Die Schiffbrüchigen

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Wir waren zu viert. Die Felsen, steil,
Hochragend, umtoste der wütende Sturm,
Der hatt' uns getroffen mit heulendem Pfeil,
Den Tod geschworen dem Menschenwurm.
Zerschellt, zersplittert am Stein das Schiff,
Verschlungen fast alle. Ein Krach, ein Schrei –
Hohn donnert die Tiefe hinauf zum Riff,
Hohn gellen die Lüfte – und alles vorbei.
Nur wir, von dreißig die einzigen, lagen
Auf felsigem Ufer, zerschunden, zerschlagen,
Frostschauernd, durchnässt von der salzigen Flut
Bis auf die Knochen, erstarrt das Blut.
Im Rücken das springende Ungeheuer,
Das tobende Meer, geduckt zu neuer
Raubhungriger Mordthat, vor uns die Klippen,
Die zackigen, kantigen Felsenrippen,
Und um uns, mit Heulen, Toben und Schnaufen,
Der Wellenpeitscher, der Felsenrüttler,
Der Sturm, der jauchzende Schwingenschüttler.
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Jens Jensen, wir nannten den roten ihn,
Der wildeste unter dem wilden Haufen
Des Schiffsvolks, dem das Haupthaar schien
Und der struppige Bart wie flammende Lohe,
In Furcht hielt er alle, der Wüste, der Rohe,
An Kraft ein Stier, an Wildheit ein Tiger,
Jens Jensen war der erste auch jetzt,
Der hoch sich reckte, ein trotziger Krieger,
Der sich zum Kampf in Bereitschaft setzt.
Nach oben wies er: »Wir müssen hinan!
Nur frisch! Wir müssen schon, Steuermann.
Hier holt das gefräßige Vieh uns doch,
Das nimmersatte, zum Frühstück noch.«
Ich raffte mich auf und sah nach dem Jungen.
Er war mir zur Seit in die See gesprungen,
Blass lag er und blutend und atmete schwer.
»Jens, der kommt nimmer nach oben mehr.«
»Der kommt nach oben! Geht's anders nicht,
So trag ich ihn schon, das Kindergewicht.«
Und wahrlich, Arme, wie seine, trügen
Wohl dreifache Last, ich will nicht lügen.
So nahm er ihn denn wie ein Kind, eine Puppe,
Warf noch einen Blick auf die Felsenkuppe,
Und »Vorwärts!« überschrie er den Sturm,
»Die Zähne zusammen, hinauf auf den Turm!«
Und er voran, und wir hinterdrein,
Das Mädchen und ich. – Ja, ein Mädchen stand,
Eine blühende Jungfrau, halbnackt, allein
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Unter rauhen Männern am rauhen Strand,
Mit uns dem Schrecklichsten preisgegeben,
Schiffbrüchiger Los, das elende Leben
Auf einsamer Insel fristend vielleicht
Bis ans einsame Grab. Doch hatten wir jetzt
Zu solchen Gedanken nicht Zeit. Zerfetzt,
Zerschunden, mit blutenden Händen und Knien
War langsam der erste Vorsprung erreicht.
Das Muss hat dem Schwächsten Kräfte verliehn.
Doch Jensen trieb weiter nach kurzem Verschnauf,
Höher hieß es, höher hinauf!
Und ohne zu klagen, die Zähne gepresst,
Die Arme straff, die Lenden fest,
So klomm sie vorauf, und ich in der Nähe,
Wenn ihr fehltretend ein Unglück geschähe.
Trotz Sturm und Graus und keuchender Brust
Sah doch mit geheimer, innerer Lust
Das prächtige Weib um ihr Leben ich ringen,
Gepeitscht von des Sturmes gewaltigen Schwingen.
Halb waren wir oben, da schwand die Kraft
Auch Jens, dem das Tragen die Sehnen erschlafft.
Der Junge stöhnte. Zum Glück bot hier
Eine Felswand, breitlagernd, einigen Schutz.
Zusammengekauert auf engem Raum,
So lagen erschöpft aneinander wir,
Vom Unglück vereint zu Schutz und Trutz
In der Wildnis von Stein. Kein Strauch, kein Baum,
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Kein Halm. Nur Felsen, Schutt und Geröll.
Ich lauschte, ob nirgend ein Laut erschöll
Durch den Sturm, ein Menschenruf,
Ein Hundegebell, eines Tieres Laut,
Und die immer wache Hoffnung schuf
Sich rettende Bilder und sah bebaut,
Bewohnt das Eiland. Doch durch das Schnauben
Der Lüfte drang nichts, als der Meerestauben,
Der Möven Geschrei, die mit ängstlichem Fliegen
Uns umkreisten, als wir die Felsen erstiegen.
Und keiner von uns sprach nur ein Wort.
Die Lungen keuchten, die Lider fielen,
Von Schlaf bezwungen, die Arme sanken,
Das Haupt, erschöpft auf die harten Dielen.
Ich weiß nicht, wie lange ich lag so fort.
Als ich erwachte, saß sie bei dem Kranken,
Beim leidenden Jungen, und wusch ihm die Wunden
Mit Regenwasser, und als er verbunden
Und sorgsam gestützt, zum ersten Mal
Das Auge erhob, welch' ein Liebestrahl,
Welch' ein Mitleidleuchten in ihrem Gesicht.
Und er lächelte dankbar, der arme Wicht.
Ein wenig seitab lag Jens entschlafen,
So friedlich, als wär' er im sicheren Hafen,
Vielleicht fand er im Traum sich wieder
Bei der schwarzen Marie in der Hafentaberne
Und hörte der Kleinen lüsterne Lieder
Und traktierte mit Grog sie. Den trank sie so gerne.
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Ich sah seine Rippen sich dehnen und heben
Unter dem wollenen Hemd, und sah das Leben,
Das kraftvolle, diese Glieder schwellen,
Hörte den Atem in ruhigen Wellen
Der Tiefe der breiten Brust entquellen
Und fühlte Neid auf den starken Gesellen.
Doch endlich löste auch ihm der Schlaf
Von den Lidern sich ab, und sein Auge traf,
Verwundert, als wüsst' er nicht wo und wie,
Die seltsame, fremde Scenerie,
Bis er sich besann und mit kräftigem Fluch
Seinen Traum sich aus dem Kopfe schlug.
Und wieder hieß es: Nach oben! weiter!
Auf rauhem Pfad, ohne Strick und Leiter.
Doch Paul, der Junge, stöhnte leis
Und wollte nicht weiter, um keinen Preis.
Da erbot ich mich, einen Weg zu spüren,
Der uns vielleicht bequemer möcht' führen,
Und klomm hinan und spähte und fand
In geringer Höh' einen Pfad, der wand,
Roh von der Natur geschaffen, sich
Schlängelnd bergan. Dem folgte ich.
Bald sah ich mich auf dem höchsten Kamm
Der Felsenmauer und sah, es schwamm
In Freudenthränen mein Auge, gelehnt
An den felsigen Hang ein waldiges Thal
In üppigem Grün und breit gedehnt,
Und sah einen Quell, einen Bach, einen Teich
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Herüberblitzen aus grünem Reich,
Und spürte doppelt des Durstes Qual.
O, nur ein Gefäß, eine Hand voll nur
Vom erquickenden Nass! Doch ich musst mich bescheiden
Und eilte zurück, verfolgend die Spur
Des Weges, und durfte nicht Aufenthalt leiden.
Und wie ich so freudig bergab nun flog,
Von Weitem schon winkte und rief, da zog
Ein Freudenschimmer, ein Hoffnungsschein
Selbst über das blasse Gesicht des Jungen.
Mit einem Satz war ich hinabgesprungen
Zu ihnen, den letzten ragenden Stein:
Wir wären gerettet! Wald, Wiese und Quell!
Wir wären geborgen! – Wie sprangen schnell
Die müden Gefährten empor. Der Kranke
Selbst raffte sich auf. Ihn hielt der Gedanke
Der nahen Rettung ein Weilchen gar
Noch aufrecht. Aber zu mühsam war,
Zu beschwerlich der Weg, und wieder nahm
Auf den Arm ihn Jens, dass er mit uns kam.
Wir zwei jetzt voran; und die frohe Hast,
Die mich vorwärts trieb, ließ vergessen mich fast,
Dass nur ein Weib mir zur Seite ging.
Und als ich gemäßigt den drängenden Schritt,
Sah ich, wie sie zu zittern anfing
Und erblasste, die Augen schloss und schwankte.
Da fuhr mir's durchs Hirn, wenn auch sie erkrankte,
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Eh wir erreicht das rettende Thal.
Ich sah ihr im Antlitz die stumme Qual,
Obgleich sie matt lächelnd die Schwäche bestritt,
Und bot ihr den Arm und stützte sie fest.
So gingen wir den letzten Rest
Des Wegs in einsamer Wildnis allein.
Jens Jensen war mit seiner Last
Weit zurück, hielt häufig Rast.
Der Rauhe konnte auch sorglich sein,
Doch endlich erreichten wir alle das Thal.
Der Sturm war gebrochen, ein blitzender Strahl
Der Sonne drang siegreich ins Wolkengehader
Und trieb auseinander das schwarze Geschwader
Und vor uns der Wald, der grünende Plan,
Und oben der Himmel nun aufgethan,
Und ruhig die Lüfte und wärmer, da war
Es uns allen, als wäre vorbei die Gefahr,
Und irgendwo müsst in den grünen Gründen
Ein Menschenlaut glückliche Rettung uns künden.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Falke, Gustav. Gedichte. Mynheer der Tod. Die Schiffbrüchigen. 1. [Wir waren zu viert. Die Felsen, steil]. 1. [Wir waren zu viert. Die Felsen, steil]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A4FC-A