[374] Das Ende

Der Heilige Vater hat einen tiefen Lehnstuhl mit großen Ohrenklappen. In den setzt er sich, wenn er zu Mittag gegessen hat. Dann kommt ein Diener und bringt auf einem silbernen Teller eine große Flasche Wein von einer Sorte, welche man »Verjag-den-Teufel« nennt, und einen großen goldenen Becher. Er gießt den Becher voll und reicht ihn dem Heiligen Vater, dann stellt er sich zur Seite. Der Heilige Vater trinkt den Becher aus, dann verflucht er die Spanier, diesen Samen von Mauren und Juden, wie er sagt. Der Diener füllt den Becher von neuem und hält ihn dem Heiligen Vater dar. So bleibt er eine Weile stehen, dann trinkt der Heilige Vater wieder und flucht wieder.

Nun ist der Heilige Vater gestorben. Die ganze Stadt weint, denn Jeder hat ihn geliebt. Er hat jeden so leben lassen, wie er wollte, denn er sagte: »Gott hat die Gans geschaffen, damit wir sie braten, und die Nachtigall, damit sie uns durch ihren Gesang erfreut. Deshalb soll der Mensch von der Gans nicht Gesang verlangen und von der Nachtigall nicht Schmalz.«

Die Kardinäle haben sich lange mit dem Heiligen Geist besprochen, wen sie wählen sollen, und endlich haben sie einen Spanier gewählt.

Der Spanier aber kommt an und ist mager wie ein Holzscheit. Wie er zum erstenmal in die Peterskirche tritt, um die Messe zu lesen, da sieht er ein Bild an der Wand, auf welchem der heilige Sebastian gemalt ist. Natürlich hat ihn der Maler nackt dargestellt. Der Heilige Vater aber ruft Pfui! und fragt einen Kardinal, ob es in Rom viele solche Bilder gibt mit nackten Männern. Der Kardinal sagt, daß in jeder [375] Kirche solche Bilder hängen, und es gibt auch Bilder, auf denen nackte Frauen dargestellt sind, oder wenigstens Frauen mit entblößtem Busen, wie zum Beispiel die heilige Maria Magdalena. Meistens sind aber die Bilder mit nackten oder teilweise entblößten Frauen im Besitz von vornehmen Herren, und stellen Frauen aus der weltlichen Geschichte dar oder aus der heidnischen Mythologie, wie Lucrezia oder Danae oder Venus.

Hierauf sinnt der Heilige Vater nach und bestimmt, daß allen nackten Figuren in den Kirchen Badehosen übergemalt werden sollen, und er bestimmt auch einen Kardinal, der geschickte Maler annehmen muß, welche dieses Geschäft betreiben.

Nachdem nun der Heilige Vater aber einmal auf Dinge aufmerksam geworden ist, welche ihm nicht gefallen, forscht er weiter nach in den Zuständen der heiligen Stadt, und da findet er denn unter anderem den Schutzverband der Gauner für Rom und Umgebung, der ihm nicht gefällt, und den Polizeihauptmann Tromba und die Richter Matta und Brava, die ihm nicht gefallen, und vor allem findet er die Komödianten, und da er ein gewissenhafter und sorgsamer Mann ist, so beschließt er, Ordnung zu schaffen, wie er bereits mit den unzüchtigen Bildern in der Kirche Ordnung geschaffen hat.

So geschieht es denn, daß an einem Morgen ein Zug aus der Stadt geführt wird, in dem sind alle Komödianten: Pantalon und Cassander, Fiorinetta, Isabella und Silvie, der Notar und der Apotheker, der Kapitän Fracassa und der Kapitän Spavento, Arlechino, Colombina und Coraline und noch viele andere.

Die Komödianten gehen traurig und mit gesenkten Köpfen nebeneinander, sie haben Bündelchen, in welche sie ihre Sachen geschnürt haben, die tragen sie auf Stöcken über der Schulter; ein Wägelchen mit zwei Maultieren schwankt hochbeladen [376] hinter ihnen, auf dem sitzt der Herr Direktor, und hinter ihm sind die Kulissen und die Dekorationen verpackt: marmorne Säulen, Wälder, Pfeilerspiegel, Wasserfälle, Wolken, Rosenbeete und anderes. Ein Sbirre geht voran und hält einen Bogen Papier in der Hand. Das Tor wird hinter dem Zug geschlossen, und der Sbirre verliest, was auf dem Papier geschrieben steht: Den Komödianten ist verboten, sich jemals wieder in der heiligen Stadt sehen zu lassen. Sollte sich einer doch wieder innerhalb der Mauern betreffen lassen, so sollen ihm fünfzig Stockprügel verabreicht und ein Galgen auf die Stirn gebrannt werden.

Die beiden Kapitäne stampfen mutig mit ihren Füßen auf und drehen ihre schrecklichen Bärte, sie ziehen ihr Schwert halb aus der Scheide und stoßen die fürchterlichsten Flüche aus. Die anderen aber weinen: der Direktor und Coraline haben jeder ein Taschentuch und trocknen sich die Tränen ab, bei den anderen rinnen die Tränen unabgetrocknet.

Da öffnet sich das Tor wieder, und ein neuer Zug erscheint.

Vorauf geht, ganz feuerrot gekleidet, der Henker, zu beiden Seiten seine Knechte, mit den Stricken über der Schulter; dann kommt Lange Rübe, die Hände auf dem Rücken gefesselt, und Pietrino und Colomba, jedes mit einer Hand an die Hand eines Sbirren gebunden, und andere Gauner von minderem Belang. Und am Schluß kommen Tromba, Matta und Brava. Sie sind nicht ausgewiesen, sie sollen auch nicht gehängt werden, sie gehen nur aus Freundschaft mit, weil sie doch durch die Gauner so lange Jahre ihr Brot gehabt haben und sie nun trösten wollen auf ihrem letzten Gang.

Plötzlich bleibt Lange Rübe stehen. »Ich will reden«, sagt er. Die Sbirren wollen ihn weiterziehen. Er aber sagt: »Euch geht es am meisten an, was ich zu sagen habe.« Daraufhin werden die Sbirren natürlich neugierig.

»Tromba ist entlassen, Matta und Brava sind entlassen«, [377] sagt Lange Rübe. »Man braucht sie nicht mehr. Denn wo keine Gauner sind, da ist keine Polizei nötig und kein Gericht. Diese Männer, die ihre guten Stellungen hatten, mit allen Nebeneinkünften, die sie von uns unmittelbar kriegten, sind nun dem Elend ausgeliefert. Sie können sich an die Kirchentüren setzen und können betteln. Glaubt ihr, daß man vor Euch haltmachen wird? Auch die Sbirren sind nicht mehr nötig, wenn es keine Gauner mehr gibt.«

Die Sbirren kratzen sich den Kopf. Ja, so etwas haben sie sich selber schon gedacht.

»Der Henker schreitet vor uns her in seiner Amtstracht«, fährt Lange Rübe fort. »Glaubt ihr, daß man noch einen Henker braucht, wenn wir alle tot sind? Die Motten werden in die roten Kleider kommen.«

Der Henker murrt, seine Knechte sehen sich an.

Plötzlich zieht der Kapitän Fracassa sein Schwert, der Kapitän Spavento schließt sich ihm an. Mit schrecklichem Geschrei stürmen sie auf die Sbirren ein. Die stehen einen Augenblick verdutzt, dann fliehen sie. Die beiden Sbirren, die an Pietrino und Colomba angebunden sind, suchen sich loszumachen, die Kapitäne schlagen ihnen mit der flachen Klinge auf den Rücken; nun sind sie befreit, sie fliehen hinter den anderen her.

Die beiden Kapitäne betrachten ihre Schwerter, dann stecken sie sie wieder in die Scheide. Kein Wort haben sie gesagt, aber ihre Schnurrbärte zittern vor Erregung.

Die Sbirren stehen auf einem benachbarten Hügel und lauschen.

Auch Lange Rübe ist nun befreit.

Er spricht: »Meine Herrschaften! Die Zeiten sind anders geworden. Der Ehrenmann kann heute nicht mehr frei und offen seiner Nahrung nachgehen. Heuchelei und Lüge herrschen in der Welt. Niemand steht mehr an seinem richtigen [378] Platz. Meine Herrschaften! Behandeln Sie die Welt, wie sie behandelt sein will! – Wir müssen unseren Beruf ändern. Die Komödianten gehen nicht mehr zur Bühne, die Bühne überlassen sie der Talentlosigkeit. Die Gauner betreiben nicht mehr Gaunerei, das überlassen sie den Dummköpfen. Aber auch in unserem neuen Beruf werden wir sein, was wir im alten waren. Ich selber begründe eine neue Religion. Pietrino wird Leiter eines großen Warenhauses. Es ist Anfrage gekommen, ob Pantalon nicht Kriegsminister werden will. Der Apotheker will eine nationalistische Partei begründen, der Kapitän Fracassa steht ihm hilfreich zur Seite. Isabelle kann eine Anstellung bekommen in der sozialen Fürsorge. Der Ritter de Marinis wird Volksbeauftragter in einer Sowjetrepublik. Arlechin wird Herausgeber einer großen Zeitung. Tromba wird Präsident eines Volksstaates. Meine Herrschaften, was ist uns Rom? Uns steht die ganze Welt offen. Zeigen wir in ihr unsere Kräfte! Freie Bahn dem Tüchtigen!«

Alles drängt sich um Lange Rübe, um ihn zu beglückwünschen. Schon unterhandelt der Kapitän Spavento mit dem neuen Kriegsminister wegen einer Anstellung als oberster Heerführer. Lelio, der Aufsichtsratsmitglied einer Großbank werden soll, spricht mit dem Notar über Zylinderhut und Aktenmappe. Da kommt eine Abordnung der Sbirren. Sie fragen an, ob nicht auch für sie in der neuen Gesellschaftsordnung eine passende Anstellung zu haben ist.

Aber über die Verhandlungen, welche nun folgen, wollen wir den Vorhang ziehen.


Geschrieben in der Zeit von 1913–1916. [379]

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TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Das Ende. Das Ende. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A2D2-5