[246] Coralinens Erbschaft

Schauspieler pflegen keine großen Schätze zu hinterlassen. Aber es gibt Ausnahmen. Coraline liegt im Sterben, die Schauspieler und Schauspielerinnen umstehen sie mit betrübten Gesichtern, denn sie hatte zwar einen schlechten Charakter, aber sie war eine Schauspielerin ersten Ranges. Der Kapitän richtet sie im Bett auf, legt ihr das Kissen in den Rücken und zerdrückt eine männliche Träne. Nun macht Coraline ihr Testament. Sie macht es mündlich; die Schauspieler brauchen keinen Notar, wie sie keinen Geistlichen brauchen; sie sterben ja auch von selber, ohne Arzt.

Also sie macht ihr Testament. Sie verteilt ihre Kleider; jede Schauspielerin bekommt etwas, eine Schnürbrust, einen Rock, einen Umhang; ihre Badewanne soll der Kapitän haben; ihre Uhr, ja, sie hat eine Uhr gehabt, aber die ist ihr vor zwei Jahren gestohlen, als sie einmal auf dem Korso ging wie eine Marchesa und mit dem Fächer elegante Bewegungen machte, ihre Uhr bekommt Lelio; das heißt, er bekommt den Anspruch auf die Uhr; wenn die Polizei den Spitzbuben noch finden sollte, und er hat die Uhr noch nicht versetzt, und die Polizei gibt sie heraus, dann bekommt sie Lelio. So wird noch verschiedenes verteilt: ihr Koffer, ihr Handschuhweiter, ihre Puderbüchse; Schulden hat sie nur wenige, und die werden sich von selber erledigen, Schulden übergeht man am besten mit Stillschweigen, denn das ist ja die Sache der Andern, an sie zu denken.

Ihr kostbarster Besitz ist der Smaragdring. Sie hat ihn einmal von einem Kardinal geschenkt bekommen; er hatte ein Drama geschrieben, der Kardinal, und sie hatte die Hauptrolle gespielt. Der Smaragdring liegt vor ihr; sie hat ihn in dem [247] rotledernen, samtausgeschlagenen Gehäuse vor sich liegen und nimmt ihn in die schmalen, abgezehrten Finger; der Stein leuchtet in sanftem grünem Schein, und ein »ah!« kommt von den Lippen aller Damen, ein Seufzer entringt sich jeder.

Nun kommt die Geschichte. Coraline stammt aus guter Familie. Sie hat zwei ältere Brüder, der eine ist Erzpriester, der andere Oberrichter der Rota. Ihre Augen werden feucht, denn sie hat ihrer Familie vielen Kummer gemacht. Also den Smaragdring sollen ihre Brüder erben. Sie begründet diese Verfügung nicht und stirbt. Der Kapitän drückt ihr die Augen zu und sagt tieferschüttert: »Sie ist gestorben, wie sie gelebt hat.«

Die Schauspieler sind geteilter Ansicht über das Vermächtnis. Die Damen erklären, sie hätte den Ring einer von ihnen vermachen müssen; aber sie habe ihn keiner gegönnt, man sehe wieder, was sie für einen schlechten Charakter hatte. Die Herren finden, daß es doch den Schauspielerstand hebt, wenn man einen Erzpriester und einen Oberrichter der Rota zu Brüdern hat, und wenn diese Männer den kostbaren Ring bekommen, dann müssen sie doch sagen, daß sie den Schauspieler bis jetzt noch nicht genügend gekannt haben.

Der Kapitän besucht den Erzpriester und den Oberrichter. Die beiden Herren sind ja zunächst etwas verlegen, daß die Verwandtschaft mit Coraline bekannt ist; zwar tröstet sie der Kapitän und gibt sein Wort, daß niemand etwas davon wissen soll, aber er macht den erfahrenen Männern doch nicht den Eindruck, daß er dieses Wort unter allen Umständen halten wird. Es ist selbstverständlich, daß sie zu der lebenden Coraline alle Beziehungen abgebrochen hatten; aber der Tod läßt milder urteilen. Der Ring ist ja freilich in Sünden erworben, was namentlich der Erzpriester betont. Sie können beide das nicht billigen. Der Kapitän beschreibt ihn mit den glühendsten Worten. Der Oberrichter ist zunächst geneigt, die Erbschaft abzulehnen, aber der Gegenstand selber ist ja allerdings [248] unschuldig an der Art, wie er erworben ist, der Tod sühnt vieles, und Coraline sündigte aus Leidenschaft, sie hatte etwas Dämonisches in ihrem Wesen. Der Erzpriester findet, daß eine gute Verwendung der Erbschaft, die ihnen beiden so unerwartet zufällt, wie vom Himmel geschickt, jeden Makel auslöschen werde. Immerhin, so sagen sich beide, ist die Verwandtschaft nun doch einmal bekannt geworden.

Der gute Kapitän denkt ja gewöhnlich nur das von den Leuten, was sie selber von sich sagen; bloß bei Coralinen ist es ihm so vorgekommen, als wenn sie zuweilen bei ihren Handlungen noch Absichten hatte, die sie verschwieg; und so hat er denn auch hier plötzlich ein dunkles Gefühl, als ob sie das Vermächtnis nicht nur aus schwesterlicher Liebe gemacht habe. Man versteht: Er ist ein Künstler, das ist ein Gefühl, er kann sich nicht verstandesmäßig Rechenschaft über dieses Gefühl ablegen.

Der Erzpriester und der Oberrichter kommen nun zu Coralinen. Die Tote liegt in ihrem Sarg, einen Lorbeerkranz auf dem Haupt, die Schauspieler stehen und warten.

Die Brüder sehen sich um; da lehnt die Badewanne, liegt der Koffer, auf einem Stuhl ruht zusammengewickelt die Schnürbrust, neben welcher noch ein Glas mit Limonade steht; der Handschuhweiter ist da, die Puderbüchse; der Umhang ist vor dem Fenster ausgespannt. Der Kapitän bringt den Ring. Der Oberrichter nimmt ihn heraus, geht ans Licht; der Erzpriester folgt ihm; sie prüfen den Stein im Licht, hauchen ihn an, halten ihn an die Wange; der Oberrichter erzählt, daß sich seine Frau, die noch fast gar keinen Schmuck hat, auf den Ring freut wie ein Kind; der Erzpriester räuspert sich und wirft mit Betonung ein, daß er selber der ältere Bruder sei; es entsteht eine leichte Verlegenheit zwischen den beiden, und um über diese fortzukommen, sagt der Oberrichter, daß sie die anderen Gegenstände doch wohl verkaufen werden; der Kapitän [249] tritt zu ihnen und teilt mit, daß die Verstorbene diese ihren Freunden vermacht hat; die Brüder sehen sich an, der Oberrichter fragt, ob ein schriftliches Testament vorliegt; die Schauspieler drängen sich um die beiden, und der Kapitän erwidert, daß ein solches allerdings nicht abgefaßt ist; der Erzpriester macht nun eine Bemerkung über den Ring, und den Schauspielern wird klar, daß Badewanne, Koffer, Handschuhweiter, Schnürbrust und alles andere ihnen verloren ist.

Nun muß man aber wissen, daß von dem Ring in ganz Rom gesprochen war, und wahrscheinlich hatte auch Lange Rübe von ihm gehört. Wahrscheinlich hatte er mit Colomba alles verabredet, und so geschah es denn, daß Lange Rübe und Colomba mit unter den Leidtragenden im Sterbezimmer standen.

Gerade als die Schauspieler mit bekümmertem Gesicht innerlich auf ihre Erbschaft Verzicht leisten, kommen die Männer, welche Coraline begraben wollen.

Die Brüder sehen sich betroffen an. Schauspieler bekommen bekanntlich kein ehrliches Begräbnis, und die Männer, welche sie beischarren, entfernen sonst die gefallenen Pferde. »Wir nehmen einen Wagen und verhängen die Fenster«, sagt schnell der Erzpriester zu dem anderen; dieser nickt, die Schauspieler folgen dem Sarg, der schon die Treppe hinuntergetragen wird; der Oberrichter will den Ring einstecken, der Erzpriester legt ihm die Hand auf den Arm und legt Verwahrung ein, daß man das kostbare Stück ohne weiteres aus der Wohnung nimmt. Colomba tritt vor und erklärt, daß sie in der Stube bleibt und alles bewachen wird. Die Beiden halten sie für eine der Freundinnen der Gestorbenen; zwar spricht nun der Erzpriester davon, daß man ja den Ring doch vielleicht in einer Kirche niederlegen könne, aber Lange Rübe, der außer ihnen noch allein zurückgeblieben ist, hält ihm entgegen, das Fräulein habe nun schon seit dem Tode die Aufsicht über den Nachlaß gehabt, sie müsse es für ein kränkendes Mißtrauen [250] halten, wenn man den Ring jetzt mitnähme; der Oberrichter tritt dieser Ansicht bei; Colomba trocknet sich eine Träne, der Erzpriester setzt zögernd das Gehäuse auf den Tisch, der Oberrichter öffnet es noch einmal und sieht den Ring an, der Erzpriester schärft Colomba ein, daß sie niemandem die Tür öffnen soll, Lange Rübe drängt zum Aufbruch; unten besorgt er einen Wagen, in den er sich mit den Beiden setzt, und nun geht der Trauerzug langsam zu seinem Bestimmungsort. Der heilige Boden Roms darf nicht durch die Leichen von Schauspielern besudelt werden; die Schauspieler werden draußen, weit vor dem Tore, beerdigt; und so hat Lange Rübe Zeit genug, den Beiden den Mund wässerig zu machen mit der Kostbarkeit des Ringes, über den er eine Menge Geschichten erfindet, und Colomba kann in Ruhe die ganze Wohnung ausräumen.

Wir wollen den Kummer der Brüder, als sie Ring, Badewanne, Schnürleib und Handschuhweiter nicht mehr vorfinden, nicht mit längeren Worten ausmalen. Sie sind der Komödiantenleiche gefolgt, ganz Rom weiß von der Verwandtschaft, alle Leute reden sie auf den Ring an. Sie müssen auch noch beide allein den Wagen bezahlen, denn Lange Rübe hat sie kaltblütig allein gelassen, als sie auf dem Begräbnisplatz angekommen waren, und für unsere Geschichte sind sie weiter nicht nötig. Sie sind sich natürlich von diesem Tage an spinnefeind.

Als aber Lange Rübe und Colomba zu Hause ihren Ring genauer untersuchen, da bricht Lange Rübe in ein unbändiges Gelächter aus. »Das hätte ich mir doch von Coraline denken können,« ruft er aus, »daß es so etwas war. Der Ring ist unecht.« Colomba sucht einen Zettel vor, den sie erhalten, auf dem ihr von dem Ring Mitteilung gemacht war. »Ich habe doch immer nicht gewußt, wer mir die Nachricht geschickt hat«, sagt sie; »das ist Coraline selber gewesen.«

[251] Die Beiden finden, daß der Streich ein würdiger Abgang Coralinens von der Bühne des Lebens war; ihre Brüder werden den Kummer über den Ring nie vergessen. So etwas muß man anerkennen. Schließlich steckt in der Badewanne und dem Schnürleib kein großer Wert; den Ring behalten sie, mit dem kann man einmal gelegentlich etwas verdienen, aber die andern Sachen beschließen sie, den Schauspielern zurückzugeben: wenn schon, dann wollen sie auch den letzten Willen Coralinens ganz erfüllen.

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TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Coralinens Erbschaft. Coralinens Erbschaft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A29D-1