2.

Schon Stunden irrten wir hin und her
Und fanden nicht, was das Herz ersehnte.
Nur Wildnis ringsum und menschenleer,
Und dunkel der Schatten des Abends sich dehnte.
Da flochten wir Zweige zu Zweigen zum Dach
Und rissen vom Boden das Kraut und die Halme.
Und säuberten ihn, und unter der Palme
Bereiteten so wir ein Schlafgemach.
Dann wiesen wir jedem sein Lager zu eigen,
[147]
Und brachten den knurrenden Magen zum Schweigen
Mit Rinden und Wurzeln und was sich so findet
An Früchten im Walde, wo Furcht doch bindet
Die lüsterne Hand, mit giftiger Speise
Auf einmal zu enden die Jammerreise,
Leben genannt. Der Mensch ist so schwach,
Trotz allem Elend und Ungemach.
Sieht Glück wie den Wind, wie ein flackernd Licht
Im Sumpf, aufspringen und necken und narren,
Eitel alles, ohne Bestand, ohne Beharren,
Wer aber hängt sich ans Leben nicht
Und fürchtet die Frucht nicht, die Frieden ihm bringt,
Das Wasser, das lockend von Ruhe ihm singt,
Und lässt seinen Leib in des Hungers Krallen,
Selbst hungrigen Würmern zum Fraß, gern zerfallen?
So nährten wir uns, so gut es ging,
Und stillten des wütenden Hungers Plagen,
Mit Beeren und Früchten, so gut 's wollt gehn,
Und schlürften den Saft mit wildem Behagen,
Und unserer Gier war nichts zu gering.
Die Wipfel rauschten in lindem Wehn
Der Nacht hoch über die fremden Schläfer.
Neugierig umsurrten uns glänzende Käfer;
Goldflügelig, schillernd, wie Lichter gleißend,
Umschwirrten Insekten uns, stechend und beißend.
[148]
Ein seltnes Gevögel mit buntem Gefieder,
Paradiesvögel, Kolibri, Papagein,
Flog durch das Gezweig oft mit wildem Schrein,
Oft lautlos, gespensterhaft, auf und nieder.
Rings Wald nur und Wald. Hochstämmige Palmen,
Und wieder im Wald noch ein Wald von Halmen,
Von riesigen Farren und dichten Gehängen,
Von Schlinggewächsen, ein Streben und Drängen
Zum Lichte, nach oben, ein Wirrwarr von Pflanzen,
Von Blättern und Blüten, ein Schwirren und Tanzen
Von Flügelgetier in schillernden Farben,
Ein üppiges Leben ohne Hungern und Darben.
Der Mensch allein in der Üppigkeit
Den Qualen des langsamen Sterbens geweiht,
Dem Hungertode?
Ich wachte allein
Die letzten Stunden der Nacht. Mich fror,
Bis durch die Palmen der erste Schein
Des kommenden Tages brach bleich hervor.
Ich dachte zurück an die Heimat lang,
An die alte Mutter, die froh und bang
Der Rückkehr harrte der »Marie-Anne«,
So hieß das Schiff, und die Tage zählte
An den Fingern sich ab wohl zehnmal, wann
Die schmucke Brigg in den Hafen lief.
Wie der Gedanke mich an die Mutter quälte.
Und ich dachte der Frieda, der Nachbarin,
Der freundlichen blonden. Es war mein Sinn,
[149]
Zum Weib sie zu nehmen, und halb schon gab
Mir das Jawort sie, und ich schrieb einen Brief
Noch vom letzten Hafen. Die Post ging grad ab,
Und ich musste mich eilen.
Jens Jensen gähnte
Erwachend und sah, wie ich sinnend lehnte
Am Stamm, und rief mir zu »guten Morgen«.
War immer voll Mut und ohne viel Sorgen.
Ja, hätten das Weib wir nicht und den Jungen,
Wir beide hätten uns durchgerungen,
Wie Robinson und sein Freytag. Es müsste
Doch einmal ein Schiff unsrer einsamen Küste
Sich nähern, so dacht' ich und anderes mehr.
Die beiden doch machten das Herz mir schwer.
Und sie trug's doch geduldig ohne Murren und Plag.
Wir sahen sie an, wie schlummernd sie lag,
Und lange an, doch keiner gab kund,
Was sich regte in tiefstem Herzensgrund.
Und das Tagesgestirn erklomm seine Bahn
Mit stetigem Lauf, und der Wald war erwacht,
Und lärmend verdoppelt das Leben der Nacht.
Da brachen wir auf, stets der Richtung nach
Wo ich wähnte, es flösse der Quell, der Bach,
Wo wir glaubten, dass nahe den Wiesengründen
Vielleicht gar menschliche Wohnungen stünden.
Doch das Tagesgestirn erklomm seine Bahn
Mit stetigem Lauf, und noch immer sahn,
[150]
Als Mittag die sengenden Pfeile sandte,
Wir Wald und Wald nur, wohin auch wandte
Der fiebernde Blick sich. Und Zagen zog
Ins Herz mir da, und ich dachte, warum
Wir nicht an dem Strand, auf dem Felsen geblieben,
Nun irrten wir hier in der Wildnis herum.
Vielleicht war ein Schiff schon vorbeigetrieben,
Und es hätt' uns gesehen, und wir wären geborgen.
So warf ich mir vor und machte mir Sorgen.
Jens Jensen brummte und fluchte nur immer,
Doch trieb er's an Bord noch weitaus schlimmer,
Ein Zeichen, dass auch er das Grauen empfand,
Das uns andern fast immer die Zunge band.
Das Mädchen mühte sich um den Knaben,
Eine Mutter konnt' sich nicht sorglicher haben,
Und kühlte die Wunden, die schlimmen ihm, wie
Das Mitleid, der Wunsch zu helfen, ihr's lieh,
Mit Blättern, mit Tüchern voll feuchter Erde,
Und trug von uns allen die meiste Beschwerde.
Der Junge war dankbar und küsste oft stumm
Dem Mädchen die Hände. Dann wandt' sie sich um,
Errötend wohl gar, wenn wir es gesehn.
Doch lange, so sah ich, würd's nimmermehr gehn
Mit dem Jungen. Der Atem pfiff nur noch,
Ich sah, es ging aus dem letzten Loch.
Zwei Rippen gebrochen, die Lunge wund,
Wer machte ihn hier in der Wildnis gesund?
[151]
Und wie ich's voraus sah, so kam es, kam bald.
Kaum traf uns der zweite Abend im Wald,
So standen wir drei an der Leiche, schweigend,
Erschüttert das Haupt auf die Brust hinneigend,
Mit stummem Blick auf die schwarze Erde.
Und als ich so stand, zog wieder mir sacht
Durch die Seele, wie in der stillen Nacht,
Der Mutter Bild, und ich wandte mich ab,
Vor den andern zu bergen die Schmerzgebärde.
Auf den Knien, mit den Händen, so haben ein Grab,
Jens Jensen und ich, wir gescharrt, gegraben,
Nicht tief und nur schmal, drin legten den Knaben
Wir sorgsam hinein zur ewigen Ruh,
Das Mädchen drückte die Augen ihm zu,
Dann sprachen ein stilles Gebet wir drei.
Mir fiel nur das Vaterunser bei,
Das sagte ich her bis zur Hälfte und dachte
Dann heim, weit fort, an den Schulkameraden,
Der einst in der Elbe ertrank beim Baden,
Und den ich mit zu Grabe brachte,
An den Lehrer und an den Pastoren, der mich
Konfirmierte, und dachte noch an, Gott weiß,
An den Zirkus, und wie wir vom Bretterzaun
Hatten freien Blick, und mich fasste ein Graun,
Und heiß überlief es mich, siedend heiß,
Und ich schämte mich dieser Gedanken jetzt,
Und die wunderliche Zerstreuung entwich
In unterdrücktem Weinen zuletzt.
[152]
Mit Farren und Palmen und was sich so fand,
Bedeckten wir den Hügel von Sand
Und kratzen zum Zeichen ein Kreuz in die Rinde
Des nächsten Baumes, als ob ihn wer finde,
Als ob ihn besuche wer jemals hier.
Und weiter gingen dann schweigend wir
Und suchten ein Lager uns für die Nacht,
Ich weiß nicht, wie lange wir drei noch gewacht,
Und wer zuerst in den Schlummer fiel.
Schon hoch stand die Sonne, als jäh ich empor
Aus den Träumen fuhr, ihrem spukhaften Spiel.
Jens Jensen lag noch fest auf dem Ohr
Und schnarchte wie immer. Sie aber saß
Abseits auf einem Baumstumpf. Ich sah,
Sie hatte geweint, und ihr Antlitz war blass;
Stumm saß sie, die Hände gefaltet, da.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Falke, Gustav. Gedichte. Mynheer der Tod. Die Schiffbrüchigen. 2. [Schon Stunden irrten wir hin und her]. 2. [Schon Stunden irrten wir hin und her]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A4E5-B