gesorgt, daß solche Auffassung nicht zu rechter Zeit an die Adresse gelangt, für welche sie bestimmt ist. Die Schärfe wird umgebogen, die Spitze abgebrochen und zuletzt hält man in hoher Luft dergleichen Gesinnung für so ungeheuerlich, daß man sie nur den verworfensten Menschen zutraut. Dafür galt der Professor keineswegs. Schon der Rector war vorsichtig genug, die Weigerung Werners durch Gründe zu verdecken, und in der Residenz des Fürsten hatte man einmal beschlossen, daß der Erbprinz ein Zuhörer des Professors werden sollte. Aus dem eingesandten Verzeichniß der Vorlesungen wurde ein kleines Collegium Werners ausgesucht: Besichtigung und Er klärung antiker Bildwerke in Gipsabgüssen, bei welchen der [372] Erbprinz mit seinem Begleiter wenigstens nicht unter allerlei bunten Mützen zu sitzen nöthig hatte, sondern in fürstlicher Isolirung umherwandelnd gedacht werden konnte.


Wieder wogten die Wellen der reifen Aehren, als Ilse mit ihrem Gatten dem Gute des Vaters zufuhr. Ein Jahr, reich an Freuden, nicht frei von Schmerzen, lag hinter ihr, auch sie hatte jetzt eine kleine Geschichte, Frieden mit Streit, Wachsthum und Vergehen am eigenen Leben erfahren. Wer in ihr Antlitz sah, der konnte an der bleichen Wange das Leid erkennen, welches sie getroffen, und an dem sinnenden Blick, daß ernste Gedanken durch ihr Haupt gezogen waren. Aber als sie auf der Höhe das dunkle Dach des Vaterhauses erblickte und an der wetterblauen Holzkirche vorbeifuhr, da war Großes und Kleines vergessen und sie empfand sich wieder als Kind in dem Frieden der Heimat, der ihr jetzt so wohlthuend und trostbringend erschien. Als sich die Gutsleute um die Thür drängten, als die Geschwister heranstürmten und der Vater alle überragend den Gatten und sie selbst aus dem Wagen hob, da hielt sie Jeden in stummem Gruß umfangen, aber als der kleine Franz an ihr aufsprang, drückte sie ihn so lange an ihr Herz, bis sie die Haltung verlor und in Thränen ausbrach, so daß ihr der Vater das Kind vom Arme nehmen mußte.

Es konnte nur ein kurzer Besuch sein, den die Gatten auf dem Gut machten, Amtsgeschäfte zwangen den Professor zu schneller Heimkehr, er hatte Ilse den Vorschlag gemacht, sie länger beim Vater zu lassen und abzuholen; sie aber wollte nicht.

Prüfend sah der Vater auf Haltung und Antlitz der Tochter und ließ sich von dem Professor immer wieder erzählen, wie schnell und gut sie in der Stadt heimisch geworden war.

Unterdeß flog Ilse durch Hof und Garten hinaus in die [373] Landschaft, wieder leichtbeflügelt wie die kleinen Geschwister, die ihre Hand nicht loslassen wollten. »Alle seid ihr gewachsen,« rief sie, »mein Krauskopf aber am meisten, der wird werden wie der Vater. Ein Landwirth, Franz.«

»Nein, ein Professor,« erwiederte der Knabe.

»Ach du armes Kind,« sagte Ilse.

Die Feldarbeiter verließen die Garben und eilten ihr entgegen, es gab viel zu grüßen und zu fragen: der Großknecht hielt seine Pferde an, das Sattelpferd, der Schimmel, rückte heftig mit dem Kopfe. »Er kennt Sie recht gut,« sagte der Knecht und klatschte lustig mit der Peitsche. Ilse ging in das Dorf und trug ihren Gruß zu den Toten und den Lebendigen, und als der kranke Benz sie endlich losgelassen hatte, rief er nach seiner Tafel und verfertigte mit zitternder Hand ein Freudengedicht. Bedächtiger wandelte die Frau Professorin durch den Hof. Vom Zuge der Mägde geleitet, schritt sie den Gang zwischen den Rindern entlang, trotz ihrem modischen Kleide der sagenhaften Frau Berchta ähnlich, welche Segen streuend durch Stall und Haus des Landmanns gleitet. Vor jedem gehörnten Haupte hielt sie an, die Kühe hoben die Mäuler zu ihr auf und brummten, bei jeder war eine wichtige Neuigkeit zu berichten. Die Mägde wiesen ihr stolz die angebundenen Kälber und baten um Namen für die erwachsenen Fersen; denn der Herr hatte befohlen, daß Ilse das Jungvieh mit Namen versehen sollte, und die Mägde freuten sich über die vornehmen Stadtnamen Kalypso und Xanthippe. – Alles vertraut und Alles wie sonst, und doch bei jedem Schritt Neues für Auge und Ohr.

Clara gab ihr Rechenschaft über die Wirthschaft; das Mädchen hatte sich trefflich gehalten, ihr Lob, welches die Mamsell und, was wichtiger war, die Großmagd in vertraulicher Unterredung ertheilten, that Ilse sehr wohl und sie sagte: »Jetzt erst bin ich ganz beruhigt, ich kann hier entbehrt werden.«

Gegen Abend suchte der Professor seine Frau, die seit Stunden [374] verschwunden war. Er hörte den Lärm der Kinder am Bach und dachte sich, wo Ilse jetzt sein müsse. Als er um den Stein der Höhle bog, sah er sie im Halbdunkel sitzen, das Auge nach dem Vaterhause gewandt. Er rief ihren Namen und streckte die Arme nach ihr aus, sie flog ihm an die Brust und sagte leise: »Ich weiß, daß an deinem Herzen meine Heimat ist; habe Nachsicht, wenn die alte Zeit mir jetzt mächtig wird.«

Am späten Abend, als der Vater den Professor in das Schlafzimmer führte und mit ihm noch Geschäfte und Politik besprach, schickte Ilse ihre Schwester Clara zu Bett und sie setzte sich auf den Stuhl. Da der Vater hereinkam, das Licht vom Tische zu holen, fand er die Ilse wieder an ihrer alten Stelle zum Nachtgruß und sie hielt ihm den Leuchter hin. Er setzte das Licht auf den Tisch, ging, wie er pflegte, vor ihr auf und ab und begann: »Du bist bleicher und ernster als du warst. Wird das vorübergehen?«

»Ich hoffe, es wird vorübergehen,« wiederholte die Tochter. – Nach einer Weile fuhr sie fort: »Man denkt über Vieles anders in der Stadt und man glaubt anders, Vater.«

Der Vater nickte mit dem Kopf. »Das war's,« sagte er, »und deshalb habe ich um dich gesorgt.«

»Es wird mir unmöglich, schwere Gedanken los zu werden,« sprach Ilse leise.

»Armes Kind,« rief der Landwirth, »dabei dir zu helfen, geht über meinen Verstand. Denn bei uns auf dem Lande ist es leicht, an Vatersorge zu glauben, wenn man über das Feld geht und sich des Wachsthums freut. Aber laß dir von einem Landmann ein vertrauliches Wort sagen. Es ist in allen Dingen auf Erden Bescheidenheit nöthig und Entsagung. Wir auf dem Lande sind nicht besser und gescheidter, weil wir wenig um das sorgen, was dem Menschen räthselhaft ist. Wir haben keine Zeit zu grübeln, das ist bequem, und wenn uns ein Gedanke erschreckt, hilft die Arbeit darüber weg. Aber manchmal kommt doch die Ungewißheit. Auch ich habe Tage gehabt [375] und ich habe sie noch, wo ich mir meinen Kopf zerbreche, obgleich ich weiß, daß ich nicht auf's Reine kommen kann; und deshalb suche ich mir jetztsolche Gedanken fern zu halten. Das ist Vorsicht, aber es ist nicht Tapferkeit. Du bist hineingesetzt in ein Leben, wo dir das Hören und Nachdenken unvermeidlich wird. Du mußt dich durchkämpfen, Ilse. Vergiß dazu zweierlei nicht. Die Menschen haben von je sehr verschieden angesehen, was ihnen nicht ganz verständlich war, und sie haben einander deshalb seit alter Zeit gehaßt und wie Kannibalen geschlachtet, nur weil Jeder gegen den Andern Recht haben wollte. Darin liegt eine Warnung. Aber Eines hat sich immer bewährt gegenüber dem Zweifel: seine Pflicht thun, alle Tage das Nächste thun und im Uebrigen vertrauen, daß man nicht deshalb verloren ist, weil man Eines und das Andere denkt. Bist du der Liebe deines Mannes sicher?«

»Ja,« versetzte Ilse.

»Und hast du eine aufrichtige Achtung vor dem, was er thut, für dich und für alle Andern?«

»Ja,« rief Ilse.

»Dann ist Alles in Ordnung,« sagte der Vater, »denn an seinen Früchten erkennen wir den Acker. Um das Uebrige grämen wir uns nicht heut, nicht in der Zukunft. Gib mir das Licht und geh zu deinem Mann. Gute Nacht, Frau Professorin.«

Zweiter Theil

Drittes Buch
1. Die Buttermaschine
1.
Die Buttermaschine.

Im großen Saale der Universität war ein gewähltes Publicum versammelt, Würdenträger der Regierung und Stadt, Männer der Wissenschaft, hinter ihnen die Studenten, welche ab- und zuströmend die Thür des großen Portals in Bewegung erhielten. Oben aber auf der Gallerie saßen die Frauen der Professoren, in der Mitte der ersten Reihe Ilse mit Laura auf dem Ehrenplatz. Heut war für Ilse ein großer Tag, denn der Glanz der höchsten akademischen Würde sank auf das Haupt ihres Gatten. Felix Werner war zum Rector Magnificus gewählt und sollte hier sein Amt antreten.

In langem Zuge schritten die Lehrer der Universität in den Saal, vor ihnen die Pedelle in altertümlicher Amtstracht, große Scepter in der Hand; die Herren selbst nach den Facultäten geordnet. Die Theologie begann den Zug und die Philosophie schloß den Reigen, diese an Zahl der Männer und Bedeutung die stärkste Abtheilung, alle zusammen aber bildeten eine stattliche Genossenschaft, neben einzelnen Nullen gingen hochberühmte Herren, auf welche das Land stolz sein durfte, und es war eine Freude für Jedermann, soviel gelehrtes Wissen körperlich versammelt zu sehen. Nur die würdige Darstellung im Zuge gelang den großen Geistern nicht, sie hielten schlecht Reihe, mancher sah aus, als ob er mehr an seine Bücher denke als an den Eindruck, welchen seine Gestalt [3] dem Publicum machen sollte, einer hatte sich gar verspätet – er hieß Raschke – und kam sorglos und vertraulich grüßend hinter den jüngsten Privatdocenten hergelaufen. Den Zug empfing ein lateinischer Gesang des akademischen Sängerchors, nicht verständlich, aber festlich. Die Professoren ordneten sich auf ihren Sitzen, der bisherige Rector betrat ein hohes, mit Blumen verziertes Katheder, hielt zuerst eine gelehrte Rede über den Nutzen, welchen vor längerer Zeit das unruhige Volk der Araber der medicinischen Wissenschaft gebracht hat, und berichtete dann über die akademischen Ereignisse des letzten Jahres. Der Vortrag war schön und Alles warsehr feierlich, die Ehrengäste der Stadt und Regierung saßen unbeweglich, die Professoren hörten ergeben zu, die Studenten knarrten nur wenig an der Thür, und wenn von dem gemalten Plafond der Aula zuweilen die Langeweile ihre großen Fledermausflügel gegen die Augen der Zuhörer herabbewegte, wie bei akademischen Schaustellungen unvermeidlich ist: – Ilse merkte heut nichts davon. Als Magnificus den Vortrag beendet hatte, bat er mit einer zierlichen Handbewegung und den verbindlichsten Worten seinen Nachfolger, zu ihm auf die Erhöhung zu steigen. Ilse erröthete, als ihr Felix das Katheder betrat. Der Rector nahm sein Barett ab, die goldene Kette und den Mantel, der wie ein alter Fürstenmantel aussah, und Alles setzte und hing er um seinen Nachfolger mit warmen Wünschen und Aeußerungen der Hochachtung. Laura flüsterte ihrer Nachbarin zu: »Wenn unser Herr Professor ein Schwert an der Seite trüge, wäre er ganz wie ein Kurfürst auf den Bildern draußen;« und Ilse nickte freudig, es war genau ihre Ansicht. Jetzt aber trat Werner in Purpurmantel und Kette vor. Die Pedelle kreuzten ihre Scepter zu beiden Seiten des Katheders und der neue Rector hielt majestätisch eine Ansprache an Professoren und Studenten, worin er Günstiges erbat und gutes Regiment verhieß. Wieder begann der akademische Chor ein lateinisches Triumphlied, und der Zug der Universitätslehrer bewegte sich [4] in das Nebenzimmer zurück, wo die Professoren ihren Rector händeschüttelnd umstanden und die Pedelle Purpurmantel und Kette in Kästen packten, zur Schonung für spätere Zeiten. Auch Ilse empfing die Glückwünsche der Frauen und des Theetisches, welcher sich an der Gallerietreppe aufstellte und sie lustig mit »Magnificenz« begrüßte.

Zu Haus fiel Ilse dem Gatten um den Hals und sagte ihm, wie stattlich er in seinem Ornate ausgesehen habe. »Was die Zigeunerin sprach,« rief sie, »heut ist es erfüllt, heut trug der Mann, den ich liebe, den Fürstenhut, sei gegrüßt du mein Fürst und Herr.«

Für den Nachmittag dieses großen Tages war der Besuch des Erbprinzen angemeldet, Ilse sah noch einmal in die Winkel der blanken Wohnung, damit sie als Hausfrau keine Unehre erlebe, und ließ sich von dem Gatten über die Form unterrichten, in der man mit vornehmen Herren spricht. »Damit ich Bescheid weiß, wenn er sich auch um mich kümmert. Ich bin unruhig, Felix, denn es ist doch etwas Großes, den künftigen Herrn der Heimat kennen zu lernen.«

Mit dem Stundenschlag fuhr der Wagen vor, Gabriel in seinem besten Frack führte die Herren an das Zimmer des Rectors. Unterdeß ging Ilse erwartungsvoll in ihrer Stube auf und ab. Nicht lange, und ihre Thür wurde geöffnet, zwei Herren traten, von dem Gatten geleitet, ihr entgegen. Da war der Prinz, eine zarte Gestalt unter Mittelgröße, schwarzes Haar, ein kleines Gesicht mit weichen Zügen, über den feinen Lippen ein dunkler Streif, welcher den beginnenden Bart andeutete, die Haltung etwas schlottrig und verlegen, so machte er den Eindruck eines zarten und schwächlichen Menschenkindes. Befangen trat er auf Ilse zu und sagte ihr so leise, daß sie kaum die Worte verstand, wie sehr er sich freue, in ihr eine Landsmännin zu begrüßen.

Ilse erhielt durch sein schüchternes Wesen ihren Muth zurück, und da sie in dem Anblick ihres jungen Prinzen ein [5] wenig bewegt war, so begegnete ihr, daß sie ihm eine kleine Rede hielt: »Wir aus unserm Lande hängen an der Heimat, und da ich jetzt Ew. Hoheit so nahe vor mir sehe, wage ich auch zu sagen, daß ich Ew. Hoheit sehr gut wiedererkenne. Sie waren noch ein ganz junger Herr und ich war ein halbwüchsiges Mädchen, da sah ich Sie zuerst neben Ihrem Herrn Vater in der Residenz. Ew. Hoheit saßen auf einem sehr kleinen Pferde; während mein Vater und ich grüßten, stand das Pferd still und wollte nicht weitergehen, Sie sahen mich freundlich an, ganz mit denselben Augen wie jetzt. Ich hielt ein Paar Rosen in der Hand, und weil Sie unser junger Prinz waren, bot ich Ihnen die Rosen an. Aber Sie schüttelten den Kopf und Sie konnten auch nichts nehmen, weil Sie den Zügel halten mußten, und ich glaube, Sie waren etwas ängstlich auf dem Pferde. Nur das Pferd fuhr mit seinem Kopfe nach den Blumen. Da kam ein Großer in Uniform herangeritten, faßte das Pferd, und wir traten zurück. Sie sehen, ich weiß noch Alles, denn für ein Mädchen vom Lande ist so etwas eine wichtige Erinnerung. – Aber erweisen Hoheit mir doch die Ehre, Platz zu nehmen.«

Der Begleiter des Prinzen, Kammerherr von Weidegg, begrüßte Ilse verbindlich; er war ein Mann in mittlen Jahren, groß, von guter Haltung und keinem üblen Gesicht. Er übernahm die Leitung der Wechselreden, und ein kleines Gespräch lustwandelte über die Berge und Wälder des Heimatlandes. Es blieb ein anständiger Austausch von Worten, welcher sich ungewöhnlicher Gedanken gänzlich enthielt. Der Prinz war schweigsam, spielte mit einem Augenglase und sah befremdet und vorsichtig auf die stattliche Professorsfrau, welche ihm gegenüber saß. Zuletzt frug der Kammerherr nach den Stunden, wo dies Zimmer sich Fremden öffne, und drückte den Wunsch aus, dem Prinzen und ihm möge gestattet sein, zuweilen einzutreten. »Von den wenigen Beziehungen, welche die fremde Stadt bietet, ist uns dies Haus besonders werthvoll, [6] in welchem mein durchlauchtigster Prinz das Recht beanspruchen darf, nicht ganz als Fremder behandelt zu werden.« Das alles war recht sauber und verbindlich, und als der Professor die Fremden bis an die Entréethüre geleitet hatte, sagte er zu seiner Frau: »Nun, sie sehen ja menschlich genug aus.«

»Ich habe mir Prinzen ganz anders gedacht, Felix, keck und übermüthig, dieser hatte nicht einmal einen Stern auf der Brust.«

»Der war nur in die Tasche gesteckt,« tröstete der Professor.

»Aber er sieht aus wie ein guter Junge,« schloß Ilse, »und da er mein Landsmann ist, soll er auch gut behandelt werden.«

»So ist es recht,« versetzte der Professor lachend.

Es machte sich in den nächsten Wochen allmählich, daß der Erbprinz und sein Kammerherr die gute Behandlung behaglich fanden. Der Kammerherr bewährte sich als angenehmer Mann, er hatte größere Reisen gemacht, hatte Einiges erlebt, Vieles gesehen und allerlei gelesen, auch was nicht gerade am Wege liegt; er sammelte Autographen und war dem menschlichen Geschlecht durch kein Laster und keine üble Gewohnheit lästig. Während einem längeren Aufenthalte in Rom hatte er mit alten Bekannten des Professors in Verbindung gestanden, er war durch die Ruinen Pompeji's gewandelt und zeigte ein wohlthuendes Interesse an der Einrichtung altrömischer Häuser. Außerdem verstand er gut zu hören und zu fragen und erzählte zuweilen mit anständiger Medisance Anekdoten von vielgenannten Personen. So geschah es, daß der Professor gern mit ihm verkehrte, und daß er am Theetisch Ilse's den Wirthen willkommen, den Gästen nicht unbequem war. Auch ihm selbst schien der Verkehr mit den gelehrten Herren Freude zu machen, er besuchte den Doctor und betrachtete bei diesem alte Holzschnitte, er behandelte den Professor Raschke mit rücksichtsvoller Artigkeit und begleitete nebst seinem Prinzen den Philosophen an einem klaren Winterabend bis zu der entlegenen Wohnung, [7] während Raschke sehr interessante Beobachtungen über den Schlaf der Pflanzen mittheilte.

Daß der Erbprinz sich ebenso gut unter den Professoren zurechtfand, konnte man nicht behaupten; er hörte dem Gespräch der Männer leidend zu, wie einem akademischen Hörer ziemte, und sprach durchaus und zu rechter Zeit das Schickliche. Nur zuweilen deutete er durch leises Knipsen seiner Lorgnette an, sein Gemüth werde wohl eine andere Art von Unterhaltung nicht ungern ertragen.

Ilse war unzufrieden, wenn er mit der Lorgnette knackte, und wenn sie zu ihm hinübersah, hörte das Knipsen auf.

Denn Ilse wollte, daß er sich unter den andern Männern recht stattlich hervorthun sollte, und ihr war, als könnten die Herren ihr selbst einen Vorwurf daraus machen, daß ihr Prinz für Männergeschäfte kein rechtes Herz erwies. Sie war deshalb als Hausfrau mit zarter Aufmerksamkeit um ihn bemüht; sie wagte den Rath, daß er den Thee nicht zu stark trinken möchte, und bereitete ihm selbst die Mischung. Der Prinz ließ sich das gern gefallen, er saß am liebsten auf dem Stuhl neben ihr und sah ihr freundlich zu, wie sie um den Tisch wirthschaftete. Nur ihr gegenüber ging er ein wenig aus seiner vorsichtigen Zurückhaltung heraus, er erzählte ihr, was er von Merkwürdigkeiten der Stadt gesehen, und wenn er gerade nichts zu sprechen hatte, machte er wenigstens ihr Amt leicht, er stellte den Sahntopf vor sie hin und hatte ein scharfes Auge auf die Zuckerbüchse, wenn er meinte, daß Ilse für sich davon Gebrauch machen könne.

Einst, als er wieder schweigsam neben ihr saß und die Herren gerade zornig über der Bibliothekverwaltung des Vaticans zu Gericht saßen, machte Ilse den Vorschlag, ein Werk anzusehen, das ihr der Gatte gekauft hatte, gutgestochene Bildnisse berühmter Gelehrten und Künstler. Sie gingen zu der Lampe des Nebenzimmers, der Prinz betrachtete mit matter Theilnahme die Köpfe. »Von manchem weiß ich nichts,« begann [8] Ilse, »als einige Worte, die mir mein Mann über sie erzählt hat. Ihre Bücher habe ich nicht gelesen und von den schönen Werken, die sie gemalt und componirt haben, kenne ich auch gar wenig.«

»Mir geht es gerade so,« versetzte der Prinz ehrlich, »nur die Musiker kenne ich etwas.«

»Und doch ist es eine Freude, die Gesichter anzusehen,« fuhr Ilse fort, »man denkt bei Jedem, wie der Charakter und die Vorzüge dieses Mannes sein möchten, und wenn man Jemand fragt, der mehr weiß, ergibt sich manchmal eine Bestätigung und manchmal ein Irrthum. Das hilft Einem die Männer lieb und vertraulich zu machen und man sucht Gelegenheit, auch mit ihrer Kunst und Weisheit bekannt zu werden. Ich mühe mich jetzt, von einem nach dem andern mehr zu erfahren. Wenn man aber etwas von einem großen Manne gelesen hat und sein Bild nach einiger Zeit wieder ansieht, dann ist es, als schaute man in das Gesicht eines guten Freundes.«

»Lesen Sie gern?« frug der Prinz aufblickend.

»Langsam,« erwiederte Ilse, »denn von ernsten Dingen geht nicht viel auf einmal in den ungelehrten Kopf, besonders wenn es schwere Gedanken erregt.«

»Ich lese nicht gern,« versetzte der Prinz, »am wenigsten, was einem so vorgelegt wird. Und mir ist es langweilig, denn ich habe nichts Ordentliches gelernt und ich weiß nirgends recht Bescheid.«

Das sagte er mit Bitterkeit. Ilse erschrak über das Geständniß. »Dem werden Ew. Hoheit jetzt abhelfen, es ist ja hier so schöne Gelegenheit.«

»Ja,« versetzte der Prinz, »vom Morgen bis zum Abend, und Alles durcheinander, ich bin jedesmal froh, wenn die Stunden zu Ende sind.«

Ilse betrachtete den jungen Herrn mit großer Betrübniß. »Das ist ja für Ew. Hoheit ein rechtes Unglück. Haben Sie denn nichts, was Ihnen zu wissen oder zu besitzen recht lieb ist? Eine Sammlung von Steinen oder Schmetterlingen oder [9] von seltenen Büchern oder Kupferstichen wie der Doctor drüben? Dabei hat man das ganze Jahr sein Vergnügen und man lernt auch allerlei, wenn man sich diese werthen Sachen zusammenträgt.«

»Wenn ich dergleichen haben will, kann ich Alles in Haufen gesammelt haben,« versetzte der Prinz. »Aber wozu? es steht schon soviel Zeug um mich herum. Wenn ich heut Steine suchen wollte, geriethen alle Leute um mich in Aufregung, und es würde mir entweder verwehrt oder eine ganze Sammlung ins Haus getragen.«

»Das hilft freilich nichts,« bedauerte Ilse, »man muß selbst um das Einzelne sorgen, dann kommt die Freude. Ein Mensch kann nicht Alles wissen, aber etwas muß jeder haben, was er ordentlich versteht. Wenn ich mein kleines Leben vergleichen dürfte mit dem großen, das Ew. Hoheit erwartet, so könnte ich Ihnen wohl etwas erzählen. Als meine gute Mutter sich zu ihrer letzten Krankheit einlegte, war ich ein ganz junges Ding, aber ich wollte durchaus an ihrer Stelle die Wirthschaft führen. Da fand sich, daß ich mir nicht Rath wußte. Ich verstand nicht einmal, ob die Leute fleißig oder träge waren, ich kannte auch nicht die Handgriffe, und wenn Jemand etwas schlecht machte, konnte ich's nicht lehren. Deshalb saß ich an einem Abend muthlos und ärgerlich über mich selbst, und ich glaube, ich weinte. Da sagte mein guter Vater: du durftest nicht soviel auf einmal übernehmen, du sollst erst etwas genau lernen. Und er wies mich in die Molkerei. Wissen Ew. Hoheit, was das ist?«

»Nicht so recht,« versetzte der Prinz.

»Das ist ja die Milchwirtschaft des Gutes, ich will Ew. Hoheit sagen, was dabei zu thun ist.«

Sie erzählte ihm die ganze Tagesarbeit des Milchkellers. »Und jetzt machte sich's so. Ich griff selbst mit an, wurde fest in der Arbeit und bekam ein Urtheil über die Mägde. Ich lernte jede Kuh genau kennen und lernte auch, welche Art [10] für uns am besten war und warum. Denn nicht jede Race paßt überallhin. Bald bekam ich den Ehrgeiz, Butter und Käse recht fein zu machen. Ich erkundigte mich bei den Klugen und las auch zuweilen in einem Buch darüber. Dann besprach ich mit dem Vater Verbesserungen. Und gerade als ich wegkam, war die Rede davon, statt unseres großen Butterfasses von Holz eine neue Maschine anzuschaffen. Sie ist jetzt aufgestellt, soll sehr gut sein und schöne Butter machen, ich habe sie aber noch nicht gesehen. Denn Ew. Hoheit kennen doch das Buttern?«

»Nein,« versetzte der Prinz.

Ilse beschrieb es ihm ein wenig. »Wenn aber der Vater um Johanni die große Rechnung machte, da war mein Stolz, daß die Kühwirthschaft in jedem Jahr höhern Ertrag gab. Mich ärgerte nur, daß der Vater über meinen kleinen Gewinn lachte, denn der eigentliche Werth der Kühe lag für ihn in ganz andern Dingen.« Auch darüber machte Ilse eine leise Andeutung. »Und sehen Hoheit,« fuhr sie fort, »erst von dieser Zeit ab fühlte ich mich in der Welt recht zu Hause. Noch jetzt, wenn ich einmal in eine Fabrik gehe, ertappe ich mich darüber, daß ich sie wie eine andere Art Molkerei ansehe, und wenn von Staatseinnahmen und Regierung die Rede ist, vergleiche ich sie noch heut mit unserer Wirthschaft. Aber es ist wohl thöricht, daß ich Ew. Hoheit von Butter und Käse unterhalte.«

Der Prinz sah ihr treuherzig in die Augen. »Ach, gnädige Frau,« sagte er, »Sie sind glücklich daran gewesen, mir aber ist es nie so gut geworden, daß ich bei dem, was mir lieb war, recht ruhig beharren konnte. Vom Morgen bis zum Abend bin ich erzogen worden und von Einem zum Andern geschleppt. Wenn ich als Kind in den Garten ging, war immer die Gouvernante dabei oder der Erzieher, und wenn ich im Grase sprang, wurde darauf gehalten, daß meine kleinen Sprünge auch für andere Leute gut aussahen, niederkauern durfte ich [11] nicht; und als ich mich einmal auf den Kopf stellen wollte, wie ich bei andern Knaben gesehen hatte, gab es Entsetzen wegen der Unschicklichkeit und Arrest. Jeden Augenblick hieß es, das paßt nicht für einen Prinzen, oder das ist jetzt nicht an der Zeit. Sooft ich aus der Stube kam, starrten mich die fremden Leute an, auch ich mußte immer auf sie sehen und grüßen; mir wurde gesagt, wem ich die Hand geben durfte und wem nicht, wen ich anreden durfte und wen nicht. So ging es alle Tage. Immer waren es leere Redensarten, in drei Sprachen, und jeden Tag war der Gedanke obenan, daß man sich nur gut präsentire. Einmal wollte ich mir mit der Schwester einen kleinen Garten anlegen, sogleich wurde der Hofgärtner gerufen, der uns graben und pflanzen mußte. Da war's uns vom ersten Tage verleidet. Dann wollten wir Theater spielen und hatten uns schon selbst ein Stück ausgedacht, wieder wurde uns gesagt, das sei dummes Zeug, und wir mußten ein Spiel auswendig lernen mit französischen Redensarten, wo die Kinder immer riefen, wie lieb sie Papa und Mama hätten, und wir hatten gar keine Mutter. Ueber diesem Zurichten für den Schein ist meine Kinderzeit vergangen. Ich versichere Sie, ich weiß nichts gründlich, und wenn ich jetzt hier in dem ewigen Lernen bleibe, so habe ich das Gefühl, daß es mir gar nichts helfen wird, und ich komme mir sehr unnütz vor in der Welt.«

»Ach, das ist traurig,« rief Ilse in tiefem Mitgefühl. »Aber ich flehe Ew. Hoheit an, verlieren Sie nur nicht den Muth. Es ist unmöglich, daß das Leben unter so vielen tüchtigen und gescheidten Männern, die Sie hier finden, ohne Segen für Sie sein sollte.«

Der Prinz schüttelte den Kopf.

»Denken doch Ew. Hoheit an Ihre Zukunft,« fuhr Ilse leise fort. »Ach, Sie haben alle Ursache, zuversichtlich und tapfer zu sein. Ihr Amt ist doch das höchste auf Erden. Wir andern arbeiten und sind glücklich, wenn wir ein einzelnes [12] Menschenleben vor dem Untergange bewahren, und wenn es noch so klein und elend ist, Ihnen aber wird einmal Wohlsein und Leben von vielen Tausenden in die Hand gegeben. Was Sie für Schule und Bildung thun durch gute oder schlechte Lehrer der Seelen, und ob Sie für Krieg oder Frieden stimmen, das kann ein ganzes Land glücklich machen oder verderben. Wenn ich an diesen erhabenen Beruf denke, kommt mir die Ehrfurcht vor Ihnen, und ich möchte Sie auf meinen Knieen anflehen, daß Sie thun, was möglich ist, um sich zu einem tüchtigen Fürsten zu machen. Dafür ist jetzt der beste Rath, daß Sie guten Willen zeigen, auch das zu lernen, was Ihnen langweilig ist. Und im Uebrigen vertrauen Sie der Zukunft, auch Ihnen wird die Freude am Leben und das Gefühl der Tüchtigkeit kommen.«

Der Prinz schwieg, denn die Erwähnung seines künftigen Fürstennamtes gehörte zu den Anspielungen, welche bei Hofe verpönt sind und die im stillen Geiste zu verfolgen einem Thronerben noch weniger als Andern erlaubt ist.

»Gelehrte Vorlesungen höre ich genug,« sagte endlich der Prinz, »ich wollte aber lieber, ich wäre bei einem Landwirth in der Lehre gewesen, wie Sie.«

Sie kehrten zu den Herren zurück, und der Prinz nahm den Rest des Abends aufmerksam an der Unterhaltung Theil. Als er sich entfernt hatte, sagte Ilse zu ihrem Gatten: »Da geht er hin, er hat, was Tausende froh machen würde, und doch ist er unglücklich, denn sie haben ihm sein ehrliches Herz in Leder eingenäht, wie einer Gliederpuppe. O, sei gütig gegen ihn, Felix, und gönne ihm manchmal etwas von deiner Seele, damit ein Theil deiner Sicherheit und Kraft auf ihn übergehe.«

Der Gatte küßte sie auf das Haupt und sagte: »Dir wird das leichter möglich sein als mir. Aber er selbst hat sich das Rechte gesagt, drei Jahre bei deinem Vater in der Wirthschaft wären für ihn und sein Land die beste Hilfe.«

Beim Frühstück des nächsten Morgens nahm der Kammerherr [13] die Zeitungen aus der Hand des Lakaien, der Prinz saß schweigend am Tisch, spielte mit dem Kaffelöffel und beobachtete eine Fliege, welche vom Rande des Sahntopfes unehrerbietige Versuche machte, in die fürstliche Milch zu sinken. Da die schriftliche Instruktion dem Kammerherrn die Pflicht auferlegte, den Prinzen vor jeder gefährlichen Lectüre zu behüten – es waren damit unzufriedene Zeitungen und schmutzige Romane gemeint –, so bot er seinem Herrn zuerst das unter allen Umständen gefahrlose Tageblatt, während er selbst eine wohlgesinnte Zeitung ergriff, um dort die Hofnachrichten, Beförderungen und Ordensverleihungen zu mustern. Er war längst mit seiner Lectüre zu Ende, der Prinz aber studirte noch immer über den frischen Schellfischen und Austern. Betrübt sah der Kammerherr, wie die junge Hoheit wieder einmal für den Lauf der Welt so geringe Theilnahme zeigte. Ein Bekannter des Kammerherrn war zum Rittmeister ernannt, ein anderer kündigte seine Verlobung an, er verfehlte nicht, den Prinzen aufmerksam zu machen, dieser aber lächelte nur in seiner zerstreuten Weise.

Der Kammerherr ging also zu seiner nächsten Pflicht über, er überlegte das Programm des Tages. Und da ihm oblag, den Prinzen mit den Neuigkeiten der Kunst, Literatur und der Stadt in geziemender Auswahl bekannt zu machen, so wartete er ungeduldig auf die Befreiung des Tageblattes, um sich aus diesem Rath zu holen. Endlich unterbrach der Prinz diese Erwägungen durch die Frage: »Hier finde ich eine permanente Ausstellung landwirthschaftlicher Geräthe, was ist in solcher Ausstellung zu sehen?«

Der Kammerherr versuchte, das zu erklären und knüpfte vergnügt den Vorschlag an, auch einmal diese Ausstellung zu besuchen. Der Prinz gab durch ein schwaches Kopfnicken seine Einwilligung zu erkennen, sah nach der Uhr und ging auf sein Zimmer, den dreistündigen Morgencursus durchzumachen, eine Stunde Staatswissenschaft, eine Stunde Mythologie[14] und Aesthetik und eine Stunde Taktik und Strategie. Dann trat er mit seinem Begleiter den Weg nach der Ausstellung an.

Selbst dem Kammerherrn wurde langweilig zu Muth, als er hinter seinem jungen Herrn die großen Räume betrat, in denen unverständliche Maschinen zahlreich durcheinander standen. Der Geschäftsführer des Fabrikanten begann die Erklärung, der Kammerherr that die Fragen, welche eine geziemende Wißbegierde andeuten sollten, der Prinz ging geduldig von einem räthselhaften Körper zum andern und hörte etwas von Pflug, Exstirpator und Walze. Endlich veranlaßte die große Dreschmaschine den Erklärer, einen Arbeiter mit einer Treppenleiter zu Hilfe zu rufen. Der Prinz überließ dem Kammerherrn die Mühe hinauf zu steigen und die innere Einrichtung zu bewundern, er spielte unterdeß mit seiner Lorgnette und frug den Geschäftsführer in dem leisen Ton, in dem er zu sprechen gewöhnt war: »Haben Sie nicht auch eine Buttermaschine?«

»Ja wohl,« war die Antwort, »mehre von verschiedener Construction.« Der Prinz gab sich wieder ruhig der Betrachtung des großen Dreschmechanismus hin und lernte die schöne Vorrichtung schätzen, welche das ausgedroschene Stroh, das er sich zu denken aufgefordert wurde, auf einen unsichtbaren Futterboden hinaufbeförderte. Endlich kamen die Geräthe an die Reihe, welche ihm am Herzen lagen, moderne Nachfolger des alten ehrlichen Butterfasses. Da standen sie nebeneinander, das kleine Handgefäß, durch welches, wenn der Versicherung des Führers zu trauen war, jede Hausfrau in unglaublich kurzer Zeit ihre Butter selbst bereiten konnte, und die gewaltige Erfindung, welche den Bedürfnissen der größten Milchwirtschaft spielend genügte. Der Prinz ließ sich beschreiben, wie der Rahm hineingegossen, in eine gewisse kreisende Bewegung gesetzt und durch diese Aufregung gezwungen wird, sich mit sich selbst zu entzweien. Das alles hatte er schon viel schöner gehört, aber [15] es machte ihm Spaß, die Vorzüge des modernen Baues einzusehen, und er wurde innig von seiner Vortrefflichkeit überzeugt. Er that zum Erstaunen seines Begleiters Fragen, ergriff die Kurbel und versuchte ein wenig zu drehen, zog aber mit verlegenem Lächeln die Hand wieder zurück. Zuletzt frug er sogar nach dem Preise. Der Kammerherr freute sich über die anständige Wißbegierde, welche sein junger Herr bewies, aber er wurde wieder gedemüthigt, als der Prinz sich zu ihm wandte und französisch sagte: »Was meinen Sie? Ich habe Lust, die kleine Maschine zu kaufen.« Des Drehens wegen, dachte der Kammerherr mit innerm Achselzucken. »Wie kommt es, daß Hoheit sich gerade dafür interessiren?« »Sie gefällt mir,« erwiederte der Prinz, »und man möchte dem Mann doch etwas abkaufen.«

Die niedliche Erfindung wurde erstanden, in das Quartier des Prinzen getragen und in seiner Arbeitsstube aufgestellt. Gegen Abend, während der Prinz seine Musikstunde am Flügel verlebte, mußte die Maschine sogar in dem Rapport erscheinen, welchen der Kammerherr für den regierenden Herrn verfaßte. Rühmend hob der Berichterstatter das Interesse hervor, welches sein Prinz den nützlichen Werkzeugen deutscher Bodencultur erwiesen hatte. Allein selten war dem armen Kammerherrn so schwer geworden, die Pflicht eines getreuen Hofmanns zu üben, welchem ziemt, persönliches Empfinden zurück zu drängen und Peinliches mit Anmuth zu umziehen. Denn in Wahrheit fühlte er tiefe Scham über die unnütze Spielerei seines Prinzen. Aber man lernt bei Hofe nie aus, wie sehr man auch den Faltenwurf eines fürstlichen Gemüthes studire, selbst dem weisesten Hofmarschall bleiben einzelne Tiefen unerforschlich.

Der Erbprinz aber bedeckte die Buttermaschine mit einem seidenen Tuch, und wenn er allein war, trat er vorsichtig heran, drehte an der Kurbel und beobachtete den Mechanismus.

Einige Tage darauf hatte der Kammerlakai den Prinzen ausgekleidet, die Schlafschuhe zurechtgestellt und seine Nachtverbeugung gemacht, da blieb der kleine ausgehülste Prinz gegen [16] Gewohnheit auf dem Stuhle sitzen und hemmte den Abschied des Dieners durch die Anrede: »Krüger, Sie müssen mir einen Gefallen thun.« – »Hoheit haben zu befehlen.« – »Besorgen Sie mir zumorgen früh, ohne daß es Jemand sieht, einen großen Topf Milch, aber Sie setzen die Milch nicht auf Rechnung.« – »Befehlen Hoheit gekochte oder ungekochte?«

Das war eine schwierige Frage. Der Prinz drehte schweigend am Schnurrbart und sah seinen Krüger hilflos an. »Ich weiß nicht,« brach er endlich heraus, »ich möchte gern einmal buttern.«

Krüger begriff scharfsinnig, daß dieser Wunsch mit der neuen Maschine zusammenhing, und längst gewöhnt, an vornehmen Herren nichts erstaunlich zu finden, erwiederte er: »Dann muß aber die Maschine erst ausgebrüht werden, sonst schmeckt die Butter schlecht, und den Rahm dazu muß ich bestellen. So möchten Ew. Hoheit sich noch einen Tag gedulden.«

»Ich überlasse Ihnen Alles,« sagte der Prinz vergnügt, »nehmen Sie die Maschine und sorgen Sie, daß Niemand etwas erfährt.«

Als Krüger am Morgen des zweiten Tages beim Prinzen eintrat, fand er den jungen Herrn bereits angekleidet und meldete, stolz auf seine vertraute Stellung: »Der Herr Kammerherr schläft noch, es ist Alles bereit.«

Der Prinz eilte auf den Zehen in die Stube, ein großer Topf Rahm wurde in den Leib der Maschine gegossen, erwartungsvoll setzte sich der Prinz an den Tisch und sagte: »Ich will selbst drehen.« Er drehte und Krüger sah zu. »Aber gleichmäßig, Hoheit,« ermahnte Krüger. Der Prinz konnte sich nicht versagen, den Deckel zu öffnen und hineinzublicken. »Es will noch nicht werden, Krüger,« sagte er kleinlaut. – »Nur immer munter, Hoheit,« rieth Krüger, »bitte um gnädigste Erlaubniß, weiter zu drehen.« Darauf drehte Krüger und der Prinz sah zu. »Es wird,« rief der Prinz vergnügt, als er hineingesehen.

[17] »Ja, es ist geworden,« antwortete Krüger. »Jetzt aber kommt die andere Arbeit. Die Butter muß herausgenommen und ausgewaschen werden. Befehlen Ew. Hoheit?«

»Nein,« sagte der Prinz mißtrauisch, »das geht nicht. Aber die Maschine ist gut. Bringen Sie mir einen Löffel und das Weißbrot, ich fische heraus, was ich finde, man muß sich zu helfen wissen.« Der Prinz fuhr mit dem Löffel in das Getümmel, holte in der Bildung begriffene Butter heraus und strich sie mit einem Gefühl von Behagen, das ihm ganz neu war, auf sein Weißbrot. »Sie schmeckt säuerlich, Krüger,« sagte er. »Das kann nicht anders sein,« versetzte Krüger belehrend, »es ist ja noch die Buttermilch drin.« – »Das thut nichts,« tröstete sich der Prinz. »Krüger, ich hätte nicht gedacht, daß beim Buttern soviel zu beobachten ist.« – »Ja, aller Anfang ist schwer,« ermuthigte Krüger. – »Es ist gut,« schloß der Prinz gnädig, »nehmen Sie die Maschine heraus, und daß sie mir recht rein wird.«

Seitdem stand die Buttermaschine friedlich unter seidenem Tuche, der Prinz stellte sich in einsamen Stunden zuweilen davor und überlegte, wie er sie in die Hände liefern könne, denen er sie heimlich bestimmt hatte.

Die Sterne selbst schienen das zu begünstigen. Denn der rollende Erdball wälzte sich dem letzten Himmelszeichen zu, welches die Seelen unseres Volkes mit magischer Gewalt auf das schönste Fest des Jahres richtet. Weihnachten war nahe, und die Frauenwelt der Parkstraße fuhr in geheimnißvoller Thätigkeit einher. Der Verkehr mit guten Bekannten wurde unterbrochen, angefangene Bücher lagen im Winkel, Theater und Concertsaal wiesen leere Plätze, die Accorde des Flügels und die neuen Bravourarien klangen selten in die rasselnden Wagen der Straße, innere Kämpfe wurden beschwichtigt und böser Nachbarn ward wenig gedacht. Was eine Hausfrau oder Tochter zu leisten vermochte, das wurde auch in diesem Jahr auffällig. Vom Morgen bis zum Abend flogen kleine Finger [18] zwischen Perlen, Wolle, Seide, Pinsel und Palette umher, der Tag wurde zu acht und vierzig Stunden ausgeweitet, selbst in den Minuten eines unruhigen Morgenschlummers arbeiteten dienstfertige Heimchen und andere unsichtbare Geister im Solde der Frauen. Je näher das Fest rückte, desto zahlreicher wurden die Geheimnisse, in jedem Schrank steckten Dinge, die Niemand sehen sollte, von allen Seiten wurden Packete in das Haus getragen, deren Berührung verpönt war. Aber während die Hausgenossen geheimnißvoll an einander vorüberschlüpften, ist die Hausfrau stille Herrscherin in dem unsichtbaren Reich der Geschenke, Vertraute und kluge Rathgeberin Aller. Sie kennt in dieser Zeit keine Ermüdung, sie denkt und sorgt für Jedermann, die Welt ist ihr ein großer Schrank geworden mit zahllosen Fächern, aus denen sie unablässig herausholt, in die sie Verhülltes nach weisem Plane einstaut. Wenn am Weihnachtsabend der Flitterstern blitzt, der Wachsstock träufelt und die goldene Kugel am Christbaum schimmert, da feiert die Phantasie der Kinder ihre große Stunde, aber die Poesie der Hausfrauen und Töchter füllt schon Monate vorher die Zimmer mit fröhlichem Glanz.

Wenn man das Urtheil des Herrn Hummel als gemeingültig betrachten darf, ist leider auch den Männern, welche die Ehre eines Hauses zu vertreten haben, die Begeisterung dieser Wochen nicht vollständig entwickelt. »Glauben Sie mir, Gabriel,« sagte Herr Hummel an einem Decemberabend, während er einem Jungen nachblickte, der mit Brummteufeln umging, »in dieser Zeit verliert der Mann seine Bedeutung; er ist nichts als ein Geldspint, in dem sich der Schlüsselbart vom Morgen bis zum Abend dreht. Die beste Frau wird unverschämt und phantastisch, alles Familienvertrauen schwindet, Eines geht scheu an dem Andern vorüber, die Hausordnung wird mit Füßen getreten, die Nachtruhe gewissenlos ruinirt; wenn gegessen werden soll, läuft die Frau auf den Markt, wenn die Lampe ausgelöscht werden soll, fängt die Tochter [19] eine neue Stickerei an. Und ist die lange Noth ausgestanden, dann soll man sich gar noch freuen über neue Schlafschuhe, welche einen Zoll zu klein sind, und bei denen man später die grobe Schusterrechnung zu bezahlen hat, und über eine Cigarrentasche von Perlen, die platt und hart ist wie eine gedörrte Flunder. Endlich zu allerletzt, nachdem man goldene Funken gespuckt hat wie eine Rakete, fordern die Frauen noch, daß man auch ihnen selbst durch eine Schenkung sein Gemüth erweist. Nun, die meinigen habe ich mir gezogen.«

»Ich habe doch auch Sie selbst gesehen,« wandte Gabriel ein, »mit Packet und Schachtel unter dem Arm.«

»Dies ist wahr,« versetzte Herr Hummel, »eine Schachtel ist unvermeidlich.« Aber, Gabriel, das Denken habe ich mir abgeschafft. Denn das war das Niederträchtige bei der Geschichte. Ich gehe jedes Jahr zu derselben Putzmacherin und sage: »eine Haube für Madame Hummel.« Und die Person sagt: »Zu dienen, Herr Hummel,« und die Architektur steht reisefertig vor mir. Ich gehe ferner jedes Jahr zu demselben Kaufmann und sage: »ein Kleid für meine Tochter Laura, so und so theuer, ein Thaler Spielraum nach oben und unten,« und das Kleid liegt preiswürdig vor mir. »Im Vertrauen, ich habe den Verdacht, daß die Frauen hinter meine Schliche gekommen sind, und sich die Sachen vorher selbst aussuchen, denn es ist immer Alles sehr nach ihrem Geschmack, während in früheren Jahren Widersetzlichkeit stattfand. Jetzt haben sie die Mühe, den Plunder auszuwählen, und am Abend müssen sie noch heucheln wie die Katzen, auseinanderfalten und anprobiren, sich erstaunt stellen und mein ausgezeichnetes Geschick loben. Das ist meine einzige Genugthuung bei dem ganzen Kindervergnügen. Aber sie ist dürftig, Gabriel.«

So knarrte mißtönend die Prosa des Hausherrn, doch die Parkstraße achtete wenig darauf, und sie wird solchen Sinn immer mit gebührender Mißachtung betrachten, solange süßer [20] ist für Andere sorgen als für sich selbst und Freude zu machen seliger als Freudiges zu empfangen.

Auch für Ilse wurde in diesem Jahr das Fest eine große Angelegenheit, sie trug wie eine Biene zusammen, und nicht nur für die Lieben in der Heimat. Denn auch in der Stadt hatten sich viele große und kleine Kinder an ihr Herz genestelt, von den fünf unmündigen Raschkes bis zu den kleinen Barfüßlern mit dem Suppentopf. Auch bei ihr wurden die Sophawinkel unheimlich für den Gatten, für Laura und den Doctor, wenn diese einmal unerwartet eintraten.

Als der Kammerherr einige Zeit vor dem Feste einen Besuch seines Prinzen bei dem neuen Rector schicklich erachtete, fanden die Herren Ilse und Laura in eifriger Arbeit und den Salon der Frau Rectorin in eine große Marktbude verwandelt. Auf langem Tisch standen Weihnachtsbäumchen, und gefüllte Säcke lehnten ihren schweren Leib an die Tischbeine, die Frauen aber arbeiteten mit Elle und Schere, zertheilten große Wollzöpfe und wickelten Linnenstücke auseinander, wie Kaufleute. Als Ilse den Herren entgegentrat und ihre Umgebung entschuldigte, bat der Kammerherr dringend, sich nicht stören zu lassen. »Wir dürfen nur hierbleiben, wenn wir das Recht erhalten, uns nützlich zu machen.« Auch der Prinz sagte: »Ich bitte um die Erlaubniß zu helfen, wenn Sie etwas für mich zu thun haben.«

»Das ist freundlich,« versetzte Ilse, »denn bis zum Abend ist noch Vieles zu vertheilen. Erlauben Ew. Hoheit, daß ich Sie anstelle. Nehmen Sie den Sack mit Nüssen, Sie, Herr Kammerherr, haben Sie die Güte, die Aepfel unter Ihre Obhut zu nehmen, du, Felix, erhältst den Pfefferkuchen. Und ich bitte die Herren, kleine Häufchen zu machen, zu jedem zwanzig Nüsse, sechs Aepfel, ein Packet Kuchen.«

Die Herren gingen mit Feuer an die Arbeit. Der Prinz zählte gewissenhaft die Nüsse und ärgerte sich, daß sie immer wieder unter einanderfuhren, machte aber die Erfindung, durch [21] zusammengefaltete Papierstreifen die Portionen beisammen zu halten; die Herren lachten und erzählten, wie sie sich einst in fremdem Lande die deutsche Festfreude verschafft hatten. Der Duft der Fichtennadeln und Aepfel erfüllte die Stube und zog wie eine Festahnung in die Seelen aller Anwesenden.

»Dürfen wir die gnädige Frau fragen, wem unsere angestrengte Thätigkeit zu gut kommt?« sagte der Kammerherr, »ich halte hier einen ungewöhnlich großen Apfel, durch den ich gern einen Ihrer Lieblinge bevorzugen möchte. Jedenfalls thun wir, was armen Kindern Freude machen soll.«

»Zuletzt wohl,« versetzte Ilse, »aber das geht uns nichts an, wir geben schon heut ihren Müttern. Denn die größte Freude einer Mutter ist doch ihren Kindern selbst einzubescheren, das Christbäumchen zu putzen und zu arbeiten, was die Kleinen gerade bedürfen. Diese Freude soll man ihr nicht nehmen, und deshalb wird ihnen der Stoff unverarbeitet geschenkt. Auch die Weihnachtsbäumchen kaufen sie am liebsten allein, jede nach ihrem Geschmack; die hier stehen, sind nur für solche Kinder, denen die Mutter fehlt. Und diese Bäumchen werden auch von uns ausgeputzt. Heut zum Feierabend wird Alles aus dem Haus getragen, damit die Leutchen zu guter Zeit das Ihre erhalten und sich danach einrichten.«

Der Prinz sah auf den Kammerherrn. »Würden Sie uns erlauben,« begann er zögernd, »auch etwas für die Bescherung zu kaufen?«

»Sehr gern,« erwiederte Ilse freudig. »Wenn Hoheit befehlen, kann unser Diener das sogleich besorgen. Er weiß Bescheid und ist zuverlässig.«

»Ich möchte selbst mit ihm gehen,« sagte der Prinz. Der Kammerherr hörte verwundert auf diesen Einfall seines jungen Herrn, da der Einfall aber löblich und nicht gegen die Instruktion war, so lächelte er respectvoll. Gabriel wurde gerufen. Der Prinz ergriff freudig seinen Hut. »Was sollen wir kaufen?« frug er aufbrechend.

[22] »Kleine Wachsstöcke fehlen uns,« versetzte Ilse, »dann von Spielzeug Puppen, für die Knaben Bleisoldaten und für die Mädchen ein Kochgeschirr, aber Alles hübsch handfest und sparsam.« Gabriel verließ mit einem großen Korbe hinter dem Prinzen das Haus.

»Sie haben gehört, was die gnädige Frau befohlen hat,« sagte der Prinz auf der Straße zu Gabriel. »Zuerst die Wachsstöcke, Sie suchen aus und ich bezahle, wir sollen sparsam einkaufen, geben Sie Achtung, daß wir nicht betrogen werden.«

»Das haben wir nicht zu fürchten, Ew. Hoheit,« versetzte Gabriel tröstend. »Und wenn wir ja einmal einige Pfennige zu viel bezahlen, das kommt wieder andern Kindern zu gut.«

Nach einer Stunde kehrte der Prinz zurück, Gabriel mit hochbeladenem Korb, auch der Prinz trug unter beiden Armen Puppen und große Düten mit Naschwerk. Als der junge Herr so belastet eintrat, mit gerötheten Wangen, selbst glücklich wie ein Kind, sah er so gut und liebenswerth aus, daß sich Alle über ihn freuten. Emsig packte er seine Schätze vor der Frau Professorin aus und schüttete zuletzt die Zuckerdüten auf den Tisch.

Seine Befangenheit war verschwunden, er spielte in kindlichem Behagen mit den hübschen Dingen, wies den Andern die kunstvolle Arbeit an Marzipanpflaumen, bat Laura, einen Tempelherrn aus Zucker für sich zu behalten und wirthschaftete zierlich und behend um den Tisch, bis die Andern ihm bewundernd zusahen und in seine Kinderscherze einstimmten. Als die Frauen den Ausputz der Fichtenbäumchen begannen, erklärte der Prinz, auch er werde dabei helfen. Er setzte sich vor die Untertasse mit Eiweiß, ließ sich die Handgriffe zeigen und wälzte die bestrichenen Früchte in Gold- und Silberblättchen. Ilse setzte als Preis für den Herrn, der am meisten und besten arbeiten würde, eine große Dame von Pfefferkuchen mit Reifrock und Glasaugen, und es entstand ein löblicher Wetteifer unter den Herren, die besten Stücke zu liefern. Der Professor und der Kammerherr wußten alte Kunstfertigkeit zu verwenden, [23] der Prinz aber arbeitete als Neuling etwas lüderlich, es blieben einzelne leere Stellen, und an andern bauschte das Schaumgold. Er war mit sich unzufrieden, aber Ilse ermunterte ihn: »Nur müssen Ew. Hoheit sparsamer mit dem Golde sein, sonst reichen wir nicht.« Zuletzt erhielt der Kammerherr die Dame im Reifrock und der Prinz als außerordentliche Belohnung für seine Strebsamkeit ein Wickelkind, das aber auch durch zwei Glaskorallen in die Welt starrte.

Draußen auf dem Weihnachtsmarkt standen die kleinen Kinder um die Tannenbäumchen und Weihnachtsbuden und schauten ahnungsvoll und begehrlich auf die Schätze, und in Ilse's Zimmer saßen die großen Kinder am Tische, spielend und glücklich; auch hier kam kein kluges Wort zu Tage, und der Prinz malte sichzuletzt mit Eiweiß die Umrisse eines Gesichtes auf die Handfläche und vergoldete sie mit den Metallblättchen.

Als der Erbprinz aufbrach, frug der Professor: »Darf ich fragen, wo Ew. Hoheit den Weihnachtsabend verbringen?«

»Wir bleiben hier,« versetzte der Prinz.

»Da seltene Musikaufführungen in Aussicht stehen,« fügte der Kammerherr hinzu, »hat des Fürsten Hoheit auf die Freude verzichtet, den Prinzen zum Fest in seiner Nähe zu haben, wir werden also stille Weihnacht im Quartier halten.«

»Wir wagen nicht einzuladen,« fuhr der Professor fort, »falls aber Ew. Hoheit an diesem Abend nicht in anderer Gesellschaft verweilen, würde uns große Freude sein, wenn die Herren bei uns vorliebnähmen.«

Ilse sah dankbar auf den Gatten, und der Prinz überließ diesmal nicht dem Kammerherrn die Antwort, sondern nahm mit Wärme die Einladung an. Als er mit seinem Begleiter durch die gefüllten Straßen schritt, begann er vorsichtig: »Irgend etwas werden wir doch auch zu dem Weihnachtstisch beisteuern.«

»Ich habe soeben daran gedacht,« versetzte der Kammerherr, [24] »wenn Ew. Hoheit den wackern Leuten die Ehre erweisen und den Abend bei ihnen zubringen, so bin ich nicht sicher, wie der Fürst eine Beisteuer meines gnädigsten Prinzen zu diesem Weihnachtsbaum auffassen wird.«

»Nur nichts von Broschen oder Ohrringen aus dem langweiligen Kasten des Hofjuweliers,« rief der Prinz mit ungewohnter Energie, »es darf nur eine Kleinigkeit sein, am liebsten ein Scherz.«

»Das ist auch meine Ansicht,« bestätigte der Kammerherr. »Aber es ist doch rathsam, den Entscheid darüber dem durchlauchtigsten Herrn anheim zu geben.«

»Dann bleibe ich lieber zu Hause,« versetzte der Prinz erbittert, »ich will nicht mit einem dummen Cadeau in der Hand eintreten. Läßt sich nicht machen, daß der Besuch ganz zwanglos erscheint, wie auch die Einladung war?«

Der Kammerherr zuckte die Achseln. »Wenige Tage nach dem Fest wird der ganzen Stadt bekannt sein, daß Ew. Hoheit dem Professor Werner diese ungewöhnliche Ehre erwiesen haben. Ohne Zweifel wird das Ereigniß von irgendeinem Unberufenen nach der Residenz geschrieben. Hoheit wissen besser als ich, wie der Fürst eine solche Nachricht aufnehmen mag, die ihm zuerst von Fremden kommt.«

Dem Prinzen war die Freude verdorben. »So schreiben Sie meinem Vater,« rief er zornig; »aber stellen Sie die Einladung dar, wie sie vorgebracht wurde, und sprechen Sie sich gegen jedes gnädige Geschenk aus. Es würde diese Familie nur verletzen.«

Der Kammerherr freute sich über den Tact seines jungen Herrn und versprach, den Brief nach Wunsch einzurichten. Das versöhnte den Prinzen, und er begann nach einer Weile: »Ich habe mir ausgedacht, Weidegg, was wir geben dürfen. Frau Professorin ist vom Lande, ihr schenke ich als Attrape die Maschine, die ich neulich gekauft habe, und ich lege hübsche Bonbons oder so etwas hinein.«

[25] Jetzt will er die unnütze Spielerei wieder loswerden, dachte der Kammerherr. »Das geht unmöglich,« erwiederte er laut. »Ew. Hoheit sind gar nicht sicher, daß Frau Professorin den Scherz so auffassen wird, wie er gemeint war. Und verzeihen Ew. Hoheit die Bemerkung: es ist sehr mißlich, in solche Geschenke etwas zu legen, was Mißdeutungen unterliegen kann. Ew. Hoheit vollends dürfen dergleichen niemals wagen. Wenn auch die liebenswürdige Frau selbst nichts darin findet, in ihrem Kreise wird viel besprochen werden, daß ein solcher Scherz von Ew. Hoheit gemacht ist, und man würde darin leicht eine ironische Anspielung auf ein gewisses ländliches Benehmen finden, welches der Dame unleugbar recht gut steht, aber doch hier und da Veranlassung zu leisem Lächeln sein kann.«

Dem Prinzen fror das Herz, er war wüthend auf den Kammerherrn und erschrak auch wieder bei dem Gedanken, daß er Frau Ilse verletzen könnte; die Poesie des Festes war ihm gründlich verdorben, er ging stumm in sein Quartier.

Auf den Brief des Kammerherrn kam die Antwort, daß der Fürst gegen einen gelegentlichen Besuch des Erbprinzen trotz der nahe liegenden Inconvenienz nichts einwenden wolle, und daß, wenn eine Aufmerksamkeit überhaupt unvermeidlich sei, dieselbe von einem Gärtner und Conditor beschafft werden müsse. Es wurde also eine Menge von Blumen und Confitüren durch den Kammerherrn eingekauft und vor dem Prinzen aufgesetzt. Dieser aber sah kalt und schweigend über den fröhlichen Farbenglanz. Zwei Lakaien trugen die Sachen gegen Abend zum Rector mit einem kleinen Billet des Kammerherrn, welcher im Namen seines durchlauchtigsten Prinzen bat, die Sendung zum Ausputz des Weihnachtstisches zu verwenden. Unterdeß stand der Prinz finster vor dem landwirthschaftlichen Mechanismus und haderte bitter mit seiner fürstlichen Würde.

Als er zur geziemenden Stunde bei Werners eintrat, war die Bescherung vorüber, der Christbaum ausgelöscht. Ilse [26] hatte das so gewollt, »es ist nicht nöthig, daß die fremden Herrschaften sehen, wie wir uns über die Geschenke freuen.« Der Prinz empfing den Dank Ilse's über den prächtigen Schmuck ihres Tisches mit Zurückhaltung und saß schweigend und zerstreut vor dem Theekessel. Ilse dachte: Ihm thut esweh, daß er keinen frohen Weihnachtsabend hat, das ärmste Kind ist lustig vor seinem Fichtenbäumchen, und er sitzt wie ausgeschlossen von den Freuden der Christenheit. Sie winkte Laura und sagte dem Prinzen: »Wollen Ew. Hoheit nicht unsern Christbaum ansehen? Die Lichter mußten gelöscht werden, sonst brannten sie auf einmal herunter. Ist's aber Ew. Hoheit recht, so zünden wir die ganze Herrlichkeit noch einmal an, und es wäre sehr gütig, wenn Hoheit uns dabei helfen wollten.«

Das war dem Prinzen doch willkommen, und er ging mit den Frauen in das Weihnachtzimmer. Dort erbot er sich, den Stock zu nehmen, an dessen Spitze ein Wachsstockende befestigt war, um die höchsten Lichter des mächtigen Baumes zu erreichen. Während er geschäftig an dem Baum arbeitete, wurde ihm das Herz etwas leichter, und er sah mit Antheil auf die Geschenke, welche unter dem Baume lagen. »Jetzt aber haben Ew. Hoheit die Güte, hinauszugehen,« sagte Ilse, »undwenn ich klingle, so gilt es Ihnen und Herrn von Weidegg, das kann Ew. Hoheit nicht erspart werden.« Der Prinz eilte hinaus, die Schelle tönte. Als die Herren eintraten, fanden sie zwei kleine Tische gedeckt, darauf angezündete Bäumchen und unter jedem eine große Schüssel mit Backwerk, das man nur in der Landschaft zu backen verstand, welcher sie angehörten. »Das soll eine Erinnerung an unsere Heimat sein,« sagte Ilse, »und auf den Bäumchen sind die Aepfel und Nüsse, welche die Herren selbst vergoldet haben; die mit den rothen Flecken sind Ew. Hoheit Arbeit. Und dies ist eine respectvolle Sendung aus der Wirthschaft meines lieben Vaters. Ich bitte die Herren, die geräucherte Gänsebrust mit gutem Appetit zu verzehren; wir sind ein wenig stolz auf diese Leistung. [27] Hier aber, mein gnädigster Prinz, ist zur Erinnerung an mich ein kleines Modell von unserm Butterfaß, denn dabei habe ich als ein Kind vom Lande meine hohe Schule durchgemacht, wie ich neulich Ew. Hoheit erzählte.« Und auf dem Platze des Prinzen stand wohlhäbig dies nützliche Werkzeug aus Marzipan gefertigt. »Unten auf dem Boden habe ich Ew. Hoheit mein Sprüchel von damals aufgeschrieben. Und so nehmen die Herrschaften mit dem guten Willen vorlieb.«

Sie sagte das mit so inniger Fröhlichkeit und bot dem Kammerherrn dabei so gutherzig die Hand, daß diesem seine Anstandsbedenken schwanden und er ihr recht wacker die Rechte schüttelte. Der Prinz aber stand vor seinem Fäßchen und dachte: Jetzt ist der Augenblick, oder er kommt nie. Er las unten die anspruchslosen Worte: »Hat man sich mit Einem rechte Müh' gegeben, so bleibt es Segen für das ganze Leben.« Da bat er ohne alle Rücksicht auf die dräuenden Folgen seines Wagnisses: »Darf ich Ihnen einen Tausch vorschlagen? Ich habe auch eine kleine Buttermaschine gekauft, sie ist mit einem Rade und einer Scheibe zum Drehen, und man kann sich darin jeden Morgen seinen Bedarf selbst machen. Es wäre mir große Freude, wenn auch Sie diese annehmen wollten.«

Ilse verneigte sich dankend, der Prinz bat, den Diener sogleich in sein Quartier zu senden. Während der Kammerherr noch erstaunt den Zusammenhang überdachte, wurde der Mechanismus in das Zimmer getragen, der Prinz setzte ihn mit eigenen Händen auf eine Ecke des Tisches, erklärte der Gesellschaft die innere Einrichtung und war sehr erfreut, als Ilse sagte, daß sie Zutrauen zu der Erfindung habe. Wieder wurde er das fröhliche Kind von neulich, trank lustig sein Glas Wein und brachte mit gefälligem Anstand die Gesundheit des Hausherrn und der Hausfrau aus, so daß der Kammerherr seinen Telemach gar nicht wiedererkannte. Und beim Abschiede packte er sich selbst den Marzipan ein und trug ihn in der Tasche nach Hause.

2. Aus drei Cabinetten
[28] 2.
Aus drei Cabinetten.

Das Jahr des Rectorats hatte auch Ilse's Haushalt und den Kreis ihrer Gedanken so umgeformt, daß sie dem Gatten erstaunt sagte: »Ich bin jetzt wie aus der Schule in das Getümmel der Welt versetzt.« Die Tage ihres Felix waren mit zerstreuenden Geschäften belastet, schwierige Verhandlungen der Universität mit der Regierung, ärgerliche Vorfälle in der Studentenschaft nahmen einen großen Theil seiner Zeit in Anspruch.

Auch die Abende verliefen nicht wie im ersten Jahr, wo Ilse der stillen Arbeit des Gatten zusah oder den Worten der Männer lauschte; denn viele Abende waren dem Professor durch Sitzungen des Senats in Anspruch genommen und viele durch größere Gesellschaften, denen er als Rector sich nicht entziehen wollte. Wenn die Freunde zum Theetisch kamen, fehlte zuweilen der Hausherr.

Ilse hatte die Lehre des Vaters beherzigt. Sie lebte frisch darauf los und mied verwirrende Gedanken. Der Gatte selbst war ängstlich bemüht, Alles von ihr fern zu halten, was ihre Ruhe stören konnte, und die geistige Diät, welche ihr zu Theil wurde, that ihr sehr wohl. Wenn er sie in Gesellschaft sich gegenüber sah, wieder in voller Kraft und Gesundheit, die Wange leicht geröthet, um Augen und Lippen heiteres Leben, da war ihm, als sei seine Pflicht, diese Seele für immer zu behüten vor dem übermächtigen Einbruch kämpfender Gewalten, und ihm war ganz recht, daß sie auch durch häufigen Verkehr mit verschiedenartigen Manschen und durch die leichten Bande einer reichen Geselligkeit heimisch wurde in seinem Kreise. Freudig sah er, daß ihre unbefangene Art Anerkennung fand, und daß sie nicht nur von den Männern mit Auszeichnung behandelt wurde, auch den Frauen gefiel.

[29] Doch das Privatissimum, wie Ilse nach Universitätsgebrauch die Stunde nannte, wo sie die lehrenden Worte des Gatten vernahm, wurde unter allen Störungen fortgesetzt: darauf hielt die Hausfrau mit eiserner Strenge, und wenn ein Tag versäumt war, mußte das Verlorene am nächsten eingebracht werden. Aber auch in diese Stunden war ein anderer Inhalt gekommen. Der Professor las jetzt mit ihr kleine Stücke alter Schriftsteller, welche in Vers und Prosa die graziöse Schönheit des antiken Lebens abspiegelten. Die unschuldige Seele der Frau fand sich in der heitern Sinnlichkeit dieser fremden Welt arglos zurecht, und die Eindrücke, welche sie erhielt, stimmten vortrefflich zu der Weise, in der sie sich jetzt das eigene Leben zurechtlegte. Der Professor erklärte ihr einzelne Gedichte der griechischen Anthologie und des Theokrit, Weniges aus der Lyrik der Römer, dazwischen aber zum Vergleich Gedichte des großen Deutschen, der in einziger Weise griechische Schönheit mit deutscher Empfindung zu vermählen gewußt. Wieder klangen in das Tagesleben der jungen Frau leise die Melodien des hellenischen Saitenspiels und der Rohrpfeife, wenn Laura über ihrem toten Kanarienvogel trauerte, oder wenn Ilse selbst mit Frau Günther traulich schwatzend nach dem städtischen Museum ging, dem syrakusischen Weibe gleich, welches die Nachbarin abholt, um die reiche Ausstellung der Königin auf der Burg zu betrachten. Und als der Gatte sich einmal in später Stunde über ihr Antlitz beugte, um zu sehen, ob sie entschlummert war, da schlug sie die Augen zu ihm auf und frug ihn, ob er etwa auf ihrer Schulter seine Versfüße abzählen wollte, und sie wand ihm ihre langen Haare um den Hals und lachte, als er darüber seine große Abhandlung von den Gladiatoren im Stich ließ, über welcher er in der Stille arbeitete.

Auch die Würde der Magnificenz erwies Ilse in großer Abendgesellschaft, alle Zimmer waren geöffnet, die schmucke Wohnung strahlte im Kerzenglanz, die Häupter der Universität [30] und Stadt mit ihren Frauen waren zahlreich erschienen, der Prinz und sein Kammerherr fehlten nicht. Laura half anmuthig die Honneurs machen und in der Stille die fremden Diener anweisen; Küche und Wein thaten geschmackvoll ihre Pflicht, die Gäste geberdeten sich artig und schieden fröhlich angeregt. Jetzt war der große Abend glücklich vergangen, auch der Doctor und Laura hatten sich entfernt; Ilse gab die letzten Aufträge an Gabriel und schritt noch einmal durch die Zimmer in dem frohen Gefühl, daß sie ihrem Felix und sich Ehre eingelegt hatte. Im Ankleidezimmer warf sie einen Blick in den Spiegel. »Du hast nicht nöthig, dich prüfend zu betrachten,« sagte der Gatte, »es war Alles sehr schön, aber das Schönste war die Frau Rectorin.«

»Damon, mein Schäfer,« versetzte Ilse, »wie bist du verblendet. Doch sagst du's auch nicht zum ersten Mal, ich höre solche Worte sehr gern, du kannst dasselbe mir noch recht oft erzählen. Aber Felix,« fuhr sie fort, indem sie ihr Haar auflöste, »es ist immer etwas Festliches selbst bei solcher Gesellschaft, wo die Menschen nichts thun als sich unterhalten. Man trägt von Keinem viel davon, und doch ist's ein hübsches Vergnügen, unter ihnen umherzutreiben, Alle wollen artig sein und suchen sich auf's Beste zu erweisen, und Jeder ist bemüht, sich den Andern ein wenig anzupassen.«

»Nicht Jedem gelingt bei solcher Gelegenheit, seinen Inhalt gut darzustellen, am wenigsten uns Büchermenschen,« antwortete Felix. »Aber es ist wahr, diese Gesellschaften geben Solchen, die in ähnlichen Lebenskreisen stehen, eine gewisse Gemeinsamkeit der Sprache und Haltung, zuletzt auch der Ideen. Und das ist sehr nöthig, denn im Grunde sind auch die, welche nahe an einander leben, in einem weiten Gebiet ihres Empfindens und Denkens oft so verschieden, als ob sie aus verschiedenen Jahrhunderten stammten. Wie hat dir der Kammerherr gefallen?«

Ilse schüttelte den Kopf. »Er ist der artigste und aufgeweckteste [31] von Allen und weiß Jedem etwas Verbindliches zu sagen; aber man möchte ihm doch nicht trauen, denn man hat wie bei einem Aal gar keinen Anhalt und keinen Augenblick, wo man in sein Herz sieht. Da war mir unser Prinz mit seinem steifen Wesen lieber. Er hat mir heut von seiner Schwester erzählt, die muß sehr gescheidt und liebenswürdig sein. Aus welchem deiner Jahrhunderte stammt denn er?«

»Aus der Mitte des vorigen,« erklärte der Gatte lachend, »er ist gute hundert Jahre älter als wir, aus der Zeit, wo die Menschheit in zwei Klassen zerfiel, in Hoffähige und in Sklaven. Aber wenn du dich in unserer Nähe umsehen willst, kannst du größere Unterschiede erkennen. Da ist unser Gabriel, eine Menschenseele, die in ihren Vorurtheilen und ihrer Poesie um dreihundert Jahre hinter der Gegenwart zurückgeblieben ist. Seine Weise zu empfinden erinnert an die Zeit, in welcher die großen Reformatoren unser Volk zuerst zum Denken heranzogen. Dagegen die feindlichen Nachbarn sind in mancher Hinsicht Repräsentanten von zwei entgegengesetzten Richtungen, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts neben einander liefen, in unserm Hause eigensinniger Rationalismus, bei den Alten drüben eine weiche Gefühlsseligkeit.«

»Und welcher Zeit gehöre ich an?« frug Ilse, sich vor den Gatten stellend.

»Du bist mein liebes Weib,« rief er und wollte sie an sich ziehen.

»Ich will dir's sagen,« fuhr Ilse zurückweichend fort, »nach eurer Meinung bin ich auch aus einer vergangenen Zeit, und das hat mich mehr geängstigt, als ich jetzt aussprechen will. Aber ich mache mir nichts mehr daraus. Denn wenn ich dich zwingen kann, meine Hand zu küssen, so oft ich dir's befehle« – der Professor war sehr willig dazu –; »wenn ich sehe, wie es dich auch keine Ueberwindung kostet, mich einmal auf den Mund zu küssen – es ist nicht nöthig, daß du es jetzt versuchst, ich glaube dir; ferner, wenn ich merke, daß der gelehrte Herr [32] nicht abgeneigt ist, mir die Schlafschuhe zu reichen und vielleicht gar mein Nachtkleid – gut, ich will nicht, daß du dich weiter bemühst. Hier häkele mir die Ohrringe auf und mache das Kästchen hübsch zu; und wenn ich außerdem merke, daß dir viel daran gelegen ist, mir zu gefallen, daß du auf meinen Wunsch die Consistorialrätin zu Tische geführt hast, die du gar nicht leiden kannst, und daß du mir dies prächtige Kleid gekauft hast, obgleich du vom Kaufen gar nichts verstehst; wenn ich ferner sehe, daß Magnificenz ganz in meiner Botmäßigkeit sind, daß ich die Schlüssel zum Brote habe und sogar deine Geldrechnung führe, und wenn ich mir endlich in das Gedächtnis zurückrufe, daß du guter, lieber Büchermann neben deinen Griechen und Römern auch Frau Ilse kleiner Abhandlungen würdigst und daß dir eine Freude ist, wenn ich ein wenig von deiner gelehrten Schreiberei verstehe, so kommt mir die Meinung, daß du ganz mir angehörst, du und deine Zeit, und daß es mir ganz gleichgültig ist, aus welcher Periode der Weltgeschichte meine Gemütsart stammt. Denn wenn ich zurückgebliebenes Kind aus entlegener Zeit dich in das Ohrläppchen zwicke, wie ich jetzt tue, so wird mir der große Herr der Gegenwart und Zukunft und sein Philosophieren über verschiedene Menschen nur lächerlich. Nachdem ich dir diesen Vortrag gehalten habe, kannst du ruhig einschlafen.«

»Das wird schwer halten,« versetzte der Professor, »wenn die gelehrte Frau um das Lager herumwandelt und im Nachtkleide Reden hält, die langstieliger sind als die eines römischen Philosophen. Und wenn sie darauf mit den Schrankthüren klappert und in dem Zimmer umherfährt.«

»Mein Tyrann fordert morgen früh seinen Kaffe, der muß heut herausgegeben werden, und ich kann nicht einschlafen, wenn ich nicht alle Schlüssel neben mir habe.«

»Da hilft nichts,« sagte der Professor, »als ernsthafte Beschwörung,« und einen Vers des Theokrit parodierend, rief er: »Drehhals, wende dich um und ziehe das Weib in die Kammer.«

[33] »Ich muß nachsehen, ob noch irgendein Licht brennt,« rief Ilse hinein. – Aber gleich darauf kniete sie an seinem Lager nieder und umschlang ihn mit ihren Armen. »Es ist so schön auf der Welt, Felix,« rief sie, »bitten wir demütig, daß unser Glück dauere.«

Ja du bist glücklich, Frau Ilse, aber wie dein Vater gesagt hat, du verdankst dein Glück der Vorsicht, nicht der Tapferkeit.


Als Ilse ihrem Vater schrieb, wie die große Abendgesellschaft verlaufen war, vergaß sie nicht beizufügen, daß auch ihr künftiger Landesherr wieder unter den Gästen gewesen war, und daß sie sich mit ihm recht verständig unterhalten habe. Der Vater schien ihr die letzte Mittheilung nicht recht zu würdigen, denn er antwortete ärgerlich: »Wenn du so einflußreiche Rathgeberin geworden bist, sorge lieber dafür, daß wir einen Anschluß an die große Chaussee erhalten; die Sache wird seit zehn Jahren von den Behörden hingezogen, es ist eine Schande, daß wir von aller Welt so abgeschnitten sind. Der Schimmel hat das Bein gebrochen. Unser Gut wäre an die zehntausend Thaler mehr werth, wenn die Regierung nicht so saumselig wäre.«

Ilse las den Brief ihrem Gatten vor und fügte hinzu: »Das mit der Chaussee wollen wir dem Prinzen sagen, der kann es bei seinem Vater durchsetzen.« Der Gatte lachte. »Ich übernehme diesen Auftrag nicht, der Prinz sieht mir nicht aus, als ob er großen Einfluß auf die Regierung hätte.«

»Das wollen wir doch sehen,« versetzte Ilse fröhlich, »bei nächster Gelegenheit spreche ich ihn darauf an.«

Diese Gelegenheit blieb nicht aus. Der Consistorialrath, welcher jetzt theologischer Decan war, lud zu einem Thee. Es war eine vornehme und ehrwürdige Gesellschaft, für Ilse gar nicht behaglich, die Frömmigkeit des Decans war ihr längst verdächtig, aus dem Frack des süßlichen Herrn sah sie oben [34] deutlich einen eingeknöpften Fuchsschwanz herausragen, in den Reden der Frau Decanin war eine unbequeme Mischung von Honig und Galle, die Räume waren enge und heiß und die Gäste gelangweilt. Aber der Erbprinz mit seinem Kammerherrn hatte zugesagt. Als er eintrat, strebten der Hausherr und einige Gäste, wel che den Brauch der Höfe kannten, nach einer Aufstellung mit Front, aber der Erfolg wurde durch die Unachtsamkeit oder aufsässiges Wesen der Mehrzahl vereitelt. Der Prinz mußte sich, vom Hausherrn geleitet, durch die Gruppen bis zur Frau Decanin vdurchkämpfen. Sein Blick prallte von ihren scharfen Zügen ab und irrte in ihrer Nähe umher, wo Ilse stand, wie aus einem andern Planeten herabgestiegen. Sie war heut sehr majestätisch, der kleine Bandschmuck saß wie ein Krönchen auf den lockigen Haaren, deren Fülle ihr Haupt mächtig umgab. Der Prinz sah scheu auf sie und konnte kaum die Worte finden, welche er ihr gönnen mußte. Als er sich nach kurzem Gruß wieder zur Gesellschaft wandte, war Ilse unzufrieden, sie hatte als gute Bekannte artigere Behandlung erwartet. Sie überlegte nicht, daß seine Aufgabe in der Gesellschaft nicht die eines Privatmannes war, und daß er fürstliche Pflichten zu erfüllen hatte, bevor er als Mensch unter den Andern umherlaufen konnte. Während er aber mit innerem Unwillen that, was seine Stellung erheischte, zuerst langsam umherging, zu Ilse's Gatten, dann zu den übrigen Würdenträgern, darauf feste Stellung nahm, sich Einzelne vorstellen ließ und Fragen that, wie sie für solche Fälle überlegt waren, wartete auch er ungeduldig auf den Zeitpunkt, wo ihm das Schicksal gestatten würde, mit der Landsmännin ein wenig zu reden. Er hielt aber wacker Stand; der Professor der Geschichte sprach ihm seine Freude aus, daß jetzt ältere Chroniken seiner Landschaft herausgegeben würden, und suchte halb erzählend, halb belehrend die Bedeutung derselben klar zu machen. Unterdeß bedachte der Prinz, daß die Frau Rectorin wenigstens zu seiner linken Seite sitzen werde, denn der Kammerherr hatte [35] ihn aufmerksam gemacht, daß die Decanin seine rechte Seite erhalten müsse.

Die Sache war zweifelhaft. Denn die Decanin war zwar Wirthin, aber der Abend hatte einen gewissermaßen officiellenoffiziellen Universitätsstrich, und Ilse war ohne Widerrede unter den gelehrten Damen die vornehmste. Jedoch dieser Zweifel wurde deshalb unwesentlich, weil der Decan für zahlreiche Zusendung theologischer Werke und bewundernde Huldigungsbriefe von dem Fürsten bereits das Comthurkreuz seines Ordens erhalten hatte. Daß er bis zu diesem emporgeklettert, glich, wie der Kammerherr auseinandersetzte, den Würdenunterschied zwischen Magnificus und Decan so vollständig aus, daß die Decanin doch schließlich das beste Recht hatte. Nun war allerdings, wie der Kammerherr zugab, im Grunde gleichgültig, wie man hier durcheinander saß, denn von einem Recht auf Rang konnte in dieser Gesellschaft überhaupt nicht die Rede sein. Doch war es angemessen, wenn der Prinz nicht ganz versäumte, zu distinguiren.

Also an seiner linken Seite wenigstens hoffte der Prinz Frau Ilse zu finden. Allein auch diese Erwartung wurde durch die Tücke der Decanin vereitelt. Denn in der Gesellschaft erschien die Frau eines Obersten, Mann und Frau von alter Familie, erst an den Ort versetzt. Beflissen führte die Decanin den Kammerherrn der eintretenden Frau Oberst zu, und bei der Begrüßung ergab sich zum Ueberfluß, daß beide gemeinsame Verwandte hatten. Dadurch wurde die Rangordnung des Soupers zerrüttet. Die Dame forderte ihr Recht der Vorstellung. Der Kammerherr führte sie dem Prinzen entgegen, der Prinz aber kam artig zuvor und sprach seinen Wunsch aus, der Dame genannt zu werden. »Sie läßt sich einem Studenten vorstellen,« sagte erstaunt die kleine Günther. – »Das ist eine Beeinträchtigung der socialen Vorrechte, welche die Frau dem Mann gegenüber zu behaupten hat,« versetzte unwillig die Struvelius.

[36] »Sie macht es doch recht hübsch,« erwiederte Ilse, »und wie sie sich mit ihm unterhält, gefällt mir.« Die Frauen wußten nicht, daß der Gegenstand ihrer Bemerkungen in diesem Augenblick scheinbarer Erniedrigung den Triumph einer höhern Stellung freudig empfand. Der Prinz, die Oberstin und der Kammerherr bildeten für kurze Zeit eine Gruppe, von welcher das Licht des Abends ausstrahlte, alle drei in dem Be wußtsein, daß sie unter Fremden zusammengehörten.

Die Folge dieser Vorstellung war, daß die Frau Oberst an der linken Seite des Prinzen zu sitzen kam, und Ilse, von zwei Decanen eingefaßt, ihm gegenüber. Für den Prinzen wurde die Bewahrung fürstlicher Würde dadurch nicht leichter, daß er die Augen und das Lockenhaar seiner Landsmännin vor sich erblickte, sooft er die Augen erhob. Langsam schlich ihm die Abendstunde dahin, erst kurz vor dem Aufbruch fand er Gelegenheit, ungezwungen mit Frau Ilse zusammen zu treffen. Warte, dachte Ilse, die Chaussee soll dir nicht geschenkt sein.

»Haben Sie Nachricht von Ihrem Herrn Vater und dem Gut?« begann der Prinz mit einer Frage, welche die Unterhaltung schon öfter eingeleitet hatte. – »Es ist keine gute Nachricht,« entgegnete Ilse, »denken Ew. Hoheit, eines unserer Arbeitspferde hat den Fuß gebrochen. Es war ein Schimmel, den wir selbst gezogen, ein gutes, frommes Thier, ich bin manchmal auf ihm geritten, obgleich der Vater das nicht gern sah. Denn sehen Ew. Hoheit, der Weg bei uns bis zu der größeren Marktstadt, wohin der Vater jedes Jahr das Getreide abliefern muß, ist unverantwortlich schlecht, es geschieht durch die Regierung gar nichts dafür. Seit zehn Jahren hängt die Sache, aber es kommt zu nichts. Wenn Ew. Hoheit etwas dazu thun könnten, daß uns eine Chaussee gebaut wird, so bitte ich sehr, Sie helfen der ganzen Gegend auf.« Der Prinz sah ihr treuherzig in die Augen und sagte verlegen: »Das ist Sache der Regierung, ich glaube, mein Vater weiß davon nichts.«

[37] »Das glaube ich auch,« versicherte Ilse siegreich, »die Herren von der Regierung haben immer Gründe, nichts zu thun; Schwierigkeiten machen und kein Geld haben, das verstehen sie am besten.« Der Kammerherr trat in die Nähe, und da die Unterhaltung einen unheimlichen politischen Anstrich erhalten, nahm der Prinz schnell seinen Rückzug mit den Worten: »Hoffen wir das Beste,« lächelnd und sich verbeugend. Ilse flüsterte beim Herausgehen ihrem Manne zu: »Felix, ich hab's ihm gesagt; er ist ein gutes Kind, aber in Gesellschaft hat er nichts als Redensarten.«

Der Zufall wollte, daß einige Wochen darauf der fürstliche Rat, welcher die oberste Verwaltung von Rossau hatte, nach der Universitätsstadt kam, den Kammerherrn besuchte und von diesem zum Prinzen geführt ward. Er wurde zum Mittagessen geladen, der Prinz zeigte ungewöhnlichen Antheil an den Verhältnissen der abgelegenen Gegend, erkundigte sich nach den Gütern und deren Besitzern und sagte endlich beim Kaffe, als er allein mit dem Rath am Fenster stand: »Wie kommt es, daß noch keine Chaussee in der Gegend ist? Könnten Sie nicht etwas dafür thun?« Der Beamte setzte die Schwierigkeiten gebührend auseinander. Der Prinz erwiederte endlich: »Ja, ich weiß, an Gründen fehlt es nicht, Sie würden mich aber verbinden, wenn Sie sich Mühe geben wollten, die Sache doch durchzusetzen.«

Mit diesen Worten im Herzen reiste der Beamte nach Hause, höchlich aufgeregt durch diese Lebensäußerung seines zukünftigen Herrn. Er wälzte die Worte drei Tage lang im bekümmerten Gemüth, ihre Bedeutung wurde ihm immer größer, seine eigene Zukunft mochte davon abhängen. Endlich kam er zu der Ansicht, daß dies ein Fall sei, der einen außerordentlichen Entschluß nöthig mache, er setzte sich auf, fuhr nach der Residenz und legte die ganze Unterredung und ein dickes verstäubtes Actenbündel, Chausseeangelegenheiten, vor seinem Minister nieder. Der Minister dankte ihm für die Nachricht [38] und kam wieder zu der Ansicht, daß hier ein Inzidentpunkt vorliege, bei dem es klug sei, Serenissimo Mittheilung zu machen. Am Ende eines Vortrags über Staatsangelegenheiten erwähnte er, daß im Distrikt von Rossau die Klagen über die schlechten Wege und das Verlangen nach einer Chaussee lebhaft würden, und erzählte, bei welcher Gelegenheit der Erbprinz selbst seinen Antheil an dem Bau ausgesprochen habe. Der Fürst erhob sich schnell von seinem Sessel. »Der Erbprinz? Was bedeutet das? – Es ist mir lieb, daß mein Sohn Theilnahme für Landesangelegenheiten beweist,« fügte er hinzu, »ich werde mir die Sache überlegen.« Denselben Tag ging ein eigenhändiger Brief des Fürsten an den Kammerherrn ab: »Woher kommt das Wohlwollen des Erbprinzen für den Chausseebau bei Rossau? Ich fordere genauen Bericht.« – Der Kammerherr geriet in Verlegenheit, auch er fühlte seine Stellung durch ein Geheimniß gefährdet. Endlich wählte er, zwischen Vater und Sohn gestellt, den Weg offener Entfaltung vor der künftigen Sonne und theilte dem Prinzen die Frage des Fürsten mit.

»Sie sehen, welche Wichtigkeit der Herr auf die Sache legt, es wird unvermeidlich sein, ihm Näheres mitzutheilen.«

Der Prinz war ebenfalls betroffen. »Es war ja nichts als ein hingeworfenes Wort,« entgegnete er zögernd.

»Um so besser,« sagte der Kammerherr, »es kommt nur darauf an, zu sagen, wie in Ew. Hoheit der Wunsch entstand. Dem Fürsten könnte auffallend sein, wenn sich Untertanen oder Behörden an Ew. Hoheit, statt an ihn selbst gewandt hätten. Das war, soviel ich weiß, nicht der Fall.«

»Nein,« versetzte der Prinz, »ich habe bei dem Rector magnificus davon gehört, ich habe ja nichts gethan, als den Rat, als er hier war, deshalb gefragt. Ich wollte doch eine Antwort geben können,« fügte er klug hinzu.

Beruhigt setzte sich der Kammerherr hin, rühmte in seinem Bericht den Professor und Ilse, welche ein angenehmes Haus [39] machten, und verfehlte nicht, zu bemerken, daß der Erbprinz gern dort sei. Er war erfreut, als wenige Tage darauf einer geschäftlichen Mittheilung des Kabinetssecretärs eine eigenhändige Nachschrift seines Gebieters zugefügt war, in welcher dieser seine besondere Zufriedenheit mit dem Erbprinzen und dem Kammerherrn aussprach.

Nicht weniger erfreut war Ilse, als ihr der Vater schrieb: »Ilse, kannst du hexen? Es ist Befehl gegeben, die Chaussee sofort in Angriff zu nehmen, der Wegebaumeister ist bereits hier, die Straße abzustecken.« Ilse brachte am Mittag den Brief vergnügt aus ihrer Rocktasche. »Lies, ungläubiger Mann, und sieh, was unser kleiner Prinz durchzusetzen vermag, wir haben dem guten Herrn doch Unrecht gethan. Mein armer Schimmel hat ihn gedauert, und er hat seinem lieben Vater Alles geschrieben.«

Als der Erbprinz wieder einmal in größerer Gesellschaft an Ilse trat, begann sie nach der ersten Begrüßung leise: »Meine Heimat ist Ew. Hoheit zu warmem Dank verpflichtet, Hoheit haben die Güte gehabt, sich für die Chaussee zu verwenden.«

»Wird sie gebaut?« frug der Prinz überrascht.

»Und das wissen Ew. Hoheit nicht? Ihre Verwendung hat es doch bei Ihrem durchlauchtigsten Herrn Vater durchgesetzt.«

»Das würde wenig genutzt haben,« fuhr der Prinz heraus, »nein, nein,« setzte er eifrig ablehnend hinzu. »Ich habe deshalb meinem Vater nicht geschrieben. Es ist ganz sein eigener Entschluß.«

Ilse schwieg, ihr war unbegreiflich, was den Sohn eines Fürsten verhindern könne, dem Vater offen eine geschäftliche Bitte vorzutragen, deren Erfüllung wohlthätig für Viele war. Und daß er jeden Antheil ablehnte, den er doch offenbar hatte, dünkte ihr eine sehr ungeschickte Bescheidenheit.

Der Kammerherr aber hatte in dem letzten Kabinetsschreiben eine Bestätigung seiner Ansicht gefunden, daß der Fürst [40] den Verkehr des Erbprinzen im Hause des Rectors nicht ungern sehe. Er dachte zuweilen über den Grund dieser hohen Theilnahme an Menschen nach, welche so sehr außerhalb des Gesichtskreises fürstlicher Beachtung standen. Er kam darüber nicht recht auf's Reine. In jedem Fall war seine eigene Aufgabe, den Prinzen von diesem Hause nicht zurückzuhalten und sich selbst dem Rector und seiner Hausfrau angenehm zu erweisen. Dies Letztere that er gern und ehrlich, nicht nur, weil der Rector ein angesehenes Haus machte. Er fand sich zuweilen ohne den Prinzen bei dem Professor ein, ließ sich von ihm Bücher empfehlen, achtete sehr auf sein Urtheil über Menschen, wählte, soweit ihn die Anweisung des Fürsten nichtband, auch die Lehrer des Prinzen nach seinem Rath. Die energische Wucht und das stolze, wahrhafte Wesen des Gelehrten zogen den Hofherrn an und Werner wurde ihm bald eine werthvolle Bekanntschaft. Auch Frau Ilse war er aufrichtig zugethan und auch sie erlebte einige Augenblicke, wo etwas von dem Herzen des Kammerherrn zu sehen war.

Aber obgleich der Kammerherr alle Fügsamkeit eines Hofmanns hatte und wußte, daß dem Fürsten und seinem jungen Herrn die Besuche im Hause des Rectors willkommen waren, bewies er doch an seinem Prinzen wenig Zuvorkommenheit gegen höchste Wünsche. Ja, er war geneigt, Schwierigkeiten aufzufinden, wenn einmal, was freilich selten geschah, sein Prinz eine Theestunde bei Werners vorschlug. Er kam in schicklichen Zwischenräumen mit dem Prinzen an, aber er vermied seit der Chausseeangelegenheit für den Erbprinzen größere Annäherung. Dagegen suchte der Kammerherr den Prinzen in geeigneter Weise unter den Studenten einzubürgern. Von den Genossenschaften, welche sich durch Farben, Bräuche und Statuten unterschieden, war damals das Corps der Markomannen vor andern ansehnlich. Es war die aristokratische Verbindung, enthielt viele Söhne alter Familien, einige der besten Schläger, seine Mitglieder trugen die bunte Mütze am [41] stolzesten, sie waren vielbesprochen, nicht gerade beliebt. Der Kammerherr fand in diesem Corps einen Verwandten und unter den Häuptern das wünschenswerte Verständniß für die sociale Stellung des jungen Herrn.

So machte sich's, daß der Prinz mit dieser Verbindung näher bekannt wurde, er lud die Studenten in sein Quartier, besuchte zuweilen ihre kleinen Trinkabende und wurde von ihnen in die Gewohnheiten des akademischen Lebens behaglich eingeführt. Er nahm Fechtstunde, erwies darin trotz seinem zarten und wenig gestählten Körper einiges Geschick, und die sausende Klinge des Rappiers gefährdete in seiner Wohnung alltäglich Spiegel und Kronleuchter.

Ilse aber sprach gegen den Gatten ihre Verwunderung aus, daß der Prinz sich zuerst so schnell und rückhaltlos aufgeschlossen hatte und sich seit dem großen Erfolg in Chausseesachen so vorsichtig zurückhielt. »Bin ich ihm zu anmaßend erschienen?« frug sie bekümmert, »es war doch nur in guter Meinung gesagt. Aber ich merke, Felix, bei diesen Herrschaften ist es nicht wie bei Unsereinem. Wo wir einmal gutes Zutrauen haben, da richten wir uns häuslich ein, sie aber sind wie die Vögel, sie singen dicht beim Ohr ihr Lied, und husch, fliegen sie auf und suchen in der Ferne einen andern Ruheplatz.«

»Im nächsten Jahr kommen sie vielleicht wieder,« erwiederte der Gatte, »wer sie sich ans Haus zähmen will, hat das Nachsehen. Wenn ihr lustiger Pfad sie in die Nähe führt, mag man sich ihrer freuen, aber um die Sorglosen soll man sich nicht das Herz beschweren.«

Und Ilse nickte und versetzte: »Honig erfülle dir, Thyrsis, den Mund, ich höre und lerne.«

Aber in der Stille ärgerte sich Ilse doch über die Untreue ihres kleinen Singvogels.


»Heut treibt mich mein Pflichtgefühl zu Ihnen,« begann [42] der eintretende Kammerherr zum Professor. »Unter den Vorträgen, welche für den Erbprinzen gewünscht werden, ist auch einer über Heraldik. Ich bitte Magnificenz, mir einen Lehrer dafür nachzuweisen, der wenigstens einige Stunden zu geben vermöchte. In der Residenz war keine geeignete Persönlichkeit, und ich gestehe ohne Erröthen, daß meine eigenen Kenntnisse viel zu dürftig sind, als daß ich dem Prinzen davon etwas ablassen könnte.«

Der Professor dachte nach. »Unter meinen Collegen weiß ich Niemand, den ich dafür empfehlen konnte. Es ist möglich, daß Magister Knips auch darin Bescheid weiß. Er ist auf allen diesen Seitenpfaden der Wissenschaft gut bewandert, er ist aber in engen Verhältnissen aufgewachsen und die Formen seiner Ergebenheit sind ein wenig altfränkisch.«

Dem Kammerherrn erschien altfränkische Ergebenheit nicht als Hinderniß, und da er selbst die Gelegenheit benutzen wollte, über die Bedeutung einer rätselhaften Figur in seinem Wappen klar zu werden, welche einer Ofengabel sehr ähnlich sah, eigentlich aber ein keltischer Druidenstab war, so versetzte er: »Es würden doch nur wenige Stunden werden, und ich könnte selbst dabei anwesend sein.«

Magister Knips wurde gerufen, fand sich, wie immer, auf der Stelle ein und wurde dem Kammerherrn vorgestellt. Diesem erschien die groteske Gestalt allerdings in anderer Weise komisch, als mancher von den Herren Professoren, aber keineswegs ungeeignet. Die Bescheidenheit war unverkennbar, die Devotion konnte nicht größer sein, und wenn man seine Gestalt in einen erträglichen Frack einband, so durfte sie für den Nothfall neben dem Erbprinzen und dem Kammerherrn am Tische sitzend gedacht werden. Der Kammerherr frug also, ob Herr Knips im Stande sei, einige Vorträge über Heraldik zu halten.

»Falls Ew. Hoch- und Wohlgeboren gnädigst vorliebnehmen wollten mit deutschem und französischem Blason, so [43] glaube ich, Denenselben mein allerdings ungenügendes Wissen anbieten zu dürfen. In den englischen Wappen und Figuren dagegen ist meine Kenntniß wegen mangelnder Gelegenheit nicht ausreichend. Dagegen würde ich Denenselben über die neueren Untersuchungen wegen der Ehrenstücke Auskunft zu geben mich befleißigen.«

»Das wird nicht einmal nöthig sein,« versetzte der Kammerherr, und zum Professor gewandt bat er: »Würden Magnificenz mir erlauben, mit dem Herrn Magister das Nähere zu besprechen?«

Der Professor überließ die Beiden der geschäftlichen Verhandlung, und der Kammerherr fuhr freier fort: »Ich will im Vertrauen auf die Empfehlung des Herrn Rector einen Versuch machen, ob des Erbprinzen Hoheit Ihre Vorträge benutzen kann.«

Knips wurde zusehends kleiner und schwand fast ganz in den Erdboden. Nur sein Haupt neigte sich von der Schulter andächtig nach dem Auge des Kammerherrn. Dieser bestimmte freigebig den Preis der Stunden, Knips lächelte und drückte die Augen zusammen. »Dagegen muß ich die Forderung stellen, Herr Magister, daß auch Sie nicht verschmähen, sich in Ihrem Aeußern ein wenig den beabsichtigten Vorträgen anzupassen. Schwarzer Frack und ebensolche Beinkleider.«

»Sie sind vorhanden,« erwiederte Knips in seinen höchsten Tönen.

»Weiße Weste und weiße Cravatte,« fuhr der Kammerherr fort.

»Ebenfalls vorhanden,« flötete Knips wieder.

Der Kammerherr hielt doch für wünschenswerth, sich von dieser Befähigung des Kandidaten durch eigene Anschauung zu überzeugen. »Ich ersuche Sie also, sich auf geeignete Weise in der Wohnung des Erbprinzen einzufinden. Dort besprechen wir das Nähere.«

Knips erschien am nächsten Morgen in seinem Staatskleid, [44] das Haar durch starke Bürstenstriche geglättet, mit Handschuhen und rundem Hut; und der Kammerherr fand, daß der Mann gar nicht so übel aussah. Er machte ihn also noch aufmerksam, daß es hier nicht auf wissenschaftliche Erörterung, sondern vielmehr auf einen schnellen Ueberblick ankomme, und übergab, um Knipsens Luftschicht zu weihen, beim Abschiede noch eine Flasche wohlriechendes Wasser für ein weißes Taschentuch.

Knips bereitet sich für seine ersten Stunden vor, indem er zuerst seinen Farbekasten, dann einige Briefsteller und alte Complimentirbücher hervorzog. Mit Hülfe des Farbekastens malte er einige Wappen, aus den Büchern schrieb er die ehrfurchtsvollen Redewendungen ab, welche unsere demüthige Kanzleisprache im Verkehr mit den Großen eingeführt hat, und lernte alle auswendig. Zur Stunde stellte er sich dem Kammerherrn vor, glatt und duftend, einer Blume gleich, welcher durch den Strahl hoher Sonne die Kraft des Stengels genommen ist. So wurde er vor die Augen des Prinzen geführt, welkte auch vor diesem eine Weile dahin, bis er durch einen Stuhl Halt erhielt, und begann seinen Vortrag, indem er das fürstliche Hauswappen und das Wappen des Kammerherrn aus einer kleinen Mappe zog, in tiefster Ehrfurcht zu Füßen legte und daran die ersten Erklärungen knüpfte.

Sein Vortrag war nach den eigenen Worten des Kammerherrn ganz magnifique, seine unterthänigen Arabesken drehten sich zwar wunderlich und weitschweifig, aber durchaus nicht unangenehm, sie waren possierlich und sie paßten sehr zu dem schnörkelhaften Inhalt seiner Vorträge. Er brachte häufig kleine Zeichnungen, Wappenbücher und Kupferwerke von der Bibliothek zum Ansehen und erwies sich gründlicher unterrichtet als vielleicht nothwendig gewesen wäre. Wenn er sich ja einmal auf geschichtliche Erörterungen einließ, die ihm anmuthiger waren als seinen Zuhörern, so hob der Kammerherr nur den Finger und Knips flatterte ehrerbietig auf die Fahrstraße [45] zurück. Die Herren fanden mehr Gefallen an seinem Vortrage als an manchem andern, den des Magisters hohe Gönner hielten. Die Stunden wurden über das ganze Halbjahr ausgedehnt, denn zufällig fand sich, daß Knips auch in Turnieren, Ringelrennen, Faquins und anderen ritterlichen Ergötzlichkeiten Bescheid wußte. Er erzählte dem Prinzen von alten Schaufesten des eigenen hohen Hauses, beschrieb genau das Ceremoniell und wußte sogar die Namen der mitwirkenden Cavaliere anzugeben. Den Zuhörern erschien dies Wissen staunenswerth, ihn kostete wenig Mühe, die Notizen aus Büchern zusammen zu tragen. Und als er am Ende reichlich belohnt von dannen schied, war seinen Hörern leid, daß die lustige Gestalt nicht mehr ihre altfränkische und verkrauste Weisheit vortragen sollte.

»Mutter, sieh her,« rief Knips, in seine Stube tretend, und holte eine kleine Geldrolle aus der Tasche, »das ist die größte Summe, die ich je bei einem Geschäft verdient«. Die Mutter schlug mit den Händen auf die Schürze. »Da lobe ich mir die vornehmen Leute, die wissen meinen Sohn doch zu schätzen.«

»Zu schätzen?« versetzte Knips verächtlich, »die wissen gar nichts von mir und von dem, was ich verstehe. Und je weniger man ihnen beibringt, desto lieber ist es ihnen. Es macht ihnen Mühe, das nur aufzuschlagen, was schon für alle Welt zugerichtet ist, und was in hundert Folianten steht, war ihnen noch neu. Ich habe sie behandelt wie kleine Jungen, und sie haben es nicht gemerkt. Nein, Mutter, sie verstehen noch schlechter, mich zu benutzen als hier das Professorenvolk. Mich ehren nach meinem Wissen thut Niemand.«

»Einer weiß es,« murmelte er vor sich hin, »aber der ist hochmüthiger als der Kammerherr. Der Kammerherr thut, als wollte er über die alten Carrousels und Maskeraden sich selbst unterrichten. Ich will ihm den kleinen Rohr zum Andenken schenken. Es steht gerade so wenig darin, daß es für ihn gut genug ist. Ich habe das Buch um vier Groschen [46] gekauft, das Schweinsleder ist noch ziemlich weiß, ich wasche es mit Salmiak und klebe sein Wappen hinein. Wer weiß, wozu es nützen kann.«

Er wusch ab und fuhr mit dem Pinsel in seinen Muscheln umher. »Die Welt ist voll Schwindel, Mutter. Wer hätte gedacht, daß ich mit dem alten schlottrigen Unsinn dieser Wappenzeichen ein Capital verdienen würde?« Und er zeichnete und tuschte über dem Wappen: »Ich habe selten Gold in das Haus getragen, und dann war es immer für schlechtes Zeug, das mir keine Ehre gemacht hat.« – Hier brach er ab. »Noch einmal ziehe ich meine Lohndienerkleidung an, wenn ich ihnen das Buch überreiche, dann schaff sie mir aus den Augen.«


In der Gegend von Rossau steckten Wegebauer Meßstangen auf und in der Universitätsstadt legte Magister Knips den weißen Schweinslederband in die Hände seines hochgeneigten Gönners. Ilse freute sich, daß der Weg zum Gut ihres Vaters für Jedermann leicht fahrbar sein würde, und der Professor hörte mit Antheil, daß der Mann, den er empfohlen, sich gut an schickte, und er lächelte wohlwollend über die Danksagungen des Magisters. Aber für den Kunstbau der neuen Straße und für die erprobte Kunstfertigkeit des kleinen Mannes sollte den beiden Glücklichen, welche die Empfehlung an die rechte Stelle gebracht, noch Dank werden, den sie sich nicht begehrten.

3. Vielliebchen
[47] 3.
Vielliebchen.

Ilse stellte eines Abends die letzten Süßigkeiten der Weihnachtszeit auf den Tisch. Laura klapperte mit einer Knackmandel und frug den Doctor ernsthaft, woher der ehrwürdige Gebrauch der Vielliebchen komme. Der Doctor bestritt das Ehrwürdige, wußte aber im Augenblick den Ursprung des Spiels nicht anzugeben und war über diese Unsicherheit sichtlich betroffen. Er vergaß deshalb seine Pflicht, zum gemeinsamen Genuß der Doppelmandel aufzufordern. Laura öffnete die Schale und legte nachlässig zwei Mandeln zwischen ihn und sich. »Da sind sie.«

»Soll's gelten?« rief der Doctor erheitert.

»Meinetwegen,« erwiederte Laura, »mit Geben und Nehmen, wie recht ist. Aber es darf nur Scherz sein,« fügte sie, des Vaters gedenkend hinzu, »und kein Geschenk.« Beide aßen mit dem rühmlichen Entschluß, das Spiel zu verlieren. Die Folge war, daß das Geschäft nicht vorwärts gehen wollte. Laura überreichte dem Doctor in den nächsten Wochen Bücher, Theetassen, Teller mit aufgeschnittenem Braten, er war wie ein Stock, niemals sagte er: »Ich denke dran.« Hatte er den Vertrag vergessen, oder war's gewöhnliche Ritterlichkeit? Laura aber durfte ihm seine Vergeßlichkeit gar nicht zu Gemüth führen, sonst gewann sie das Vielliebchen. Sie wurde wieder einmal zornig auf ihn. »Mir reicht der gelehrte Herr gar nichts,« sagte sie zu Ilse, »er behandelt mich, als wäre ich eine Nessel.«

»Das ist Zufall,« versetzte Ilse, »er hat's längst vergessen.«

»Natürlich,« rief Laura, »für einen hübschen Scherz mit einer unbedeutenden Person hat er kein Gedächtniß.«

»Mach' ein Ende,« mahnte Ilse, »erinnere du ihn daran.«

Es fügte sich, daß der Doctor einmal nicht vermeiden konnte, ihr eine Schere aufzuheben und in die Hand zu reichen. »Ich denke dran,« sagte Laura schnippisch, »besser als Sie.«

[48] Darauf bot sie dem Doctor die Zuckerbüchse, der Doctor holte sich ehrbar ein Stück Zucker heraus und schwieg. »Guten Morgen, Vielliebchen,« rief sie verächtlich. Der Doctor lachte und erklärte sich für überwunden. »Es ist gar nicht schön,« fuhr Laura eifrig fort, »daß Sie sich so wenig um Ihr Vielliebchen bekümmert haben, ich werde nie wieder eines mit Ihnen essen; gegen Herren, die so zerstreut sind, ist es keine Ehre zu gewinnen.«

Kurz darauf überreichte ihr der Doctor ein winziges gedrucktes Büchel in zierlichem Einband. Auf dem ersten Blatte stand: »Für Fräulein Laura,« und auf dem zweiten: »Die Entstehung der Vielliebchen, ein Märchen.« Es war die Geschichte der schönen Königstochter, welche sehr gern Knackmandeln aß, aber nicht heiraten wollte. Deshalb erfand sie Folgendes. Sie ließ jedem Prinzen, der um ihre Hand warb – und es waren unzählige – die Hälfte einer Doppelmandel darbieten und sie speiste den andern Zwilling. »Und wenn Ew. Liebden mich von jetzt ab zwingen können, daß ich etwas aus Dero Hand nehme, ohne die Worte zu sprechen: ich denke dran, so bin ich zu jeder Vermählung bereit; wenn ich aber Ew. Liebden verleiten kann, etwas aus meiner Hand zu nehmen, ohne daß Ihnen die klugen Worte einfallen, so werden Dieselben an Dero fürstlichem Haupte unbedingt kahl geschoren und verlassen sofort meine Länder.« Es war aber eine Tücke bei diesem Vertrage. Nämlich der schönen Prinzessin durfte nach Hofsitte überhaupt Niemand etwas in die Hand reichen, bei Todesstrafe, sondern er reichte es der Staatsdame und diese reichte es der Königstochter. Wenn aber die Königstochter selbst etwas wegnehmen oder überreichen wollte, wer konnte ihr das wehren? Es war also für die Freiwerber ein bitteres Vergnügen. Denn wie sie sich auch mühten, die Prinzessin zu verleiten, daß sie ohne Angebot etwas aus ihrer Hand nahm, immer fuhr die Staatsdame dazwischen und verdarb die besten Pläne. Wenn aber die Königstochter einen Freier abschaffen wollte, that sie [49] einen Tag holdselig gegen ihn, bis er ganz bezaubert war, und sobald er neben ihr saß und bereits vor Freude taumelte, dann ergriff sie wie von ungefähr etwas in ihrer Nähe, einen Granatapfel oder ein Ei, und sagte leise: »Behalten Sie dies zu meinem Angedenken.« Sobald nun der Prinz das Stück in die Hand nahm und vielleicht noch der rettenden Worte ein wenig gedachte, sprang das Ding auseinander und ein Frosch, eine Hornisse oder Fledermaus fuhr gegen seine Locken, daß er zurückschreckte und im Schrecken die Worte vergaß. Und dann auf der Stelle geschoren und fort mit ihm.

Das war durch Jahre gegangen, und in allen Königshäusern trugen die Prinzen Perücken – auch diese sind seitdem bräuchlich geworden –, da traf sich's, daß ein fremder Königssohn zugereist kam in eigenen Geschäften und aus Zufall die Mandelkönigin sah. Er fand sie schön, und er merkte die Tücke. Aber ihm hatte ein befreundetes graues Männchen einen Apfel geschenkt, an den durfte er alle Jahre einmal riechen, dann kam ihm ein kluger Einfall. Und er war wegen der klugen Einfälle schon unter allen Königen sehr berühmt geworden. Jetzt war gerade die Zeit des Apfels gekommen, er roch und da fiel ihm ein: wenn du das Spiel mit Nehmen und Geben gewinnen willst, darfst du ihr niemals und unter keinen Umständen etwas geben oder nehmen. Er ließ sich also die Hände fest in den Gürtel binden, ging mit seinem Marschall zu Hofe und sagte, er wollte auch gern seine Mandel essen. Der Prinzessin gefiel er sehr und sie ließ ihm die Mandel reichen. Die nahm sein Marschall und steckte sie ihm in den Mund. Da fragte die Königstochter, was denn das vorstelle, und überhaupt, warum er die Hände immer im Gürtel trage. Und er antwortete, bei seinem Hofe sei der Brauch noch viel strenger als bei ihrem, er dürfe mit seinen Händen gar nichts nehmen und geben, höchstens mit den Füßen oder dem Kopfe. Da lachte die Prinzessin und sagte: »Auf die Weise können wir ja niemals in unserm Spiel zusammenkommen.« Er zuckte [50] die Achseln und antwortete: »Nur wenn Sie geruhen wollten, etwas von meinen Stiefeln zu nehmen.« »Das kann nie geschehen,« rief der ganze Hofstaat. »Wozu sind Sie hergekommen,« frug die Prinzessin ärgerlich, »wenn Sie so dumme Gewohnheiten haben?« »Weil Sie sehr schön sind,« sagte der Prinz, »wenn ich Sie auch nicht gewinnen kann, ich will Sie doch ansehen.« »Dagegen kann ich nichts haben,« versetzte die Königstochter. Der Prinz blieb also am Hofe und gefiel ihr immer besser. Weil sie aber auch ihre Bosheit hatte, suchte sie ihn auf alle Art zu verführen, daß er die Hand aus dem Gürtel zog und doch etwas von ihr nahm. Sie unterhielt sich immer mit ihm und schenkte ihm Blumen, Bonbons und Riechfläschchen, und zuletzt gar ihr Armband, auch zuckte es ihm mehrmals in den Händen, aber da fühlte er die Bande und kam zur Besinnung, nickte dem Marschall und der sammelte ein und sagte: »Wir denken schon dran.« Dabei wurde endlich die Prinzessin ungeduldig und sie begann: »Mir ist mein Taschentuch heruntergefallen, Ew. Liebden könnten mir es aufheben.« Der Prinz faßte das Tuch mit der Fußspitze und schwenkte es gleichgültig, und die Prinzessin beugte sich nieder, nahm das Tuch von seinem Fuß und rief zornig: »Ich denke dran.« Darüber war ein Jahr vergangen und die Königstochter sagte zu sich selbst: So kann das nicht bleiben, hier muß Schicht gemacht werden, so oder so. Sie begann also zum Prinzen: »Ich habe den besten Garten der Welt, den will ich morgen Euer Liebden zeigen.« Aber der Prinz roch wieder an seinem Apfel. Und als sie in den Garten kamen, fing der Prinz an: »Hier ist's wunderschön. Damit wir aber in rechtem Frieden neben einander gehen und durchaus nicht durch unser Spiel gestört werden, bitte ich meine Herrin, daß dieselbe nur auf eine Stunde meine Hofsitte annehme und sich auch die Hände festbinden lasse. Dann sind wir eines des andern sicher und uns kann nichts Aergerliches begegnen.« Der Prinzessin war dies nicht recht, aber er bat und sie wollte ihm doch die [51] Kleinigkeit nicht abschlagen. So gingen sie allein mit einander, die Hände im Gürtel gebunden. Die Vögel sangen, die Sonne schien warm und vom Baum hingen die rothen Kirschen bis auf die Wangen herunter. Die Prinzessin sah auf die Kirschen und rief: »Wie schade, daß Ew. Liebden mir keine davon pflücken können!« Der Prinz antwortete: »Noth kennt kein Gebot,« er nahm eine Kirsche mit dem Munde und bot sie der Königstochter. Der Prinzessin blieb nichts übrig, sie mußte ihren Mund an den seinigen bringen, um die Kirsche zu fassen, und da sie die Frucht zwischen den Lippen hatte und seinen Kuß dazu, vermochte sie nicht im Augenblick zu sprechen: »Ich denke dran.« Da rief er laut: »Guten Morgen, Vielliebchen!« zog die Hände aus dem Gürtel und fiel ihr um den Hals. Und wenn sie nicht gestorben sind u.s.w. Diese Geschichte hatte der Doctor lustig ausgeführt und eigens für Laura drucken lassen, so daß Niemand dies Büchel haben konnte, als sie allein.

Laura trug das Märchen in ihr Geheimzimmer, sah mit Stolz auf ihren gedruckten Namen und las immer wieder die kleine dumme Geschichte. Und sie ging nachdenkend auf und ab. Wenn sie sich so den ganzen Fritz Hahn überlegte, konnte sie doch kein recht gutes Gewissen haben. Von klein auf hatte er sie zu Dank verpflichtet, er war stets lieb und gut gegen sie gewesen, und sie, und ach noch mehr der Vater, hatten ihm immer wieder weh gethan. Reuevoll überdachte sie alle Vergangenheit bis zu den Katzenpfoten, was ihr schon bei dem Vielliebchen in der Seele gelegen hatte, das wurde ihr jetzt deutlich, sie konnte nicht unbefangen sein, wie sie doch sollte, und nicht gleichgültig, wie ihr ganz recht gewesen wäre, weil sie immer von ihm in den eisernen Banden einer Verpflichtung lag. »Ich muß mit ihm auf's Reine kommen!« Ach, aber zwischen ihm und ihr stand als trennende Mauer das Verbot des Vaters. Sie überlegte, wie sie, ohne jenem Befehl entgegen zu handeln, doch dem Doctor etwas Angenehmes erweisen könne. Aehnliches hatte sie schon einmal mit der Orange gewagt; wenn [52] drüben Niemand wußte, daß der Scherz von ihr kam, dann war keine Gefahr, es entstand kein zartes Verhältniß und keine Freundschaft, die der Vater doch nur vermeiden wollte. Sie eilte zu Ilse hinunter. »Die Verpflichtungen gegen den Doctor drücken mich mehr, als ich sagen kann, es ist unerträglich, immer in seiner Schuld zu sein. Jetzt habe ich etwas ausgedacht, was dies Verhältniß zum Ende bringt.«

»Nimm dich nur in Acht,« versetzte Ilse, »daß die Sache auch gründlich abgemacht wird.«

Darauf schlüpfte Laura in das Arbeitszimmer des Professors und bat: »Helfen Sie mir zu einem Scherz gegen den Mann von drüben, er sammelt ja allerlei alte Sachen, ich möchte etwas Seltenes für ihn erwerben, was ihm lieb wäre. Aber keine Seele darf wissen, daß ich dabei im Spiele bin, und er am wenigsten.«

Der Professor versprach, auf etwas zu denken.

Einige Zeit darauf legte er in Laura's Hände einen kleinen zerrissenen Band, der jämmerlich herabgekommen aussah. »Es sind Einzeldrucke alter Volkslieder,« sagte er, »die irgend einmal zusammengebunden sind, ich stieß durch einen glücklichen Zufall darauf. Das Büchlein ist theuer, für den Liebhaber ist sein Werth unverhältnißmäßig größer als der Preis. Nehmen Sie keinen Anstoß an dem schlechten Kleide, Fritz wird doch die einzelnen Lieder voneinander lösen und in seine Sammlung ordnen. Ich bin überzeugt. Sie können ihm kein lieberes Geschenk machen.«

»Er soll es erhalten,« sagte Laura vergnügt, »aber er soll gequält werden.«

Es war eine schöne Sammlung, sehr seltene Stücke darunter, ein ganz unbekannter Druck des Liedes vom Ritter Tanhäuser, das Lied vom Räuber Stürzebecher und andere erfreuliche Blätter. Laura trug das Buch herauf und schnitt die gebundenen Bogen sorgfältig von dem Bindfaden, der sie locker zusammenhielt. Darauf setzte sie sich an den Schreibtisch [53] und fuhr in der anonymen Briefstellerei fort, welche ihr die Tyrannei des Vaters aufgenöthigt hatte, indem sie mit verstellter Hand Folgendes schrieb: »Lieber Herr Doctor, ein Unbekannter sendet Ihnen dies Lied für Ihre Sammlung, er hat noch dreißig ähnliche, welche Ihnen bestimmt sind, doch unter Bedingungen. Erstens: Sie bewahren gegen Jedermann, wer es auch sei, unverbrüchliches Schweigen. Zweitens: Sie senden für jedes Gedicht ein anderes, das Sie selbst gemacht haben, worüber es auch sei, unter Adresse O.W. auf die Stadtpost. Drittens: Wenn Sie bereit sind, in diesen Vertrag zu willigen, so gehen Sie an einem der drei nächsten Tage Nachmittags um drei Uhr an No. zehn der Parkstraße vorüber, etwas Blühendes am Knopfloch. Der Absender wird sich innig freuen, wenn Sie auf diesen kleinen Scherz eingehen. Ihr ergebener N.N.« Diesem Briefe lag das Lied vom Stürzebecher bei.

Die Taschenuhr des Doctors zeigte, wie durch spätere Nachforschungen festgestellt wurde, neun Uhr fünf Minuten, als dieser Brief in sein Zimmer gebracht wurde; das Barometer war im Steigen, am Himmel leichtes Federgewölk, dazwischen die bleiche Mondsichel erkennbar. Der Doctor öffnete, ein alter Druckbogen stach gelblich vom grünen Postpapier eines Briefes ab. Er entfaltete hastig die gelben Blätter und las: »Stortebecker und Godeke Michael, de rowten alle beede.« Kein Zweifel, der niederdeutsche Urext des berühmten Liedes, den die Welt bis dahin vermißt hatte, lag leibhaftig vor ihm. Ihm wurde so wohl zu Muthe, wie dem Kinde vor der Einbescherung. Darauf las er den Brief, und als er am Ende angekommen war, las er ihn noch einmal. Er lachte. Offenbar war das Ganze eine Schelmerei. Aber von wem? Seine Gedanken flogen um Laura, aber sie hatte ihn erst gestern Abend durch kalte Nichtachtung verletzt. An Ilse war gar nicht zu denken, und dem Professor sah solch spielender Unfug vollends nicht ähnlich. Und was sollte das Haus No. zehn? Die junge Schauspielerin, welche dort wohnte, galt sehr dafür, eine liebenswürdige [54] und unternehmende Dame zu sein. War es möglich, daß sie ein Verständniß für Volkslieder hatte, und, das konnte der Doctor sich nicht verbergen, auch ein zartes Verständniß für ihn selbst? Dem ehrlichen Fritz begegnete, daß er einen Augenblick vor den Spiegel trat, aber er widersprach sogleich innerlich und zog sich lachend zu dem Schreibtische und dem Volksliede zurück. Er konnte auf den Scherz nicht eingehen, das war klar, aber es war sehr schade. Er legte den Stürzebecher bei Seite und ergriff seine Arbeit. Aber nach einer Weile nahm er ihn wieder zur Hand. Dieses Prachtstück wenigstens war ihm ohne demüthigende Bedingung gesandt, vielleicht mochte er doch dies eine behalten. Er öffnete eine Mappe seiner alten Volkslieder und suchte die Stelle, wo das Gedicht eingereiht werden mußte, wenn es in der That sein Eigenthum wurde. Er legte den Schatz in die Reihe, stellte die Mappe wie der in den Bücherschrank und dachte, es ist ja gleichgültig, wo der Bogen liegt.

In dieser Weise kämpfte der Doctor bis nach dem Mittagessen. Kurz vor drei Uhr war er zu einer ruhigen Auffassung gelangt. War es nur ein Scherz eines nahen Bekannten, so wollte er kein Spaßverderber sein; hatte die Sendung irgendeinen anderen Grund, so mußte auch das zu Tage kommen. Unterdeß mochte er die seltenen Drucke wohl aufbewahren, aber er durfte sie nicht als sein Eigenthum behandeln, bis das Recht des Absenders daran und der Zweck der Sendung deutlich war. Dies Bedenken mußte er dem Unbekannten zuerst mittheilen. Nachdem er diesen nothdürftigen Vergleich zwischen seinem Gewissen und seinem Sammeltrieb zu Stande gebracht, holte er aus der Blumenstube des Vaters etwas Blühendes, steckte es in sein Knopfloch und trat auf die Straße. Unsicher blickte er nach den Fenstern des feindlichen Hauses, aber Laura war nirgend zu finden, denn sie lauschte hinter der Gardine und schnippte, als sie die Blumen im Knopfloch sah, mit den Fingern über den gelungenen Scherz. Der Doctor wurde verlegen, [55] als er in die Nähe der vorgeschriebenen Hausnummer kam. Die Lage war doch demüthigend und ihn reute seine Begehrlichkeit. Er sah in die Fenster des Unterstocks, und sieh! die junge Schauspielerin stand gerade an den Scheiben. Er blickte auf ein gescheidtes Gesicht mit einnehmenden Zügen, zog verbindlich seinen Hut, nicht ohne schwaches Erröthen; und das Fräulein dankte artig dem wohlbekannten Sohn des Nachbarhauses. Der Doctor ging noch ein wenig auf der Promenade umher, ihm erschien dies Abenteuer unheimlich. Es war doch nicht zufällig, daß die Künstlerin am Fenster stand und grüßte. Er wurde mit seinen Quergedanken nicht fertig, nur Eines war ihm ganz klar geworden, er behielt vorläufig den Stürzebecher.

Da seine Gewissensbisse nicht aufhörten, so rang er zwei Tage mit sich selbst, ob er sich auf weiteren Briefwechsel einlassen dürfe. Am dritten waren die letzten Bedenken zum Schweigen gebracht. Dreißig Volkslieder, sehr alte Drucke, die Versuchung war übermächtig! Er holte seine eigenen Verse heraus, Ergüsse seiner lyrischen Periode, musterte und verwarf; endlich fand er eine unschuldige Romanze, welche ihn in keiner Weise bloßstellte; sie wurde abgeschrieben und von einigen Zeilen begleitet, worin auch er seine Bedingung aussprach, daß er sich nur als Bewahrer der Lieder betrachten könne.

Einige Tage darauf erhielt er eine zweite Sendung, es war ein werthes Mönchslied, worin die gebratene Martinsgans gefeiert wurde, dabei lag ein Zettel, welcher die ermunternden Worte enthielt: »Nicht übel, fahren Sie fort.«

Und wieder erhob sich Laura's Gestalt vor seinen Augen und er lachte die Martinsgans recht herzlich an. Das war auch ein alter Druck, der noch nirgend verzeichnet war! Er zog also diesmal eine Ode auf den Frühling aus seinen Poesien und gab diese mit den befohlenen Buchstaben O.W. zur Post.

Der Professor wunderte sich, daß der Doctor über das [56] Liederbuch schwieg, und äußerte dies gegen Ilse, welche ein wenig im Geheimniß war. »Er darf nicht sprechen,« sagte diese, »sie behandelt ihn schlecht. Da er es ist, hat der Scherz für das kecke Mädchen keine Gefahr.«

Laura aber war selig über dies Schachspiel mit verdeckten Zügen. Sie hob die Gedichte des Doctors sorgfältig in ihrem Geheimbuch auf und sie fand, daß die Poesie der Hahns gar nicht so schlecht war, ja sie war ausgezeichnet. Aber fast noch lockender als der Schriftwechsel wurde ihrem Uebermuth der Gedanke, dem Doctor ein kleines artiges Verhältniß zu der Schauspielerin aufzuzwingen. Als sie wieder mit ihm bei Ilse zusammentraf und einer der Anwesenden das Talent der jungen Dame rühmte, erzählte sie unbefangen und gar nicht zum Doctor gewandt, was die Straße von bizarren Einfällen der Schauspielerin wußte, daß sie einst ihr Hündchen mit einer Nachthaube ans Fenster gesetzt, als ihr ein widerwärtiger Verehrer ein Ständchen angekündigt hatte, und daß sie eine Vorliebe für bettelnde Handwerksburschen habe und sich mit ihnen meisterhaft in der Mundart ihrer Landschaft zu unterhalten wisse.

Der arglose Doctor wurde nachdenklich. Sollte in der That die Schauspielerin mit ihm in brieflichem Verkehr stehen, ohne daß er es wußte? Und Fritz begann der Dame eine gewisse ruhige Beachtung zu gönnen.

Als Laura einst auf dem abonnirten Platz ihrer Mutter saß und einer Rolle der Künstlerin zusah, erkannte sie in der Loge gegenüber Fritz Hahn, sie beobachtete, daß er durch sein Opernglas angestrengt auf die Bühne starrte und einige Mal lebhaften Beifall zu erkennen gab. – Nun, der war glücklich auf falsche Fährte gebracht.

Indeß er mußte doch auch erfahren, daß der unbekannte Briefsender mehr verstand, als Adressen zu schreiben. Laura durchsuchte die Lieder, dachte lange nach über den Text des alten Gedichtes vom Ritter Tanhäuser, der bei Frau [57] Venus im Berge verweilt, und sandte das Lied mit folgenden Zeilen:

»Während ich das Gedicht durchlese, überkommt mich Rührung und Schreck vor dem Sinn dieser alten Poesie. Was wird nach der Meinung des Dichters aus der Seele des armen Tanhäuser? Er hat sich von Frau Venus losgerissen und kehrt reuig zum Christenglauben zurück, und als ihm der harte Papst sagt: ›so wenig der Stock, den ich in der Hand halte, grün wer den kann, so wenig kannst du noch selig werden,‹ da wankt er aus trotziger Verzweiflung zur Venus in den Berg zurück. Darauf erst ergrünt der Stab in der Hand des Papstes und vergebens sendet dieser seine Boten, den Ritter zurückzuholen. Wie versteht der Sänger den Rückfall des Tanhäuser? Wird die ewige Liebe und Barmherzigkeit dem Armen auch jetzt noch verzeihen, obgleich er sich der Teufelin zum zweiten Mal ergibt? Ist also dieser alte Dichter so frei und groß gesinnt, daß er auch noch die Rückkehr zur Heidenfrau für verzeihlich hält? Oder ist Tanhäuser jetzt in seinen Augen für ewig verloren und soll der grünende Stab nur anzeigen, daß der Papst die Schuld trägt? Es würde mich freuen, darüber von Ihnen Aufklärung zu erhalten. Das Gedicht finde ich sehr schön und ergreifend, und in den einfachen Worten, wenn man sich erst hineingelesen hat, gewaltige Poesie. Aber ich habe Angst um das Schicksal des Tanhäuser. Ihr N.N.«

Der Doctor antwortete sogleich: »Es ist zuweilen schwer, aus der tiefen Empfindung und dem knappen Ausdruck alter Gedichte die Grundidee des Dichters zu verstehen. Am schwersten vor einem Gedichte, welches, durch Jahrhunderte vom Volksmunde fortgetragen, zuverlässig in Wortlaut und Inhalt Aenderungen erfahren hat. Das erste Motiv des Liedes, daß Sterbliche bei den alten Heidengöttern im Innern der Berge weilen, beruht auf einer Anschauung, die noch aus der Heidenzeit stammt. Die Idee, daß der Christengott milder ist [58] als sein Stellvertreter auf Erden, wurde seit der Hohenstaufenzeit in Deutschland heimisch. Man darf den Ursprung des Gedichtes wohl auf diese Zeit zurückführen. In den uns überlieferten Formen mag es etwa aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts stammen, wo die Unzufriedenheit mit der Hierarchie in Deutschland bei hoch und Niedrig allgemein war. Der hohe Gedanke dieser Auflehnung gegen die Macht der Geistlichen war: nicht der Priester kann die Sünden vergeben, nur Reue, Buße, Erhebung des eigenen Herzens. Der Druck, welchen Ihre Güte mir übersandt hat, stammt aus der ersten Zeit Luthers, aber wir wissen, daß das Lied älter ist, und wir besitzen verschiedene Texte, von denen einige noch stärker hervorheben, daß Tanhäuser auch nach seinem Rückfall der göttlichen Gnade vertrauen dürfe. Zuverlässig hielt der Sänger des übersandten Textes den armen Tanhäuser für verloren, wenn dieser sich nicht wieder von Frau Venus freimachte. In diesem Fall nicht. Der Volkssage nach ist Tanhäuser bei ihr geblieben. Aber den großen Gedanken, der auch unser Leben adelt, daß der Mensch, solange Geist und Gemüth ihm nicht ausgebrannt sind, in sich selbst die Kraft zur Erhebung über begangenes Unrecht trage, dürfen wir auch in diesem Gedicht erkennen, dessen poetischen Werth ich würdige wie Sie.«

Als Laura diese Antwort erhielt – Gabriel war auch hier der vertraute Bote – sprang sie vor Freude von ihrem Arbeitstisch hoch auf. Sie hatte mit Ilse die Leiden Tanhäusers beklagt und der Freundin eine Abschrift des Gedichtes gegeben, jetzt lief sie mit den Zeilen des Doctors hinunter, stolz, daß sie durch den kindischen Scherz, über welchen Ilse den Kopf geschüttelt hatte, zu einer geheimen wissenschaftlichen Erörterung gekommen war. Von diesem Tage erhielt der geheime Briefwechsel für Laura und Fritz eine Bedeutung, an welche keines von beiden im Anfang gedacht hatte. Denn Laura wagte jetzt, wenn sie über etwas nicht mit sich auf's Reine kommen konnte, oder wenn ein stilles Interesse sie beschäftigte, [59] ihre Gedanken, die bis dahin im Schreibtisch verschlossen wurden, dem Nachbar mitzutheilen, und der Doctor sah mit Erstaunen und Freude ein weibliches Gemüth von kräftigem und eigenartigem Empfinden, das bei ihm Klarheit suchte und mit ungewöhnlichem Vertrauen sich aufschloß. Diese Stimmung war auch aus seinen Gedichten zu erkennen, sie waren nicht mehr aus der Mappe herausgeholt, sondern erhielten einen gewissermaßen persönlichen Charakter. Und Laura wurden die Augen feucht, als sie ein Blatt in der Hand hielt, welches in Versen seine Spannung und Ungeduld aussprach, den unbekannten Briefsteller kennen zu lernen. Es war so reine Empfindung in den Zeilen, und man sah daraus so deutlich den guten und feinen Mann, daß man ein recht herzliches Zurtrauen zu ihm haben mußte. Die alten Volkslieder, zuerst die Hauptsache, wurden allmählich nur die Begleiter des stillen Briefwechsels, und Laura's begeisterte Seele schwebte beflügelt über goldumsäumte Wolken, während unten Herr Hummel grollte und Herr Hahn mißtrauisch neue Angriffe des Feindes erwartete.

Aber dies poetische Verhältniß zum Nachbarsohn, welches Laura's Unternehmungsgeist geschaffen hatte, litt an derselben Gefahr, welche allen poetischen Stimmungen droht, die rauhe Wirklichkeit konnte es jeden Augenblick zerstören. Niemals durfte der Doctor wissen, daß sie es war, die Tochter der Feinde, sein alltäglicher Anblick, das kindische Mädchen, das in Ilse's Zimmer mit ihm um Butterbrote und Knackmandeln zankte. Wenn sie mit ihm Auge gegen Auge zusammentraf, war er ihr der Doctor mit der Brille von sonst und sie die kleine borstige Hummel, welche mehr von der Unart ihres Vaters hatte als Gabriel zugeben wollte. Das Schmollen und die Neckerei des Tages lief zwischen beiden fort wie früher. Dennoch war unvermeidlich, daß zuweilen aus Laura's Augen ein Strahl warmer Empfindung brach, und daß sich der freundliche Humor, mit dem sie den Doctor im Innern betrachtete, [60] einmal durch flüchtige Worte verrieth. Fritz wandelte deshalb in einer Unsicherheit dahin, über die er im Stillen lachte, und die ihn doch quälte. Immer sah er Laura vor sich, wenn er einige Zeilen der gut verstellten Hand auf seinem Zimmer las, doch sobald er die Nachbarin beim Freunde traf, sorgte sie durch eine spöttische Bemerkung und durch spröde Zurückhaltung dafür, daß er wieder unsicher wurde. Sie zwang die Noth zu solcher Koketterie, er aber wurde immer auf's Neue kühl davon angeweht, und dann fiel ihm auf's Herz: sie ist es doch nicht, kann es denn die Schauspielerin sein?

Am Theetisch entstand allgemeines Erstaunen, als der Doctor einst fallen ließ, er sei zu einem Maskenball eingeladen und nicht abgeneigt, sich in das Getümmel zu stürzen. Der Ball wurde von einer großen Ressource ansehnlicher Bürger gegeben, zu welcher auch Herr Hummel gehörte, die Gesellschaft war dafür bekannt, daß die ersten Schauspieler der Stadtbühne sich dort als willkommene Gäste im Kreise ihrer Verehrer bewegten. Da der Doctor sonst nie für diese Art geselliger Unterhaltung ein Herz bewiesen hatte, sah auch der Professor verwundert auf den Freund, nur Laura ahnte den Zusammenhang, aber Alle ließen sich schweigend die Ankündigung eines bevorstehenden Excesses gefallen.

Herr Hummel war nicht der Ansicht, daß ein Maskenball die Stätte sei, wo die Tüchtigkeit des deutschen Bürgers Triumphe feiert, er hatte widerwillig den schmeichelnden Bitten seiner Frauen nachgegeben und stand jetzt unter den Masken im Saale. Den kleinen schwarzen Domino hatte er wie ein Priestermäntelchen nachlässig auf den Rücken geschoben, den Hut in die Augen gedrückt, sein breites Gesicht überragte auf allen Seiten den Florbart der Seidenlarve und war so unverkennbar wie ein Vollmond hinter dünnem Gewölke. Spöttisch sah er in das Gedränge der Masken, welche beieinander vorbeistrichen, etwas weniger behaglich und etwas schweigsamer, [61] als sie ohne Larve und bunten Rock gewesen wären. Und vor Andern zuwider waren ihm die eingestreuten Harlekine, welche beim Beginn des Festes eine Ausgelassenheit heuchelten, die ihnen nicht natürlich war. Herr Hummel hatte gute Augen, nur ging es ihm wie Andern auch: wenn Jemand maskirt war, vermochte er ihn nicht zu erkennen. Aber alle Welt erkannte ihn. Hinten zupfte etwas. »Was macht denn Ihr Hund Speihahn?« frug mit einer Verbeugung ein Herr in Rococco. Hummel verneigte sich wieder. »Danke für gütige Nachfrage, ich hätte ihn mitgebracht, Sie in Ihre Waden zu beißen, wenn Sie mit diesem Artikel versehen wären.« – »Kann diese Hummel auch stechen?« frug ein grüner Domino im Falsett. »Ersparen Sie sich Ihre Bemerkungen, Fistulant,« entgegnete Herr Hummel grollend, »Ihre Stimme ist ja ins Weibliche umgeschlagen, sollte Ihnen etwas fehlen, so bedaure ich aufrichtig Ihre Familie.« Er steuerte weiter. »Kaufst du eine Partie Hasenhaare, Bruder Hummel?« frug ein wandernder Tabuletkrämer. »Ich danke, Bruder,« versetzte Hummel grimmig, »du kannst mir aber die Eselshaare ablassen, welche dir deine Frau beim letzten Zanke ausgerissen hat.«

»Das ist der grobe Filz,« rief naseweis ein kleiner Pierrot und schlug Herrn Hummel mit der Pritsche über den Bauch. Das war Herrn Hummel zu viel, er faßte den Pierrot beim Kragen, nahm ihm die Pritsche weg und hielt den Widersetzlichen an sein Knie. »Warte, mein Söhnchen,« rief er, »dir wäre jetzt gut, den Filz anderswo zu tragen als auf dem Kopfe.« Aber ein beleibter Türke fiel ihm in den Arm. »Herr, wie können Sie sich unterstehen, meinen Sohn anzufallen?« »Ist dieses Besteck Ihre Arbeit,« frug Herr Hummel zornig, »schämen Sie sich. Ihre löschpapierne Physiognomie ist mir nicht bekannt. Wenn Sie sich als Türke der Anfertigung von ungezogenen Hanswürsten widmen, so müssen Sie sich auch türkischen Bambus auf dem Rücken Ihrer Producte gefallen lassen, das ist Völkerrecht. Sollten Sie dieses nicht verstehen, [62] so melden Sie sich morgen auf meinem Comtoir, ich werde Sie darüber ins Klare setzen und Ihnen eine Rechnung überreichen wegen des Uhrglases, das mir das Subject aus Ihrem Harem in der Tasche zerbrochen hat.« Und damit warf er den Pierrot dem Türken in die Arme, die Pritsche auf die Erde und schritt schwerfällig durch die Masken, welche ihn umringten. »Keine menschliche Seele,« grollte er vor sich hin, »man ist wie Robinson unter den Wilden.« Er bewegte sich in den Tanzsaal, unbekümmert um die weißen Schultern und blitzenden Augen, welche neben ihm auftauchten und wieder verschwanden. Endlich erblickte er zwei graue Fledermäuse, die er persönlich zu kennen glaubte, denn es schienen ihm die Masken seiner Frau und Tochter. Er ging auf sie zu, sie aber wichen ihm scheu aus und verloren sich im Gedränge. Es waren allerdings die Frauen seines Hauses, aber sie hatten die Absicht, unerkannt zu bleiben, und sie wußten, daß das neben Herrn Hummel unmöglich sei. So wandte sich der verlassene Hausherr kurz um, ging in ein Nebenzimmer, setzte sich einsam an einen der leeren Tische, nahm die Larve ab, bestellte eine Flasche Wein, frug nach dem Tageblatt und zündete eine Cigarre an. »Vergebung, Herr Hummel,« rief ein kleiner Kellner, »hier wird nicht geraucht.«

»Auch du?« versetzte Herr Hummel trübe, »du siehst, es wird geraucht. Dies ist auch ein Maskenscherz. Denn heut wird alle Humanität und menschliche Rücksicht aus Langerweile mit Füßen getreten, und das ist's gerade, was man bal masqué nennt.«

Unterdeß schlüpfte Laura unter den Masken umher, sie suchte den Doctor. Auch Fritz Hahn war für scharfe Augen leicht erkennbar, er trug über der Larve gemüthlich seine Brille. Er stand als blauer Domino neben einer eleganten Dame in rothem Mantel. Laura drängte sich in die Nähe. Fritz schrieb der Dame etwas in die Hand, jedenfalls ihren Namen, denn sie nickte gleichgültig, darauf schrieb er wieder etwas in ihre [63] Hand und wies auf sich selbst, wahrscheinlich war es sein eigener Name, denn die Dame nickte und Laura glaubte zu erkennen, wie sie unter ihrem Flor lachte. Und Laura hörte, wie der Doctor die Dame mit dem Namen der Rolle anredete, in welcher er sie neulich auf der Bühne gesehen hatte und außerdem mit du. Das war zwar Maskenrecht, aber nöthig war es nicht. Der Doctor aber sprach seine Freude aus, daß die Künstlerin bei der Balkonscene so gut verstanden habe, die aufglühende Empfindung in den schwierigen Versen darzustellen. Der rothe Mantel wurde aufmerksam, wandte sich ganz dem Doctor zu und begann über die Rolle zu sprechen. Die Dame redete eine Weile, und dann wieder Doctor Romeo und noch länger. Dabei trat die Schauspielerin einige Schritte zurück an einen Pfeiler, der Doctor folgte ihr dahin, und Laura sah, wie der rothe Mantel einige andere Herrenmasken kurz abfertigte und sich wieder zum Doctor wandte. Endlich setzte sich die Künstlerin gar hinter den Pfeiler, wo sie wenig von fremden Blicken gesehen wurde, und der Doctor stand an den Stein gelehnt neben ihr und setzte die Unterhaltung fort. Laura schob sich zu dem Pfeiler und hörte, wie lebhaft die Unterhaltung von beiden geführt wurde. Es war von Leidenschaft die Rede. – Nun, es war noch nicht die Leidenschaft, welche beide für einander entflammte, sondern vorläufig die der Bühne – aber auch das war mehr, als ein Freund des Doctors billigen konnte.

Laura trat rasch hervor, stellte sich neben Fritz Hahn und hob warnend den Finger in die Höhe. Der Doctor sah verwundert auf die Fledermaus und zuckte die Achseln. Da ergriff sie seine Hand und schrieb seinen Namen ein. Der Doctor machte eine Verbeugung, darauf hielt sie ihre Hand hin. Wie konnte er sie in der entstellenden Hülle erkennen? Er gab starke Zeichen seiner vollen Unwissenheit und wandte sich wieder zu der Dame im rothen Mantel. Laura trat zurück und ihre Schläfe rötheten sich unter der Maske. Auch im Zorn auf sich selbst! Denn sie hatte dem Unglücklichen [64] diese Gefahr gebracht, und sie hatte darauf bestanden, den Ball heimlich vor ihm und in einer Tracht zu besuchen, welche das Erkennen so schwer machte.

Sie zog sich zu ihrer Mutter zurück, welche endlich das Glück gehabt hatte, in der Frau Pathe eine Gesellschafterin zu finden und eine Ecke des Maskensaales benutzte, um Beobachtungen über die körperliche Entwicklung des getauften kleinen Fritz auszutauschen. Laura setzte sich neben die Mutter und sah theilnahmlos auf die tanzenden Masken. Plötzlich sprang sie wie von Federn geschnellt in die Höhe, denn Fritz Hahn tanzte mit der Dame im rothen Mantel vorüber. War das möglich? Längst hatte er das Tanzen abgeschworen, mehr als einmal hatte er Laura wegen ihrer Freude daran verspottet, auch sie selbst hatte vor ihrem Geheimbuch Stunden gehabt, wo ihr diese einförmige kreisende Bewegung kindisch und mit einer edleren Auffassung des Lebens unverträglich erschien. Und jetzt drehte er sich wie ein Kreisel. »Was sehe ich?« rief auch ihre Mutter – »ist das nicht – und die rothe ist ja gar –« »Es ist gleichgültig, mit wem er tanzt,« unterbrach Laura, um nicht die verhaßte Bestätigung zu hören.

Aber sie kannte Fritz Hahn, und sie wußte, daß dieser Walzer etwas zu bedeuten hatte. Julia gefiel ihm sehr, sonst hätte er's nicht gethan, ihr selbst war diese Auszeichnung nie zu Theil geworden. Der alte Komiker der Stadtbühne trat als Pantalon zu ihnen, er hatte endlich die zwei einflußreichen Damen aufgefunden, er trippelte, machte groteske Verbeugungen und fing an die Mama mit kleinen Geklätsch zu unterhalten. Und eine seiner ersten Bemerkungen war: »Man hört, der junge Hahn wird zum Theater gehen, er studirt mit unserer Primadonna seine Liebhaberrolle ein.« Laura wandte sich mit Widerwillen von der platten Bemerkung ab.

Ihre letzte Hoffnung war die Zeit des Demaskirens, ungeduldig erwartete sie den Augenblick. Endlich trat eine Pause ein, die Larven fielen. Sie nahm den Arm der Mutter, mit [65] ihr durch den Saal zu gehen und die Bekannten zu grüßen; es dauerte lange, bis sie in die Nähe von Fritz Hahn kamen, und er sah nicht einmal nach ihnen hin. Laura zuckte mit der Hand, ihn leise anzurühren, aber sie preßte die Finger fest und gingaus, großen Augen auf ihn blickend, vorüber. Jetzt endlich that er, was längst seine Schuldigkeit gewesen wäre, er erkannte sie. Sie sah die Freude auf seinem Gesicht und ihr wurde leichter zu Muth. Sie blieb stehen, während er sich vor der Mutter verbeugte und einige höfliche Worte mit dieser wechselte, und sie wartete, daß er anerkennen werde, wie sie ihn bereits gegrüßt. Er aber sprach kein Wort von der Begegnung. Hatten ihm so Viele den Namen in die Hand geschrieben, daß er eine einzelne arme Fledermaus nicht im Gedächtniß behalten konnte? Und als er sich zu ihr wandte, lobte er die Ballmusik.

Das war die Beachtung, die er ihr gönnte! Mit Julia hatte er gesprochen, was zwischen freien Seelen der Rede werth ist, und ihr gegenüber schnurrte eine gleichgültige Phrase. Ihre Augen bekamen den düstern Hummelblick, als sie entgegnete: »Sie hatten sonst wenig Wohlgefallen an dem großen Hackebrett dort oben, das die Puppen hüpfen macht.« Der Doctor lächelte befangen und bat um den nächsten Tanz. Das war so ungeschickt als möglich. Laura antwortete bitter: »Die graue Fledermaus war bereits so dreist, an Romeo heran zu flattern, damals hatte er keinen Tanz für sie frei, jetzt thun ihr von dem hellen Licht die Augen weh.« Sie neigte ihr Köpfchen wie eine Königin, nahm den Arm ihrer Mutter und ließ ihn hinter sich zurück.

Was noch kam, war eitel Herzeleid. Noch einmal tanzte der Doctor mit der Dame im Mantel, und Laura sah jetzt, wie freundlich die Verführerin ihn anlachte, und er tanzte sonst mit Niemandem. Um sie aber kümmerte er sich nicht weiter; und es war ein Glück, daß bald darauf Hummel zu den Seinen trat und sagte: »Es hielt schwer, euch zu finden. Erst als [66] ich die Leute nach den zwei häßlichsten Verputzungen frug, wurde auf euch gewiesen. Es wäre mir lieb, wenn ihr morgen ohne Kopfschmerz erwachtet, wir haben heut des Vergnügens genug ausgestanden.« Laura war froh, als der Wagen an der Hausschwelle hielt, sie stürzte in ihr Zimmer, riß ihr Buch aus der Schublade und schrieb mit fliegender Hast hinein: »Fluch meiner That und Fluch dem frevelhaften Scherz! Die Drachenzähne hab' ich mir ins Land gestreut. In Waffen wächst ein Herr von Feinden und bedräut mit scharfem Stahle mir das warme Herz.« Und sie wischte dabei über den Thränen, die ihr auf das Papier rollten.

Das klare Licht des nächsten Morgens übte auch auf ihre scheu flatternden Gedanken seine beruhigende Macht. Dort drüben lag Fritz Hahn wohl noch in seinem Bett. Der gute Junge war gestern müde geworden. Es mochte doch noch mancher Tropfen Wasser zum Meere fließen, bevor Freund Fritz sich entschloß, sein Geschick mit dem einer tragischen Künstlerin zu verbinden. Sie holte ihren Vorrath von alten Druckbogen heraus und wählte. Da war ja ein recht lustiges Lied: die Käferhochzeit, worin der Käfer auf dem Zaune die Jungfer Fliege auffordert, ihn zu heiraten. Viele kleine Vögel bemühen sich ernsthaft um die Hochzeit, diese aber wird zuletzt durch ein unrühmliches Privatvergnügen des Bräutigams verdorben. »Gut,« sagte Laura, »mein Käfer Fritz, ehe du die leichte Fliege Juliette heiratest, sollen noch andere Vögel ihr Stimmchen dazugeben.« Sie legte das Lied zusammen und schrieb dazu auf einen kleinen Zettel: »Sie vermuthen falsch. Der dies sendet, war niemals Julia.« Als sie den Brief schloß, sagte sie beruhigt zu sich selbst: »Wenn er jetzt nicht merkt, daß er im Irrthum war, so muß man an seinem Urtheil verzweifeln.«

Der Doctor saß noch ein wenig betäubt bei seinen Büchern, als dieser Brief bei ihm einfiel. Er warf einen Blick auf die Käferhochzeit; alte Einzeldrucke davon waren ihm überhaupt noch nicht davon vorgekommen und er sah schon bei schnellem Ueberfliegen, daß manche Verse ganz anders lauteten als in unserm [67] landläufigen Text. Dann nahm er den Zettel und suchte den Orakelspruch desselben zu verstehen. Allerdings, jetzt war unzweifelhaft, daß die Sendung von der Schauspielerin kam, denn wer sonst konnte wissen, daß er sie mit Julia angeredet hatte, und daß lange von dieser Rolle die Rede gewesen war. Aber was sollten die Worte: Sie vermuthen falsch? Auch darüber ging ihm ein blendendes Licht auf. Er hatte behauptet, daß die Darstellung der Leidenschaft dem Künstler nur bis zu einem gewissen Grade möglich sei, wenn ihm nicht einmal das Leben selbst eine ähnliche Kette von Empfindungen durch die Seele gezogen hätte. Das hatte die Schauspielerin geleugnet, und sie hatten sich darüber zu vereinigen gesucht. Ihre Worte bedeuteten also offenbar, daß sie die Julia gegeben, ohne je eine große Leidenschaft gefühlt zu haben. Nun, dies war ein Geständniß, das wieder viel Vertrauen zeigte, ja vielleicht noch mehr. Der Doctor saß lange vor dem Blatt. Aber er wurde jetzt ziemlich sicher, mit wem er Briefwechsel führe, und die Entdeckung machte ihn nicht froh. Denn wie er sich auch mit verständigen Gründen gesträubt hatte, es waren doch immer Laura's Augen gewesen, die ihm von dem Papier entgegenstrahlten, freilich ein ganz anderer Blick, als sie ihm gestern vergönnt hatte. Er legte die Käferhochzeit still zu den andern Liedern, und wieder frug er sich, ob er den Briefwechsel jetzt noch fortsetzen dürfe. Endlich packte er als Antwort die fällige Abgabe ein, etwas aus dem verblühten Vorrath seiner Mappe, und schrieb nichts weiter dazu.

Einige Tage darauf ging der Professor mit Ilse durch die Straße, und als sie bei der Wohnung der Schauspielerin vorbeikamen, sahen beide den Freund am Fenster der Heldin stehen, und Fritz nickte ihnen hinter den Scheiben zu.

»Wie kommt er zu dieser Bekanntschaft?« frug der Professor, »gilt die junge Dame nicht für sehr emancipirt?« »Ich fürchte,« antwortete Ilse bekümmert.

Zu Madame Hummel aber kam Frau Knips, welche der [68] Schauspielerin gegenüber wohnte, mit noch feuchter Wäsche gelaufen und erzählte, daß am Abend zuvor ein ganzer Korb Champagner zu dem Fräulein geschafft worden sei, und daß man in der Nacht den lauten Gesang einer wilden Gesellschaft über die ganze Straße gehört habe, und der junge Herr Hahn sei mitten darunter gewesen!

Am Sonntag war der Komiker zum Mittagsbraten des Herrn Hummel geladen, und eine seiner ersten Anekdoten war, daß er von einer lustigen Gesellschaft erzählte, die bei der Schauspielerin gewesen war. Mit der Bosheit, welche auch Genossen derselben Kunst einander zu Theil werden lassen, setzte er hinzu: »Sie hat einen neuen Verehrer gefunden, den Sohn von drüben. Nun, das Geld seines Vaters wird doch auf diesem Wege der Kunst zu Hilfe kommen.« Herr Hummel machte große Augen und schüttelte den Kopf, sagte aber weiter nichts als: »Also auch Fritz Hahn ist unter die Schauspieler gegangen und lüderlich geworden, er wäre der letzte gewesen, dem ich so etwas zugetraut hätte.« Frau Hummel aber suchte ihre Erinnerungen vom Ball zusammen und fand darin traurige Bestätigung, als Laura, welche heut sehr bleich und schweigsam dasaß, gegen den Mimen heftig herausfuhr: »Ich leide nicht, daß Sie an unserm Tische in solchem Ton vom Herrn Doctor sprechen. Wir kennen ihn gut genug, um zu wissen, daß er in Benehmen und Grundsätzen ein edler Mensch ist. Er ist Herr über sein Thun, und wenn ihm das Fräulein lieb geworden ist und er sie zuweilen besucht, so geht das keinen Dritten etwas an. Und es ist boshafte Verleumdung zu sagen, daß er dort etwas Unehrenhaftes begehen wird und Geld ausgeben, das ihm nicht gehört.«

Dem Komiker kam vor Schrecken eine Brotkrume in die falsche Kehle, er versank in den heftigsten Bühnenhusten seines Lebens, die Mutter aber versetzte, um den genialen Mann zu entschuldigen: »Du selbst hast zuweilen gefühlt, daß das Benehmen des Doctors nicht das richtige war.«

[69] »Wenn ich in thörichtem Unmuth so etwas gesagt habe,«rief Laura, »war es ein Unrecht, und es schmerzt mich sehr; ich habe nur die Entschuldigung, daß es niemals böse gemeint war. Von Andern aber ertrage ich keine Kränkung unseres Nachbars.« Und sie stand vom Tische auf und verließ das Zimmer.

Der Komiker rechtfertigte sich gegen die Mutter, Herr Hummel aber faßte an sein Weinglas und sagte, mit zugedrückten Augen seiner Tochter nachsehend: »Sie ist bei trübem Tageslicht gar nicht von mir zu unterscheiden.«

Die Missethaten des Doctors machten ihm selbst wenig Kummer. Er hatte seiner Tänzerin vom Ball einen Besuch gemacht, denselben, wobei er am Fenster gesehen wurde. Einer seiner Schulfreunde, jetzt zweiter Tenor der Bühne, war dazugekommen und hatte mit der Künstlerin beschlossen, an ihrem nahen Geburtstage ein kleines Pickenick einzurichten, so war Fritz aufgefordert worden, Theil zu nehmen. Es war eine lustige Gesellschaft gewesen, der Doctor hatte sich unter den leichtbeschwingten Vögeln der Bühne sehr gut unterhalten und mit der Ruhe eines Weisen über den guten Takt gefreut, welcher in der zwanglosen Weise ihres Verkehrs sichtbar wurde. Auch manches verständige Wort wurde den Abend gesprochen, und er ging mit der Ansicht nach Hause, daß es für Seinesgleichen recht erfrischend sei, sich einmal zu der lustigen Kunst zu gesellen. Aber er versuchte an demselben Abend auch durch eine Kriegslist seine unbekannte Briefschreiberin zu ermitteln. Als man kleine Lieder sang und mit munterer Grazie komische Reime hersagte, hatte er das Käferlied auf das Tapet gebracht und ehrbar angefangen: »Der Käfer auf dem Zaune saß, brum brum, die Fliege, die darunter saß, sum, sum.« Einige hatten eingestimmt, die Dame im Mantel aber kannte das Lied gar nicht, nur ein ähnliches aus einer alten Rolle, und als der Bassist dem Doctor die Melodie aus dem Munde nahm und bei den folgenden Versen jeden der auftretenden Vögel durch [70] Geberde und komische Veränderungen der Melodie zu porträtiren wußte, da hatte die Wirthin so unbefangen gelacht und sich vorgenommen, das Lied zu lernen, daß der Doctor wieder sehr zweifelhaft wurde, bei der Heimkehr auf seiner Hausschwelle stehenblieb und bedeutsam nach dem Hause des Herrn Hummel hinübersah. Und wer genau untersucht hätte, weshalb er nach diesem Käferlied selbst laut und übermüthig wurde wie die Andern, der hätte vielleicht gefunden, daß ihm durch jene Unbefangenheit der Schauspielerin ein kleiner Stein vom Herzen geschnellt war.

Aber das alles half ihm wenig gegenüber Brumm und Summ der Nachbarn. Die Parkstraße hatte ihrem Fritz Hahn in der letzten Zeit erhöhte Beachtung gegönnt, sein Bild war unter die ernsten Gelehrten ihres Albums eingereiht, welche sie täglich betrachtete und besprach. Jetzt schien ein fremder Zug in das bekannte Gesicht gekommen, und die Straße wollte nicht dulden, daß eines ihrer Kinder einmal anders aussah, als ihr geläufig war. Deshalb fand viel Raunen und Kopfschütteln statt, Herr und Frau Hahn erfuhren das, nicht zuletzt der Doctor. Er lachte darüber, aber ganz recht war es ihm nicht.

»Tanhäuser, edler Rittersmann, du liegst in Frau Venus Banden, ich selbst war der arge Papst Urban, ich häufte dir Jammer und Schande.« So klagte Laura in ihrem Zimmer, aber sie verbarg den großen Schmerz, auch gegen Ilse sprach sie kein Wort über die Gefahren des Doctors, und als diese einmal eine leise Anspielung auf die neue Verbindung des Freundes wagte, zerriß Laura den Faden ihrer Stickerei und sagte, während ihr das Blut heiß zum Herzen drang: »Warum soll der Doctor nicht hinübergehen? Er ist ein junger Mann, dem es gut thut, verschiedene Menschen zu sehen, er sitzt ohnedies zu viel in der Stube und bei seinen Eltern, wäre ich ein Mann wie er, ich hätte längst mein Bündel geschnürt und wäre in die Welt gelaufen, denn diese engen Hausmauern machen kleinmüthig und pedantisch.«

[71] Am Theetisch brachte einer der Anwesenden das Gespräch auf die Schauspielerin und zuckte die Achseln über ihr freies Wesen. Laura empfand die Pein des Doctors: da saß der arme Fritz und mußte das verwerfende Urtheil anhören, die näheren Bekannten schwiegen und sahen bedeutsam auf ihn, seine Lage war schrecklich, denn jeder Narr benutzte des Fräuleins schutzlose Stellung, um sich als Cato zu erweisen. »Ich wundere mich,« rief sie, »daß die Herren so strenge über kleine Streiche einer Künstlerin urtheilen, das sollten sie doch uns überlassen. Einer solchen Dame darf man noch viel mehr zu gut halten, denn ihr fehlt aller Schutz und alle Freude, welche uns die Familie gibt. Ich bin überzeugt, daß sie ein wackeres und feinfühlendes Mädchen ist.«

Der Doctor sah dankbar zu ihr hinüber und bestätigte ihre Worte. Er merkte nichts, aber es war gekommen, wie in seinem Kindermärchen, Laura bog sich bereits zu seiner Fußspitze herab und hob das Taschentuch auf.

Noch mehr wurde ihr zugemuthet. Der Monat März begann in der Welt seine Theaterstreiche. Erst hatte er eine Schneelandschaft aus grauen Wolkensoffitten heruntergelassen, Dächer mit Eiszapfen, weiße Krystalle an den Bäumen und wildes Sturmgeheul hinter der Scene, plötzlich war Alles verwandelt, ein lauer Südwind wehte, die Knospen der Bäume schwollen, auf den Wiesen hob sich junges Grün über die dürren Stiele; die Kinder liefen in den Stadtwald und trugen große Bündel der ersten Frühlingsblumen heim, fröhliche Menschen zogen in unabsehbarer Wallfahrt durch die Parkstraße dem warmen Sonnenschein entgegen.

Auch über Herrn Hummel kam das Frühlingsahnen. Dies äußerte sich jährlich dadurch, daß er Farbe für den Kahn mischte und an einem kluggewählten Nachmittag mit Frau und Tochter in einen entlegenen Kaffegarten lustwandelte. Für Laura war die festliche Reise ein mäßiges Vergnügen, denn Herr Hummel spazierte den Frauen mit starken Schritten voraus, [72] er freute sich ganz in der Stille darüber, wie Alles in der alten Natur wieder in Stand kam und gönnte den Seinen nur dann eine Bemerkung über die Schulter, wenn ihn eine Veränderung im Pflanzenwuchs ärgerte. Aber Laura wußte, daß der Vater auf diese Märzfreude hielt und eilte auch in diesem Jahre neben der Mutter hinter ihm her, einem einsamen Dorfe zu, wo Herr Hummel seine Pfeife rauchte, die Hühner fütterte, den Kellner abkanzelte, mit dem Wirth ein Gespräch über die Saaten führte und der Sonne gestattete, sich auch ihrerseits über das gute Aussehen ihres alten Bekannten Hummel zu freuen. Denn Herr Hummel, sonst keines wegs menschenscheu, liebte in der Natur allein zu sein und haßte die Sammelplätze der Städter auf dem Lande, wo der Duft von frischem Kuchen und gebackenen Kräpfeln alle Natur wegräucherte.

Als er mit seinen Frauen den Kaffegarten betrat, sah er unzufrieden, daß bereits andere Gäste vorhanden waren. Er warf einen zweiten tadelnden Blick auf die lustige Gesellschaft, welche seinen gewöhnlichen Platz in Besitz genommen hatte, und erkannte die junge Schauspielerin, andere Mitglieder der Bühne, mitten unter ihnen den Sohn seines Gegners. Da wandte er sich zu seiner Tochter und sagte blinzelnd: »Heut wirst du recht zufrieden sein, hier hast du ja außer dem Naturgenuß auch noch die Kunst zur Hand.« Laura erschrak vor der harten Zumuthung, welche ihrer Kraft gestellt wurde, aber sie hob stolz das Haupt und schritt mit den Eltern in eine andere Ecke des Gartens. Dort setzte sie sich mit dem Rücken gegen die Fremden. Dennoch merkte sie mehr von ihrem Treiben, als für die Fassung gut war, sie vernahm Lachen und lustiges Gebrumm der Käferversammlung; je weniger sie sah, um so peinlicher wurde der Lärm, und jedes Geräusch wurde in der tiefen Stille fühlbar, denn auch Ohr und Auge der Mutter hing gespannt an der andern Gesellschaft. Nach einer Weile brach die laute Unterhaltung der Künstler ab, aus den leisen Reden glaubte sie ihren Namen zu hören. Gleich darauf [73] knirschte hinter ihr der Kies, sie dachte sich, daß der Doctor in ihrem Rücken war.

Er trat an den Tisch, grüßte stumm den Vater, machte der Mutter eine freundliche Bemerkung über das Wetter und war gerade im Begriff sich an Laura zu wenden, mit einem Zwange, den sie ihm wohl ansah, als Herr Hummel, der bis dahin den Einbruch des Feindes schweigend ertragen hatte, die Pfeife aus dem Munde nahm und mit sanfter Stimme begann: »Ist denn möglich, was man über Sie hört, Herr Doctor? Sie wollen sich verändern?« Laura fuhr mit dem Sonnenschirm heftig in den Kies.

»Ich weiß nichts davon,« versetzte der Doctor kühl.

»Es geht das Gerücht,« fuhr Herr Hummel fort, »Sie wollen Ihren Büchern Lebewohl sagen und dramatischer Künstler werden. Sollte dieses doch der Fall sein, so bitte ich Sie freundlich, auch meines kleinen Geschäftes zu gedenken. Jede Art von künstlerischer Kopftracht, für Liebhaberrollen feiner Biber, für Lakaien mit Tressen, und wenn Sie einmal den Bajazzo machen, eine weiße Filzmütze. Aber Sie werden lieber Clown heißen wollen. Es ist jetzt eine gute Carriere geworden, Hanswurst ist aus der Mode, man wird Sie auch Herr Clown anreden.«

»Ich habe nicht die Absicht, zur Bühne zu gehen,« erwiederte der Doctor. »Wenn ich ja auf den Einfall käme, würde ich Sie nicht um die Kunstwerke Ihrer Fabrik bitten, sondern um eine Unterweisung in dem, was Sie für gute Lebensart halten. Ich würde dann auf der Bühne wenigstens wissen, was sich unter Männern von Anstandsgefühl nicht schickt.« Er grüßte die Frauen und entfernte sich.

»Immer Humboldt,« sagte Herr Hummel ihm nachblickend.

Laura rührte sich nicht, aber ihre dunklen Augenbrauen zogen sich so drohend zusammen, daß auch Herr Hummel davon Kenntniß nahm. »Ich bin ganz deiner Meinung,« sagte er behaglich zu seiner Tochter, »es ist schade um ihn; wäre [74] er nicht in dieser Strohhütte verdorben, es hätte wohl etwas aus ihm werden können. Der ist nun auch dahin.« Dabei nahm er Kuchenbrocken und bot sie einem Löwenhündchen, welches vor ihm auf den Hinterbeinen saß und die Vorderpfoten bittend auf und ab bewegte.

»Billy,« rief eine Frauenstimme durch den Garten. Aber Hund Billy achtete nicht darauf, sondern fuhr fort, Herrn Hummel seine Ergebenheit zu beweisen, und dieser, der für Thiere ein weicheres Gemüth hatte als für Menschen, fütterte den Kleinen.

Die Schauspielerin kam eilig heran. »Bitte geben Sie dem unartigen Thiere keinen Kuchen, es sind Mandeln darin,« bat die Künstlerin und wehrte dem Hündchen.

»Ein hübscher Hund,« bemerkte Herr Hummel sitzend.

»Wenn Sie erst wüßten, wie gescheidt er ist,« sagte das Fräulein, »er versteht alle Kunststücke. Zeige dem Herrn, was du gelernt hast.« Sie hielt den Sonnenschirm hin, Billy sprang eifrig darüber weg und sofort mit einem Satze auf den Schoß des Herrn Hummel, dort wedelte er mit dem Schweif und versuchte ihm das Gesicht zu lecken.

»Er will Sie küssen,« sagte die Schauspielerin, »darauf dürfen Sie sich etwas einbilden, denn das thut er gar nicht Jedermann.«

»Es ist auch nicht Jedermanns Sache,« versetzte Herr Hummel und streichelte den Kleinen.

»Sei dem Herrn nicht lästig, Billy,« schalt das Fräulein.

Herr Hummel stand auf und überreichte den Hund, der auf seinen Kuß nicht verzichten wollte und immer noch nach dem Gesicht des Hausbesitzers züngelte. »Er ist treuherzig,« sagte Herr Hummel, »und hat ganz die Farbe des meinigen.«

Das Fräulein liebkoste den Kleinen. »Der Schelm ist leider sehr verzogen; er kriecht in meinen Muff, sooft ich in das Theater gehe, und ich muß ihn mitnehmen, obgleich das nicht geschehen soll. Erst neulich stand ich seinetwegen Todesangst [75] aus, denn während ich als Klärchen unter den Bürgern jammerte, war Billy aus der Garderobe gelaufen, wedelte zwischen den Coulissen und machte mir Männchen.«

»Es war ein ergreifendes Spiel,« begann Frau Hummel.

»Ich fuhr wohl mehr umher als sonst,« entgegnete die Schauspielerin, »denn ich mußte bei jeder Wendung in die Coulisse rufen: Kusch, Billy!«

»Gut,« nickte Herr Hummel, »immer Besonnenheit.«

»Heut bin ich dem Unartigen dankbar,« fuhr das Fräulein fort, »denn er verschafft mir hier auf dem Lande die Freude, meine Nachbarn zu begrüßen. Herr Hummel, wie ich höre.«

Herr Hummel verneigte sich schwerfällig. Die Schauspielerin wandte sich mit einer Verbeugung zu den Damen, welche stumm ihren Gruß erwiederten.

An der Dame war Manches, was Herrn Hummel gefiel. Sie war hübsch, sah aus klugen Augen fröhlich in die Welt und trug etwas auf dem Kopf, was er persönlich kannte. Er ergriff also einen Stuhl und sagte mit einer zweiten Verbeugung: »Wollen Sie nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?« Die Fremde nickte ihm zu und wandte sich an Laura. »Ich freue mich, Sie endlich so nahe zu sehen, Sie sind mir keine Fremde mehr, ich habe manchmal an Ihnen rechte Freude gehabt, und es ist mir lieb, daß ich Ihnen heut dafür danken kann.«

»Wo war das doch?« frug Laura beklommen.

»Wo Sie gewiß nicht daran dachten,« versetzte die Andere. »Ich habe ein scharfes Auge und erkenne über die Lampen jedes Gesicht der Zuschauer. Sie glauben nicht, wie sehr das zuweilen peinigt. Da Sie einen festen Platz haben, ist mir oft Erholung gewesen, auf Ihren Zügen auszuruhen und den lebendigen Ausdruck zu betrachten. Und mehr als einmal habe ich, ohne daß Sie es wußten, für Sie allein gespielt.«

»Ha,« dachte Laura, »das ist keine Fliege, das ist Frau [76] Venus.« Aber sie fühlte eine Saite anschlagen, die reinen Ton gab. Sie sagte der Schauspielerin, wie ungern sie eine ihrer Rollen versäume, und daß in ihrem Hause die erste Frage vor dem neuen Theaterzettel sei, ob das Fräulein mitspiele.

Dies gab der Mutter Gelegenheit, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Dagegen rühmte die Schauspielerin, wie gütig man ihr überall entgegengekommen sei. »Denn das Reizvollste unserer Kunst,« fuhr sie fort, »sind die stillen Freunde, welche wir in den Stunden des Spiels gewinnen, Menschen, die man sonst vielleicht nie sieht, deren Namen man nicht weiß, und welche doch unser Leben mit Theilnahme begleiten. Lernt man bei Gelegenheit einmal dieses Wohlwollen Fremder kennen, so wird es reiche Entschädigung für die Leiden unseres Berufes, unter denen die zudringliche Huldigung gemeiner Menschen vielleicht das größte ist.«

Nun, die Huldigung des Doctors durfte sie zu diesen Leiden sicher nicht zählen.

Während die Frauen in solcher Weise miteinander sprachen und Herr Hummel beifällig zuhörte, traten auch einzelne Herren dem Tisch näher. Frau Hummel begrüßte zuvorkommend den zweiten Tenor, der im Hause der Frau Pathe bisweilen ein Lied sang, und der würdige Vater der Bühne, welcher Herrn Hummel aus der Ressource kannte, begann mit diesem ein Gespräch über den Bau eines neuen Theaters. Darüber hatte Hummel als Bürger sehr bestimmte Ansichten, welche mit denen des würdigen Vaters ganz übereinstimmten.

So verschmolzen die beiden getrennten Gesellschaften, und der Tisch des Herrn Hummel wurde ein Mittelpunkt, den die Kinder Thalia's umschwärmten. Während die Schauspielerin mit Frau Hummel recht ehrbar und hausmütterlich die Uebelstände ihrer Wohnung besprach, sah Laura nach dem Doctor. Er stand mehre Schritte von der Gesellschaft an einem Baum und sah nachdenkend vor sich hin. Schnell trat[77] Laura zu ihm und begann mit fliegender Eile: »Mein Vater hat Sie beleidigt, ich bitte Sie um Verzeihung.«

Der Doctor sah auf. »Es that nicht weh,« sagte er gutherzig, »ich kenne ja seine Art.«

»Ich habe sie gesprochen,« fuhr Laura mit bebender Stimme fort, »sie ist gescheidt und liebenswürdig und hat eine unwiderstehliche Freundlichkeit.«

»Wer?« frug der Doctor, »die Schauspielerin?«

»Verstellen Sie sich nicht gegen mich,« fuhr Laura fort, »das ist zwischen uns ubnöthig, es gibt Niemand auf Erden, der Ihr Glück so von Herzen wünscht als ich. Betrüben Sie sich nicht über das Kopfschütteln Anderer; wenn Sie der Liebe des Fräuleins sicher sind, ist alles Uebrige Nebensache.«

Der Doctor erstaunte immer mehr: »Ich will ja aber das Fräulein gar nicht heiraten!«

»Leugnen Sie nicht, Fritz Hahn, das steht Ihrem wahrhaften Wesen schlecht,« rief die leidenschaftliche Laura wieder. »Ich merke wohl, wie sehr das Fräulein zu Ihnen paßt. Seit ich sie gesehen, bin ich überzeugt, für alles Gute und Große finden Sie bei ihr Verständniß. Bedenken Sie sich nicht und wagen Sie muthig Ihrem Herzen zu folgen. Denn sehen Sie, Fritz, eine Sorge habe ich um Sie. Ihr Gefühl ist warm und Ihr Urtheil ist sicher, aber Sie hängen zu fest in den Banden Ihrer Umgebung. Ich zittere davor, daß Sie darum unglücklich werden können, weil Sie vielleicht nicht in der rechten Stunde einen Entschluß fassen, der Ihrer Familie ungewöhnlich erscheint. Ich kenne Sie von meiner ersten Kindheit und weiß sehr gut, daß Ihre Gefahr immer war, sich selbst für Andere zu vergessen. Darüber können Sie zu einem opfervollen Dasein kommen, und der Gedanke ist mir schrecklich. Denn ich möchte, daß Ihnen alles Gute zu Theil wird, was ihr redliches Herz verdient.« Die Thränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihn liebevoll ansah.

Jedes Wort, das sie sprach, klang dem Doctor wie Lerchentriller [78] und Geschwirr der Heimchen. Leise sprach er: »Ich liebe das Fräulein nicht, ich habe nie den Gedanken gehabt, ihre Zukunft an die meine zu fesseln.«

Laura trat zurück, über ihr Antlitz zog hohe Röthe.

»Es ist eine flüchtige Bekanntschaft, nichts weiter für jene und mich, ihr Leben gehört der Kunst und schwerlich jemals ruhiger Häuslichkeit. Wenn ich für mich ein Herz zu begehren wagte, so wäre es nicht das ihre, sondern ein anderes.« Er sah nach dem Tisch hinüber, wo gerade ein lautes Lachen Herrn Hummel andeutete, und sprach die letzten Worte so leise, daß sie kaum bis in Laura's Ohr drangen, dabei blickte er schmerzlich vor sich hin, auf die Knospe des Fliederstrauches, in welcher noch die junge Blüthe verborgen lag.

Laura stand unbeweglich, wie vom Stabe eines Zauberers berührt, aber die Thränen liefen noch immer von ihrer Wange herab. Sie war nahe daran, die Kirsche ihres Vielliebchens mit den Lippen zu fassen.

Da summten die lustigen Käfer heran, die Schauspielerin winkte ihr lächelnd zu, der Vater rief, das Märchen war zu Ende. Laura hörte noch, wie das Fräulein siegreich zum Doctor sagte: »Er hat mir doch einen Stuhl angeboten, er ist gar kein Brummbär, er war sehr gut gegen Billy.«

Als Fritz in seine Wohnung kam, schleuderte er Hut und Ueberrock von sich, sprang an den Schreibtisch und holte die kleinen Briefe der unbekannten Hand heraus. »Sie ist es,« rief er laut, »ich Thor, nur einen Augenblick zu zweifeln.« Er las jeden der Briefe wieder durch und nickte bei jedem mit dem Kopfe. Das war sein hochsinniges, wackeres Mädchen; wie sie sich sonst auch stellte, heut hatte sie ihm ihr wahres Antlitz gezeigt. Er wartete ungeduldig auf die Stunde, wo er Laura bei den Freunden treffen würde. Sie trat spät ein, grüßte ihn ruhig und war den Abend schweigsamer und weicher als sonst. Wenn sie sich an ihn wandte, sprach sie zu ihm ernsthaft wie zu einem bewährten Freunde. Sehr [79] gut stand ihr die milde Ruhe. Jetzt gab sie sich ihm, wie sie war, ein begeistertes Fühlen, ein reiches Gemüth. Sprödigkeit und neckende Laune, die alten Schalen, welche den süßen Kern verdeckt hatten, waren zerbrochen. Auch die ruhige Vorsicht freute ihn, mit der sie unter den Freunden ihre Empfindung barg. Wenn die nächste Liedersendung kam, dann sprach sie zu ihm, wie jetzt beiden um's Herz war, oder sie gab doch ihm das Recht, offen an sie zu schreiben. Der Doctor zählte am nächsten Morgen die Minuten, bis der Briefträger sein Haus betrat. Er riß die Thür auf und eilte dem Manne entgegen. Fritz hielt einen neuen Brief in der Hand, er löste ungeduldig das Couvert, keine Zeile des Absenders lag dabei, er entfaltete den alten Druckbogen und las die Worte des groben Liedes:

»Hei ha ho. Steck an den Schweinebraten, darzu die Hühner jung! darauf mag uns gerathen ein frischer freier Trunk. Hol' Wein, schenk ein, trink mein liebes Brüderlein, heute muß Alles verschlemmet sein,« und der ehrliche einfältige Doctor frug wieder: ist sie es? oder wäre möglich, daß sie es nicht ist?

4. Unter den Studenten
4.
Unter den Studenten.

Wer dem Professor von Herzen gut werden wollte, der mußte ihn sehen, wenn er im Kreise seiner Zuhörer saß, der gereifte Mann unter der aufblühenden Jugend, der mittheilende Lehrer vor bewundernden Schülern. Denn des akademischen Lehrers schönstes Vorrecht ist, daß er nicht nur durch sein Wissen, auch durch seine Persönlichkeit die Seelen des nächsten Geschlechtes adelt. Aus den Vielen, welche einzelne Vorträge hören, schließt sich ein gewählter Kreis enger an den Gelehrten, [80] im persönlichen Verkehr schlingt sich ein Band um Lehrer und Schüler, leicht gewebt, aber dauerhaft, denn was den Einen an den Andern fesselt, oft den Fremden nach wenig Stunden zum Vertrauten macht, ist ihr frohes Bewußtsein, daß Beide dasselbe für wahr, groß, gut halten.

Dieses Verhältniß, reizvoll und fruchtbar für beide Theile, ist die edle Poesie, welche die Wissenschaft ihren Bekennern gönnt. Fremde und spätere Menschen, welche den Werth eines Mannes nur nach seinen Büchern beurtheilen, sie erhalten, wie hoch auch der Gelehrte selbst diese Art von Ueberlieferung schätzen möge, doch nur ein unvollständiges Bild des Entfernten; weit anders wird der lebendige Quell schöpferischer Kraft auf die Seelen solcher, welche von Lippe und Auge des Lehrers sein Wissen empfangen. Nicht nur der Inhalt seiner Lehre bildet sie, mehr noch seine Art, zu suchen und darzustellen, am meisten sein Charakter und die besondere Weise des Vortrags. Denn diese erwärmen dem Hörer das Herz und senken ihm Achtung und Neigung in das Gemüth. Solcher Abdruck eines menschlichen Lebens, der in Vielen zurückbleibt, ist für Arbeitsweise und Charakter der Jüngeren oft wichtiger als der Inhalt empfangener Lehre. In den Schülern arbeitet das Wesen des Lehrers neues Leben schaffend fort, seine Vorzüge, zuweilen auch Eigenheiten und Schwächen. In jedem Hörer färbt sich anders das charakteristische Bild seines starken Meisters, und doch ist in jedem Schüler der Lehrer, der an dieser Seele formte, vielleicht bis zur kleinen Absonderlichkeit erkennbar.

Die Lehrstunde, welche Felix für seine Frau festgesetzt hatte, war nicht die einzige, welche er in seinem Hause gab. Ein Abend jeder Woche gehörte seinen Studenten. Da kamen zuerst Einzelne, welche für ihre Arbeiten einen Wunsch hatten, mit Anfrage und Bitte. Später sammelte sich eine größere Zahl, auch Ilse's Zimmer wurde geöffnet, Gabriel bot Thee und einfaches Abendbrot, eine Stunde verlief in zwanglosem Gespräch und einzelnen Gruppen; bis sich allmählich die Getreuen [81] in das Arbeitszimmer des Lehrers zogen und den Kreis dichter um sein geehrtes Haupt schlossen. Dann saß der Professor inmitten seiner Schüler und das Zimmer wurde zuweilen enge. Auch hier formlose Unterhaltung, bald ein launiger Bericht über Erlebtes, bald eingehende Erörterung, wobei der Professor seine jungen Freunde zu thätiger Theilnahme anzuregen wußte; dazwischen schnelle Urtheile über Menschen und Bücher in schlagender Rede und Antwort, wie solchen natürlich ist, die aus flüchtigem Anschlage eine lange Melodie erkennen. Felix erschloß in diesen Stunden sein Inneres mit einer Offenheit, die er in seinen Vorlesungen nicht zeigte, er sprach über sich und Andere ohne Rückhalt und verhandelte behaglich, was ihm gerade auf der Seele lag. Aber wie verschieden die Unterhaltung dieser Abende dahinlief, immer waren es Männer derselben Wissenschaft, welche einander im Großen und Kleinen verstanden und selbst im Scherze ernster Geistesarbeit gedachten.

Auch Frau Ilse blieb dieser vertrauten Gesellschaft keine fremde Erscheinung. Die Theilnehmer, sämmtlich ernsthafte Männer, ältere Studenten oder junge Doctoren, freuten sich der ansehnlichen Hausfrau, welche in ihrer einfachen Weise gern mit den Einzelnen verkehrte. Im Jahre vorher war einmal ihre Freude an der Odyssee zu Tage gekommen, als sie die Herren zum Genuß einer Hinterkeule des erdaufwühlenden Ebers aufgefordert und den wohlthuenden Wunsch ausgesprochen hatte, die Gesellschaft möge nicht verschmähen, ihre Hände nach dem bereiteten Mahle auszustrecken. Seitdem hieß sie in dem Kränzchen Frau Penelope, und sie wußte, daß dieser Beiname sich auch über die Wände des Hauses in die Studentenschaft verbreitet hatte.

Nun hatte Ilse auch unter den jungen Gelehrten ihre Lieblinge. Zu diesen gehörte ein wackerer Student, nicht der bedeutendste von den Zuhörern des Professors, aber einer der fleißigsten. Er war ihr Landsmann und Ilse hatte zuerst an ihm erkannt, daß auch zarte Empfindung in der Brust eines [82] Studenten zu finden sei. Unser Student hatte in den letzten Jahren mit Erfolg daran gearbeitet, den Krater seines Innern durch Collegienhefte auszufüllen. Seiner Lyrik aber hatte er ziemlich entsagt; denn damals, wo der Professor ihm seine Gedichte zurückschickte, war er sehr in sich gegangen und hatte demüthig um Entschuldigung gebeten; war auch seitdem mit Hilfe eines guten Stipendiums, das ihm Felix verschafft, zu einer weniger menschenfeindlichen Auffassung bürgerlicher Verhältnisse durchgedrungen. Er bewährte sich als ein treuer und anhänglicher Bursch und trug jetzt würdig den Titel Doctorandus, welcher nach Angabe unsrer Grammatiker einen Mann bedeutet, der zum Doctor gemacht werden soll oder muß. Dabei hatte er auch bei der Studentenschaft eine gewisse Geltung, er bekleidete in der großen Verbindung Arminia ein Ehrenamt, trug noch immer ihre Farbenmütze und wurde dort zu den bevorzugten Weisen gerechnet, welche an Trinkabenden von lästiger Verpflichtung befreit sind und die Pausen, in denen stürmische Jugend Athem holt, durch ernstes Gespräch über Menschentugend ausfüllen.

An einem Studentenabend brodelte die Unterhaltung schon in Ilse's Zimmer sehr laut und warf wissenschaftliche Blasen. Eine interessante Handschrift war in entlegener süddeutscher Bibliothek aufgefunden. Ueber den Fund und den Herausgeber wurde verhandelt, und Felix zählte behaglich mit einigen Auserwählten alle ähnlichen Entdeckungen auf, welche in den letzten zwanzig Jahren gemacht waren. Da begann unser Student, der gerade durch Frau Ilse eine Tasse Thee erhalten hatte, mit dem Löffel rührend, recht gemüthlich: »Dürfte nicht auch in der Nähe noch Manches zu finden sein? So steht in meiner Heimat eine alte Kiste, welche Bücher und Papiere aus dem Kloster Rossau enthalten soll. Es ist nicht unmöglich, daß darunter etwas Werthvolles steckt.«

Das sprach der Student und rührte mit dem Löffel, dem [83] Knaben gleich, welcher den brennenden Span in einer gefüllten Bombe herumdreht.

Der Professor fuhr von seinem Stuhl in die Höhe und warf dem Studenten einen Flammenblick zu, daß dieser erschrak und die Tasse schnell hinsetzte, um bei dem, was kommen mußte, nichts zu beschütten. »Wo soll die Kiste stehen?«

»Wo? weiß ich nicht,« versetzte der Student betreten, »vor einigen Jahren hat mir ein Landsmann davon erzähl, er war in der Gegend von Rossau geboren« – der Student nannte den Namen und Ilse kannte die Familie. »Aber in unserm Fürstenthum muß es sein, denn er hat dort als Hauslehrer an mehren Orten gelebt.«

»War er denn Philolog?« frug ein älterer Hörer ebensosehr im Jagdeifer als der Professor.

»Er war Theolog,« antwortete unser Student.

Ein bedauerndes Geräusch ging durch das Zimmer. »Dann ist die Nachricht doch unsicher,« schloß der Kritiker.

»Hat der Mann die Kiste selbst gesehen?« frug der Professor.

»Auch darüber bin ich nicht sicher,« erwiederte der Student, »ich hatte damals noch kein rechtes Verständniß für den Werth dieser Mittheilung. Aber er muß sie doch selbst gesehen haben, denn ich erinnere mich, er sagte, sie wäre dick mit Eisen beschlagen.«

»Unglücksmann,« rief der Professor, »schaffen Sie uns Kunde von diesem Kasten.« Er ging heftig im Zimmer auf und ab, die Studenten machten seiner Aufregung ehrerbietig Platz. »Die Nachricht ist wichtiger, als ich Ihnen jetzt sagen kann,« begann der Professor vor dem Studenten anhaltend. »Suchen Sie zunächst Ihre Erinnerungen zu sammeln. Hat Ihr Bekannter die Kiste offen gesehen?«

»Wenn ich mir Alles zusammenhalte,« sagte der Student, »möchte ich glauben, er hat selbst gesehen, daß alte Klostersachen darin liegen.«

»Dann war sie also nicht mehr verschlossen?« frug der Professor weiter. »Und wo ist jetzt Ihr Freund?«

[84] »Er ist voriges Jahr mit einer Bauerstochter nach Amerika gegangen. Wo er sich aufhält, weiß ich nicht, das wird aber bei seinen Verwandten zu erfahren sein.«

Wieder ging ein mißbilligendes Geräusch durch das Zimmer.

»Ermitteln Sie den Aufenthalt des Mannes, schreiben Sie ihm und fordern Sie genaue Auskunft,« rief der Professor. »Sie können mir keinen größern Dienst erweisen.«

Der Student versprach das Menschenmögliche. Als die Herren sich entfernten, richtete Gabriel dem Studenten eine heimliche Einladung zu nächstem Mittag aus. Ilse wußte, daß ihrem Felix jetzt die Nähe des Vertrauten wohlthun werde, der einen Bekannten besaß, der den Kasten gesehen hatte, der die Bücher von Rossau enthielt, unter welchen allerdings die Handschrift des Tacitus liegen konnte, wenn sie nicht irgendwo anders war.

Aber sie selbst hörte ohne Freude von der geheimnißvollen Kiste. Denn Ilse war leider in Sachen der Handschrift immer noch ungläubig, sie hatte einigemal den Gatten durch ihre Gleichgültigkeit verletzt und mied seit dem Unglück des Struvelius jede Erwähnung der verlorenen. Dazu hatte sie noch einen besonderen Grund. Sie wußte, wie sehr der Gedanke und jede Erörterung ihren Felix aufregte. Er fuhr dann in die Höhe, sprach in heftigen Worten und seine Augen blitzten wie im Fieber. Zwar bändigte er sich selbst nach wenigen Augenblicken und lachte wohl über seinen Eifer, aber der Hausfrau war solcher Ausbruch geheimer Leidenschaft unbehaglich, denn sie empfand bei dem plötzlichen Auflodern, daß der Gedanke an den Codex die Seele des geliebten Mannes wund drückte, und sie argwöhnte, daß er in der Stille oft darüber träumte und Feindseliges gegen die Mauern des Vaterhauses sann.

Auch heut hatte unser Student den Sturm aufgeregt. Noch spät wurde der Doctor gerufen, lange wurde erörtert und gestritten, Ilse war erfreut, daß der Doctor auf die Kiste nicht [85] viel gab und durch verständige Einwürfe auch dem Professor wieder eine launige Bemerkung über seine heiße Jagdlust abnöthigte.

Als der Student am nächsten Mittag die Briefe, welche er geschrieben hatte, als Zeichen seines Eifers mitbrachte, behandelte der Professor die Nachricht ruhiger. »Es ist eine unsichere Notiz,« sagte er, »selbst wenn der Erzähler Wahrheit sprach, mag noch jeder einzelne Umstand, sogar der Name des Klosters, unrichtig sein.« Als vollends aus der Heimat des Studenten die Kunde einlief, der Theolog habe sich irgendwo im Staate Wisconsin als Apotheker niedergelassen, und der Brief des Studenten in eine unsichere Ferne gesandt werden mußte, da ermäßigte sich der Strudel, welchen die auftauchende Kiste erregt hatte, zu gefahrlosen kleinen Wellen.

Der größte Vortheil erwuchs aus diesem Vorfall zunächst unserm Studenten. Denn der Professor theilte die Nachricht dem Kammerherrn mit und gönnte diesem eine Andeutung, daß in dem Kasten Sachen von hohem Werth verpackt sein könnten. Der Kammerherr hatte früher einmal durch mehre Jahre die Geschäfte eines Schloßhauptmanns besorgt und war mit dem alten Hausgeräth einiger fürstlichen Schlösser bekannt, wußte jedoch auf keinem Boden etwas Verdächtiges zu finden. Da ihm aber der Student als Günstling des Hauses vor Augen trat, wollte er an dem jungen Mann seine Geneigtheit erweisen und forderte denselben auf, sich als Landeskind dem Erbprinzen vorzustellen. Das geschah. Eine Folge der Vorstellung war, daß unser Student zu einem Abend eingeladen wurde, an welchem der Prinz mehre akademische Bekannte bei sich empfing.

Es war für den Studenten ein bangsamer Abend, und der Armine hatte allerlei Ursache, argwöhnisch zu sein. Denn in diesem Jahr gährte es heftig in der Studentenschaft. Gerade die Händel zwischen dem Corps der Markomannen und der großen Genossenschaft Arminia hatten den Sturm aufgewirbelt. Und die letzte Veranlassung des Unwetters war seltsam und [86] lehrreich für Jeden, der die geheime Verknotung irdischer Ereignisse beachtet. Jener Zwist der Professoren, welcher die Vertreter der Alterthumswissenschaft voneinander schied, der Kampf zwischen Werner und Struvelius, hatte zu seiner Zeit die akademische Jugend durchaus nicht aufgeregt. Aber kurz darauf war unter den Studenten ein Lied aufgetaucht, in welchem die Abenteuer des Struvelius respectwidrig besungen wurden. Dies Lied war als Kunstwerk schwächlich, es lief im Bänkeltone und war mit einem wiederkehrenden Schlußreim geziert, welcher lautete: »Struvelius, Struvelius, heraus mit deinem Fidibus, wer sich verbrennt, der hat Verdruß.« Der Dichter ist nie ermittelt worden. Wenn man aber erwägt, daß dieses Lied, soweit sein possenhafter Inhalt erkennen ließ, feindselig gegen Struvelius und zu Werners Ruhm gedichtet war, und wenn man ferner erwägt, daß es zuerst unter den Arminen aufkam und daß unter den Kindern Armins einer mit lyrischer Vergangenheit war, daß dieser Eine zu Werners Kränzchen gehörte und daß im Kränzchen das Pergament einigemal verächtlich als Fidibus behandelt wurde, so kann man die vorsichtige Vermuthung nicht unterdrücken, daß unser Student seine scheidende Muse, als sie gerade zur Thür hinausgehen wollte, noch zu dieser niedrigen Leistung entwürdigt habe.

Das leichtfertige Lied war bei den Arminen heimisch, sein Schlußreim wurde zuweilen in stiller Nacht auf der Straße gehört, es war den Professoren sehr ärgerlich und nicht zuletzt dem Theetisch Werners, aber mit Gewalt ließ sich nicht dagegen ankämpfen. Den Markomannen und ihren Bundesgenossen blieb das Lied und seine Veranlassung gleichgültig, aber sie sangen die Verse nicht, weil diese einem Trinkliede der Arminen nachgebildet waren. Gerade da Werner sein Rectorat antrat, saßen in einer Gastwirthschaft Studenten aller Parteien durcheinander. Als ein Markomanne seine Pfeife an der Gasflamme anzündete und sich dabei das Corpsband versenkte, sangen einige Arminen höhnend den Schlußreim. Die Markomannen [87] sprangen auf und geboten Schweigen. Die natürliche Folge waren zahlreiche Forderungen. Leider blieb es dabei nicht. Ein Haufe Arminen war vor das Lager der Markomannen gezogen und hatte auf der Heerstraße dieselbe unfreundliche Weise angestimmt, es war zu bedauerlichen Zusammenstößen zwischen den Parteien und der Stadtpolizei gekommen, Untersuchungen und ernste Strafen waren das Ende gewesen. Werner selbst hatte in vertraulicher Besprechung mit einzelnen Häuptern Alles gethan, das leidige Lied zu dämpfen, und seinem Ansehen war gelungen, den Gesang wenigstens auf der Straße zu bändigen. Aber der Groll war in den Herzen zurückgeblieben. Durch allerlei widerwärtige Vorfälle wurde bemerkbar, daß die akademischen Bürger uneiniger als gewöhnlich und in widersetzlicher Stimmung waren.

Dies alles wälzte der Armine in besorgtem Gemüth, als er im Vorzimmer des Prinzen seine Mütze neben die Kopfzierden großer Markomannenhäuptlinge hing. Indeß verlief der Abend besser als er dachte. Die Markomannen beobachteten in dem geweihten Raume anständige Höflichkeit. Ja, das Zusammentreffen erhielt eine Bedeutung. Denn gerade in dieser Zeit war Veranlassung, ein Fest der Universität durch solennen Commers zu feiern. Aber wie häufig große Angelegenheiten unserer Nation, drohte auch dieses Trinkfest durch den Zwist der Stämme vereitelt zu werden. Jetzt, wo der Armine unter den Markomannen Eispunsch trank, äußerte der Erbprinz, daß er gern einmal einen feierlichen Commers ansehen würde, und Beppo, Führer der Markomannen, sprach gegen den Arminen eine Ansicht aus, wie der Zwist beigelegt werden konnte. Der Armine erbot sich, diese Vorschläge seinem Stamme zu überbringen. Als der Kammerherr Bedenken gegen eine Theilnahme des Erbprinzen am Commers erhob, versicherte der Sohn Armins, von Punsch und Gespräch begeistert, daß auch sein Volk gemüthvoll die Ehre empfinden werde, die der Erbprinz dem Fest durch seine Gegenwart erweise.

[88] Die Bemühungen unseres Studenten hatten Erfolg; das Kriegsbeil wurde begraben, die akademische Jugend rüstete sich zu einem gemeinsamen Feste. Ein großer Saal, reich verziert mit den Farben aller Genossenschaften, welche an dem Commers Teil nahmen, war mit langen Tafeln besetzt. An den Enden standen im Festschmuck die Präsiden mit ihren Schlägern, auf den Stühlen saßen mehre Hundert Studenten nach Verbindungen gereiht; unter den Markomannen der Prinz und sein Kammerherr, und der Prinz trug heut der Verbindung zu Ehren ihre Abzeichen. Rauschende Musik trug den vollen Klang der Lieder weit in die Runde, es war ein guter Anblick, so viele Männer, Hoffnung und Kraft des nächsten Geschlechtes, in festlichem Gesange und den alten Bräuchen der Akademie bei einander zu sehen. Ohne Störung verlief das Fest bis gegen das Ende. Als der Kammerherr bemerkte, daß die Wangen glühten, der Gesang wil der dahinfuhr und die Musik dem akademischen Pulsschlag nicht schnell genug tönte, mahnte er in der Pause zum Aufbruch. Der Prinz erhob sich, selbst erregt durch Gesang und Wein, vor ihm schritt der gesammte Adel der Markomannen, das wogende Volk zu theilen. Sie mußten sich durch die Menge drängen, welche von den Stühlen aufgestanden war und durch einanderschwirrte. So geschah es, daß der Prinz von seinem akademischen Hofstaat abgeschnitten wurde und mit einem trotzigen Arminen zusammenstieß, der, durch Wein gestärkt und durch unsanfte Berührung der Vorausschreitenden erbittert, den Weg nicht räumte, sondern mit den Ellbogen unbillig verengte und den Rauch seiner Pfeife ruhig vor sich hinblies, so daß der Dampf dem Prinzen um den kleinen Bart fuhr. Da hatte der Prinz die Unbesonnenheit, den Studenten anzustoßen und zu sagen: »Sie sind ein unverschämter Wicht.« Und der Armine sprach mit lauter Stimme das verhängnißvolle Wort aus, welches nach akademischer Sitte einen Zweikampf oder Ehrlosigkeit des Geschmähten zur Folge hat. Er war im Nu von den düstern Gestalten der [89] Markomannen umdrängt und dasselbe Schmähwort regnete von allen Seiten wie Hagel gegen seine dreiste Stirn. Er aber zog höhnend seine Schreibtafel und rief: »Einer nach dem Andern, daß keiner von dem Hofstaat fehlt, wie der Herr, so das Gesinde.« Und da der Andrang größer wurde, schrie er hinter sich: »Hierher ihr Arminen!« und begann im wilden Basse den Schlachtruf seines Stammes: »Struvelius, Struvelius, heraus mit deinem Fidibus!« Im Saale brach das Getümmel los, über Stuhl und Tisch sprangen die Arminen ihrem gefährdeten Krieger zu Hilfe – nicht mehr einzeln, sondern wie Heckenfeuer flogen die schmähenden Worte und Forderungen hin und her. Vergebens riefen die Präsiden zu den Plätzen, vergebens fiel die Musik ein, zwischen das Geschmetter der Fanfare klangen die zornigen Rufe der streitenden Parteien. Zwar eilten die Präsiden auf einen Hauf zusammen und trennten, im Zuge dazwischenfahrend, die Zankenden. Aber auf das wilde Toben folgten leidenschaftliche Erörterungen, die Verbindungen standen getrennt, die einzelnen Haufen verhöhnten einander und suchten nach altem Kriegsbrauch die Gegner allmählich bis zum äußersten Worte zu treiben, schon waren einige Ausdrücke gefallen, welche durch den Sittencodex der Akademie gänzlich verboten sind, die Schläger blitzten in der Luft und mehr als eine Faust packte statt der Waffe die Weinflasche. Die Musik stimmte das Vaterlandslied an, doch die Weise klang den Empörten widerwärtig in ihren Zorn, von allen Seiten donnerte der Ruf: »Aufhören.« Die verschüchterten Musiker schwiegen und der neue Ausbruch eines ungeheuren Tumultes schien unvermeidlich. Da sprang ein alter Häuptling der Teutonen, der sein Volk kannte, auf das Orchester, ergriff eine Geige, stellte sich als Dirigent hoch auf einen Stuhl und begann die kindische Melodie: »Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin.« Die Musik fiel in klagenden Tönen ein. Jeder sah nach der Höhe, man erkannte den ansehnlichen Mann, der angestrengt auf der Geige kratzte, die Stimmung schlug plötzlich [90] um, es entstand ein allgemeines Gelächter. Die Präsiden schmetterten mit ihren Klingen auf die Tische, daß mehr als eine zersprang, und geboten Ruhe, die Führer aller Verbindungen traten zusammen, erklärten den Commers für aufgehoben und forderten ruhigen Heimgang der Stämme, weil sie selbst alles Weitere in die Hand nehmen würden. Zornig drängte die Studentenschaft zum Saale hinaus und zerstreute sich zu ihren Sammelplätzen. Aber in jedem Haufen wurden die Vorfälle mit leidenschaftlicher Erbitterung besprochen und eilige Gesandtschaften schritten durch die Nacht von einem Lager zum andern.

Den Prinzen hatte der Kammerherr nach dem ersten Zusammenstoß aus dem Gewühl gerettet. Der Prinz saß in seinem Zimmer, bleich und entsetzt über den Unfall und die Folgen, die er zu haben drohte. Auch der Kammerherr war bestürzt, denn auf sein Haupt fiel die Verantwortung für diesen Skandal. Dabei sah er mit wirklicher Theilnahme auf den jungen Fürsten, der die Kränkung seiner Ehre so tief empfand und wie gebrochen vor sich hinstarrte, unempfänglich für den Trost, daß der Plebejer seine fürstliche Ehre so wenig zu kränken vermöge wie der Sperling auf dem Baum.

Nach einer schlaflosen Nacht empfing der Prinz die Aeltesten der Markomannen, welche kamen, um den Beschluß ihres Stammes zu verkünden. Sie erklärten, daß ihr erster Häuptling Beppo erwählt sei, die Stelle des Prinzen bei den weiteren Verhandlungen mit den Arminen zu vertreten, und der Senior bat ritterlich, ihm diese Ehre zu bewilligen. Er fügte hinzu: nach der Meinung seiner Genossenschaft habe der Armine überhaupt keine Ansprüche auf den Vorzug, daß dem verruchten Schmähwort eine Forderung folge, und wenn der Prinz jedes weitere Eingehen verweigere, würden die Markomannen alle Folgen auf ihre Genossenschaft nehmen. Aber sie wollten nicht verbergen, daß sie mit dieser Ansicht allein stünden, ja daß sie in ihrem eignen Corps Widerspruch gefunden hätten. Und [91] Alles erwägend hielten sie für die beste Auskunft, wenn der Prinz dem akademischen Brauch ein Zugeständniß mache, dessen Größe sie allerdings tief empfänden.

Der Prinz war noch fassungslos, der Kammerherr bat die Herren, Sr. Hoheit einige Stunden Zeit zur Erwägung zu lassen.

Unterdeß trug unser Student, den die Rücksicht auf seine Dissertation gebändigt und vor persönlichen Verwickelungen bewahrt hatte, die Kunde des Unheils bestürzt an den Doctor, da er sich in dieser Angelegenheit vor den Rector nicht traute. Der Doctor eilte zum Freunde, der bereits durch die Pedelle und Berichte der Polizei von dem unerfreulichen Ereigniß wußte. »Ueber den persönlichen Streitfall des Prinzen ist mir bis jetzt keine Anzeige geworden, es ist vielleicht für ihn selbst und für die Universität wünschenswerth, daß eine solche nicht erfolgt. Ich werde wachsam sein und weitere Ausschreitungen zu verhüten suchen, und ich werde meine Amtspflicht nach jeder Richtung auf das Strengste thun, sorgt aber dafür, daß ich über diese Angelegenheit nur erfahre, was mir Grundlage zu amtlichem Eingreifen werden kann.«

Fast in derselben Lage wie unser Student war der Kammerherr, auch er stellte sich sorgenvoll beim Doctor ein, erzählte den Streit und frug, was der Doctor von der Verpflichtung des Prinzen halte, sich durch seinen Stellvertreter aus einen Zweikampf einzulassen. Der Doctor erwiederte mit Zurückhaltung: »Jedes Duell ist Unsinn und Unrecht. Wenn der Erbprinz von dieser Ansicht durchdrungen ist und die Folgen derselben für sein Leben und dereinst für seine Regierung auf sich nehmen will, so werde ich der letzte sein, der gegen dies Martyrium etwas einwendet. Steht aber Ihr junger Herr nicht so sicher und frei über den Vorurtheilen seines Kreises und ist auch ihm die stille Ansicht eingepflanzt, daß es für Cavaliere und Militärs eine bestimmte Ehre gibt, welche noch etwas Anderes bedeutet als die Ehre eines Ehrenmannes, und [92] welche in gewissen Fällen ein Duell nöthig macht, sollte Ihr Prinz nach solchen Anschauungen urtheilen und dereinst regieren wollen, so will ich Ihnen allerdings bekennen, daß ich ihm das Recht nicht zugestehe, den Ehrbegriffen unserer akademischen Jugend entgegenzutreten.«

»Sie sind also der Meinung,« frug der Kammerherr, »daß der Prinz sich auf die angebotene Stellvertretung einlassen müsse?«

»Ich habe weder Recht noch Wunsch, hier eine Meinung auszusprechen,« versetzte der Doctor. »Ich kann nur sagen, daß mir die Stellvertretung auch nicht gefällt. Mir scheint die Sache so zu liegen: entweder Vernunft oder wenigstens persönlicher Muth.«

Der Kammerherr stand schnell auf. »Das ist ganz unmöglich; es wäre nicht nur eine unerhörte Abweichung von dem Herkommen und würde für den Prinzen neue peinliche Verwickelungen herbeiführen, es ist auch so vollständig gegen meine Ueberzeugung von dem, was einem Fürsten erlaubt ist, daß davon unter keinen Umständen die Rede sein kann.«

Der Kammerherr entfernte sich, nicht angenehm von der radikalen Auffassung des Doctors berührt. Nach der Heimkehr sagte er dem Prinzen: »Die Angelegenheit muß schnell beendet werden, bevor der Fürst davon erfährt. Höchstderselbe wird bei der Persönlichkeit des Gegners Ew. Hoheit jede Nachgiebigkeit auf das Strengste untersagen; und doch sehe ich, daß die Beziehungen meines gnädigsten Prinzen zu der Studentenschaft und vielleicht sogar andere persönliche Verhältnisse auf das Aeußerste gefährdet sind, wenn es nicht gelingt, den hier üblichen Ansichten einigermaßen zu entsprechen. Darf ich deshalb Ew. Hoheit einen Rath geben, so ist es immer der, daß Höchstsie dem Kreise, in welchem wir einmal leben, eine große Bewilligung machen und Herrn von Halling als Vertreter annehmen.«

Der Prinz sah gedrückt vor sich nieder und sagte endlich: »Das wird wohl das Beste sein.«

Der große Häuptling Beppo, eine der besten Klingen der [93] Universität, sollte sich also für den Erbprinzen schlagen. Nun erwies sich aber, daß die Arminen mit dieser Vertretung keineswegs zufrieden waren, sondern den unverschämten Anspruch erhoben, den Prinzen selbst in Fausthandschuhen und Batisthemd vor sich zu sehen. Namentlich Ulf der Dicke, Urheber des ganzen Skandals, erklärte, daß er den Markomannenführer ohnedies in seiner Brieftasche finde und nicht auf die fröhliche Aussicht verzichten wolle, mit ihm in Privatangelegenheiten einen Gang unter kleinen Mützen abzumachen.

Das war nicht zu leugnen; indeß ein großer Rat aller Senioren, welchen die Markomannen schnell zusammenriefen, entschied dafür, daß der Stellvertreter anzunehmen sei. Dagegen wurde die listige Forderung der Markomannen abgelehnt, daß der Armine zuerst gegen ihre Corpsgenossen auf die Kreide trete. Sie wollten dadurch den Prinzen der ganzen Sache überheben, da anzunehmen war, daß auch die stämmige Kraft des Arminen lange beseitigt sein würde, bevor nur die Hälfte der Namen in seiner Brieftafel getilgt war. Es blieb also nichts übrig, als daß die beiden Kämpfer zu zwei verschiedenen Malen aufeinander loshieben, der Markomanne zuerst im Namen des Prinzen. »Wir wollen uns beide Mühe geben, daß das zweite Mal nicht nöthig wird,« sagte der Markomanne beim Aufbruch bedeutsam zum Vertreter des Arminen.

Jede Vorkehrung war getroffen, den verhängnißvollen Zweikampf geheim zu halten, nur die Betheiligten wußten die Stunde, selbst den Stammgenossen wurde von anderen Tagen gesprochen, denn die Pedelle waren wachsam, die Universität bereits von der höchsten Behörde aufgefordert, mit allen Mitteln weitere Folgen zu verhindern.

Am Mittag vor dem Zweikampf lud der Prinz die Markomannen zu Tische, es war dabei so viel von ähnlichen Geschäften die Rede, daß selbst dem Kammerherrn unheimlich wurde. Kurz vor dem Aufbruch stand der Prinz mit dem Senior in einer [94] Fensternische, plötzlich faßte er die Hand des jungen Mannes, hielt sie fest und ein heftiges Schluchzen erschütterte ihm die Glieder. Bewegt sah der tapfere Knabe auf den Prinzen: »Es wird Alles gut gehen, Hoheit,« sagte er tröstend.

»Für dich, aber nicht für mich,« erwiederte der Prinz und wandte sich ab.

Als gegen Abend der Erbprinz unstät durch die Zimmer ging, machte der Kammerherr, der selbst trübe Gedanken loswerden wollte, den Vorschlag, heut abend das Haus des Rectors zu besuchen. Dies war der einzige Ort, wo er sicher war, nichts von der widerwärtigen Geschichte zu hören, und er war scharfsinnig genug, zu ahnen, daß auch dem Prinzen dieser Besuch am ersten wohlthun werde.

Ilse wußte Alles. Unser Student, der wider Willen die Elster gespielt hatte, welche Unheil stiftend zwischen den Parteien auf und ab lief, umkreiste immer noch ängstlich das Haus des Rectors, er wagte an einem Studentenabend bei Frau Penelope zurückzubleiben, als sich die Anwesenden in das Zimmer des Rectors zogen, erzählte der Fragenden den ganzen Streit, schilderte die gefährliche Lage des Prinzen und flehte, Sr. Magnificenz nichts von dem Vorfall zu sagen. Als heut der Prinz eintrat, war unter den Anwesenden eine Spannung bemerkbar, welche solchen, die in gefährliche Geschäfte verstrickt sind, die Unbefangenheit nicht zu erhöhen pflegt. Der Kammerherr war liebenswürdiger als je und erzählte hübsche Hofgeschichten, aber er machte keine Wirkung. Der Prinz saß verlegen auf seinem Platz neben Frau Ilse, auch aus ihren freundlichen Worten fühlte er den Ernst, er sah, wie ihr Blick traurig auf ihm ruhte und sich schnell abwandte, als er die Augen aufschlug. Endlich begann er mit unsicherer Stimme: »Sie haben mir früher die Köpfe berühmter Männer gezeigt, darf ich Sie bitten, mir den Band noch einmal zu weisen?«

Ilse sah ihn an und stand auf. Der Prinz folgte ihr wie neulich zu der Lampe des Nebenzimmers. Sie legte den [95] Band vor ihn, er sah theilnahmslos darüber weg und begann endlich leise: »Mir lag nichts an den Köpfen, nur mit Ihnen allein zu sein. Ich bin hilflos und sehr unglücklich. Ich habe keinen Menschen auf Erden, der mir ehrlich räth, was ich thun soll. Ich habe einen Studenten gekränkt und bin schwer von ihm beleidigt. Jetzt soll ein Anderer für mich den Streit ausfechten.«

»Arme Hoheit!« rief Ilse.

»Sprechen Sie nicht so zu mir, gnädige Frau, wie ein Weib das ansieht, sondern als ob Sie mein Freund wären. Daß ich Ihnen mit meiner Angst zur Last falle, macht mich in diesem Augenblicke vor mir selbst verächtlich, und ich fürchte, ich werde es auch Ihnen sein.« Er sah finster vor sich nieder.

Ilse sprach leise: »Ich kann nur reden, wie mir um's Herz ist, haben Hoheit ein Unrecht gethan, so bitten Sie es ab, sind Sie beleidigt worden, so verzeihen Sie.«

Der Prinz schüttelte das Haupt. »Das würde nichts nutzen, es würde mich auf's Neue beschimpfen vor allen Andern und vor mir selbst. Nicht darum frage ich Sie. Nur Eines will ich wissen, darf ich einen Andern meinen Streit auskämpfen lassen, weil ich ein Prinz bin? Alle sagen mir, ich müßte es thun, ich habe zu Keinem Zutrauen, nur zu Ihnen.«

Ilse stieg das Blut in das Antlitz: »Ew. Hoheit legen eine Verantwortung auf meine Seele, vor der ich erschrecke.«

»Sie haben einmal zu mir die Wahrheit gesprochen,« sagte der Prinz finster, »wie noch niemals ein Mensch auf Erden, und jedes Wort aus Ihrem Munde war gut und herzlich. Und deshalb fordere ich auch, daß Sie mir heut Ihre wahre Meinung sagen.«

»Dann also,« rief Ilse, ihn groß ansehend, und das alte Sachsenblut wallte in ihr auf, »wenn Ew. Hoheit Streit angefangen, so müssen Sie ihn auch selbst als Mann zu Ende führen, und Sie selbst müssen dafür sorgen, daß es in ehrenvoller Weise geschehe. Ew. Hoheit dürfen nicht zugeben, daß [96] ein Anderer um Ihres Unrechts willen Ihrem Gegner trotzt und seine gesunden Glieder in Gefahr setzt. Denn einen Fremden zu Unrecht verleiten und in Gefahr stürzen und dabei ruhig zusehen, das ist das Schrecklichste von Allem.«

Der Prinz versetzte kleinlaut: »Er ist muthig und dem Gegner überlegen.«

»Und wie dürfen Ew. Hoheit Ihren Gegner einer fremden Kraft preisgeben, die stärker ist als die Ihre? Wenn Ihr Stellvertreter gewinnt oder verliert, Sie werden ihm mehr schuldig, als man einem Fremden schuldig sein darf, und durch Ihr ganzes Leben wird Sie der Gedanke drücken, daß er Muth bewiesen hat, wo Sie ihn nicht gezeigt haben.«

Der Prinz wurde bleich und schwieg. »Ich fühle ebenso,« sagte er endlich.

»Furchtbar ist Alles, was auf diesem Wege liegt,« fuhr Ilse mit gerungenen Händen fort, »Frevel hier und dort und blutdürstige Rache. Aber ist Ihnen unmöglich, ein Unrecht zu verhindern, so besteht doch Ihre Pflicht zu sorgen, daß es nicht größer werde und daß seine Folgen nicht auf Anderer Haupt sinken, nur auf das Ihre. Und Alles in mir ruft: Sie selbst müssen thun, wo nicht, was Recht ist, doch was am wenigsten Unrecht ist.«

Der Prinz nickte mit dem Kopfe und saß wieder schweigend. »Ich darf keinem von meiner Umgebung etwas sagen,« begann er endlich, »am wenigsten dem dort,« er wies auf den Kammerherrn. »Wenn ich verhindern soll, daß ein Anderer an meiner Statt den Streit ausficht, so muß das in den nächsten Stunden geschehen. Wissen Sie Jemand, der mir dabei helfen würde?«

»Meinem Mann verbietet sein Amt, in dieser Sache etwas für Ew. Hoheit zu thun. Der Doctor aber.«

Der Prinz schüttelte den Kopf.

»Unser Student,« rief Ilse, »er ist Ew. Hoheit aufrichtig ergeben, er ist ein Landsmann und fühlt großen Kummer über die Sache.«

[97] Der Prinz überlegte. »Wollen Sie mir Ihren Diener für einige Stunden dieses Abends erlauben, sobald Sie seiner nicht mehr bedürfen?«

Ilse rief Gabriel, der am Tische beschäftigt war, in das Zimmer und sagte zu ihm: »Thun Sie, was Se. Hoheit aufträgt.« Der Prinz trat an das Fenster und sprach leise mit dem Diener.

»Verlassen sich Ew. Hoheit ganz auf mich,« sagte Gabriel und ging zu seinen Tassen zurück.

Der Prinz trat zu Frau Ilse, welche unbeweglich dasaß und auf das Buch starrte. »Ich habe die Köpfe angesehen,« sagte er ruhiger als er noch den Abend gewesen war, »und ich habe gefunden, was ich suchte. Ich danke Ihnen.«

Ilse erhob sich und kehrte mit ihm zur Gesellschaft zurück.

Die Gäste hatten sich entfernt und Ilse saß allein in ihrem Zimmer. Was hatte sie gethan! Vertraute eines Mannes bei blutigem Beginnen, geheime Beratherin bei gesetzloser That! Sie, ein Weib, war Verbündete eines Fremden, sie, die Gattin des Mannes, der jetzt ein Wächter des Gesetzes sein sollte, war Helferin bei einem Verbrechen geworden. Welcher finstere Geist hatte ihr die Sinne bethört, als sie vertraulich der Rede des Andern antwortete und flüsternd mit ihm verhandelte, was sie dem eigenen Mann nicht zu gestehen wagte?

Nein, der sie verlockt hatte, ein Fremder war er nicht. Seit ihrer Kindheit hatte sie mit innigem Antheil von ihm gehört, er war der künftige Gebieter ihrer Heimat, einst Herr über Leben und Tod auf dem Felsen, von dem sie hinabgestiegen war in die Fremde. Seit er zuerst vor sie trat, so rührend in seiner freudelosen Jugend, in der weichen Hilflosigkeit seines Standes, hatte sie zärtlich um ihn gesorgt, und was er ihr erwiesen hatte seit demselben Tage, war ein liebenswerthes, lauteres Gemüth. Jetzt faßte sie bebende Angst auch um ihn. Sie hatte ihn in sein Schicksal getrieben, sie [98] trug die Schuld eines Beginnens, das seinem Stande für ungeheuer galt. Wenn ihm zum Unheil wurde, was sie gerathen, wenn der Gegner den armen schwachen Jüngling bis zum Tode traf, wie wollte sie das ertragen in ihrem Gewissen?

Sie sprang auf und wiederrang sie die Hände. Der Gatte rief ihren Namen, sie fuhr zusammen, denn sie fühlte sich in einer Schuld gegen ihn. Und wieder frug sie bange: »Welcher böse Geist hat mich verwirrt? Bin ich nicht mehr, die ich war? Wehe mir, ich habe mich nicht gehalten wie einer Christin geziemt, nicht als eine bescheidene Frau, die den Schrein ihrer Seele öffnen soll nur vor Einem. Dennoch aber,« rief sie, ihr Haupt erhebend, »wenn er wieder vor mir stände und noch einmal früge, ob er als Mann handeln soll oder als ein Schwächling, ich würde ihm wieder dasselbe sagen und immer wieder. Der Herr schütze mich!« –

Als Krüger in das Schlafzimmer trat, den Prinzen auszukleiden, gab ihm dieser in kurzem Ton Aufträge, welche den Lakaien höchlich befremdeten. Da er aber dadurch seine vertraute Stellung befestigt sah, versprach er Gehorsam und Schweigen. Er löschte die Lampen und ging auf seinen Posten. Nach einer Stunde führte er den Studenten, welcher von Gabriel abgeliefert wurde, durch eine Seitenthür in das Schlafzimmer des Prinzen. Dort fand eine leise Unterredung statt, deren Folge war, daß der Student in großer Aufregung aus dem Hause eilte und dem harrenden Gabriel den Auftrag gab, zu früher Morgenstunde eine Droschke an die nächste Straßenecke zu bestellen.

In dem Saale eines abgelegenen Kaffehauses vor der Stadt war beim ersten Morgenlicht eine ernste Gesellschaft versammelt, die Blüthe der Corps und Verbindungen, erprobte Gesellen von verwegenem Aussehen, für jedes Studentenherz ein gewaltiger Anblick; heut sollten nacheinander mehre von den vielen Blutverträgen jenes Abends ausgeführt werden. [99] Das erste Geschäft sollte der Studentenehre des Erbprinzen gelten. Die Kämpfer waren ausgezogen und in ihre Fechtertracht gekleidet; Jeder stand mit seinem Secundanten und Zeugen in einer Ecke des Saales, der Doctor – es war der alte Teutone von der Geige – hatte in einem Winkel sein Verbandzeug ausgebreitet und sah mit grimmigem Behagen auf die bevorstehende Arbeit, welche ihm neue lehrreiche Curen versprach. Aber die Arminen waren aufsässig, noch einmal traten ihre Secundanten vor den Unparteiischen und erhoben Beschwerde, daß der Prinz nicht gegenwärtig sei, um wenigstens durch seine Anwesenheit den Vertreter zu bestätigen. Sie forderten deshalb, daß der bevorstehende Gang nicht für ihn gerechnet werde, sondern als persönlicher Kampf der beiden Studenten, welche miteinander in mehrfache zarte Beziehungen getreten waren. Da die Markomannen kein gutes Gewissen hatten, denn sie hatten bei den Verhandlungen diesen Punkt zweideutig zu umgehen gewußt, machten sie jetzt den Vorschlag, daß der Prinz nachträglich mit dem Arminen oder dessen Secundanten am dritten Ort zusammenkommen sollte, damit zwischen beiden die gebräuchliche Versöhnung stattfinde.

Noch wurde darum gehandelt, mit Erbitterung, aber in kurzen Worten, wie der Zwang dieser Stunde gebot, da pochte der Fuchs, welcher die Wache an der Treppe hatte – es war ein junger Armine –, zweimal an die Thür. Alle standen unbeweglich. Nur die Secundanten rafften die Schläger zusammen und warfen sie in eine finstere Kammer, und unser Student, der als Zeuge seinem Stammgenossen noch seidene Stränge über die Pulsadern der Hand legte, sprang schnell an die Thür und öffnete. Eine kleine Gestalt im Mantel und runden Hut trat herein, es war der Erbprinz. Er nahm den Hut ab, sein Gesicht sah etwas bleicher aus gewöhnlich, aber er begann mit ruhiger Haltung: »Ich bin heimlich hergekommen; ich bitte die Anwesenden, mir zu erlauben, daß ich mir selbst Genugthuung hole, und ich bitte Sie, Nachsicht mit [100] mir zu haben, wenn ich mich in dem Brauch ungeübt zeige, denn es ist das erste Mal, daß ich mich versuche.«

Es entstand eine Stille, so tief, daß man das leise Schwirren des Rappiers hörte, welches in eine Ecke geschleudert war, alle Anwesenden empfanden, daß dies ein wackeres Thun war. Nur Beppo, der Markomanne, stand bestürzt und begann: »Schon deine Gegenwart genügt, die letzten Schwierigkeiten zu beseitigen, ich bestehe darauf, daß nicht umgeworfen wird, was beschlossen ist,« und leiser fügte er hinzu: »Ich beschwöre Ew. Hoheit, nicht das Unnöthige zu thun, es ladet uns allen eine Verantwortung auf, die wir nicht übernehmen dürfen.«

Der Prinz erwiederte fest: »Du hast dein Versprechen erfüllt, ich werde dir für den Willen ebenso dankbar sein als für die That. – Aber ich bin entschlossen.« Er zog seinen Rock aus und sagte: »Legt mir die Binden an.«

Der Secundant des Arminen wandte sich zum Unparteiischen. »Ich bitte, den Gegner zur Eile zu mahnen, wir sind nicht hier, um Artigkeiten zu wechseln; will sich der Prinz selbst Genugthuung holen, wir sind bereit.« Die Markomannen rüsteten den Prinzen, und man darf den tapfern Gesellen das Zeugniß nicht versagen, sie thaten es mit so inniger Ehrerbietung und ängstlicher Sorgfalt, als ob sie in der That Krieger des Volksstammes wären, dessen Namen sie trugen, und ihr junges Königskind zum tötlichen Einzelkampfe stellen sollten.

Der Prinz trat auf den Kreidestrich, seinem Secundanten, einem harten Balafré zitterte die Waffe in der Hand, als er sich neben ihm auslegte. »Gebunden – Los!« Die Klingen sausten in der Luft. Der Prinz hielt sich nicht schlecht, eine lange Gewöhnung, sich vorsichtig zu beherrschen, kam ihm zu gut, er vermied, gefährliche Blößen zu geben, und sein Secundant zog sich eine herbe Warnung des Unparteiischen zu, weil er ohne Rücksicht auf seine eigenen Glieder im Bereich des [101] feindlichen Stahles lag. Der Armine war an Kraft und Kunst weit überlegen, aber er gestand später seinen nächsten Freunden, es sei ihm doch störend gewesen, das Fürstenkind leibhaftig im Bereich seines Schlägers zu sehen. Nach dem vierten Gange strömte das Blut von Ulfs breiter Backe auf das Hemd. Sein Secundant forderte Fortsetzung des Kampfes, der Unparteiische erklärte den Streit für beendet. Der Prinz stand still auf seinem Platze, jetzt entfiel der Schläger seiner Hand, und ein leises Zittern bewegte die Finger, aber sein Mund lächelte, und es war ein guter Ausdruck in den frohen Zügen. Ein Knabe hatte durch die ernste Viertelstunde das Selbstgefühl eines Mannes gewonnen. Bevor der Prinz sich zu seinem Gegner wandte, fiel er dem Markomannen um den Hals und sagte: »Jetzt kann ich dir von Herzen danken.« Der Unparteiische führte ihn zum Gegner, der unwillig vor dem Doctor stand, und doch auch ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, das ihm weh genug that, und Beide reichten einander die Hände. Nun traten auch die Arminen grüßend zu dem Prinzen, während der Unparteiische in den Saal rief: »Zweiter Fall.«

Aber der Prinz, der seinen Mantel wieder umgethan hatte, ging zu dem Leiter des Zweikampfes und begann: »Ich kann nicht fortgehen, ohne eine große Bitte auszusprechen. Ich bin unglücklicher Weise die Veranlassung des peinlichen Vorfalles gewesen, welcher jetzt die Studentenschaft entzweit, ich weiß wohl, daß ich gar kein Recht habe, hier einen Wunsch zu äußern, aber es wäre mir eine freudige Erinnerung für immer, wenn ich dazu beitragen könnte, daß Versöhnung und Friede beschlossen würde.«

Von seinen Markomannen hätte er in diesem Augenblick das Schwerste fordern dürfen, aber auch die Andern standen unter dem Eindruck eines ungewöhnlichen Erlebnisses. Ein beifälliges Murmeln ging durch den Saal, sogar der Unparteiische rief mit lauter Stimme: »Der Prinz hat ein gutes [102] Wort gesprochen.« Die düstern Blicke Einzelner wurden nicht beachtet, die Secundanten und Senioren beriethen in der Mitte des Saales, das Ergebniß war, daß die schwebenden Forderungen zunächst zwischen den Anwesenden ausgeglichen und eine allgemeine Versöhnung eingeleitet wurde.

Der Prinz verließ, von den Markomannen umdrängt, das Haus und sprang in den Wagen, Krüger öffnete ihm die Thür des Schlafzimmers. Der Kammerherr war über die lange Ruhe seines jungen Herrn gerade an diesem Morgen sehr verwundert; als er nach der Meldung des Kammerlakaien zum Frühstück eintrat, fand er seinen Prinzen behaglich am Tisch sitzen. Nachdem Krüger hinausgegangen war, begann der Prinz: »Das Duell ist abgemacht, Weidegg, ich habe mich selbst geschlagen.« Der Kammerherr stand erschrocken auf. »Ich sage Ihnen das, weil es Ihnen doch kein Geheimniß bleiben würde. Ich hoffe, der Streit unter den Studenten wird damit abgemacht sein. Sprechen Sie mir nichts dagegen und regen Sie sich selbst nicht auf, ich habe gethan, was ich für recht hielt, oder doch für das kleinste Unrecht, und ich bin froher als ich seit langer Zeit war.«

Die Häupter der Markomannen hatten von den übrigen Anwesenden das Wort erbeten, daß die einzelnen Vorgänge dieses Morgens nicht verbreitet werden sollten, und man muß annehmen, daß Jedermann sein Wort gehalten habe. Dennoch flog durch Universität und Stadt blitzschnell die Kunde, daß der Prinz selbst durch wackeres Verhalten die Händel ausgeglichen habe. Und der Kammerherr erkannte aus frohen Andeutungen der Markomannen und aus den freundlichen Grüßen, welche sein junger Herr auf der Straße erhielt, noch mehr aber aus der veränderten Haltung des Prinzen selbst, daß der heimliche Zweikampf doch eine gute Seite gehabt hatte, und das versöhnte ihn ein wenig mit dem ärgerlichen Ereigniß.

Als der Prinz einige Zeit darauf das Haus des Rectors betrat, wurde er in das Arbeitszimmer geführt und Werner [103] begrüßte ihn lächelnd. »Ich war genöthigt, meiner Regierung über die letzten Vorfälle zu berichten, und, gemäß der übereinstimmenden Aussage der vorgeladenen Studenten, beizufügen, daß Ew. Hoheit Dazwischentreten wesentlich dazu beigetragen hat, den Frieden wieder herzustellen. Mir ist der Auftrag geworden, Ihnen dafür warme Anerkennung der akademischen Behörde auszusprechen. Persönlich erlaube ich mir, dem Wunsch Worte zu geben, daß Alles, was Ew. Hoheit in diesen Tagen erlebt, Ihnen immer eine angenehme und fruchtbare Erinnerung sein möge.«

Als der Prinz sich vor Frau Ilse verneigte, sagte er leise: »Es ist Alles gut gegangen, ich danke.« Ilse sah stolz auf ihren jungen Herrn, und doch war die bange Unsicherheit der letzten Tage nicht ganz von ihr genommen, sie war dem Prinzen gegenüber stiller als gewöhnlich.